Viertes Buch. »Laßt uns sterben, um die Menschheit zu befreien«

Ich möchte, daß der Norden siegt, aber ich will, wie jeder andere Offizier und Soldat in der Armee, nichts mit der Emanzipations-Proklamation zu tun haben. Ich wollte für die Wiederherstellung der Union kämpfen… und nicht für die Befreiung der Nigger.

Ein Soldat der Union, 1863

64

»Gesellschaftlicher Selbstmord«, sagte er, als sie ihm den Vorschlag machte. »Selbst für eine Abolitionistin, wie du es bist.«

»Glaubst du, das kümmert mich? Morgen abend ist genau der richtige Zeitpunkt.«

»Einverstanden. Ich nehme dich mit.«

Und so saßen sie nun, George und seine römisch-katholische Frau, in der presbyterianischen Kirche. Nur wenige Kerzen brannten in den Leuchtern, denn es war die Stunde der Besinnung.

Mitternacht war nah. Obwohl kein religiöser Mann, war es für George ein bewegendes Erlebnis, hier zu sitzen und die erhobenen schwarzen Gesichter zu sehen, von denen nicht wenige mit Tränen bedeckt waren. Überall im Norden wurden ähnliche Gottesdienste zum neuen Jahr abgehalten. Morgen früh würde Lincoln die Proklamation unterzeichnen. George fühlte die Spannung wachsen, als die letzte Minute verstrich. Der Chor verstummte, in der Kirche wurde es still. Dann kam der erste Glockenschlag.

Der Geistliche hob Kopf und Hände. »Der Herr, unser Gott, ist erschienen. Du hast uns geboren.«

»Amen!«

»Lobet den Herrn!« In der ganzen Kirche gaben Männer und Frauen ihrer Freude Ausdruck, und der Klang der Glocke schien anzuschwellen. George lief ein Schauer über den Rücken. Constance hatte Tränen in den Augen.

Andere Kirchenglocken stimmten ein. Die Freudenrufe wurden lauter. Auch George war dicht daran, in die Rufe einzustimmen. Dann plötzlich, wie ein Hagelsturm, prasselten Steine gegen die Kirche. Er hörte Schmähungen, Obszönitäten.

Mehrere Männer, unter ihnen George, sprangen auf. Er, zwei andere Weiße und ein halbes Dutzend Schwarze stürmten den Kirchengang vor. Die Rowdies waren nur noch als flüchtende Schatten zu sehen, als die Männer die Stufen erreichten.

Obwohl die Stimmung des Gottesdienstes gestört worden war, konnte nichts den mächtigen Bann zerbrechen. Das ließ sich deutlich an den Gesichtern der Frauen und Männer ablesen, die sich zwischen denKutschen verstreuten, die in der Obhut kleiner schwarzer Jungs zurückgeblieben waren.

Als sie durch die verlassenen Straßen nach Georgetown heimwärts ratterten, schmiegte sich Constance an ihn und sagte: »Bist du froh, daß wir gegangen sind?«

»Sehr sogar.«

»Gegen Ende des Gottesdienstes schautest du so ernst drein. Warum?«

»Ich habe nachgedacht. Ich frage mich, ob irgend jemand, Lincoln eingeschlossen, genau weiß, was diese Proklamation für das Land bedeutet.«

»Ich weiß es sicherlich nicht.«

»Ich auch nicht. Aber als ich so dort saß, hatte ich ein ganz eigenartiges Gefühl wegen des Krieges. Ich bin mir nicht sicher, ob die Bezeichnung Krieg noch länger zutrifft.«

»Wenn es kein Krieg ist, was ist es dann?«

»Eine Revolution.«

Schweigend hielt sich Constance an seinem Arm fest. Die Glocken schlugen weiter, läuteten Veränderungen ein in der Stadt und in der ganzen Nation.

Washington hatte sich in den Monaten, in denen die Hazards hier gelebt hatten, drastisch verändert. Nie waren die Geschäfte besser gelaufen, aber das traf auf den gesamten Norden zu. Hazards lief auf vollen Touren, und die Bank von Lehigh Station, im Oktober eröffnet, war ein großer Erfolg.

Zu Beginn des Krieges hätten alle darin übereingestimmt, daß Washington eine Stadt des Südens war. Vor wenigen Monaten jedoch war Richard Wallach, Bruder des Besitzers vom Star, zum Bürgermeister gewählt worden. Wallach war ein bedingungsloser Unions-Demokrat, der nichts mit dem Friedensflügel in seiner Partei im Sinn hatte, sondern den Krieg bis zum Ende durchgestanden sehen wollte.

Im letzten April hatte die Emanzipation im Bezirk Einkehr gehalten. Stanley und Isabel förderten sie an vorderster Front, obwohl bei einem der seltenen und schwierig zu arrangierenden gemeinsamen Essen der Hazard-Familien Isabel die Feststellung gemacht hatte, die Emanzipation würde die Stadt ›für die weiße Rasse in die Hölle auf Erden‹ verwandeln. Aber es war anders gekommen. Fast täglich fielen weiße Soldaten über irgendwelche Schwarzen her und verprügelten sie, ohne Strafe befürchten zu müssen.

In der demoralisierten Armee standen mit Sicherheit Veränderungen an. Im Lager am Rappahannock plante Burnside gegen alle Ratschläge eine Winteroffensive. Er war wild darauf versessen, seinen Fehlschlag bei Fredericksburg wiedergutzumachen. Mehr als einmal hatte George von hohen Offizieren gehört, daß Burnside den Verstand verloren habe.

Fighting Joe Hooker wurde am häufigsten als Burnsides Nachfolger ins Gespräch gebracht. Wer immer auch das Kommando übernahm, sah sich einer gigantischen Aufgabe gegenüber: Die Armee mußte neu organisiert und Stolz und Disziplin wiederhergestellt werden. Mittlerweile gab es einige Schwarze in der Armee. Genau wie die ehemals geflüchteten Sklaven wurden sie häufig verprügelt und erhielten für den gleichen Dienst drei Dollars weniger im Monat als die Weißen.

Auch im Regierungsbereich standen im neuen Jahr Veränderungen bevor. Die Kongreßwahlen waren für die Republikaner schlecht ausgegangen, und der melancholische Präsident litt unter wachsender Unbeliebtheit. Man gab Lincoln die Schuld an den militärischen Niederlagen und belegte ihn mit allen möglichen Namen, angefangen von ›Dorftrottel‹ bis zu ›kriecherischer Negrophiler‹.

Veränderung lag also in der Luft – notwendig, unerwünscht. Sich allein bloß die verschiedenen Zukunftsmöglichkeiten auszumalen, verursachte George Kopfschmerzen.

Zu Hause angekommen schaute Constance nach den schlafenden Kindern und bereitete dann einen heißen Kakao für George. Dabei las sie noch einmal den Brief ihres Vaters, den sie gestern erhalten hatte.

Patrick Flynn hatte Kalifornien im Herbst erreicht. Er fand ein Land der sonnigen Schläfrigkeit vor, fern des Krieges. Flynn berichtete, daß ihm seine Anwaltskanzlei in Los Angeles praktisch kein Geld einbrachte, aber er war glücklich.

Sie brachte den Kakao in die Bibliothek, wo George eine Anzahl von Papieren vor sich ausgebreitet hatte.

Sie stellte den Kakao ab. »Wird es lange dauern?«

»Bis ich das hier fertig habe. Ich muß es morgen Senator Sherman zeigen – das heißt, heute – beim Präsidentenempfang.«

»Müssen wir hin? Diese Empfänge sind schrecklich. So viele Leute, daß man sich kaum noch bewegen kann.«

»Ich weiß, aber Sherman erwartet mich. Er hat versprochen, mich mit Senator Wilson aus Massachusetts bekanntzumachen. Wilson ist Vorsitzender des Komitees für militärische Angelegenheiten. Ein Verbündeter, den wir dringend nötig haben.«

»Wann wird die Gesetzesvorlage zur Bewilligung der Gelder behandelt?«

»Im Haus innerhalb von zwei Wochen. Der wirkliche Kampf findet erst im Senat statt. Wir haben nicht viel Zeit.«

Sie beugte sich über ihn, strich ihm zärtlich übers Haar. »Für einen Mann, der das Soldatenleben nie gemocht hat, bist du bemerkenswert eifrig.«

»Ich mag es immer noch nicht, aber ich liebe West Point.«

Sie küßte seine Braue. »Komm ins Bett, sobald du kannst.«

Abwesend nickte er, bemerkte schon gar nicht mehr, daß sie hinausging. Er tauchte die Feder ein und nahm seine Arbeit an dem Artikel wieder auf, den er für die New York Times schrieb, die zu den standhaftesten Verteidigern der Akademie zählte.

George schrieb in den ersten Morgen des neuen Jahres hinein, bis er gegen fünf über seinem Manuskript einschlief; eine Haarsträhne fiel über seine abgelegte Feder und wurde tintig.

»Ja, ich freue mich, sagen zu können, daß sie bald bei mir sein wird«, erklärte Orry dem Präsidenten. In seiner rechten Hand hielt er eine Punschtasse. »Es ist gut möglich, daß sie sich bereits auf den Weg gemacht hat.«

Das Aussehen des Präsidenten beunruhigte Orry; bleicher denn je, hager, mit der leicht gebeugten Haltung eines Mannes, der unter Schmerzen litt. Aber in diesen Tagen plagten Jefferson Davis mehr als nur körperliche Schmerzen. Sein Baumwollembargo hatte sich als Fehlschlag erwiesen. Diplomatische Anerkennung in Europa war nicht einmal mehr eine ferne Hoffnung. Kritiker machten ihn herunter, weil er weiterhin den unpopulären Bragg im Westen unterstützte. In Richmond gab es fast nur noch üblen Kaffee-Ersatz. Botschaften wurden an Stadtmauern geschmiert: Stoppt den Krieg. Zurück zur Union!

An diesem Neujahrsnachmittag bevölkerten Offiziere, Zivilisten und viele Frauen die offizielle Residenz in der Clay Street. Davis bemühte sich, jedem Gast, wenn auch nur für kurze Zeit, seine volle Aufmerksamkeit zu widmen. Trotz seiner Leiden waren sein Lächeln und seine Manieren voller Wärme.

»Das sind ja wirklich gute Nachrichten, Colonel. Ich erinnere mich, daß Ihre Frau schon viel früher nach Richmond kommen sollte.«

»Anfang letzten Jahres, aber die Plantage war von einer Reihe von Unglücksfällen betroffen.« Er erwähnte den Schlaganfall seiner Mutter, nicht aber das wachsende Problem flüchtender Sklaven.

Dann erkundigte sich Davis: »Wie kommen Sie mit Mr. Seddon aus?«

»Gut, Sir. Er besitzt hier in Richmond einen hervorragenden Ruf als Anwalt.«

Mehr wollte Orry dazu nicht sagen. James Seddon von Goochland County hatte General Gustavus Smith als Kriegsminister ersetzt. Smith hatte nach Randolphs Rücktritt im November diesen Posten lediglich vier Tage lang bekleidet. Orry mochte die fanatischen sezessionistischen Ansichten des finstern Seddon nicht. Seddon und seine Frau befanden sich hier auf diesem Empfang. Er wechselte das Thema.

»Erlauben Sie mir eine andere Frage, Herr Präsident. Der Feind bewaffnet schwarze Truppen. Sollten wir vielleicht den gleichen Kurs einschlagen?«

»Sind Sie dafür?«

»Ja, möglicherweise.«

Davis’ Mund wurde zu einem schmalen Strich. »Ein verderblicher Einfall, Colonel. Wie Mr. Cobb von Georgia bemerkte: Wenn Neger gute Soldaten abgeben, dann ist unsere ganze Theorie der Sklaverei falsch. Entschuldigen Sie mich.«

Und damit ging er zu einem anderen Gast. Orry war irritiert; es war eine Schwäche, die Davis schadete, diese Unfähigkeit, abweichende Meinungen zu akzeptieren.

Langsam arbeitete er sich in die Eingangshalle vor, wo er Judah Benjamin mit drei Frauen entdeckte. Der Außenminister begrüßte ihn so fröhlich, als hätte er in letzter Zeit keine Unannehmlichkeiten gehabt, obwohl die sich mittlerweile überall herumgesprochen hatten. Benjamin war erwischt worden, als Winders Detektive in einen Spielsalon in der Main Street eingedrungen waren. Bei der Razzia, die auf Deserteure abgezielt hatte, waren nur bekümmerte Zivilisten im Netz hängengeblieben, einschließlich eines Kabinettmitglieds.

»Wie geht es Ihnen, Orry?« fragte Benjamin und schüttelte ihm die Hand.

»Besser, wenn Madeline erst hier ist. Endlich ist sie unterwegs.«

»Großartig. Sobald sie ankommt, müssen wir zusammen essen.«

»Ja, gewiß«, murmelte Orry; er nickte und ging weiter. Die Erkenntnis durchfuhr ihn, daß es verdammt unfair wäre, von Madeline gleich bei ihrer Ankunft einen erneuten Umzug zu verlangen, nachdem sie sich über ein Jahr abgemüht hatte, endlich nach Richmond zu kommen. Sie würde es verstehen, aber es wäre unfair. Vielleicht konnte er noch einige Monate durchhalten. Er mußte die Schuld für seine Fehlschläge im Umgang mit den Männern der Militärpolizei bei sich selbst suchen. Er mußte sich mehr Mühe geben.

Als er am Fuße der großen Treppe vorbeikam, verkrampfte er sich beim Anblick von drei Personen, die gerade das Haus betraten: seine Schwester, mit von der Kälte gerötetem Gesicht und wunderschön gekleidet; Huntoon; und ein dritter Mann, gekleidet nach der Mode, die so typisch war für diese Sorte.

»Guten Tag, Ashton – James«, sagte Orry, als der Fremde seinen Hut abnahm. Seit Monaten hatte Orry sie nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Huntoon murmelte etwas mit abgewandtem Blick. Mit einem winterlichen Lächeln sagte Ashton: »Wie schön, dich zu sehen«, und eilte weiter zu Benjamin. Sie machte sich nicht die Mühe, ihm den gutaussehenden Burschen mit den schläfrigen Augen vorzustellen, aber Orry legte auch keinen Wert darauf. Der Kleidung nach zu urteilen war dies einer der Männer, die sich wie Parasiten in der Konföderation eingenistet hatten: ein Spekulant. Ashton und ihr Mann bewegten sich in eigentümlicher Gesellschaft.

Er stülpte sich den Hut auf den Kopf und verließ das Weiße Haus in übler Laune.

65

Endlich jubelte Madelines Herz, endlich – der Tag des Wunders. Über ein Jahr lang hatte sie das Gefühl gehabt, als würde dieser Tag nie kommen.

Jetzt, an dem gleichen Neujahrsnachmittag, an dem sich ihr Mann im Weißen Haus in Richmond befand, klappte sie das letzte Hauptbuch zu, verschloß den letzten Reisekoffer, kontrollierte zum letztenmal die grünen Fahrkarten und begab sich auf ihre letzte Runde durch das Haus.

Als sie die Runde beendet hatte, klopfte sie an Clarissas Tür. Das weiträumige, schön möblierte Zimmer löste bei Madeline unweigerlich Trauer aus. Heute war es nicht anders. Clarissa saß am Fenster; milder Sonnenschein fiel auf einen Block Papier mit einer kaum erkennbaren Kohlezeichnung, wie von Kinderhand gemalt.

»Guten Tag.« Clarissa lächelte höflich, erkannte aber ihre Schwiegertochter nicht. Leichte Anzeichen des Schlaganfalls waren zurückgeblieben: Ihr rechter äußerer Augenwinkel hing leicht nach unten, ihre Sprache war langsam geworden, vereinzelte Wörter klangen verzerrt.

Ansonsten hatte sie sich gut erholt, obwohl sie nur selten ihre rechte Hand benützte.

»Clarissa, ich fahre jetzt bald nach Richmond. Ich sehe dort deinen Sohn.«

»Meinen Sohn. Oh, ja. Wie nett.« Ihre Augen blieben leer.

»Das Hauspersonal und Mr. Meek kümmern sich um dich, aber ich wollte dir selber sagen, daß ich abfahre.«

»Sehr freundlich von dir. Ich habe deinen Besuch genossen.«

Ganz plötzlich den Tränen nahe schlang Madeline ihre Arme um die alte Frau; die jähe Handlung überraschte und erschreckte Orrys Mutter. Ihre weißen Brauen schossen in die Höhe.

Unten sprach Madeline kurz mit Jane, der sie im letzten Sommer gegen Bezahlung das Hauspersonal unterstellt hatte. Dann ging sie den gewundenen Weg hinunter zu dem kleinen Gebäude, in dem nacheinander Tillet, Orry und sie gelebt hatten. Nun wurde es von dem Verwalter bewohnt.

Unter einem Baum lungerte ein Sklave herum, zerbrach Borkenrinde in kleine Stücke. Er starrte sie unverschämt an. Sie hielt inne.

»Hast du nichts zu tun, Cuffey?«

»Nein, Ma’am.«

»Ich werde Andy sagen, daß er das ändert.« Sie ging weiter.

Im letzten Jahr, der Proklamation folgend, war Cuffey einer der ersten gewesen, die flüchteten. Philemon Meek hatte bereits eine heftige Abneigung gegen den Sklaven gefaßt – die meisten anderen Sklaven verachteten ihn ebenfalls – und wandte besondere Mühe auf, Cuffey wieder einzufangen. Meek, Andy und drei weitere Schwarze hatten Cuffey bewußtlos in einem Sumpf gefunden, die Beine unter Wasser. Er hatte hohes Fieber gehabt und wäre möglicherweise ertrunken.

Meek brachte Cuffey in Eisen nach Mont Royal zurück. Er wurde ärgerlich, als Madeline zusätzliche Bestrafung untersagte. Die Krankheit während der Flucht sei ausreichende Strafe, sagte sie.

Es beunruhigte sie, daß Cuffey keine zweite Flucht versucht hatte. Er war hinter Jane her, aber Jane konnte ihn nicht ausstehen. Blieb Cuffey, weil er irgendeinen wirren Plan hatte, der Plantage nach ihrer Abreise Schaden zuzufügen?

Zehn Minuten später klopfte sie an die Bürotür und trat ein. Meek legte seine Bibel beiseite – er las jeden Tag ein bißchen darin – und rückte seine Brille zurecht. Ein Glück, daß wir ihn gefunden haben, dachte Madeline. Er war jenseits der Altersgrenze, die das im September erlassene zweite Einberufungsgesetz vorschrieb, und sollte beliebig lange auf Mont Royal bleiben können – natürlich vorausgesetzt, daß Jeff Davis nicht aus Verzweiflung Großväter einzuziehen begann.

»Sind Sie bereit, Miss Madeline? Ich rufe Aristotle, damit er das Gepäck auflädt.«

»Danke, Philemon. Noch eines, bevor ich fahre. Sollte es zu einem Notfall kommen, zögern Sie nicht zu telegraphieren. Falls das nicht möglich ist, schreiben Sie. Ich komme dann sofort nach Hause.«

»Hoffe, das wird nicht nötig sein – zumindest nicht, bevor Sie nicht wenigstens eine Stunde bei Ihrem Mann sein konnten.«

Sie lachte. »Das hoffe ich auch. Um die Wahrheit zu sagen, ich kann’s kaum erwarten, ihn zu sehen.«

»Wundert mich nicht. Schweres Jahr für Sie gewesen. Sollte alles glatt laufen, falls die Blaubäuche nicht näher rücken. Hab’ gestern gehört, daß ein Steuereintreiber unten in Beaufort Lincolns Proklamation vorgelesen hat. Große Mengen von Negern hatten sich um einen Baum versammelt, den sie bereits auf den Namen Emanzipations-Eiche getauft haben.«

Sie beschrieb kurz ihr Zusammentreffen mit Cuffey. Meek fuhr auf. »Nichts zu tun, eh? Werd’ dafür sorgen, daß sich das ändert.«

»Nicht nötig. Andy kümmert sich schon darum.«

»Übler Bursche, dieser Cuffey«, erklärte Meek.

»Ich weiß, daß Sie mit ihm fertig werden. Sie haben großartige Arbeit geleistet, Philemon – bei den Leuten, mit dem Pflanzen und der Ernte.«

Er setzte zum Sprechen an, zögerte, sprach es dann doch aus. »Wär’ gut, wenn Sie Jane sagen würden, sie kann nicht mehr unterrichten. Lernen ist schlecht für die Neger, vor allem in solchen Zeiten.« Er räusperte sich. »Ich bin unbedingt dagegen.«

»Das ist mir bewußt. Sie kennen auch meine Lage. Ich habe Jane gegenüber ein Versprechen abgegeben. Und ich glaube, auf Mont Royal bleibt es ruhiger, wenn sie hier unterrichtet, als wenn sie nach Norden gehen würde.«

»Eins ist sicher – wenn sie geht, dann verlieren wir Andy.« Der Verwalter spähte unter seinen buschigen Brauen hervor. »Trotzdem nicht richtig, wenn Neger lernen. Ist außerdem gegen das Gesetz.«

»Die Zeiten ändern sich, Philemon. Die Gesetze müssen sich ebenfalls ändern. Ich übernehme die volle Verantwortung für Janes Aktivitäten und ihre Folgen.«

Meek machte einen letzten Versuch. »Wenn Mr. Orry über Jane Bescheid wüßte, würde er vielleicht nicht – «

»Er weiß Bescheid. Ich habe es ihm letztes Jahr geschrieben.«

Meek gab auf. »Ich wünsche Ihnen eine sichere Reise. Hörte, die Eisenbahnschienen sind in ziemlich üblem Zustand.«

»Danke für Ihre Besorgnis.« Nach kurzem Zögern eilte sie auf ihnzu und umarmte ihn; er hustete und errötete. »Passen Sie auf sich auf.«

»Das werd’ ich. Grüßen Sie den Colonel von mir.«

Er holte, das Gesicht immer noch scharlachrot, Aristotle für die kurze Fahrt zu der wenige Meilen entfernten kleinen Eisenbahnstation. Madeline fuhr los, den ungefähr vierzig Sklaven zuwinkend, die sich zu ihrem Abschied in der Einfahrt versammelt hatten.

Ein Stück abseits stand Cuffey mit über der Brust verschränkten Armen und beobachtete sie ebenfalls.

An diesem Abend hielt Jane im Krankenzimmer Unterricht ab.

Zweiunddreißig Schwarze drängten sich in den weißgetünchten, von Kerzen erhellten Raum. Andy saß mit gekreuzten Beinen in der ersten Reihe. Cuffey lehnte mit verschränkten Armen in einer Ecke; selten nur wich sein Blick von Janes Gesicht. Diese Art von Aufmerksamkeit war ihr unangenehm, aber sie versuchte sie nach Möglichkeit zu ignorieren.

»Versuch es, Ned«, bat sie einen schlaksigen Feldarbeiter. Mit ihrem Schreibinstrument, einem Stück Kreide, tippte sie gegen ihre Tafel, eine Kiste. »Drei Buchstaben.« Nacheinander zeigte sie darauf.

Ned schüttelte den Kopf. »Weiß nich’.«

Sie stampfte mit dem nackten Fuß auf. »Vor zwei Tagen hast du’s noch gewußt.«

»Ich vergeß’! Ich arbeit’ schwer ganzen Tag, werd’ müd. Bin nich’ klug genug für solche Sachen.«

»Doch, das bist du, Ned. Ich weiß, daß du es bist, und du mußt selber auch dran glauben. Versuch es noch mal.« Sie beherrschte ihre Ungeduld. Sie tippte gegen die Tafel. »Drei Buchstaben: N, E, D. Das ist dein Name, erinnerst du dich?«

»Nein.« Ärgerlich. »Tu ich nich’.«

Jane stieß die Luft aus; sie fühlte sich müde und erschöpft. Madelines Abreise hatte sie stärker berührt, als sie vorher geahnt hatte.

»Machen wir Schluß für heute«, sagte sie. Das brachte ihr Proteste ein. Ihr ältester Schüler, Cicero, protestierte am heftigsten. Cicero, vor kurzem Witwer geworden, war mit seinen neunundsechzig Jahren zu alt für die Feldarbeit, hatte aber geschworen, daß er noch vor seinem nächsten Geburtstag lesen und schreiben konnte. Er sagte, er würde als gebildeter Mann sterben, falls er nicht lange genug lebte, um als freier Mann zu sterben.

Cuffey, der Abend für Abend auf demselben Fleck stand, sagte schließlich: »Sollten für immer Schluß machen, denk’ ich.«

Andy erhob sich. »Wenn du nichts lernen willst, dann bleib doch weg.«

Andy machte gute Fortschritte in seinen Studien, was einer der Gründe war, weshalb sich Janes Gefühle für ihn änderten. Ein Grund, aber nicht der einzige. Zweimal hatte er sie scheu geküßt. Das erstemal auf die Stirn, das zweitemal auf die Wange. Dieser ernste, entschlossene junge Mann veränderte ihr Leben auf eine Art und Weise, die sie selbst nicht ganz verstand.

Als Antwort auf Andys Worte grollte Cuffey: »Werd’ ich vielleicht. Keiner von uns muß hier bleiben. Geh’n wir runter nach Beaufort, da sind wir frei.«

»Sicher«, sagte Cicero und fuchtelte mit einem Finger vor Cuffey herum. »Du geh runter nach Beaufort – du verhungerst, weil du ein dummer Nigger bist, der seinen Namen nicht lesen oder schreiben kann.«

»Paß auf, was du sagst, alter Mann.«

Cicero wich keinen Millimeter zurück. Cuffey starrte wild um sich und wandte sich an die ganze Gruppe. »Werd’ nicht verhungern in Beaufort. Die geben den Freigelassenen Land. Stück Land und ein Maultier.«

»Du baust also was an«, sagte Andy, »und die weißen Agenten betrügen dich, weil du ihre Zahlen nicht zusammenrechnen kannst.«

Cuffey reagierte auf Vernunft mit Zorn. »Jemand hat dich zu ‘nem guten Besitzstück erzogen, Nigger. Hast ja kein Rückgrat.«

Andy stürzte sich auf ihn. Cicero trat dazwischen; er keuchte vor Anstrengung, die beiden viel jüngeren Männer auseinanderzuhalten.

»Ich hasse es so sehr wie du, Besitz zu sein«, schleuderte Andy zurück. »Meine Momma wurde verkauft, meine kleine Schwester auch. Glaubst du, ich lieb’ die Leute, die das getan haben? Tu ich nicht, aber ich hab’ Besseres zu tun, als sie zu hassen. Ich werd’ frei sein, Cuffey, und ich kann nicht aus eigener Kraft leben, wenn ich dumm bleib’ wie du.«

Schweigen.

Blicke glitten von Mann zu Mann. Schatten huschten über die weißgetünchte Decke. Füße scharrten über den Boden. Cuffey hob die geballte Faust.

»Eines Tages werd’ ich dir deine Zunge direkt aus dem Schädel schneiden.«

»Schande«, sagte Cicero leise, aber fest. Andere wiederholten das Wort – »Schande, Schande.« Cuffey reckte den Kopf vor und spuckteauf den Boden; ein großer, weißlicher Schleimklumpen zeigte, was er von ihnen hielt.

»Ich will eure Bücher nicht«, sagte er. »Will diesen Platz niederbrennen. Will die verfluchten Leute umbringen, die meine Babys getötet haben, die mich mein ganzes Leben lang angekettet haben.«

»Du bist verrückt«, sagte Jane und stellte sich neben Andy. »Verrückt. Miss Madeline ist die beste Herrin, die du haben kannst. Sie will jedem in diesem Zimmer helfen, sich auf die Freiheit vorzubereiten. Sie ist eine gute Frau.«

»Sie ist eine Weiße, und ich will sie tot seh’n. Ich brenn’ alles nieder, bevor ich hier fertig bin.« Cuffey wirbelte herum, trat die Tür auf und stürmte in die Dunkelheit hinaus.

Auch Janes Schüler schoben sich hinaus. Andy blieb. Jane schaute ihn an. »Cuffey ist nicht zu helfen, oder? Er ist bösartig geworden.«

»Denk’ schon.«

»Ich wollt’, er wär’ noch mal davongerannt. Hab’ noch nie einen Neger getroffen, der mir so viel Angst einjagt wie er.«

Ohne nachzudenken lehnte sie ihren Kopf gegen Andys Hemd. Er legte eine Hand um ihre Taille, streichelte mit der anderen ihr Haar. Es war ganz selbstverständlich und tröstend.

»Brauchst keine Angst vor Cuffey zu haben«, sagte er. »Ich paß auf dich auf. Immer, wenn du mich läßt.«

»Was?«

»Ich sagte – immer. Wenn du mich läßt.«

Langsam beugte er sich zu ihr hinunter und küßte sanft ihren Mund. Etwas ging mit ihr vor, drückte sich in einem erstaunten kleinen Lachen aus. Sie wußte, daß sie ihre Zukunft besiegelt hatten. Mit diesem einen Kuß. Sie gestand sich ein, daß sie sich schon während der letzten Wochen in ihn verliebt hatte.

Visionen überfielen sie, befleckten den Augenblick. Statt Andys Gesicht sah sie Cuffey vor sich, und in den zuckenden Schatten an der Zimmerdecke erblickte sie Mont Royal in Flammen.

»Resolution Nummer 611 des Hauses«, sagte Senator Sherman und tippte auf das Dokument auf seinem Schreibtisch. »Wie Sie sehr wohl bissen, wird die Akademie kein Geld mehr haben, wenn sie nicht in beiden Häusern durchkommt.«

George nieste. Draußen fegte der Schnee waagrecht vorbei. George Putzte sich die Nase mit einem gewaltigen Taschentuch und fragte dann: »Wann wird die Bewilligungsvorlage behandelt?«

»Morgen.«

Das Büro roch nach alten Zigarren. Eine Golduhr tickte. Um zwanzig nach zehn lagen die meisten Einwohner der Stadt daheim im Bett. George wünschte sich auch dorthin. Trotz seines dicken Armeemantels konnte er nicht warm werden.

»Was wird das Haus damit machen?«

»Herumspielen«, erwiderte der jüngere Bruder des Generals. »Die Zehntausend für die Dacherneuerung der Akademiegebäude kürzen. Vielleicht die Vergrößerung der Kapelle streichen. Die Mitglieder des Finanzausschusses möchten ihre Autorität zeigen, aber ich bezweifle, daß sie wesentlichen Schaden anrichten werden. Das Kriegsbeil wird erst ausgegraben, wenn die Vorlage zu uns kommt.«

»Wade ist immer noch fest entschlossen?«

»Absolut. Er benimmt sich wie ein Verrückter, wenn es um dieses Thema geht. Sie kennen seinen Haß auf den Süden.«

»Verdammt noch mal, John, West Point ist nicht der Süden.«

»Das ist Ihre Ansicht, George, die leider nicht von allen Senatsangehörigen geteilt wird.«

»Wie stehen die Chancen, daß die Vorlage abgeschmettert wird?«

»Kommt darauf an, wer spricht und wie überzeugend. Wade wird jede erdenkliche Anstrengung unternehmen und jeden nur vorstellbaren Grund anführen, um die Sache zu Fall zu bringen. Lane wird sich ihm anschließen.«

»Das ist keine Antwort«, unterbrach ihn George. »Wie stehen die Chancen?«

Sherman starrte ihn an. »Bestenfalls – fünfzig zu fünfzig.«

»Wir hätten mehr tun müssen. Wir – «

»Wir haben alles nur Erdenkliche getan«, warf der Senator ein. »Jetzt können wir nur noch den Ausgang abwarten.« Er kam um seinen Schreibtisch herum. »Gehen Sie nach Hause, George. Wir brauchen keine Offiziere, die an Lungenentzündung sterben.«

Mit grauem Gesicht schlurfte George hinaus.

In dem Schneesturm brauchte er eine dreiviertel Stunde, um einen Fahrer aufzutreiben, der bereit war, die lange Fahrt nach Georgetown zu unternehmen. Mit klappernden Zähnen sackte er in der Kutsche in sich zusammen. Mit der Hand hämmerte er gegen die Wand der Kutsche. »Wir hätten einfach mehr tun müssen!«

»Was ist da los?«

»Nichts«, brüllte er zurück. Als er endlich in sein Haus taumelte, war er schweißgebadet und halb bewußtlos.

66

Judah beugte sich über die Steuerbordreling. »Schau mal, Pa. Ist das ein Yankee?«

Cooper spähte in den morgendlichen Dunst und entdeckte den Dampfsegler, auf den sein Sohn gezeigt hatte. Er lag mit gerefften Segeln auf Reede. Die Flagge hing schlaff im hellen Licht. Er konnte nur die Farben erkennen – rot, weiß, mit einem tiefblauen Teil. Er bezweifelte, daß es sich dabei um die Nationalflagge der Konföderation handelte. »Ich denke schon.«

Ein kleines Boot brachte den Lotsen an Bord. Kurz darauf wurden die Maschinen lauter, und die Isle of Guernsey dampfte in den geschützten Hafen, der mit Dampfern und Segelschiffen überfüllt war. Dahinter erkannte Cooper das grünliche Flirren von New Providence Island.

Der Dampfer hatte sie durch die gewaltige See und winterliche Stürme in diese schläfrige Wärme gebracht. Unterwegs hatte der britische Lademeister Cooper die hauptsächliche Schiffsfracht gezeigt: lange und kurze Enfield-Gewehre, Kugelgußformen, Patronen, Patronentaschen, Sergeballen. Das alles mußte für die gefährliche Fahrt durch die Blockade auf ein anderes Schiff umgeladen werden.

Judith, hübsch und freudig erregt in dem neuen Hut, den er ihr als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk überreicht hatte, gesellte sich mit ihrer Tochter zu ihm. »Hier haben wir ein weiteres Argument für das, was ich dir gestern nacht zu erklären versuchte«, sagte Cooper zu seiner Frau. »Dort drüben hält ein Yankeeschiff Wache. Ich würde mich wesentlich wohler fühlen, wenn ich ein Haus in Nassau mieten könnte, wo – «

»Cooper Main«, unterbrach sie ihn. »Das Thema ist für mich erledigt.«

»Aber – «

»Die Diskussion ist beendet. Ich werde nicht mit den Kindern hier bleiben, während du fröhlich nach Richmond segelst.«

»Daran ist nichts Fröhliches«, grollte er. »Es ist eine sehr gefährliche Reise. Die Blockade wird ständig schärfer. Es ist fast unmöglich, nach Savannah und Charleston hineinzukommen, und in Wilmington sieht’s nicht viel besser aus. Ich hasse es, daß du dieses Risiko eingehen mußt.«

»Ich habe mich entschieden, Cooper. Wenn du es riskierst, dann riskieren wir’s auch.«

»Hurra«, rief Judah, sprang herum und klatschte in die Hände. »Ich will ins Dixie-Land und General Jackson sehen.«

»Ich will auf kein Boot, auf das geschossen wird«, sagte Marie-Louise. »Ich möchte lieber hier bleiben. Schaut hübsch aus. Kann ich mir hier einen Papagei kaufen?«

»Still«, sagte ihre Mutter.

Abfall suchende Möwen bildeten eine lärmende Wolke am Bug. Innerhalb einer Stunde lag die Isle of Guernsey vor Anker; ein Leichter brachte die Mains und ihr Gepäck zum überfüllten Prince-George-Kai. Hier wimmelte es nur so von weißen Matrosen, schwarzen Schauerleuten, bunt gekleideten Frauen, die keiner erkennbaren Beschäftigung nachgingen, glitzernden Bergen von Cardiff-Kohle und Baumwolle – endlos viele Ballen, jeder mit Dampf auf sein halbes Volumen zusammengepreßt.

Die gepflasterte Uferstraße konnte kaum all die Menschen und den Verkehr fassen. Der Krieg mochte den Süden aushungern, aber dieser Insel hatte er ungezügeltes Wachstum und Reichtum beschert.

Nachdem er seine Familie in ihrer Suite untergebracht hatte, begab sich Cooper zum Hafenmeister, wo er seine Wünsche in vorsichtigen Umschreibungen zum Ausdruck brachte. Der schnurrbärtige Beamte kürzte seine Weitschweifigkeit ab.

»Im Augenblick keine Blockadebrecher im Hafen. Ich rechne morgen mit der Phantom. Sie wird allerdings keine Passagiere mitnehmen. Lediglich die Fracht von der Guernsey.«

»Warum keine Passagiere?«

Der Hafenmeister schaute ihn an, als wäre er geistig minderbemittelt. »Die Phantom gehört dem Waffenbeschaffungsamt Ihrer Regierung, Sir.«

»Ah, ja. Es gibt vier solcher Schiffe. Ich hatte die Namen vergessen. Ich gehöre zum Marineministerium. Vielleicht wird die Phantom eine Ausnahme machen.«

»Sie können ja mit dem Kapitän sprechen, aber andere offizielle Gentlemen der Konföderation haben das auch schon vergeblich versucht.«

In der Nacht glitt die Phantom unter britischer Flagge in den Hafen. Cooper führte ein kurzes, unbefriedigendes Gespräch mit dem Kapitän. Der Hafenmeister hatte recht: Selbst ein Beauftragter von Minister Mallory wurde nicht auf einem Schiff des Waffenamtes als Passagier zugelassen.

»Ich bin schon für wertvolle Fracht verantwortlich«, sagte der Kapitän. »Ich möchte nicht noch zusätzlich Verantwortung für Menschenleben übernehmen.«

Der Nieselregen hörte auf, und die Sonne schien. Zwei drückende Tage verstrichen. Die Phantom lief aus – wieder nachts –, und der Yankeesegler verschwand, zweifellos in Verfolgung des kleineren Schiffes. Gegen Ende der Woche hatte Cooper es satt, zu warten und alte Zeitungen zu lesen. Endlich, nachdem sie fast schon eine Woche in der Stadt waren, brachte der Nassau Guardian am Montag in seiner Schiffskolumne die Wochenendankünfte, darunter die ›Water Witch aus New Providence Is. gesamte Fracht Baumwolle von St. George’s Is. Bermuda.‹

»Sie muß ein Blockadebrecher sein«, rief Cooper beim Frühstück. »Baumwolle ist nicht gerade ein Haupterwerbszweig auf den Bermudas.« Und so machte er sich mit Judah wieder zum Hafen auf.

Sie erreichten den Liegeplatz des Schiffes. »Teufel auch«, sagte Judah, wieder in seine Liverpooler Phase verfallend, »schau dir bloß all die verfluchte Baumwolle an.«

»Red nicht so«, schnappte Cooper. Aber er war genauso fasziniert. Die Water Witch war ein bemerkenswerter Anblick; ein vielleicht dreihundert Tonnen schwerer, gepanzerter Dampfer mit einer Länge von ungefähr zweihundert Fuß. Jedes verfügbare Fleckchen war mit Baumwollballen vollgestopft.

Cooper und sein Sohn zwängten sich an Bord; er erkundigte sich nach dem Kapitän, bekam aber nur den Maat zu Gesicht.

»Kapitän Ballantyne ist an Land. Ging gleich als erster. Schätze, er wird bereits auf irgendeinem Flittchen – « Er entdeckte Judah hinter seinem Vater. »Vor morgen früh, wenn wir mit dem Laden beginnen, werden Sie ihn nicht an Bord finden.« Eine mißtrauische Pause. »Was woll’n Sie überhaupt von ihm?«

»Ich bin Mr. Main, vom Marineministerium. Ich brauche dringend für mich, meinen Sohn hier, meine Frau und meine Tochter eine Passage zum Festland.«

Der Maat kratzte seinen Bart. »Wir woll’n wieder nach Wilmington. Verdammt gefährliche Fahrt, bis wir wieder in Deckung der Kanonen von Fort Fisher sind. Glaub nicht, daß der Kapitän Zivilisten mitnimmt, vor allem so junge.«

»Sagen Sie, Mr. – «

»Soapes.«

»Wo sind sie zu Hause, Mr. Soapes?«

»Hafen von Fernandina. Liegt in Florida.«

»Ich weiß, wo es liegt. Sie sind also Südstaatler, ja?«

»Jawohl, Sir, genau wie Sie und Kapitän Ballantyne. Sie sagten, Ihr Name sei Main?« Cooper nickte. »Irgendeine Verbindung zu den Mains von South Carolina?«

»Ich bin ein Angehöriger dieser Familie. Warum fragen Sie?«

»Oh, ich hab’ bloß von ihnen gehört, das ist alles.« Mr. Soapes log, da war sich Cooper sicher. Nervös geworden brüllte der Maat einen Schauermann an. »Wenn einer von euch Niggern ‘nen Ballen Baumwolle ins Wasser fallen läßt, dann hungert er so lange, bis er dafür bezahlt hat. Sechzig Cents das Pfund. Marktpreis.«

Cooper räusperte sich. »Sagen Sie, Mr. Soapes, welche Ladung nehmen Sie mit nach Wilmington?«

»Oh, Sie wissen schon, das Übliche.«

»Nein, ich weiß es nicht. Was ist das Übliche?«

Soapes kratzte sich am Bauch und vermied es, Cooper anzusehen. »Sherry. Havannazigarren. Ich glaub’, wir haben diesmal auch noch ‘ne Lieferung Käse dabei. Dann Tee und Fleischbüchsen und massenhaft Kaffee.« Während er die Liste aufzählte, wurde seine Stimme immer leiser und Coopers Gesicht immer röter. »Außerdem haben wir noch Rum und – «

»Die Konföderation benötigt dringend Kriegsmaterial, und Ihr befördert Luxusgüter?«

»Wir laden, was Profit bringt.« Nach dieser Antwort schwand der Mut des Maats. »Ich jedenfalls bin nicht der Lademeister. Das macht der Kapitän. Sprechen Sie mit ihm.«

»Das werd’ ich, verlassen Sie sich drauf.«

»Vor morgen früh ist er aus dem Hurenhaus nicht zurück.«

Cooper juckte es in den Fäusten. Soapes hatte nur deswegen Hurenhaus gesagt, um Judah in Verlegenheit zu bringen.

Der Junge begriff es und grinste. »Mein Pa nimmt mich ständig zu solchen Orten mit. Vielleicht treffen wir ihn dort.«

Cooper gab seinem Sohn einen Klaps. Der Maat schaute verblüfft drein, bis er merkte, daß man sich über ihn lustig machte. Dann wurde er so rot wie Cooper, der seinen Sohn auf die Gangway zuschob.

Als er am nächsten Morgen zurückkehrte, hatte Cooper bereits eine heftige Abneigung gegen den Kapitän und die Eigentümer des Schiffes, seinen gestrigen Erkundigungen nach ein Südstaatenkonsortium, gefaßt. In Ballantynes Kabine im Heck roch es überwältigend nach Tabak; kleine Kisten füllten jede freie Ecke. Die Kisten trugen spanische Aufschriften, bei denen das Wort Habana hervorragte.

»Zigarren«, sagte Ballantyne offen, als er die Neugier seines Besuchers bemerkte. »Mein Privatunternehmen. Setzen Sie sich auf diesen Hocker, ich hab’ gleich für Sie Zeit. Muß nur noch unser Ladeverzeichnis fertig machen. Danach sind die Bermudas unser Bestimmungsort.«

Er strahlte wie ein Cherub. William Ballantyne war ein mondgesichtiger Mann, dem nur noch wenige Haare geblieben waren, mit Ausnahme von denen in seinen Ohren. Er hatte eine Brille und ein kleines Bäuchlein.

»Also gut, das wär’ erledigt«, sagte Ballantyne, nachdem sie die Passage ausgehandelt hatten. »Tut mir leid, daß ich gestern nicht hier war. Mr Soapes erzählte mir, sie hätten einige, äh, Bedenken wegen unserer Fracht.«

»Da Sie es erwähnen, das hab’ ich tatsächlich.«

Ballantyne grinste; ein ziemlich unangenehmes Grinsen. »Ich erwähnte es, Sir, weil ich annahm, daß Sie es ohnehin tun würden.«

»Ich würde es nicht Bedenken nennen. Es handelt sich dabei um sehr ernste, moralische Einwände. Warum befördert dieses Schiff nichts weiter als Luxusgüter?«

»Aber, Sir, weil die Besitzer es so wünschen. Das läßt die Kasse klingeln.«

Wütend sagte Cooper: »Sie sind ein verdammter Schurke, Ballantyne. Männer und Jungs sterben, weil es ihnen an Waffen und Munition fehlt, und Sie befördern Schinken und Zigarren.«

»Hören Sie. Ich sagte Ihnen schon, ich befördere das, was mir aufgetragen wird. Plus kleine Extras, um für mein Alter vorzusorgen.« Das Lächeln wurde rissig, und die Kreatur dahinter kam zum Vorschein. »Mir geht’s nicht so großartig wie Ihnen, Sir. Ich wuchs in den Bergen von North Carolina auf. Meine Leute waren dumm und unwissend. Ich hab’ nichts gelernt bis auf das hier, und ich muß das beste draus machen. Abgesehen davon verstehe ich gar nicht, worüber Sie sich aufregen. Die Art von Handel ist weitverbreitet. Macht doch jeder.«

»Nein, Ihr eigener Mangel an Skrupeln und Patriotismus sind keineswegs allgemeingültig. Ganz bestimmt nicht.«

Ballantynes Lächeln verschwand. »Ich muß Sie nicht mitnehmen, das wissen Sie.«

»Ich glaube doch. Außer Sie wollen, daß die Regierung sich näher um dieses Schiff kümmert. Das läßt sich einrichten.«

Ballantyne raschelte mit den Papieren in seiner Hand. Zum erstenmal klang seine Stimme unsicher. »Versuchen Sie mich zu versenken, und Sie versenken auch jemanden, der Ihnen nahesteht.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Mr. Soapes sagte, Sie stammen aus South Carolina. Eine unserer Eignerinnen ebenfalls. Ihr mittlerer Name ist derselbe wie Ihr Nachname, sie besitzt zwanzig Prozent der Water Witch und hat einen Bruder im Marineministerium.«

Das Hafenwasser klatschte gegen den Rumpf. Cooper konnte kaum schlucken, geschweige denn sprechen. Schließlich brachte er hervor: »Was sagen Sie da?«

»Kommen Sie, Sir – tun Sie nicht so, als wüßten Sie von nichts. Zu den Eignern gehört eine Lady namens Huntoon – Mrs. Ashton Main Huntoon aus Richmond und dem Palmetto-Staat. Ist sie – ist sie keine Verwandte?«

Als er Coopers angeekelten Gesichtsausdruck sah, grinste er. »Dacht’ mir’s doch. Hab’ zwei und zwei zusammengezählt, nachdem ich mit Mr. Soapes gesprochen hatte. Sie haben eine Passage auf einem Schiff der Familie gebucht, Mr. Main.«

67

George lehnte am Geländer der Galerie und blickte in den Senatssaal hinunter. Es war der 15. Januar. Er hatte schlecht geschlafen, war oft aufgewacht, zwischen Hoffnungen und Befürchtungen hin und her gerissen.

Wade, der Initiator des Angriffs, erhob sich zuerst.

»Ich habe so oft meine ablehnende Haltung gegen Vorlagen dieser Art zum Ausdruck gebracht, daß ich jetzt keine Zeit mehr verschwenden möchte, Gegenargumente anzuführen.«

Nach weltweit üblicher Politikerart tat er dann genau das.

»Ich weiß, daß diese Institution dem Lande keinen Nutzen gebracht hat. Hätte es keine West-Point-Militärakademie gegeben, so hätte es keine Rebellion gegeben. Von dort kamen die Hauptverräter und Verschwörer.«

Es gab Zwischenrufe und Einsprüche. Die Debatte wurde scharf, dann zügellos, als sich die Minuten zu einer Stunde dehnten.

Senator Wilson, der Vorsitzende des Ausschusses für militärische Angelegenheiten, den George hofiert hatte, gestand Schwächen der Akademie ein, widerlegte dann aber Wade mit eindeutigen Beweisen – den gleichen Zahlen, die George in seinem Brief an die Times benützt hatte. Wilson hielt West Point keineswegs für eine ›Brutstätte des Verrats‹.

Senator Nesmith versuchte den Angriff zu schwächen, indem er die Namen von Absolventen anführte, die ihr Leben für die Union gegeben hatten – Mansfield und Reno zählten zu den Bekanntesten –, und versuchte zum Schluß seiner Rede die Emotionen seiner Kollegen zu wecken, indem er zwölf Zeilen eines Heldengedichts zitierte.

Sofort konterte Wade mit einem Flankenangriff. Gnadenlos verdrehte er die Wahrheit immer weiter und weiter. »Ich bin dafür, diese Institution abzuschaffen.« Vereinzelter Beifall. »Wir wollen nicht, daß sich die Regierung in die militärische Ausbildung einmischt, genausowenig, wie sie sich in irgendeine andere Ausbildung einzumischen hat.«

John Sherman verließ seinen Platz, spürte, daß die Strömung in die falsche Richtung ging, eilte von einem Kollegen zum anderen. Foster aus Connecticut widersprach Wade. Hatten nicht Yale und Harvard ebensoviele Südstaatler ausgebildet wie West Point?

Hämisch sagte Wade: »Yale wird nicht von der Regierung der Vereinigten Staaten finanziert.«

Es ging weiter und weiter: West Point besitze ein ›Monopol‹; weitere Anklagen, daß es die Männer ungenügend ausbilde. Hier ergriff der mächtige Lyman Trumbull zum erstenmal das Wort.

»Weil sie Festungswerke zu errichten verstehen, soll man sie deshalb für Napoleons halten? Hier liegt der Fehler. Was wir für unsere Armeen brauchen, sind Generäle, die auf die Stärke unserer Armeen vertrauen! Lassen wir die Soldaten dieses Landes auf die Rebellion los! Werft jeden Mann, der eine Befestigung zu bauen versteht, aus der Armee, und laßt die Männer des Nordens, mit ihren starken Armen und ihrem unbezähmbaren Geist, über die Rebellen kommen. Ich sage euch, sie werden sie zu Staub zermahlen!«

Der Applaus, sowohl von unten als auch von den Galeriebesuchern oben, klang diesmal wesentlich lauter. Georges Handflächen waren kalt und feucht, sein Herz klopfte viel zu schnell.

Lane zückte einen ganz neuen Satz verbaler Messer. »Diese Institution wird seit mehr als dreißig Jahren eindeutig von den Aristokraten des Südens beherrscht. Ein junger Mann, der sich in West Point einschreibt, wird vor allem angehalten, die elende, sklavenhalterische Aristokratie des Südens zu bewundern – ihm wird die Doktrin der Südstaatensezession als Wissenschaft beigebracht.«

Links von George klatschte jemand. Er wußte, wer es war, wagte aber nicht hinzuschauen. Senator Sherman und mehrere seiner Verbündeten hoben den Kopf; das Klatschen hörte auf.

Die Debatte ging weiter; endlich wurde zur Abstimmung gerufen.

»Wer ist dafür?«

Die Ja-Rufe waren laut, inbrünstig.

»Wer dagegen?«

Die Nein-Rufe waren ebenfalls laut, aber – gaukelte ihm die Hoffnung etwas vor? – weniger.

»Ich schreite zur Abzählung«, sagte Vizepräsident Hamlin. »Neunundzwanzig Ja, zehn Nein.«

Ein Aufstöhnen, in das sich herzlicher Applaus mischte. John Sherman warf George einen erschöpften Blick zu. Erst jetzt wagte es George, sich umzudrehen und dem bleichen, wütenden Stanley einen Blick zuzuwerfen.

George erhob sich, in der Absicht, ein versöhnliches Wort mit seinem Bruder zu wechseln. Stanley stand ebenfalls auf, drehte ihm den Rücken zu, und verließ die Galerie, als George zwei Meter von ihm entfernt war.

George feierte bei Willard’s, hielt andere Offiziere frei, bis niemand mehr da war.

»Ich glaube, Sie sollten jetzt heimgehen«, sagte der Kellner. Er ging heim.

Als er ins Haus geschwankt kam, sagte er zu Constance: »Wir haben gewonnen.«

»Aber du schaust so grimmig drein. Setz dich hin, bevor du umfällst.« Sie schloß die Wohnzimmertüren, damit die Kinder ihn nicht sahen.

»Heute hab’ ich das wahre Gesicht dieser Stadt gesehen, Constance. Ignoranz, Vorurteile, Mißachtung der Wahrheit – das ist das wahre Washington. Einige dieser verdammten Schurken im Senat warfen mit Lügen um sich, als würden sie die Zehn Gebote zitieren. Ich ertrag’ diesen Ort nicht länger. Ich muß irgendwie raus, irgend – «

Sein Kopf rollte zurück, sackte auf seine Schulter. Constance trat hinter ihn, strich ihm über die Stirn. Sein Mund öffnete sich, und er begann zu schnarchen.

Im Gegensatz dazu schien Stanley in der byzantinischen Atmosphäre der Stadt aufzublühen. Er fühlte sich längst nicht mehr als Neuankömmling und genoß die wachsende Verantwortung, die er als Assistent von Mr. Stanton zu tragen hatte. Außerdem verdiente er zum erstenmal in seinem Leben aus eigener Kraft gewaltige Summen.

Natürlich stellte die Genehmigung der Bewilligungsvorlage für West Point einen Rückschlag dar, der ihn auch für mehrere Tage mürrisch stimmte. Dazu kam die Verdrießlichkeit des Ministers, die gleichzeitig mit General Burnsides Feldzug gegen Lee am 20. Januar begonnen hatte; der Feldzug war dann auch bereits zwei Tage später steckengeblieben, nachdem schwere Regenfälle die Straßen von Virginia in ein einziges Morastmeer verwandelt hatten.

Burnsides Anhänger sahen einen Akt Gottes in dem Fehlschlag, der ansonsten hämisch als ›der Schlamm-Marsch‹ bezeichnet wurde. Die Befehlshaber gaben dem General die Schuld und ersetzten ihn durch Joe Hooker. Fighting Joe verkündete seine Entschlossenheit, die Armee neu zu organisieren und alles zu verbessern, angefangen von sanitären Einrichtungen bis zur Hebung der Moral (er begann sofort damit, Urlaub zu bewilligen), und vor allem versprach er, die Rebellen im Frühling auszulöschen.

Stanleys Verdruß nahm zu, als Isabel ihren Sohn Laban mit heruntergelassenen Hosen überraschte, sein Geschlechtsorgan in einem nur zu willigen Hausmädchen. Stanley sah sich gezwungen, seinem Sohn den Hintern zu versohlen, dann das Flittchen zu entlassen, was ihm keineswegs schwerfiel, und ihr zusätzlich hundert Dollars zu zahlen, was ihm durchaus schwerfiel.

An einem düsteren Tag gegen Monatsende zu rief ihn Stanton zu sich. »Schauen Sie sich das an«, sagte der Minister und warf etwas Metallisches auf den Schreibtisch.

Es war einer dieser großen Kupferpennies, zuletzt 1857 geprägt, in dessen Mitte man den Kopf von Lincoln grob hineingeschnitten oder gefeilt hatte. Stanley drehte den Penny um und entdeckte eine kleine, angelötete Sicherheitsnadel.

»Die Feinde dieser Regierung tragen das«, sagte der Minister. »Ganz offen!« Er brüllte, aber Stanley hatte sich mittlerweile an Stantons Ausbrüche gewöhnt.

»Ich hörte, daß man die Friedensdemokraten als ›Kupferköpfe‹ bezeichnet, aber ich wußte nicht, daß solch ein Abzeichen der Grund dafür ist. Darf ich fragen, woher das stammt?«

»Colonel Baker hat es besorgt. Sie sind weitverbreitet, sagt er. Ich möchte, daß Sie sich häufiger mit Baker treffen. Er soll seine Aktivitäten in der Hinsicht verstärken. Baker ist ein ignoranter, sturer Mann, aber er kann nützlich sein. Ich übertrage Ihnen persönlich die Aufgabe, diese Nützlichkeit zu vergrößern.«

»Jawohl, Sir«, sagte Stanley begeistert. »Gibt es etwas Bestimmtes, worum er sich kümmern soll?«

»Momentan noch nicht. Aber ich bereite Listen vor.« Stanton strich sich den Bart. »Noch eins. Der Präsident braucht davon nichts zu wissen. Wie ich zuvor schon sagte, Bakers Abteilung darf mit uns nicht in Verbindung gebracht werden. Seine Bemühungen sind jedoch lebenswichtig, und wir werden ihn mit soviel Geld unterstützen, wie er benötigt.« Er lächelte. »In bar. Ohne Spuren zu hinterlassen.«

»Ich verstehe. Ich werde heute nachmittag Colonel Baker aufsuchen.«

Baker leitete seine merkwürdige Organisation, die Stanton im privaten Kreis häufig als das Detektivbüro des Kriegsministeriums bezeichnete, von einem kleinen Backsteingebäude aus, gegenüber von Willard’s.

Stanley befingerte das Kupferabzeichen. Eine engere Verbindung mit Baker konnte ihre Vorteile haben. Vielleicht konnte er das Büro heimlich anweisen, die Aktionen seines Bruders George im Auge zu behalten.

Im Februar begegnete George zufällig einem Mann, der die Methoden und Irrwege der Regierung ebensosehr verachtete wie er selbst.

Hazard hatte einen Auftrag über Fünfzehn-Inch-Rodman-Geschütze mit glattem Lauf für die Rappahannockfront fertiggestellt. Christopher Wotherspoon verlud sie auf einen Güterzug, der sie schließlich zur Inspektion und Abnahme ins Washingtoner Arsenal brachte. Wotherspoon fuhr in einem Passagierwagen mit.

An zwei langen Abenden besprach er mit George Angelegenheiten der Eisenhütte. Dann überwachte Wotherspoon die Verladung der riesigen, flaschenförmigen Kanonen auf Lastkähne, die sie den Potomac hinunter nach Aquia Creek Landing bringen würden. George nahm sich frei und fuhr auf einem Kanonenboot ebenfalls flußab; in einem für den elenden Winter typischen nassen Schneesturm kam er bei der Landestelle an. Der kurze Ausflug war sowohl eine Sache des persönlichen Interesses als auch Flucht vor einem Job, den er nicht länger ertragen konnte.

Die Temperaturen stiegen, und Regen schmolz den Schnee. Das Ausladen der Kanonen dauerte fast den ganzen Tag. George stampfte im Regen umher, bis die Arbeit beendet war. Mit unverhohlenem Stolz stand er neben einem der Plattformwagen, während die Männer die letzte Kanone festzurrten. Eine glänzende, neue Mason-Lokomotive stand unter Dampf. Auf dem Führerstand war in vergoldeten Lettern zu lesen: GEN. HAUPT. Die Inschrift auf dem Tender lautete U.S. MILITARY R.RDS. Dampfwolken hüllten George ein, während der Regen von seiner Hutkrempe tropfte. Deshalb sah er nicht sofort den strengen, schnurrbärtigen Mann in schlammigen Stiefeln und Drillichhosen, der sich neben ihn stellte. George dachte, er müßte den Mann kennen, wußte aber nicht, wohin er ihn stecken sollte.

Der Mann war mehr als einen Kopf größer; für gewöhnlich reizte George schon die bloße Existenz solcher Leute. Das, zusammen mit seinem Stolz, ließ ihn sprechen, ohne sich umzuschauen.

»Meine Kanonen.«

»Auf meinem Zug.«

George wandte sich um. Jetzt kannte er den Mann. »Auf meinen Schienen«, sagte er.

»Tatsächlich? Sie sind Hazard?«

»Das bin ich.«

»Weiß ich zu schätzen. Dachte, wenn eine wirkliche Person hinter dem Namen steckt, dann ist das irgendein dickbäuchiger Buchhalter, der niemals an einen Ort wie den hier kommen würde. Sind gute Schienen, die Sie machen. Hab’ schon einige davon verlegt.«

Die Pfeife ertönte, der Dampf zischte. Über den Lärm hinweg fragte George: »Sind Sie General Haupt?«

»Nein, Sir. Bin kein General. Als ich letzten Mai die Ernennung annahm, stellte ich die Bedingung, daß ich keine Uniform tragen muß. Letzten Herbst versuchte mich Stanton zum Brigadegeneral der Freiwilligen zu machen, aber ich hab’s nie offiziell akzeptiert. Wenn man erst mal richtiger General ist, dann verbringt man seine ganze Zeit damit, Bücklinge zu machen und Formulare auszufüllen. Ich bin Haupt, das ist alles.«

Er betrachtete George, wie ein Staatsanwalt einen Zeugen mustert. »Trinken Sie was? Ich hab’ eine Flasche in dem Bau dort drüben.«

»Ich trinke schon, ja.«

»Also, wollen Sie nun einen Whiskey oder nicht?«

»Wenn ich noch jemanden mitbringen kann – meinen Arbeitsaufseher dort.«

»In Ordnung, tun Sie’s, und Schluß mit dem Gequatsche.«

Und auf diese Weise begann, mitten im heftigen Regen, Georges Freundschaft mit Herman Haupt.

Tropfen glänzten in Haupts Bart, als er Whiskey in zwei schmutzige Gläser goß. Wotherspoon hatte die Einladung abgelehnt; vor seiner Abreise wollte er noch den gewaltigen Militärkomplex besichtigen.

»Von Beruf bin ich Bauingenieur.« Das war sehr bescheiden ausgedrückt; Haupt zählte zu den besten Ingenieuren der Nation. »Ich soll die Eisenbahnlinien, die die Armee mit Beschlag belegt hat, in Ordnung halten und neue bauen. Mit all ihren Vorschriften und Regeln machen sie einem das verdammt schwer. Was tun Sie?«

»Ich arbeite in Washington.«

»Würde ich nicht mal einem Mann wünschen, den ich hasse. Was tun Sie dort?«

»Artilleriebeschaffung für das Waffenamt. Wenn Sie eine genauere Beschreibung haben wollen, ich gebe mich die meiste Zeit mit Narren ab.«

»Erfinder?«

»Das sind noch die harmlosesten.« George nahm einen Schluck. »In erster Linie meinte ich die Generäle und Politiker.«

Haupt lachte und beugte sich vor. »Was haben Sie für eine Meinung von Stanton?«

»Hab’ nicht viel mit ihm zu tun. Politisch ist er unflexibel, ein Fanatiker, und einige seiner Methoden sind recht anrüchig. Aber ich glaube, er ist kompetenter als die meisten anderen.«

»Er kapierte die Lektion von Bull Run schneller als die anderen. Als dieser Krieg anfing, begriffen die wenigsten, daß man Truppen mit der Bahn schneller und einfacher transportieren kann als auf dem Wasser.«

»Geschwindigkeit«, sagte George nickend.

»Wie bitte?«

»Geschwindigkeit – eine von Dennis Mahans Lieblingsideen. Vor mehr als zehn Jahren sagte er, daß Geschwindigkeit und Kommunikation den nächsten Krieg gewinnen würden. Die Eisenbahn und der Telegraph.«

»Falls ihn die Generäle nicht zuvor verlieren. Nehmen Sie noch einen Drink?«

»Danke, nein. Ich muß meinen jüngeren Bruder suchen. Er ist beim Pionierbataillon.«

Er erhob sich, um zu gehen. Haupt streckte die Hand aus. »War nett, unser Gespräch. Gibt nicht viele in dieser Armee, die so klug und offen sind wie Sie.« Das amüsierte George. Er hatte kaum etwas anderes getan, als Haupt zuzuhören.

»Ich muß gelegentlich nach Washington«, fuhr Haupt fort. »Beim nächstenmal schaue ich bei Ihnen herein.«

»Würde mich freuen, General.«

»Herman, Herman«, sagte er, als George hinausging.

George erkundigte sich nach den Pionieren und sprang schließlich eine Weile später bei Brooks Station von einem langsam fahrenden Waggon; hier fand er Billy, der die Konstruktion einer Pfahlsperre zum Schutz der Station überwachte. Eine Stunde lang unterhielten sie sich an der Baustelle. George erfuhr, daß sein Bruder gerade erst einen Wochenendurlaub auf Belvedere verlebt hatte. Billy war mitten in der Nacht durch Washington gekommen – nicht die richtige Zeit für einen Besuch in Georgetown.

George grinste. »Ich kann deinen Eifer ja verstehen, deine Frau zu sehen, aber nicht diese Hast, wieder zum Dienst zurückzukommen.«

»Ich will diesen Krieg hinter mich bringen. Ich hab’s satt, von Brett getrennt zu sein. Ich habe diese ganze verdammte Sache satt.«

Das war die Grundstimmung des Treffens: wenig Humor und eine drückende Melancholie. George konnte nichts tun, um seinen Bruder aufzuheitern. Er machte sich Vorwürfe deswegen, als er zur Stadt zurückkehrte.

Zu seiner Freude und Überraschung kam noch vor Ablauf einer Woche Herman Haupt in das Winder-Gebäude marschiert. Sie gingen auf ein Bier und ein gewaltiges Nachmittagsmahl zu Willard’s. Haupt war geladen; er kam gerade von einem Treffen im Kriegsministerium. George erkundigte sich nach dem Grund.

»Egal. Wenn ich drüber rede, gehe ich gleich wieder in die Luft.«

»Naja, ich hatte heute morgen wieder mal einen Zusammenstoß mit Ripley, da geht’s mir nicht viel besser. Ich sage schon ständig meiner Frau, daß ich’s hier nicht mehr lange aushalte.«

Haupt kaute an seiner kalten Zigarre. »Wenn’s soweit ist, sagen Sie mir Bescheid. Ich bringe Sie beim Eisenbahnbau unter.«

»Ich kann Schienen produzieren, aber ich habe nicht die geringste Ahnung vom Verlegen.«

»Vierundzwanzig Stunden beim Bau-Corps, und Sie haben eine Ahnung. Das garantiere ich Ihnen.«

George lächelte unvermittelt; eine Last war von ihm gewichen. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen. Vielleicht nehme ich es früher in Anspruch, als Sie erwarten.«

Rauhe Winde, eiskalte Temperaturen und plötzliche Schneestürme peinigten weiterhin die auf den Frühling wartenden Armeen. Charles schaffte es, für drei nächtliche Besuche zu Barclays Farm zu reiten. Beim erstenmal brachte er zwei Karabiner und Munition mit, die von toten Yankees stammten, und übergab sie Boz und Washington; in seinem Heimatstaat wäre er dafür ausgepeitscht worden.

Der zweite Besuch hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Er hatte gerade mit Ab einen Zweitagesritt hinter den feindlichen Linien hinter sich gebracht und trug noch die für solche Missionen übliche Uniform – hellblaue Hosen mit breiten gelben Streifen, einen konfiszierten unionsblauen Umhang und die Mütze mit den gekreuzten Säbeln. Es schneite, als er sich der Farm näherte. Boz hielt ihn für einen feindlichen Soldaten und schoß auf ihn. Die erste Kugel verfehlte ihn nur knapp. Als Boz wieder feuerte, hatten Charles und Sport hinter einer Roteiche Deckung gesucht. Die Kugel traf den Baum. Charles brüllte seinen Namen, und Boz entschuldigte sich fast zehn Minuten lang.

Charles konnte von der blonden, blauäugigen Witwe nicht genug bekommen; er war unersättlich darin, mit ihr zu reden, mit ihr zu schlafen, sie zu berühren oder auch einfach sie zu beobachten.

In der angenehmen Schläfrigkeit, die sie überfiel, nachdem sie sich geliebt hatten, erzählte er ihr aus seiner Vergangenheit. Er beschrieb, wie sie ihm am Tage seiner Ankunft in West Point den halben Schädel rasiert hatten; er berichtete ihr von den Soldaten, die er in der Zweiten Kavallerie kennengelernt und bewundert hatte, unter ihnen George Thomas aus Virginia, der nun auf der anderen Seite stand; von seinen Schwierigkeiten mit einem Captain namens Bent, der aus irgendeinem Grund die ganze Familie haßte. Und er ließ Bilder von Texas vor ihr auferstehen, so gut es mit unzulänglichen Worten ging: die Grasebenen, das Glitzern der Pecanobäume und der Pfahleichen nach einem Regen, während die Lerchen sangen.

»In diesem Staat gibt es die herrlichsten Fleckchen auf Gottes Erde.«

»Möchtest du dorthin zurückkehren?«

»Das hatte ich mal vor.« Er nahm ihre Hand. »Jetzt nicht mehr.«

Am Ende seines dritten Besuchs küßte ihn Gus viermal auf den Mund, ehe sie flüsterte: »Wann kommst du wieder?«

»Weiß nicht. Wir werden uns bald Richtung Süden aufmachen, Pferde jagen. Wir haben eine Menge verloren.«

»Sag General Hampton, ich will nicht, daß dir was zustößt.«

»Und du, sag Boz und Washington, sie sollen sich nur noch mit diesen Karabinern schlafen legen – geladen.«

68

Es ging Virgilia gegen den Strich, den Besucher zum Gehen bewegen zu müssen. Er war ein merkwürdiger Mensch, aber die Patienten mochten ihn und rechneten mit seinen Sonntagsbesuchen, obwohl er es nicht immer schaffte, sich von einem Militärdampfer nach Aquia Creek Landing mitnehmen zu lassen.

Seine Taschen und ein Rucksack waren vollgestopft mit Hustenbonbons, billigen Federn und Schreibpapier, Kautabak, Marmeladedosen und Kleingeld, damit sich die Verwundeten frische Milch bei den vorbeikommenden Händlern kaufen konnten. Virgilia hegte den Verdacht, daß sich der Mann mit diesen Geschenken selbst arm machte. Sein Job konnte nicht viel einbringen; er war lediglich Schreiber im Büro des Generalzahlmeisters. Mehr als das und seinen Vornamen wußte sie von ihm nicht, außer daß er einen inneren Drang zu verspüren schien, die Verwundeten zu trösten.

Es war früher Nachmittag. Eine kraftlose Februarsonne schien. In der Empfangshalle hörte Virgilia Stimmen. Sie näherte sich dem Sonntagssamariter, der neben einem schlafenden Soldaten saß, die Hand des jungen Mannes zwischen seinen weichen, zarten Händen haltend. Der Besucher, Mitte Vierzig, war bärtig und stämmig wie ein Dockarbeiter gebaut. Er hatte sanfte Augen und helle Haut.

»Walt, die Besucher sind da.«

Mit langsamen, bärenartigen Bewegungen erhob er sich von dem Hocker. Der Soldat öffnete ruckartig die Augen. »Geh nicht!«

»Ich komme wieder«, sagte Walt, beugte sich hinunter und gab dem Jungen einen kleinen Kuß auf die Wange. Einige der Krankenschwestern bezeichneten ein solches Benehmen als unnatürlich, aber die meisten der Patienten, die unter ständigen schrecklichen Schmerzen litten oder die auf die Säge des Chirurgen warteten, begrüßten Walts streichelnde Hände und seine Küsse. Für manche von ihnen war das die einzige Liebe, die sie vor ihrem Tod erfahren würden.

»Nächste Woche, Miss Hazard, wenn ich kann«, versprach der Sonntagsmann und schulterte den Rucksack. Er schob sich am einen Ende des Ganges zur Tür hinaus, während die Würdenträger von der anderen Seite eintraten. Die Delegation bestand aus zwei Frauen und vier Männern der Gesundheitskommission, sowie einer siebenten Person, der die anderen mit Ehrerbietung entgegenkamen.

»Eine typische Krankenstation, Kongreßabgeordneter. Gut geführt von der freiwilligen Schwesterntruppe, wie Sie sehen können.« Der Sprecher, einer der Herren der Kommission, winkte Virgilia heran. »Oberschwester? Dürften wir kurz Ihre Zeit in Anspruch nehmen?«

Der Mann, der als Kongreßabgeordneter angeredet worden war, hielt sich leicht gebeugt; er war groß und blaß und reizlos. Trotzdem beeindruckte er sie, als er seinen hohen Hut abnahm und mit einem schnellen Blick ihr Gesicht und ihre Figur überflog.

Die weißbärtige Vogelscheuche, die sie hergewinkt hatte, sagte: »Sie sind Miss –?«

»Hazard, Mr. Turner.«

»Nett von Ihnen, daß Sie sich an mich erinnern. Wir haben einen Ehrengast, der einige unserer Hospitäler zu besichtigen wünschte. Darf ich Ihnen Herrn Samuel G. Stout vorstellen, Repräsentant von Indiana?«

»Miss Hazard, nicht wahr?« sagte der Kongreßabgeordnete, Virgilia für einen Moment sprachlos machend. Aus diesem etwas mickrigen Körper rollten die tiefsten, vibrierendsten Töne, die sie je vernommen hatte – die Stimme eines geborenen Redners, der jede Menschenmenge aufputschen oder zu Tränen rühren kann. Er sprach diese vier Worte, betrachtete sie aus kleinen, eher eng zusammenstehenden Augen und schickte dabei Schauer über ihren Rücken.

Sein Blick machte sie übermäßig nervös. »Das ist richtig, Kongreßabgeordneter. Wir freuen uns über Ihren Besuch.«

»Nach dem Frontdienst«, sagte Stout, »ist dies hier die wichtigste Arbeit. Ich stimme mit Mr. Lincoln nicht überein, daß wir die Verräter gut behandeln müssen. Ich stehe in Mr. Stevens Lager und bin der Meinung, wir sollten sie gnadenlos bestrafen. Sie helfen dabei, diese Aufgabe zu vollenden.«

Zustimmendes Gemurmel der anderen.

»Sie gehören zum Corps von Miss Dix? Vielleicht erzählen Sie uns etwas von Ihren Aufgaben.« Stout lächelte. Seine Zähne waren krumm – ihr erster Eindruck war richtig gewesen; rein körperlich war er nicht gerade beeindruckend –, doch sie spürte Stärke und Entschlossenheit in ihm. »Dieser junge Bursche zum Beispiel.«

Der Junge im Bett starrte die Besucher mit fiebrigen Augen an. »Henry hatte Wachdienst am Rappahannock«, sagte sie. »Rebellenscouts kamen nahe an seinem Posten vorbei. Schüsse wurden gewechselt.« Der Junge wandte den Kopf ab und schloß die Augen. Virgilia zog die Besucher außer Hörweite. »Ich fürchte, sein rechtes Bein ist nicht mehr zu retten.«

»Für diese Verstümmelung eines jungen Mannes müßten zehn Rebellen ihr Leben lassen«, sagte Stout. »Ich würde sie kreuzigen, wenn unsere Gesellschaft diese Form der Strafe nicht abgeschafft hätte, nichts ist grausam genug für jene, die diesen Krieg der Grausamkeit begonnen haben.«

Ein Kommissionsmitglied sagte: »Bei allem nötigen Respekt, Kongreßabgeordneter, finden Sie das nicht ein bißchen zu hart?«

»Nein, Sir, das finde ich nicht. Ein lieber Verwandter von mir, Adjutant von General Rosecrans, wurde bei Murfreesboro niedergemetzelt. Das ist noch keine sechzig Tage her. Von seinem Körper blieben keine Überreste, die man seiner Frau und seinen kleinen Kindern hätte überbringen können. Er wurde so verstümmelt, daß gewisse Teile – «

Er hielt inne, räusperte sich; er wußte, daß er über das Ziel hinausgeschossen war. Allerdings nicht, soweit es Virgilia betraf. Dieser Mann erregte sie, wie es seit ihrer Bekanntschaft mit dem visionären John Brown nicht mehr vorgekommen war.

Mit einem leichten Schwindelgefühl führte sie die Besucher durch die Station; unbewußt dehnte sie die Beschreibung der Diagnose eines jeden Patienten, bis Turner seine große, goldene Uhr hervorzog. »Ich fürchte, wir müssen uns beeilen, Miss Hazard. Der Quartiermeister erwartet uns.«

»Aber gewiß, Mr. Turner.« Sie zögerte; wenn Stout jetzt hinausging, ohne etwas davon bemerkt zu haben, wie sie auf ihn reagierte, dann sah sie ihn vielleicht nie wieder. »Könnte ich vielleicht mit dem Kongreßabgeordneten kurz unter vier Augen sprechen? Dieses Hospital benötigt verschiedene Dinge ganz dringend. Vielleicht könnte er uns behilflich sein.«

Das klang fadenscheinig, aber ihr fiel nichts Besseres ein. Die Besucher entfernten sich, während Stout ihr folgte. Zwischen den Betten zweier schlafender Patienten blieb sie stehen.

»Ich habe eben gelogen. Wir sind mit allen Dingen wohl versorgt.«

Sein Blick wanderte zu ihren Brüsten und wieder zurück. Er erlaubte sich ein Lächeln. »Um ehrlich zu sein, das habe ich gehofft.«

»Ich – « Sie glaubte kaum, daß hier Virgilia Hazard nach Worten suchte, aber es war die neue Virgilia, an jenem Abend geboren, als Brett ihr Haar gebürstet hatte. »– Ich wollte lediglich meine Bewunderung für Ihre Bemerkungen über den Feind zum Ausdruck bringen. Ich kann die Aussicht auf einen milden Frieden, wie ihn Mr. Lincoln anstrebt, nicht tolerieren.«

Stouts Lippen preßten sich zusammen. »Es wird keinen milden Frieden geben, wenn es nach einigen von uns im Kongreß geht.« Er beugte sich vor, seine Stimme so wunderbar wie die tiefen Register einer Orgel. »Wenn Sie Gelegenheit haben, Washington zu besuchen, dann würde ich mich freuen, wenn wir uns ausgiebiger über dieses Thema unterhalten könnten.«

»Ich – würde mich freuen, Kongreßabgeordneter. Ich kann Ihre Einstellung zum Krieg gut verstehen, wo doch ein Verwandter von Ihnen vom Feind verstümmelt wurde.«

»Es war der ältere Bruder meiner Frau.«

Er ließ den Satz zwischen ihnen hängen. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Schlag erhalten. Der Ausdruck seiner Augen zeigte, daß diese Enthüllung nicht zufällig erfolgt war.

»Ihre –?«

»Frau«, wiederholte er. »Seit wir von Muncie kamen, ist sie mit Frauensachen beschäftigt – humanitäre Komitees, solche Dinge. Wenn es unbedingt notwendig ist, begleite ich sie in der Öffentlichkeit. Ich erwähne das nur, um zu zeigen, daß wir nur wenig gemeinsam haben.«

»Bis auf eine Heiratsurkunde.«

»Das ist ziemlich engherzig, Miss Hazard. Ich bin kein Mann, der zur Falschheit neigt – außer wenn ich mich an die Wähler wende.« Sein Versuch zu lächeln schlug fehl. »Bitte, seien Sie nicht ärgerlich. Ich finde Sie ungemein attraktiv. Ich wollte lediglich offen sein. Hätten Sie mich bei einer Lüge ertappt, dann hätten Sie nur schlecht von mir gedacht.«

Ihr Kopf begann zu schmerzen. Die unangenehme Überzeugung drängte sich ihr auf, daß er all das nicht zum erstenmal sagte. Das kam alles zu routiniert, zu glatt heraus.

»Meine Ehe sollte kein Hindernis für ein diskretes Treffen und ein anschließendes stimulierendes Gespräch sein.«

Sie trat einen Schritt zurück. »Ich fürchte, es ist eindeutig ein Hindernis.«

Er runzelte die Stirn. »Meine liebe Miss Hazard, lassen Sie sich doch nicht von alberner Prüderie – «

»Sie müssen mich entschuldigen, Kongreßabgeordneter.« Sie wirbelte herum und ging davon.

Virgilia war wütend, weil sie sich von ihren Emotionen hatte fortreißen und demütigen lassen. Sie hatte diesen Mann körperlich stärker begehrt als jeden anderen Mann, seit Grady gestorben war. Dieses Begehren wurde noch dadurch verschärft, daß Stout ein Mann von Macht und Einfluß war.

Das Bild seiner Augen, die Erinnerung an seine hallende Stimme hetzte einen schmerzlichen Ausdruck über ihr Gesicht, als sie durch die Schwingtüren am Ende der Station stürmte.

»Verdammt soll er sein, verdammt soll er sein – warum ist er nur verheiratet?«

69

Der Kneipenraum war unappetitlich und lag in einer üblen Gegend, unten in der Q-Street nahe Greenleaf’s Point. Es wimmelte hier nur so von prahlerischen Offizieren, geilen Zivilisten, herumlungernden Totschlägern und Prostituierten – Weiße, Schwarze, sogar eine Chinesin war darunter. Jasper Dills war nur äußerst widerwillig hierher gekommen und nur darum, weil an den üblichen Orten kein Treffen abgehalten werden konnte. Schließlich hatte er der Bitte eines Armeedeserteurs entsprochen.

Dills Fahrer, der eine versteckte Pistole bei sich trug, wartete an der kupferbeschlagenen Bar, was den kleinen Anwalt etwas beruhigte. In Washington konnte man nicht vorsichtig genug sein.

Über den Tisch hinweg sagte Bent: »Ich bin verzweifelt, Mr. Dills. Ich verfüge über keinerlei Mittel.«

Mit manikürten Fingernägeln klopfte Dills gegen sein Glas mit Mineralwasser. »Ihr etwas wirrer Brief hat zumindest das klar zum Ausdruck gebracht. Ich spreche ganz offen, und ich erwarte, daß Sie jedes meiner Worte genau beachten. Falls ich die Vereinbarungen treffe – und ich die Nachricht schreibe, an die ich denke –, dann dürfen Sie mich keinem Risiko aussetzen. Sie müssen mit dem Gentleman, bei dem ich Sie einzuführen beabsichtige, verhandeln, als würde die Vergangenheit nicht existieren. Sie müssen Ihre Probleme in West Point aus Ihrem Gedächtnis streichen. Ihre eingebildeten Kränkungen – «

Bent schlug auf den Tisch. »Sie sind nicht eingebildet.«

»Wenn Sie das noch mal tun«, flüsterte Dills, »stehe ich auf und gehe.«

Mit zitternder Hand bedeckte Bent seine Augen. Was für ein verachtenswerter Fleischklotz, dachte der Anwalt.

»Bitte, Mr. Dills – es tut mir leid. Ich kann die Vergangenheit vergessen.«

»Das wäre auch besser. Aufgrund Ihrer Handlungsweise in New Orleans stehen Ihnen keine legalen Wege mehr offen. Dieser hier bewegt sich bestenfalls im Randgebiet.«

»Wie – wie haben Sie von New Orleans erfahren?«

»Ich habe gewisse Möglichkeiten. Ich interessiere mich nun mal für Ihre Karriere, aber das spielt für unsere Diskussion keine Rolle. Zur Sache. Sie versichern mir nach bestem Wissen und Gewissen, daß Sie dem fraglichen Gentleman noch nie begegnet sind?«

»Ja.«

»Aber er kennt möglicherweise Ihren richtigen Namen. Darum und weil er Zugang zu Militärakten hat, müssen wir Sie mit einem neuen Namen ausstatten. Was sollen wir nehmen?«

Bent befingerte sein Kinn. »Irgendwas aus Ohio? Wie wär’s mit Dayton? Ezra Dayton.«

»Das sollte gehen«, erwiderte Dills achselzuckend. »Zum ersten Treffen werden Sie ins Kriegsministerium müssen. Können Sie das?«

»Gibt es keine andere –?« Unter Dills starrem Blick hielt er inne. »Ja, sicher kann ich das.«

Dills war keineswegs sicher, sagte aber nichts. »Ausgezeichnet. Bevor Sie desertierten, haben Sie sich eine Reputation für Brutalität erworben – oh, tun Sie nicht so unschuldig, ich habe Kopien Ihrer Akten gesehen. In diesem speziellen Fall wird Ihnen das sogar zugute kommen. Schreiben Sie die Adresse Ihres Pensionszimmers auf dieses Stück Papier. Morgen schicke ich einen Boten mit einem Umschlag, adressiert an Ezra Dayton, Esquire. Der Umschlag wird einen zweiten, versiegelten Umschlag enthalten, den Sie nicht öffnen dürfen. Das ist mein Einführungsschreiben, mit dem ich Sie beim zuständigen Assistenten für innere Sicherheit, Stanley Hazard, für eine Beschäftigung empfehle.«

In einem weiträumigen Büro im ersten Stock führte eine Ordonnanz Bent zu dem schönen Walnußschreibtisch von Stanley Hazard. Wie er so davorstand, spürte er den Stachel der Vergangenheit. Doch Mr. Stanley Hazard besaß wenig Ähnlichkeit mit seinem jüngeren Bruder. Er war teuer gekleidet, mit Spitzenhemd und zu seinem Gehrock passender Krawatte.

Nachdem Stanley seinen Besucher hatte warten lassen, während er einen Brief öffnete und las, ließ er sich schließlich zu einer gnädigen Handbewegung herab. »Setzen Sie sich. Meine Zeit ist heute morgen knapp bemessen.«

Stanley legte den Brief vor sich hin. Bent mußte sein Hinterteil in den Stuhl hineinquetschen. Die Vergangenheit überwältigte ihn. An seiner Schläfe begann eine Ader zu pochen, aber er zwang sich, gewalttätige Gedanken zu unterdrücken. Dieser Mann stellte vielleicht die einzige Möglichkeit dar, sich vor Armut und totalem Niedergang zu retten. Er mußte die Familie des Mannes vergessen.

Es wurde leichter für ihn, als Stanley lächelte, ein langsames, angenehm schmieriges Lächeln. »Dieser Brief von Rechtsanwalt Dills besagt, daß Ihr Name Dayton ist – das ist aber nicht Ihr wirklicher Name.«

Bent zwinkerte vor Entsetzen. »Was soll das?« Hatte ihn der Anwalt verraten?

»Sie wissen über den Inhalt des Schreibens nicht Bescheid?«

»Nein, nein.«

Stanley las laut vor. »Dayton ist ein Pseudonym. Seine wahre Identität kann aufgrund von Verbindungen mit hochgestellten Persönlichkeiten nicht enthüllt werden. Seine erzwungene Anonymität mindert jedoch keinesfalls seine Fähigkeit, Ihnen behilflich zu sein, noch meine nachdrückliche Empfehlung für ihn.«

»Sehr – sehr freundlich von dem Anwalt«, japste Bent erleichtert.

Stanley faltete die Hände und studierte seinen Besucher. »Der Anwalt präsentiert Sie als Kandidaten für den Dienst in einer Abteilung dieses Ministeriums, die offiziell gar nicht existiert. Der Chef dieser Abteilung ist Colonel Baker, der gelegentlich auch mit gewissen vertraulichen Missionen hinter den feindlichen Linien beauftragt wird. Ab und zu schicke ich ihm einen vielversprechenden Mann. Anscheinend war es das, was Dills vorschwebte.«

Stanley wartete auf eine Antwort. Schwitzend sprudelte Bent hervor: »Das hört sich nach einer ungeheuer wichtigen Arbeit an, Sir. Arbeit, die ich mit Begeisterung verrichten würde. Ich stehe fest hinter dem Programm dieser Regierung und – «

»Das scheint bei Jobsuchern stets der Fall zu sein.« Bent krümmte sich unter Stanleys Grinsen.

Einen Augenblick später überfiel Bent ein neuer Gedanke. Dieses spezielle Mitglied des Hazard-Clans war vielleicht aus dem gleichen Holz geschnitzt wie er selbst – und verdiente möglicherweise seine Feindschaft gar nicht. Stanley Hazard war hochmütig, ließ einen seine Bedeutung spüren; das waren Eigenschaften, die Bent bewunderte.

»Vergessen Sie nicht, Dayton, Colonel Baker entscheidet über die Einstellung eines Agenten. Ich kann jedoch meine Empfehlung der von Dills hinzufügen.«

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen – «

»Ich habe nicht gesagt, daß ich es tun werde«, unterbrach Stanley. Eine weitere genaue Musterung. »Weshalb sind Sie nicht in der Armee?«

Terror. Er hatte sich auf die Frage vorbereitet, aber das zählte jetzt nicht mehr. »Ich war, Mr. Hazard.«

»Natürlich können wir das wegen des Problems mit Ihrer Identität nicht überprüfen. Sehr hübsch ausgedacht.« Ein schwaches Lächeln milderte Stanleys Strenge. »Zumindest die Umstände Ihrer Trennung können Sie verraten.«

»Ja, sicher. Ich habe um meine Entlassung gebeten. Ich weigerte mich, das Kommando über eine Niggereinheit zu übernehmen.«

Stanley ballte seine Hand zur Faust. »Behalten Sie in diesem Ministerium diese Art von Bemerkungen für sich. Der Minister ist ein entschiedener Anhänger der Emanzipation.«

Bent starrte in einen Abgrund von Fehlschlägen. »Es tut mir schrecklich leid, Mr. Hazard. Ich verspreche – «

Stanley winkte ab. »Nehmen Sie noch einen kleinen Rat von mir an. Colonel Baker ist ein entschiedener Abstinenzler. Wenn Sie trinken, dann nicht vor der Begegnung mit ihm.«

Bents Hoffnung stieg wieder an. Vertraulicher fuhr Stanley fort: »Davon abgesehen will der Colonel keine Heiligen, er verlangt lediglich zwei Eigenschaften. Seine Männer müssen erstens vertrauenswürdig und zweitens bereit sein, Befehlen zu gehorchen. Allen Befehlen, ganz gleich, wie sie lauten.« Er beugte sich so schnell vor, daß es aussah, als würde er sich auf ein Opfer stürzen. »Habe ich mich klar ausgedrückt, Sir?«

»Absolut. Ich verfüge über all diese Eigenschaften.«

»Dann werde ich meine Empfehlung der von Dills hinzufügen. Wie ich schon sagte, Baker wird die endgültige Entscheidung treffen. Aber ich kann Charaktere sehr gut beurteilen. Ich würde sagen, Ihre Aussichten sind sehr gut.«

Er griff zur Feder. Dann reichte er seinem Besucher den versiegelten Umschlag. »Bringen Sie das zu Colonel Baker in 217 Pennsylvania Avenue.«

»Danke, Sir, ich danke Ihnen.« Bent wuchtete sich hoch, streckte die Hand, merkte, daß er den Brief hielt, und ließ ihn fallen. Stanley erhob sich ebenfalls und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

Kochend vor Wut über die Zurückweisung bückte sich Bent nach dem Brief, was ihm wegen seines Bauches nicht gerade leicht fiel. Stanley sagte scharf: »Noch eins.«

»Sir?«

»Ihr Name taucht auf meinem heutigen Terminkalender nicht auf. Unser Gespräch hat nie stattgefunden. Wenn Sie diese Anweisung mißachten, dann können Sie große Schwierigkeiten bekommen.« Er machte eine Geste. »Guten Tag.«

Was würden Sie tun, wenn er redete? Ihn ermorden? Die Möglichkeit jagte ihm Angst ein, aber nicht für lange. Er konnte seine Erregung kaum unterdrücken. Endlich hatte er eine Tür zu den Korridoren der Macht gefunden, auch wenn sie nur einen Spalt breit offen stand.

Er eilte die Treppen hinunter und schwor sich, bei Colonel Baker um jeden Preis einen guten Eindruck zu machen. Vielleicht konnte er durch dieses Sonderbüro George und Billy Hazard aufspüren. Er stellte sich vor, wie er eine weibliche Verdächtige verhörte. Sah sich, wie er ihr die Kleider vom Leib riß. Wie er nach unten griff, sie berührte. Und sie konnte nichts dagegen tun.

Wie neugeboren trat er in den Sonnenschein hinaus. Angestellte und einige Offiziere sahen verblüfft dem fetten Mann nach, der fast über die Gehsteige am President’s Park tanzte.

70

Von der Steuerbordreling aus beobachtete Cooper den Himmel. War es Einbildung, oder wurde die dichte Wolkendecke tatsächlich dünner? So dünn, daß die Strahlen des Mondes hindurchdringen konnten?

Ballantyne hatte ihm erklärt, daß eine erfolgreiche Fahrt von zwei Bedingungen abhängig war: dem richtigen Stand der Flut und totaler Dunkelheit. Die Flut stimmte, aber jetzt, spät nachts, hatte der Wind auf das Land zu gedreht und trieb die Wolken vor sich her. Der Ausguck, vor zehn Minuten noch unsichtbar, zeichnete sich deutlich gegen den Himmel ab.

Ohne irgendwelche Zwischenfälle war die Water Witch in drei Tagen von Nassau hochgedampft. Seit sie den Hafen verlassen hatten, war Cooper bemüht gewesen, mit der Enthüllung fertigzuwerden, daß Ashton Mitbesitzerin dieses Schiffes war.

»Big Hill auf Steuerbord«, rief der Ausguck leise. Ein Mann rannte nach achtern, um es dem Ruderhaus weiterzusagen. Cooper strengte sich an, die Landmarke auf dem flachen, verlassenen Strand zu entdecken. Ganz plötzlich sah er sie, mit erschreckender Deutlichkeit; ein großer, hoher Hügel, der den Blockadebrechern sagte, daß sie sich in der Nähe von Fort Fisher und sicheren Gewässern befanden.

Ballantyne und der Lotse hatten sich über den Kurs des endgültigen Durchbruchs geeinigt. Sie liefen ungefähr zwanzig Meilen nördlich von Cape Fear vorbei, schwangen dann nach Backbord herum und passierten das nördlichste Schiff der Blockadelinie. Nachdem das Manöver im Zwielicht ausgeführt worden war, warteten sie praktisch bewegungslos die völlige Dunkelheit ab und glitten dann der Küste entlang bis zur Mündung des Flusses.

Die langsame Fahrt zerrte an den Nerven. Ständig leuchteten auf ihrer Backbordseite die blauen Laternen der Blockadeschiffe. Jetzt, bei zunehmendem Licht, entdeckte Cooper Masten und einen Rumpf, groß genug für einen Kreuzer.

Wie weit entfernt? Eine halbe Meile? Wenn er den Yankee sehen konnte, weshalb sollte der Yankeeausguck nicht sie sehen können?

Er eilte auf das Ruderhaus zu, wo er im schwachen Mondschein Ballantyne, den Lotsen und den Steuermann erkennen konnte, die in einen großen Blechkegel spähten. Der Kegel deckte das schwache Kompaßlicht ab. Cooper sagte: »Herr Kapitän, sicherlich haben Sie bemerkt, daß es aufklart.«

»Jaah.« Ballantynes Grinsen, sein universelles Verteidigungsmittel gegen alle Feinde und Widerwärtigkeiten, wirkte verzerrt in dem Silberlicht. Der Steuermann und der Lotse flüsterten miteinander. »Pech, sowas«, fügte Ballantyne hinzu.

»Ist die Durchfahrt jetzt nicht zu riskant? Sollten wir nicht besser umkehren?«

»Was, abhauen? Dann würden uns die Yankees jagen.«

»Und wenn? Wir können davonkommen, oder – Sie sagten mir, wir seien schneller als jedes dieser Schiffe.«

»Das sind wir auch.«

»Und je näher wir dem Fluß kommen, desto mehr Feindschiffe – ist das richtig?«

»Das ist es.«

»Dann sollten wir es nicht riskieren.«

»Oh, sind Sie plötzlich Kapitän der Water Witch geworden?« fragte Ballantyne unfreundlich. »Ich glaube nicht. Sie sind lediglich Passagier. Natürlich ist es gefährlicher geworden, weil die Wolkendecke unerwartet aufgebrochen ist. Aber die Eigner haben mir genaue Anweisungen gegeben. Keine unnötigen Verzögerungen.«

Wütend trat Cooper dichter an den Kapitän heran, dessen Angstschweiß er plötzlich riechen konnte. »Die Konföderation wird nicht zusammenbrechen, wenn eine Schiffsladung Havannazigarren verspätet eintrifft. Ich werde es nicht zulassen, daß meine Familie in Gefahr gerät, bloß wegen Ihrer Habsucht und der meiner Schwe… Zeigen Sie ein bißchen gesunden Menschenverstand, Mann. Drehen Sie um!«

»Verlassen Sie die Brücke«, sagte Ballantyne. »Verschwinden Sie, bevor ich Sie runterschmeißen lasse.«

Cooper griff nach Ballantynes Arm. »Zum Teufel mit Ihrer gierigen Seele. Hören Sie – « Der Kapitän gab ihm einen Stoß. Cooper stolperte und wäre beinahe gefallen.

Der Lotse stieß einen ellenlangen, verzweifelten Fluch aus. »Der Herr sei uns gnädig – da ist der Mond.«

Voll und weiß kam er hinter einer leuchtenden Wolke hervorgesegelt. Cooper sah die Masten von vier gewaltigen Schiffen wie das Bühnenbild eines Hafens auftauchen. Eine durch ein Sprachrohr verstärkte Baritonstimme rief die Water Witch an.

»Hier ist der Bundes-Kreuzer Daylight. Drehen Sie bei, und warten Sie, bis wir an Bord kommen.«

»Höllenfeuer, aus dem Weg«, rief Ballantyne, stieß den Steuermann beiseite und beugte sich über das Sprachrohr zum Maschinenraum. »Maschinen volle Kraft voraus. Gebt mir allen Dampf, den Ihr habt.« Cooper konnte sich die Bedingungen unten lebhaft vorstellen; bei geschlossenen Luken mußten die Heizer in einem Inferno arbeiten.

»Oh, mein Gott«, sagte er, als ein Schwarm kleiner Boote hinter dem Kreuzer zum Vorschein kam. Wie silbrige Wasserwanzen jagten die Bundes-Barkassen den Blockadebrecher.

Über das Sprachrohr dröhnte die gewaltige, körperlose Stimme. »Drehen Sie bei, oder ich eröffne das Feuer!«

»Ballantyne«, fing Cooper an, »Sie müssen – « Flüche und Rufe der verängstigten Matrosen übertönten seine Worte, ebenso wie Ballantynes lautes »Schafft ihn raus!« Die Tür des Ruderhauses knallte vor Coopers Nase zu.

»Dampffregatte«, rief der Ausguck. »Genau achtern.« Und da war sie, machte sich ein paar Meilen hinter ihnen an die Verfolgung; Dampfwolken stiegen im Mondlicht auf, all ihre Segel waren gesetzt, um ihrer von den Kesseln erzeugten Geschwindigkeit noch zwei oder drei Knoten hinzuzufügen.

Coopers Eingeweide verkrampften sich. Ein, zwei, drei glitzernde Spuren stiegen über der Daylight in den Himmel; das weiße Kalziumlicht ihrer Leuchtraketen ließ den Mond verblassen. Selbst die Gewehre der Männer in den Barkassen konnte man erkennen.

Die Kanone auf dem verfolgenden Kreuzer begann zu krachen. Einmal, zweimal. Die Schüsse waren zu kurz, ließen Wasserfontänen aufsteigen, die in dem grellen Licht wie Diamanten funkelten. Beim ersten Knall rannte Cooper nach unten.

Ihre Kabinentür stand offen; Judith war da, die Arme um die Kinder gelegt. Sie versuchte, ihre Angst zu verbergen. Cooper packte ihre feuchte Hand. »Los, kommt, hier entlang.«

Eine weitere Granate explodierte, diesmal viel näher. Das Schiff ruckte und bockte.

»Pa, was ist das?« rief Judah.

»Der Mond ist rausgekommen, und Ballantyne wollte nicht umkehren. Er denkt nur dran, seine Waren nach Wilmington zu bringen. Kommt schon!« Er riß so hart an Judiths Hand, daß sie aufschrie. Er bedauerte es sofort, aber er mußte sie in Sicherheit bringen.

»Wohin gehen wir?« fragte seine Tochter, als das Schiff sich schief legte.

»Zu den Booten. Ballantyne wird sie mittlerweile zu Wasser gelassen haben. Unsere einzige Chance ist, an Land zu rudern.«

Als die Familie an Deck auftauchte, konnte Cooper nicht fassen, was er sah: Alle Boote schwangen noch wild an ihren Davits. Er packte einen vorbeieilenden Mann der Crew.

»Lassen Sie die Boote runter, damit wir weg können!«

»Niemand verläßt das Schiff, Mister. Wir halten auf den Fluß zu.«

Weitere Lichter erstrahlten in weißem Glanz. Eine Granate jaulte heran, traf das Heck und riß es in die Höhe. Judith schrie auf, ebenso die Kinder. Alle fielen sie gegen Cooper, nagelten ihn an der Reling fest.

»Papa, ich hab’ Angst.« Marie-Louise warf die Arme um ihn. »Sinkt das Boot? Werden wir Gefangene der Yankees?«

»Nein«, keuchte er. Eine Kanone dröhnte. Unter Deck erfolgte eine heftige Detonation. Jemand schrie: »Der Rumpf ist getroffen.«

Sofort legte sich der Blockadebrecher scharf nach Steuerbord über. Cooper sah Ballantyne aufgeregt an Deck herumrennen, auf der Suche nach Männern, die ihm helfen würden, ein Boot zu Wasser zu lassen. »Bastard«, sagte Cooper. »Habgieriger, dämlicher Bastard. Kommt, Kinder, Judith, wir steigen in dieses Boot, und wenn ich dafür jeden Mann dieses Schiffes umbringen muß.«

Wenn alles fehlschlug, dachte Cooper, konnten sie immer noch an den Strand schwimmen. Seine Tochter festhaltend, arbeitete er sich über das stark geneigte, schlüpfrige Deck auf den Kapitän zu, der sich mit einem Boot abmühte.

»Ballantyne!« – Bevor Cooper noch was brüllen konnte, schlug die nächste Granate unterhalb der Wasserlinie ein. Der Explosion folgte ein entsetzlicher Lärm – das Kreischen reißenden Metalls, das wütende Zischen von Dampf und Schreie, wie sie Cooper noch nie gehört hatte.

In all dem Lärm, dem Kreischen, dem Krachen von Brandung und Kanonen, verschaffte sich Ballantyne unglaublicherweise Gehör.

»Die Kessel sind geplatzt. Jeder Mann – « Zwischen Ballantynes Beinen riß das Deck auf; laut aufbrüllend wurde er von einer Dampfwolke verschluckt. Der Maat, Soapes und zwei andere Mannschaftsmitglieder sprangen als erste über Bord. Sterbende Männer schrien im Maschinenraum. Cooper wurde heftig gegen die Reling geschleudert. Er kletterte hinüber; mit einem Arm umklammerte er die Schulter seiner Tochter, mit der anderen Hand tastete er nach Judiths Hand und hielt sie fest. Der Dampfer holte noch weiter über, der Kiel stieg aus dem Meer. Die Mains flogen über die Reling in weißen Dampf.

Wassertretend keuchte Cooper: »Wo ist – Judah?«

»Ich weiß nicht«, rief Judith zurück.

Dann, mitten unter den Trümmern der berstenden Water Witch, entdeckte er einen treibenden Körper, dessen Kleider er erkannte. Er stieß Marie-Louise zu seiner Frau und kämpfte sich das kurze Stück gegen die Wellen vor. Die düstere Vorahnung überfiel ihn, daß sein Sohn tot war, von den platzenden Kesseln erschlagen. Judah trieb mit dem Gesicht nach oben auf dem Wasser. Cooper griff nach der Schulter seines Sohnes, verfehlte sie und erwischte ihn am Kopf, der langsam herumrollte; an mehreren Stellen kamen die Knochen durch. Judah war kaum zu erkennen.

»Judah!« Er kreischte den Namen hinaus. Der leichte Körper trieb weg und ging unter. »Judah! Judah!« Er zerrte ihn zurück; Wogen schleuderten ihn hin und her, das Wasser schlug über ihm zusammen, vermischte sich mit seinen Tränen. »Judith, er ist tot, er ist tot!«

»Schwimm, Cooper!« Sie packte ihn am Kragen, riß daran. »Schwimm mit uns, oder wir kommen alle um!«

Ein Mastteil krachte dicht hinter ihr ins Wasser. Cooper begann mit dem linken Arm zu rudern, während seine rechte Hand die hysterisch heulende Marie-Louise stützte. Judith half von der anderen Seite. Cooper spürte den Schmerz in seiner Brust, dann in seinen Muskeln; jede Welle, die von hinten über ihn hereinbrach, brachte ihn dem Ertrinken näher.

Einen Augenblick später stieß er gegen treibende Gegenstände. Er spuckte Salzwasser und einen Teil seines Mageninhalts; neben ihnen schwammen runde, eingewickelte Scheiben und kleine Holzkistchen mit spanischen Aufschriften. Sherry und Käse, Käse und Sherry – auf und ab, auf und ab, an der Küste des Krieges.

Der Anblick verschmolz Coopers Gedanken und Ängste und Gefühle, sperrte sie in ein solides schwarzes Delirium. Er schrie noch einmal auf und schwamm dann weiter und weiter. An nichts anderes erinnerte er sich mehr.

71

Im Halbdunkel eilte Orry an einer Mauer vorbei, auf die jemand drei Worte geschmiert hatte: Tod für Davis. Weder diese Botschaft – nichts Ungewöhnliches in diesen Zeiten – noch sonst etwas, sein verhaßter Job eingeschlossen, konnten ihm die Laune verderben. Er beeilte sich, weil das Abendessen länger als beabsichtigt gedauert hatte. Er und sein alter Freund George Pickett hatten eine Vierzig-Dollar-Flasche zu ihrem Mahl geleert.

Pickett, der in West Point Orrys Klassenkamerad gewesen war, zog seinen Freund damit auf, daß er seine Zeit auf einen Job als Wachhund für General Winder verschwendete. »Obwohl der arme Irre weiß Gott von jemandem im Auge behalten werden muß, damit er uns vor der Welt keine Schande macht.« Orry konterte, daß täglich Waggonladungen Gefangene in die Stadt kamen und in die überfüllten Gefängnisse gesteckt wurden.

»Winder verwaltete diese Örtlichkeiten ebenfalls, verstehst du. Die Yankees würden noch viel schlimmer behandelt werden, wenn das Kriegsministerium nicht ab und zu hineinschauen und die übelsten Exzesse verhindern würde.«

Das sah Pickett ein. Als sie am Grund der Weinflasche angelangt waren, gestand er ein, daß er trotz seiner Beförderung zum Generalmajor im Herbst unglücklich war. Während der letzten Monate hatte er das Mittelstück der Fredericksburg-Linie kommandiert; es hatte sich kaum was ereignet. Zwischen den alten Freunden schien eine unausgesprochene Wahrheit in der Luft zu hängen. Der Krieg lief nicht gut für die Konföderation.

Arm in Arm marschierten sie hinaus und trennten sich auf der Straße; Pickett ging mit seiner Frau in das elegante neue Theater von Richmond, und Orry holte Madeline vom Zug ab.

Er eilte durch den überfüllten, düsteren Bahnhof; auf einer großen Tafel stand in Kreide, daß der Richmond & Petersburg-Zug anderthalb Stunden Verspätung hatte.

Die Nacht fiel herab. Die Wartezeit erschien ihm viel länger als angekündigt. Endlich tauchte jenseits des Bahnsteigs ein Licht auf; zischend und fauchend und Rauchwolken ausstoßend fuhr der Zug ein. Aus den Wagen, die meisten mit zerbrochenen Fensterscheiben, drängten sich Männer, die nach ihrem Urlaub wieder zum Dienst antreten mußten, und Zivilisten jeder Schattierung. Aufgrund seiner Größe ragte Orry aus der Menge heraus. Er sah niemanden, der ihm bekannt vorgekommen wäre.

Hatte sie den Anschluß verpaßt? War sie nicht fahrplanmäßig weggekommen? Fahrgäste winkten wartenden Freunden zu, verschwommene, glückliche Gesichter huschten vorbei. Angst und Sorge vertieften sich. Und dann stieg sie aus dem letzten Wagen.

»Madeline!« Er brüllte und winkte wie ein Schuljunge. Sie sah erschöpft und wunderschön aus.

»Oh, Orry – mein Liebling. Mein Liebling.« Sie ließ einen Handkoffer und zwei Hutschachteln fallen und warf die Arme um seinen Hals, küßte ihn, weinte. »Ich dachte, ich würde nie hier ankommen.«

»Das dachte ich auch.« Glücklich wie ein junger Bräutigam trat er zurück. »Geht’s dir gut?«

»Ja, ja – und dir? Wir müssen meinen großen Koffer aus dem Gepäckwagen holen.«

»Und dann besorgen wir uns draußen eine Kutsche. Ich traue mich gar nicht, dir meine Zimmer zu zeigen. Sie sind scheußlich, aber was Besseres konnte ich nicht kriegen.«

»Um bei dir sein zu können, würde ich auf einem Müllhaufen schlafen. Guter Gott, Orry – es ist so lange her. Oh, mein Liebling, du hast an Gewicht verloren.«

Die Sätze überstürzten sich. Auf der Fahrt zum Quartier saß er links neben Madeline, damit er seinen Arm um sie legen konnte.

»Ich konnte es nicht erwarten, bis du kommst, aber es ist eine schlechte Zeit für einen Besuch in Richmond. Den Leuten geht es elend, jeden Tag werden sie gereizter. Alles wird knapp.«

»Eines bestimmt nicht. Meine Liebe für dich.« Sie küßte ihn. Sie tat so, als wären seine Räumlichkeiten in der Pension der reinste Palast. Er genoß im Scheine der einzigen schwachen Gaslampe ihren Anblick und fragte sie: »Hast du Hunger?«

»Nur nach dir. Ich brachte alle Bücher – «

»Hurra! Wir können an den Abenden lesen – «

Madeline lächelte. Er legte seinen Arm um ihre Taille, veränderte dann seine Haltung, so daß er die Hand auf ihre Brust legen konnte. Er küßte sie mit solcher Leidenschaft, daß ihr Rücken zu schmerzen begann. Lachend löste sie sich aus seiner Umarmung. Sie begann, die Knöpfe ihres Mieders zu öffnen.

Nackt mit ihr im kühlen Schlafzimmer betrachtete er ihr Haar auf dem Kopfkissen und drang zart, ganz zart ein kleines Stückchen in sie ein; er empfand eine fast unerträgliche Glückseligkeit.

»Wir dürfen uns nie wieder trennen«, schluchzte Madeline. »Nie, nie wieder. Ich könnte es nicht ertragen.«

Washington und Boz rochen den nahenden Frühling in der feuchten Erde und dem Nachtwind. Als die Schneehügel im Hof kleiner und kleiner wurden, fielen den beiden Schwarzen Reitertrupps auf der Straße zu jeder Tages- und Nachtzeit auf. Artilleriefeuer dröhnte am Fluß; gelegentlich ließen die Explosionen die Fensterscheiben erzittern. Washington und Boz diskutierten häufig den Ernst der Lage und beschlossen schließlich, sich an ihre Herrin zu wenden. Nachdem sie sich eine Stunde herumgestritten hatten, fiel die Aufgabe dem jüngeren Mann zu. Abends ging Boz in die Küche.

»Führt kein Weg drum herum, Miss Augusta. Wird bald Kämpfe geben. Unionsarmee rollt vielleicht geradewegs über die Farm. Ist nicht mehr sicher hier. Washington und ich, wir sterben für Sie. Aber Sie dürfen nicht sterben, und wenn’s geht, dann sterben wir lieber auch nicht.« Er atmete tief durch. »Sie geh’n nach Richmond City, bitte.«

»Boz, ich kann nicht.«

»Warum nicht?«

»Er würde ja gar nicht wissen, wo er mich suchen soll, wenn er mich hier nicht mehr findet. Ich könnte ihm schreiben, aber die Post ist so unzuverlässig, daß er den Brief vielleicht niemals bekommt. Tut mir leid, Boz. Du und Washington, ihr könnt gehen, wann immer ihr wollt. Ich muß bleiben.«

»Bleiben ist gefährlich, Miss Augusta.«

»Ich weiß. Aber viel schlimmer wäre es, zu gehen und ihn nie wiederzusehen.«

Als Billy nach seinem kurzen Urlaub Lehigh Station verließ, trieb Brett wieder in diese düstere Stimmung hinein. Teilweise war das die direkte Folge der Beschäftigung ihres Mannes mit der Armee. Er sagte, die sinkende Moral berühre ihn nicht; er sei Berufssoldat. Aber sie erkannte die Veränderungen in ihm – die Müdigkeit, den Zynismus, die schwelende Wut.

Nur eines schien sie aus ihrer Depression herauszureißen: die langen Stunden, in denen sie den Czornas und Scipio Brown bei den Kindern half, waren Medizin für sie. Fußböden schrubben, Mahlzeiten kochen, den Kleinsten Geschichten vorlesen und den Älteren Schreiben und Rechnen beibringen, das alles zählte zu ihren Aufgaben.

Mit Brown kam sie mittlerweile gut zurecht; sie mochte ihn, obwohl er allein aufgrund ihrer Herkunft gern Streitgespräche mit ihr vom Zaun brach. Eines davon fand an einem Nachmittag im März statt, als sie und Brown gemeinsam das Gebäude auf dem Hügel verließen, um Maismehl und andere Lebensmittel bei Pinckney Herbert zu kaufen. Brown fuhr den Einspänner, und sie saß neben ihm – was auf Mont Royal nichts Besonderes gewesen wäre, da man ihn für einen Sklaven gehalten hätte. In Lehigh Station brachte es ihnen feindselige Blicke und manchmal auch häßliche Bemerkungen ein, vor allem von Leuten wie Lute Fessenden und seinem Cousin. Beide hatten sich bis jetzt vor dem Militärdienst gedrückt.

Das würde ihnen allerdings nicht mehr lange gelingen. Lincoln hatte kürzlich ein Gesetz unterzeichnet, wonach jeder taugliche Mann zwischen zwanzig und sechsundvierzig auf drei Jahre dienstverpflichtet wurde. Ein Mann konnte einen Ersatz stellen oder sich für dreihundert Dollar freikaufen. Dieses Hintertürchen für die Reichen hatte die Armen des Nordens bereits in Rage gebracht.

Bei schönem Wetter – so wie heute – trieben sich die beiden Männer fast immer auf der Straße herum. Als Brett und der breitschultrige Schwarze sich gerade auf den Rückweg machen wollten, erspähte sie der rotbärtige Fessenden und brüllte eine Beleidigung.

Brown seufzte. »Ich frage mich, ob sich dieses Land je ändern wird. Wenn ich solchen Abschaum sehe, dann habe ich meine Zweifel.«

»Sie haben sich seit unserer ersten Begegnung bestimmt verändert.«

»Wieso?«

»Zum einen reden Sie kaum noch von Auswanderung.«

Brown warf ihr einen Blick zu. »Warum sollten die Neger auf Schiffen abtransportiert werden, jetzt, wo der Präsident uns die Freiheit garantiert hat? Oh, ich weiß – die Proklamation war in Wirklichkeit nichts weiter als eine Kriegsmaßnahme, die nur im Süden Bedeutung haben soll. Aber Mr. Lincoln nennt es Freiheit, und wir werden mehr damit anfangen, als selbst er sich vorstellen kann. Warten Sie nur ab.«

»Ich glaube nicht, daß Lincoln seine Absichten über Neuansiedlung geändert hat, Scipio. Im Ledger-Union steht, er plane, in diesem Frühling eine Schiffsladung Schwarze zu einer neuen Kolonie zu bringen. Fast fünfhundert. Auf irgendeine winzige Insel in der Nähe von Haiti.«

»Nun, Old Abe wird mich dort nicht hinkriegen – und Dr. Delany ebenfalls nicht. Ich sah ihn in Washington – hab’ ich Ihnen das erzählt? Keine langen Roben mehr für Martin. Er will eine Uniform. Er bemüht sich um das Kommando über ein schwarzes Regiment.«

Über das Klappern der Pferdehufe hinweg sagte sie: »Billy hat mir erzählt, daß Neger in der Armee alles andere als willkommen sind.«

»Schauen Sie mich an, Brett, und beantworten Sie mir eine Frage: Glauben Sie, Freiheit ist nur für Menschen Ihrer Hautfarbe da?«

»Die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung hatten das im Sinn.«

»Nicht alle Verfasser! Außerdem haben wir jetzt das Jahr 1863. Also antworten Sie. Ist Freiheit nur für die Weißen und sonst niemanden da?«

»Man hat mir beigebracht – «

»Ich will nicht wissen, was man Ihnen beigebracht hat, ich will wissen, was Sie glauben.«

»Verdammt noch mal, Scipio, Sie sind so verdammt – «

»Unverschämt?« Ein schmales Lächeln. »Das bin ich.«

»Südstaatler sind nicht die einzigen Sünder. In Wirklichkeit wollen die Yankees die Schwarzen auch nicht frei sehen. Vielleicht einige Abolitionisten, aber nicht die Mehrheit.«

»Zu spät.« Er zuckte die Schultern. »Mr. Lincoln hat die Anordnung unterschrieben. Und um ehrlich zu sein, mir ist es egal, was ist. Ich kümmere mich mehr darum, was sein sollte.«

»Diese Haltung könnte das ganze Land in Brand setzen.«

»Es brennt bereits – oder haben Sie in letzter Zeit keine Meldungen gelesen?«

»Manchmal verabscheue ich Sie, so arrogant sind Sie.«

»Ich verabscheue Sie aus dem gleichen Grund. Manchmal.« Er wollte ihre Hand tätscheln, hielt sich aber aus Angst, sie könnte es falsch verstehen, zurück. Ruhiger fuhr er fort: »Ich würde keine Minute auf Sie verschwenden, wenn ich nicht sicher wäre, daß sich irgendwo in Ihnen eine sensible, anständige Frau verbirgt, die darum kämpft, das Tageslicht zu erblicken. Ich glaube, der Grund, weshalb Sie mich manchmal nicht ausstehen können, besteht darin, daß ich ein Spiegel bin. Ich zwinge Sie, einen Blick auf sich selbst zu werfen.«

Ruhig, aber angespannt sagte sie: »Sie haben recht. Vermutlich verabscheue ich Sie deswegen manchmal. Niemand läßt sich gern seine Fehler vorhalten.« Warum mußte er nur immer auf ihr Gewissen einhämmern. Was Brown nicht wußte: Sie spürte bereits die Schmerzen, die mit der Trennung von alten Überzeugungen verbunden waren. Sie nahm es ihm übel, daß er diesen Prozeß schürte.

Feinfühlig sagte Brown: »Wir hören besser mit diesem Gespräch auf, bevor wir aufhören, Freunde zu sein.«

»Ja.«

»Ich möchte weiterhin Ihr Freund bleiben, das wissen Sie. Sie sind nicht nur eine gute Frau, sondern es gibt auch noch zwei weitere Wände in der Schule zu tünchen. Niemand geht besser mit Pinsel und Bürste um. Sind Sie sicher, daß Sie nicht irgendwo ein bißchen Sklavenblut in sich haben?«

Sie mußte lachen. »Sie sind unmöglich.«

Er nahm die Zügel, sagte »Hüh«, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.

»So«, sagte der Mann mit dem roten Bart und den beiden Pistolen unter dem Gehrock. »Sie glauben also, Sie könnten unserer Sonderabteilung bei der Arbeit behilflich sein, die ich Ihnen kurz umrissen habe?«

»Mit absoluter Sicherheit, Colonel Baker.«

»Ich glaube es auch, Mr. Dayton. Ich glaube es auch.«

Bent fühlte sich ganz schwach, und das nicht nur, weil ihm nach wochenlangem Warten endlich Erfolg beschieden war. Mittlerweile war März – Baker hatte wegen dringender Angelegenheiten das Gespräch dreimal verschoben. Bent war schwindlig, weil er kurz vor dem Verhungern stand. Nachdem sich seine eigenen Geldmittel erschöpft hatten, war er gezwungen gewesen, sich von Dills einen kleinen Betrag zu borgen. Aus Sparsamkeitsgründen aß er nur zwei Mahlzeiten pro Tag.

Lafayette Baker hatte die Statur eines Dockarbeiters und die Augen eines Wiesels. Bent schätzte ihn auf fünfunddreißig. Die vergangene Stunde hatte aus einigen wenigen Fragen und einem endlosen Monolog über Bakers Vergangenheit bestanden.

»Die Hauptaufgabe dieses Büros ist, und das kann ich nicht oft genug betonen, die Entlarvung und Bestrafung von Verrätern. Dazu verwende ich die Methoden des Mannes, dessen Karriere ich studiert und mir zum Vorbild genommen habe. Der größte Detektiv von allen: Vidocq, von der Pariser Polizei. Kennen Sie ihn?«

»Nur dem Namen nach.«

»In seinen Anfangszeiten war er ein Krimineller. Aber er wandelte sich und wurde zum verhaßten Feind genau der Klasse, der er entstammte. Sie müssen seine Memoiren lesen, Dayton. Sie sind nicht nur aufregend, sie sind sehr lehrreich. Vidocq besaß eine schlichte, aber wirkungsvolle Philosophie, an die ich mich peinlich genau halte.« Bakers Hand glitt über den Knauf seines Spazierstocks. »Es ist bei weitem besser, hundert Unschuldige zu verhaften, als einen Schuldigen laufen zu lassen.«

»Da stimme ich mit Ihnen überein, Sir.« Eifrige Bereitschaft, für Baker zu arbeiten, war an Stelle der Berechnung getreten.

Bakers kleine, undeutbare Augen richteten sich auf Bent. »Bevor ich Sie in Washington beschäftige, würde ich gerne Ihren Mut testen. Möchten Sie immer noch für mich arbeiten?«

Dem verängstigten Bent blieb keine andere Wahl, als zu nicken.

»Ausgezeichnet. Sergeant Brandt wird die Details erledigen und Sie auf unsere Lohnliste setzen. Zuerst aber werde ich Ihnen Ihren ersten Auftrag beschreiben.« Einschüchterndes Starren. »Sie werden nach Virginia gehen, Mr. Dayton. Hinter die feindlichen Linien.«

72

Fast einen Monat lang hausten sie in einem einzigen kleinen Zimmer; Judith hängte Decken um Marie-Louises Strohsack und schuf so eine etwas ungestörtere Atmosphäre.

Sie hatten Glück gehabt, in der überfüllten Stadt überhaupt ein Zimmer zu bekommen – noch dazu mit Fenstern, die zum Fluß hinausgingen. Cooper saß stundenlang vor dem Fenster, eine Decke über den Beinen, die Schultern gekrümmt, das Gesicht grau und abgemagert von der Lungenentzündung, die ihn zwei Wochen lang dem Tode sehr nahegebracht hatte.

In der Nacht, in der Judah gestorben war, hatten sich die Mains durch die Brandung an den Strand gekämpft. Auf einer mondhellen Düne, zwei Meilen oberhalb der Stellungen, die die Flußmündung bei Confederate Point schützten, waren sie zusammengebrochen. Weitere Überlebende waren am Strand nicht zu finden.

Cooper hatte alles ausgekotzt, all das Salzwasser, das er geschluckt hatte; dann war er am Strand auf und ab gewandert und hatte Judahs Namen gerufen. Marie-Louise lag halb bewußtlos in den Armen ihrer Mutter. Judith hielt ihre Tränen zurück, bis sie es nicht länger ertragen konnte. Dann brach es in lauter Klage aus ihr heraus, und sie kümmerte sich nicht im geringsten darum, ob die ganze verdammte Blockadeflotte sie hörte.

Als der schlimmste Kummer sich gelöst hatte, nahm sie Cooper bei der Hand und führte ihn nach Süden, wo sie Fort Fisher vermutete. Er war fügsam und brabbelte wie ein Verrückter vor sich hin. Endlich taumelten sie in das Fort, und am nächsten Morgen wurde ein Suchtrupp in die Dünen geschickt. Judahs Leiche fanden sie nicht.

Und so waren sie schließlich die achtundzwanzig Meilen den Fluß hoch in die Stadt gekommen, wo Cooper krank geworden war und Judith um sein Leben gezittert hatte. Jetzt hatte er sich zumindest physisch erholt, aber er sprach nur, wenn es unbedingt notwendig war. Blauschwarze Ringe lagen unter seinen Augen, während er das Glitzern der Märzsonne auf dem Fluß beobachtete, das rege Treiben überall. Wilmington erlebte eine Blütezeit.

Beim Gedanken an Judah weinte Judith nachts häufig; nicht mal ein anständiges Begräbnis hatten sie ihm geben können. Coopers Verhalten verstärkte ihre Sorge noch. Er legte nun nicht mehr den Arm um sie, berührte sie nicht und sprach kein einziges Wort, wenn sie nebeneinander in dem harten Bett lagen. Judith weinte lediglich heftiger, schämte sich ihrer Tränen, konnte aber nichts dagegen tun.

Eines Tages gegen Ende März zu platzte Marie-Louise heraus: »Bleiben wir für den Rest unseres Lebens jetzt in diesem schrecklichen Zimmer?« Das fragte sich Judith auch. In der ersten Woche hatte sie Cooper nicht zum Aufbruch drängen wollen; er war immer noch sehr schwach und ermüdete schnell. Angeregt durch die Frage ihrer Tochter schlug sie ihm vor, Minister Mallory zu telegraphieren und ihm ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. Er reagierte darauf mit einem trostlosen Nicken und einem dieser Blicke, die so eigentümlich starr und gleichgültig wirkten.

Einige Tage später rannte Judith mit einem dünnen, gelblichen Blatt Papier die Treppe hoch. Cooper saß wie üblich am Fenster und beobachtete die Piers. »Liebling, gute Nachrichten«, sagte sie. Drei Schritte trugen sie durch den vollgestopften Raum. »Im Telegraphenamt war eine Nachricht vom Minister.«

In der Hoffnung, ihn aufzuheitern, hielt sie ihm die gelbliche Kopie entgegen. Er nahm sie nicht. Sie legte das Blatt in seinen Schoß. »Du mußt es lesen. Stephen drückt sein Beileid aus und bittet dich, so bald wie möglich nach Richmond zu kommen.«

Cooper zwinkerte. Sein hageres Gesicht, das ihr in letzter Zeit so merkwürdig fremd vorkam, wurde etwas weicher. »Braucht er mich?«

»Ja! Lies das Telegramm.«

Mit gesenktem Kopf tat er es.

Als er wieder aufblickte, wünschte sie fast, er hätte es nicht getan. Sein Lächeln hatte nichts Menschliches an sich. »Ich schätze, es ist Zeit zu gehen. Ich muß mit Ashton abrechnen.«

»Ich weiß, daß du darüber gebrütet hast. Aber sie ist nicht wirklich verantwortlich für – «

»Sie ist«, unterbrach er sie. »Ballantyne sagte es deutlich – die Eigner wünschen keine Verzögerungen. Sie wollten die Fracht um jeden Preis geliefert haben. Er setzte Judahs Leben aus reiner Gier aufs Spiel. Er und Ashton. Sie trifft die gleiche Schuld.«

Ein Schauder lief Judith über den Rücken. Sie begann die Konsequenzen seines Hasses und seiner Wut zu fürchten.

»Hilf mir hoch«, sagte er unvermittelt, die Decke zur Seite schleudernd.

»Bist du kräftig genug?«

»Ja.« Er schwankte und griff nach ihrem Arm, so fest, daß sie aufstöhnte.

»Cooper, du tust mir weh.«

Ohne Entschuldigung lockerte er seinen Griff. »Wo ist mein neuer Anzug? Ich will zum Bahnhof gehen. Fahrkarten kaufen.«

»Das kann ich doch tun.«

»Ich will! Ich will nach Richmond. Wir sind schon viel zu lange hier.«

»Du warst krank. Du mußtest dich ausruhen.«

»Ich mußte auch nachdenken. Den Kopf klar bekommen. Ein Ziel finden. Das habe ich. Ich beabsichtige, den Minister bei der Kriegsführung voll zu unterstützen. Nichts anderes zählt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich höre deine Worte, aber ich glaube sie nicht. Als der Krieg begann, hast du ihn verabscheut.«

»Jetzt nicht mehr. Ich teile Mallorys Ansichten. Wir müssen siegen, keinen Frieden aushandeln. Ich möchte gern siegen auf Kosten vieler toter Yankees.«

»Liebling, sprich nicht so.«

»Geh beiseite, damit ich an meine Kleidung herankomme.«

»Cooper, hör mir zu. Laß dir durch Judahs Tod nicht deine Menschenfreundlichkeit und deinen Idealismus rauben, die immer – «

Er riß die Schranktür auf. Sie erschrak. Herumwirbelnd starrte er sie mit furchterregenden Augen an.

»Warum nicht?« sagte er. »Mit Menschenfreundlichkeit war das Leben unseres Sohnes nicht zu retten. Idealismus konnte Ballantyne und meine Schwester nicht daran hindern, ihn zu ermorden.«

»Aber du kannst nicht dein restliches Leben lang um ihn trauern – «

»Ich müßte überhaupt nicht trauern, wenn du mit den Kindern in Nassau geblieben wärst, wie ich dich gebeten habe.«

Sie zuckte zurück. Sehr bleich sagte sie: »Das ist es also. Du mußt irgendwelchen Leuten die Schuld geben, und ich bin einer dieser Leute.«

»Bitte entschuldige mich, ich muß mich anziehen.« Er wandte ihr den Rücken zu.

Lautlos weinend schlüpfte Judith zur Tür hinaus und wartete zusammen mit Marie-Louise, bis er zwanzig Minuten später herunterkam.

73

Ashton hörte das Geräusch, die Rufe vieler Stimmen, bevor ihr deren Bedeutung klar wurde.

Sie betrat gerade Franzblau’s Epicurean, einen Feinkostladen auf der Main Street, in dem nur die Reichsten einkauften, diejenigen, welche nicht so taktlos waren, sich nach der Herkunft der Waren zu erkundigen. Einen Teil davon hatte die Water Witch auf ihrer letzten erfolgreichen Fahrt gebracht. Solche Fahrten würde es nun nicht mehr geben. Der Dampfer war nahe der Mündung des Cape Fear River versenkt worden, sagte Powell. Es spielte keine Rolle. Die bis dahin erzielten Gewinne waren gigantisch.

Gestern abend, als Huntoon wieder einmal spät arbeitete, hatte ein Bote eine Nachricht von Ashtons Partner gebracht. In verschlungenen Formulierungen forderte er sie auf, ihn morgens zu besuchen, damit sie ihrem Schiff die letzte Ehre erweisen und ihre weitere Strategie planen konnten. Powell liebte es, sie mit solchen Vorwänden zu foppen – als ob sowas bei ihr nötig gewesen wäre.

Obwohl man bereits den 2. April schrieb, war dieser Donnerstagmorgen kühl. Sie war kurz nach halb elf in den Feinkostladen gekommen und wandte sich nun an den zierlichen, grauhaarigen Besitzer.

»Mumm’s, wenn Sie welchen haben, Mr. Franzblau. Und ein Töpfchen – nein, zwei – von dieser köstlichen Gänseleberpastete.«

Während sie hundertzwanzig Konföderiertendollar abzählte, ertönte wieder dieses Geräusch. Franzblau hob den Kopf, ebenso wie der schwarze Mann, der neben der Tür saß, um unerwünschte Kunden abzuwehren.

Franzblau legte die Flasche Champagner in Ashtons Korb, neben die eingewickelte Gänseleberpastete. »Was rufen diese Leute?«

Sie lauschte. »›Brot!‹ Wieder und wieder –›Brot!‹ Wie merkwürdig.« Der Schwarze sprang auf, als Homer durch die Tür gestürzt kam. »Mrs. Huntoon, wir gehen hier besser weg«, sagte der ältliche Hausdiener. »Eine Menge Menschen kommen da um die Ecke. Mächtig viel und mächtig wütend.«

Franzblau wurde blaß, flüsterte etwas auf deutsch und griff dann unter den Tresen nach einem Revolver. »Sowas hab’ ich befürchtet. Will, laß die Jalousien herunter.«

Ashtons Absätze klapperten über die schwarzweißen Keramikfliesen. Auf halbem Weg zum Ausgang hörte sie das Klirren von Glas. Oft genug hatte sie die mürrischen Gesichter der armen weißen Frauen von Richmond gesehen, hätte aber nie gedacht, daß sie auf die Straße gehen würden.

Vom zurückgesetzten Eingang aus sah Ashton zwanzig Frauen, dann doppelt so viele, die mitten in der Main Street angestürmt kamen. Dahinter folgten weitere Frauen. Drinnen sagte Franzblau: »Versperr die Tür, Will!«

»Ich renne zur Kutsche«, sagte Homer. Einige der Frauen hatten die gleiche Idee.

»Ich komme nach«, flüsterte Ashton, von Panik überwältigt beim Anblick Hunderter von Frauen, die stießen, kreischten, Steine warfen, Schuhe und Kleider aus Schaufenstern rissen. »Brot«, sangen sie. »Brot.« Gleichzeitig bedienten sie sich mit Kleidung und Schmuck.

Ein Bauernkarren wurde von einer Meute Frauen umringt und umgekippt. Aus den zerbrechenden Lattenkisten flatterten wild mit den Flügeln schlagende Hennen. Der Farmer kauerte unter dem Wrack seines Karren. Ashton, in die offene Kutsche springend, sah voller Entsetzen, wie die Frauen den Mann hervorzerrten und mit Händen und Füßen auf ihn losgingen.

Homer hantierte ungeschickt mit Peitsche und Zügeln. Ein halbes Dutzend Frauen kam auf die Kutsche zugerannt, die Hände ausgestreckt, die häßlichen Mäuler verzerrt. »Da ist eine Reiche.«

»Gutes Essen in dem Korb, möcht’ ich wetten.«

»Gib her, Liebste – «

»Beeil dich, Homer«, rief Ashton, gerade als eine grauhaarige Frau in stinkenden Lumpen auf das Trittbrett der Kutsche sprang. Eine dreckige Hand zerrte an Ashtons Handgelenk.

»Holt sie raus, holt sie raus«, jubelten die anderen Frauen, drängten sich näher an die Frau in Lumpen. Ashton krümmte sich, kämpfte, aber es nützte nichts. Sie beugte sich vor und biß in die schmutzige Hand der Frau, die aufschrie und nach hinten fiel.

Die Straße befand sich in höchstem Aufruhr. Ashton schlug einer Frau die Champagnerflasche auf den Kopf; nach links und rechts hieb sie mit dem Flaschenhals um sich, schnitt Handrücken auf. Blut quoll heraus. »Homer, verdammt noch mal, fahr los!«

Homer peitschte wie ein Verrückter auf Pferde und Menschen ein. Er drehte die Kutsche und raste auf eine weitere Frauengruppe zu, die auseinanderstob. Viele rannten, bemerkte Ashton, als die Kutsche in die Eleventh Street hineinschleuderte. Sie hörte schrille Pfiffe, Schüsse. Die Polizeitruppe griff ein.

Der Aufruhr hatte Ashtons morgendlichen Plan durcheinandergebracht. Als sie sich schließlich gewaschen und zurechtgemacht hatte, fuhr sie in die Franklin Street. Gegen halb eins kam sie dort an, in ihrem Korb die beiden Töpfchen mit Gänseleberpastete.

»Ich hatte auch noch eine Flasche Mumm, aber ich mußte sie jemandem über den Schädel schlagen, um dem Mob zu entkommen«, erklärte sie Powell im Wohnzimmer. Er war barfuß, trug nur seine Hosen.

»Als du nicht rechtzeitig da warst, beschloß ich, dir die Tür nicht mehr aufzumachen«, sagte er. »Dann hörte ich einen Kutscher was von Aufruhr in der Stadt brüllen. Also verzieh ich dir.«

»Es war der totale Wahnsinn. Hunderte von häßlichen, vollkommen verdreckten Weibern – «

»Ich möchte alles darüber wissen.« Er nahm ihre Hand. »Aber nicht jetzt.«

Die Uhr schlug zwei, als Ashton aus tiefer, schläfriger Befriedigung wieder an die Oberfläche trieb. Das Bettzeug war zerwühlt und losgerissen. Powell döste neben ihr. Sie strich sich das Haar aus den Augen und studierte die beiden Gegenstände nahe seiner rechten Schulter: eine Karte der Vereinigten Staaten und darauf seine Lieblingswaffe – eine Randfeuer-Sharps-Taschenpistole, deren vier stumpfe Mündungen ihr ein bedrohliches Aussehen verliehen.

Er erwachte und erkundigte sich nach dem Aufruhr. Seine Hand spielte müßig zwischen ihren Beinen, während sie die Ereignisse beschrieb. »Sie schrien nach Brot, aber sie stahlen alles, was ihnen unter die Augen kam.«

»Sie werden mehr tun als nur stehlen, wenn King Jeff weiterhin Amok läuft. Die Situation in Richmond – in der ganzen Konföderation – ist eine einzige Katastrophe.«

»Aber wir besitzen genügend Geld, um die Water Witch zu ersetzen und vielleicht ein zweites Schiff zu kaufen. Wir brauchen uns wegen des Präsidenten keine Sorgen zu machen.«

»Das könnten wir, wenn uns der Süden scheißegal wäre.« Er sagte es leise, aber voller Leidenschaft. Erschrocken erkannte sie, daß sie ihn verärgert hatte. »Mir ist er das nicht. Zum Glück gibt es eine Möglichkeit, Davis zu stoppen und die Prinzipien des Südens zu bewahren.«

»Was meinst du damit?«

Powells schmaler, starker Mund zog sich nach oben, doch seine Augen blieben kalt.

»Wie sehr liebst du mich, Ashton?«

Sie lachte nervös. »Wie sehr –?«

»Es ist eine ganz einfache Frage. Beantworte sie.«

»Mein Gott – du kennst die Antwort. Bei keinem Mann hab’ ich das empfunden, was ich bei dir empfinde.«

»Ich kann dir also vertrauen?«

»Hat dir das unsere Partnerschaft nicht schon bewiesen?«

»Ja, ich glaube, ich kann dir vertrauen. Aber wenn ich ein Geheimnis teile und dann feststellen muß, daß ich einen Fehler gemacht habe«, er packte die Sharps und stieß die Mündungen in ihre Brust, »dann mache ich diesen Fehler wieder gut.«

Ashtons Mund klappte auf, als sie seinen Finger weiß werden sah. Lächelnd drückte er ab. Der Hammer fiel – auf eine leere Kammer.

»Was – Lamar – was soll das?« Verwirrt und zitternd vor Furcht preßte sie die Worte heraus. »Was steckt hinter all dem?«

Er legte die Pistole beiseite und breitete die Landkarte auf dem zerwühlten Bett aus. In der Südwestecke der Karte hatte er eine vertikale Linie durch das Territorium von New Mexico gezogen; links davon waren mit gepunkteten Linien kleine Quadrate eingetragen, die sich nirgendwo überschnitten.

»Hier siehst du alles vor dir, Liebes. Unsere unfähigen Generäle in Texas haben den Südwesten verloren. Das gehört jetzt alles der Union. Einschließlich des neuen Territoriums von Arizona. Der Yankee-Kongreß hat im Februar das Gesetz erlassen. Ein paar Berufssoldaten aus Kalifornien und einige Freiwillige aus New Mexico sollen das ganze Gebiet bewachen, was natürlich unmöglich ist. Es ist zu groß, und außerdem sind die Soldaten ständig unterwegs, um isolierte Ansiedlungen vor den roten Wilden zu schützen. Das neue Territorium ist geradezu perfekt für einen Plan geeignet, den ich und einige andere Gentlemen entwickelt haben. Uns allen ist klar, daß King Jeff uns ruinieren wird, wenn wir es zulassen.«

Das entnervende Lächeln blieb auf seinem Gesicht, als er die Karte zusammenrollte. Ashton sprang mit wippendem Hinterteil aus dem Bett. Sie verschränkte die Arme vor ihrem Busen.

»Du drückst dich so geheimnisvoll aus, um mich zu quälen, Lamar. Wenn du nicht erklären willst, was du meinst, dann ziehe ich mich an und gehe.«

Er lachte bewundernd. »Daran gibt es nichts Geheimnisvolles, Liebes. Diese Quadrate auf der Landkarte umfassen die mögliche Anordnung einer neuen Konföderation.«

Sie wirbelte herum, eine Figur so weiß wie Milch bis auf die Schwärze ihres Haares. »Eine neue –?« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Gott. Du meinst es ernst, nicht wahr?«

»Absolut. Die Idee ist gewiß nicht neu.« Sie nickte. Sie hatte von einem dritten Staat reden hören, der im Nordwesten aufgebaut werden sollte, und von einer Konföderation an der Pazifikküste. »Ich habe nichts weiter getan, als die ideale Lage für einen neuen Staat zu finden, klein, aber uneinnehmbar. Ein Ort, wo jeder seinen Wünschen und Fähigkeiten entsprechend reich werden kann und wo die Sklaverei unterstützt wird.«

Die Vorstellung war so überwältigend, daß sie es noch gar nicht fassen konnte. Sie ging zurück zum Bett und setzte sich auf die Kante. »Wie lange arbeitest du schon an dem Plan?«

»Seit über einem Jahr. Der eigentliche Anstoß war Sharpsburg, als die europäische Anerkennung hoffnungslos geworden war.«

»Aber Davis wäre für einen solchen Plan nicht zu gewinnen, Lamar. Er würde seine gesamte Regierungsgewalt einsetzen, um ihn zu verhindern.«

»Meine arme, gedankenlose Ashton«, sagte er und streichelte sie. »Natürlich würde er das. Was glaubst du, weshalb ich mich vergewissern wollte, daß du vertrauenswürdig bist? Wenn wir den neuen Staat errichten, dann wird die Regierung ohne Führung sein. Mr. Jefferson Davis wird seinen Lohn erhalten – in der Hölle, wie ich hoffe.«

»Du meinst – ihn ermorden?«

»Den Präsidenten und die wichtigsten Kabinettsmitglieder. Jene, die uns vielleicht Widerstand leisten könnten.«

»Wie – wieviele andere Personen sind an der Sache noch beteiligt?«

»Du brauchst nur zu wissen, daß ich das Kommando führe und daß wir es ernst meinen. Jetzt, wo dir der Plan bekannt ist«, sein Daumen preßte sich in ihre Wange; seine Finger schlossen sich um ihren Nacken, verursachten einen Hauch von Schmerz, »gehörst du dazu.«

Nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, schossen ihr Unmengen von Fragen durch den Kopf. Sie stellte die nächstliegende davon: Wie sollte dieser neue Staat finanziert werden? Er war zwar klein, mußte aber trotzdem verteidigt werden. Wie sollte die Armee bezahlt werden? Erregt lief Powell im Schlafzimmer herum. »Zuerst einmal mit meinem Anteil an den Profiten der Water Witch. Aber natürlich wird in den ersten paar Jahren für die Ausrüstung unserer Verteidigungsarmee wesentlich mehr Geld benötigt. So lange, bis die Yankees erkennen, daß sie uns nicht überwältigen können, und uns unsere Souveränität bestätigen.«

»Woher willst du die Männer für eine solche Armee bekommen?«

»Mein Liebes, jetzt in diesem Moment gibt es in der Konföderation Tausende von ihnen. Unzufriedene Offiziere und Mannschaften. Einige unserer besten Leute sind desertiert, von all den stümperhaften Fehlern desillusioniert. Falls notwendig, können wir auch noch Söldner aus Europa anheuern. Soldaten zu finden ist kein Problem.«

»Aber du mußt sie trotzdem noch bezahlen.«

Er grinste breit. »Wir haben die Mittel. Habe ich je meinen Bruder Atticus erwähnt?«

»Flüchtig. Erzählt hast du nie was über ihn.«

Powell setzte sich neben sie und begann ihr Bein zu streicheln. Sie studierte sein Profil, für einen Moment um seine geistige Gesundheit besorgt. Er sprach voller Leidenschaft, aber mit der Klarheit eines Mannes, der sein Vorgehen seit langer Zeit genau geplant hatte. Ihr Zweifel schwand.

Verachtung schlich sich in Powells Stimme. »Mein Bruder besaß dem Süden gegenüber keine Loyalität. Er verließ Georgia im Frühling 1856 und ging in den Westen auf die Goldfelder. Viele Georgier taten das. In Colorado, wo Atticus sich seinen Claim absteckte, gab es eine ganze Kolonie davon. Er bearbeitete ihn bis Sommer 1860 und holte in der Zeit zweitausend Dollar heraus – ganz anständig, aber auch nicht mehr. Ungefähr zu der Zeit, als South Carolina abfiel, überkam ihn wieder die Wanderlust. Atticus verkaufte seinen Claim für weitere tausend und machte sich mit seinem Kapital nach Kalifornien auf. Er kam bis zu den Schürfgebieten am Carson River, an der Westgrenze des Nevada-Territoriums.«

»Ich habe von den Carson-River-Minen gehört. James redete davon, Anteile zu kaufen.«

»Mein Bruder kam gerade zur rechten Zeit. Im Jahr zuvor hatten einige Goldgräber ein paar vielversprechende Stellen am Mount Davidson entdeckt. Von Anfang an machten sie einen ordentlichen Profit. Doch die ganze Mine war reicher, als sie sich erträumt hatten. Erzadern zogen sich durch den ganzen Berg. Zusätzlich zu dem Gold kam auch noch ein weiteres Edelmetall hinzu. Silber.«

»Steckte sich dein Bruder einen Claim ab?«

»Nicht direkt. Goldgräber sind eine merkwürdige Rasse – ständig schachern sie mit ihren Claims herum, kaufen und verkaufen. Reines Glücksspiel, wieviel Erz noch im Boden ist. Einem der ursprünglichen Entdecker, einem Burschen namens Penrod, gehörte ein Sechstel der Ophir-Mine, das er für 5.500 Dollar verkaufen wollte. Mein Bruder konnte den Betrag nicht aufbringen, aber Penrod machte ein zweites Angebot – halbe Beteiligung an einer Mine, genannt ›Der Mexikaner‹, für 3.000 Dollar. Atticus kaufte.«

Powell wanderte erneut durch das Schlafzimmer, erklärte, daß Virginia City sich während der ersten beiden Kriegsjahre rapide verändert hatte. Die Goldgräber waren übereingekommen, daß sich jeder von ihnen einen Erz-Claim abstecken konnte, der wesentlich größer war als der übliche fünfzig auf vierhundert Fuß große Goldwäscher-Claim, da man sich bei einem Erz-Claim in den Berg hineingraben und sämtliche abzweigenden Erzgänge ausbeuten durfte.

»Bald schon holten Atticus und sein Partner aus jeder Tonne Erz für dreitausend Dollar Silber und dreimal soviel Gold heraus. Im letzten Jahr kam ein großer Zustrom aus Kalifornien, aber natürlich waren die besten Claims schon vergeben, und die Neuankömmlinge bezeichneten Virginia City als Schwindel. Atticus’ Partner ließ sich von dem Gerede beeinflussen. Mein Bruder zahlte ihn zu einem günstigen Preis aus. Im letzten Sommer, als die Stadt schon auf fünfzehntausend Einwohner angewachsen war, fand der arme Atticus ein vorzeitiges Ende.«

»Oh, welch ein Jammer.«

»Ich sehe, du bist tief getroffen«, sagte er lächelnd.

»Wie ist dein Bruder gestorben?«

»An einer Kugel«, sagte Powell achselzuckend. »Im Fahrstuhl vom International Hotel. Als Motiv wurde Raub angenommen. Der Mann wurde nie gefaßt oder identifiziert. Rein zufällig hatte Atticus eine Woche zuvor ein Dokument ausgestellt, das ich verschlossen aufbewahre. Darin vermacht er mir die Erträge der Mexikaner-Mine, da ich der einzige noch lebende Verwandte bin. Er schickte die Urkunde einem Kontaktmann in Washington. Mit einem der üblichen Postschmuggler gelangte sie dann nach Richmond.«

Atticus Powells großzügige Handlungsweise war mit einem amüsierten Unterton erzählt worden. Bei Ashton begann es allmählich zu dämmern. Powell sah es und bestätigte ihre Vermutungen.

»Beachte, was es heißt, daß Atticus und ich die einzigen noch lebenden Familienmitglieder waren. Es gibt niemanden, der bestätigen könnte, daß die Schrift in dem Testament der Handschrift meines Bruders nur sehr oberflächlich ähnelt.

Jetzt habe ich einen guten Verwalter, der die Minenarbeiten für mich beaufsichtigt und dem es egal ist, wem die Mine gehört, solange er sein Geld bekommt. Ich bin froh, sagen zu können, daß die Mine im Rekordtempo fördert. Es gibt genügend Gold und Silber, um eine Privatarmee bezahlen zu können.«

Auf der Suche nach einer Zigarre verschwand er im nächsten Zimmer. Ashton wußte, daß Powell den Mörder seines Bruders angeheuert hatte, ebenso wie den Fälscher für das Testament. Anstatt entsetzt zu sein, empfand sie neue Bewunderung.

»Du siehst also«, sagte Powell, als er mit Streichhölzern und Zigarre zurückkam, »mein Vorhaben ist gar nicht so phantastisch. Nicht mit der Mexikaner-Mine als Finanzierungsquelle. Deshalb muß ich dir eine Frage stellen.«

»Und die wäre?«

Umständlich zündete er seine Zigarre an. »Möchtest du die First Lady dieser neuen Konföderation sein?«

»Ja. Ja!«

Powell berührte ihre Brust; mit dem Daumen zog er einen Kreis um ihre Brustwarze. »Das dachte ich mir.« Aus seinem Lächeln sprach Selbstzufriedenheit und ein Hauch von Verachtung.

Am frühen Nachmittag wanderte Huntoon über die mit Glasscherben bedeckten Gehsteige der Main Street. Er konnte nicht in sein Büro zurück; nicht nach dem, was heute morgen passiert war.

Wie die meisten anderen Regierungsangestellten war auch er hinausgeeilt, als er von dem Aufruhr erfuhr. Er beobachtete, wie der hagere, graue Präsident auf einen Wagen kletterte und um Respektierung der Gesetze bat. Davis sagte, jeder Bürger müßte um ihrer gemeinsamen Sache willen Entbehrungen ertragen. Die Leute buhten ihn aus. Mit einer letzten pathetischen Geste stülpte er seine Taschen nach außen und warf dem Mob ein paar Münzen zu.

Es änderte nichts; der Anblick von Bajonetten war nötig, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Während der Aufruhr noch in vollem Gange war, bog Huntoon in die Main Street ein und sah eine vertraute Kutsche vor einem eleganten Feinkostladen. Voller Neugier ging er in Deckung.

Seine Frau war in der Kutsche, kämpfte mit schäbig gekleideten Weibern; er konnte nicht viel sehen, bis die Kutsche wegrollte, aber das wenige reichte bereits. Der Korb und der Laden, den sie besucht hatte, verschärften seine seit Monaten wachsende Gewißheit, daß sie ein Verhältnis hatte. Für ihren eigenen Tisch kaufte Ashton niemals Franzblaus Delikatessen. Er hatte den Verdacht, daß Powell, der Mann, der ihn reich machte und den er sowohl beneidete als auch fürchtete, ihr Liebhaber war. Huntoon kehrte wieder in sein Büro zurück, war aber nicht fähig zu arbeiten. Also drückte er sich weiter auf den Straßen herum.

Wie die ganze Nation, so lag auch Huntoons privates Leben in Scherben. Während der vergangenen Monate hatte er völlig den Appetit verloren und ein Dutzend Pfund abgenommen. In seinem verwirrten Zustand vermischte sich die Wahrheit über Ashtons Untreue mit dem Krebsgeschwür der Verzweiflung über die Regierung. Mit jedem Tag wurden seine Frustrationen schlimmer. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, sich Luft zu verschaffen, ein Ziel, auf das er einschlagen könnte.

»Was soll ich tun?« murmelte er, in die Glasscherben tretend. »Was in Gottes Namen soll ich denn tun? Sie umbringen? Mich umbringen? Beide?« Zwei Negerinnen hörten ihn und gingen ihm schnell aus dem Wege.

74

Der Wind wurde wärmer, die Erde weicher. Die Jahreszeit wechselte. Im Brigade-Lager in Sussex County ritten Ab und Charles im Schritt über eine schlammige Wiese zur Schmiede. Die Stiefel beider Männer waren über und über mit Schlamm bedeckt.

Charles war gut gelaunt. Zum einen freute er sich, daß er Sport, der krank gewesen war und beinahe das linke Vorderbein verloren hätte, durch den harten Winter gebracht hatte. Der Hauptgrund für seine gute Stimmung lag zusammengefaltet in seiner Hemdtasche.

Während der Hufschmied einen Kavalleristengaul fertig machte säuberten die beiden Scouts mit Stöcken die Hufe ihrer Pferde.

Ab fragte: »Hast deinen Paß gekriegt?« Charles klopfte auf seine Tasche. »Sei vorsichtig, wenn du dich da ganz allein in Spotsylvania County rumtreibst. Wenn du auf Unionskavalleristen stößt, verzieh dich in die andere Richtung. Ich habe bei diesen verdammten Schreiberlingen das gleiche Gefühl wie du. Sie lernen langsam reiten und schießen.«

Später am Tag verabschiedete sich Charles von Ab und ritt nach Norden los. In Richmond besuchte er Orry und Madeline, die ein größeres Quartier gefunden hatten – vier Zimmer, die ganze obere Etage eines Hauses im Court-End-Bezirk. Orry war so froh, aus der Pension draußen zu sein, daß er die unverschämt hohe Miete klaglos zahlte.

Charles erzählte ihnen zum erstenmal von Gus. Orry reagierte voraussagbar, als er hörte, wo Barclays Farm lag. Lee lag bei Fredericksburg Jackson gegenüber, aber Hooker befand sich mit doppelt sovielen Männern direkt am anderen Flußufer. Orry sagte, es wäre verrückt, wenn Gus in Spotsylvania County bleiben würde.

Charles stimmte zu. Sie redeten noch lange, bis gegen vier Uhr morgens. Charles schlief schlecht, in einer Decke zusammengerollt auf dem Fußboden, und verließ am nächsten Morgen die Stadt.

Weiter nach Norden durch den Frühling von Virginia. Die Luft roch nach feuchter Erde, und hier und da erkannte er auch noch etwas anderes: verwesendes Pferdefleisch. Am Geruch der toten Pferde konnte man erkennen, wo die Armeen langgezogen waren.

Je weiter er kam, desto mehr graugekleidete Nachzügler wanderten über die frisch umgegrabenen Felder; Gott allein mochte wissen, wohin sie unterwegs waren. So viele versprengte Soldaten waren keine gute Sache für eine allein lebende Frau, selbst wenn diese Soldaten die richtige Uniform trugen. Das zeigte sich wieder, als er in Sichtweite von Barclays Farm kam. Ein Intendanturwagen mit weißer Plane stand auf der Straße; zwei rauh aussehende Kutscher beäugten das Haus, als Charles sich näherte. Er legte seine Hand auf die Schrotflinte, und sie beschlossen, weiterzufahren.

Als er in den Hof geritten kam, warf Boz seine Axt hin, sprang über einige gespaltene Holzscheite und rannte auf ihn zu. »Hallo, hallo! Miss Augusta – Captain Charles ist hier!«

Boz hörte sich mehr als glücklich an. Er klang sehr erleichtert.

»Irgend etwas beunruhigt dich«, sagte sie. »Was ist es?«

Nebeneinander lagen sie in der Dunkelheit. Sie hatten gegessen und geredet, gebadet und miteinander geschlafen. Und anstatt sich jetzt angenehm müde zu fühlen, kämpfte er gegen die Spinnweben seiner eigenen Gedanken.

»Wo soll ich anfangen?« fragte er.

»Wo du willst.«

»Es läuft schlecht, Gus. Der ganze verfluchte Krieg. Vicksburg bedroht – Grant führt dort das Kommando. Orry kennt ihn von der Akademie und Mexiko her. Er sagt, der Mann sei wie ein Terrier mit einem Knochen. Läßt nicht los, selbst wenn er daran erstickt. Orry meint, Grant wird Vicksburg im Herbst eingenommen haben. Dann ist da Davis, der immer noch zweitklassige Generäle wie Bragg hätschelt. Und die Kavallerie kann nicht genügend Pferde auftreiben, geschweige denn sie füttern.«

»Die Farmen hier sind ausgeplündert. Und wenn man jetzt ein Feld pflügt, dann zieht zehn Minuten später eine Artillerie-Batterie darüber, und du kannst wieder von vorn anfangen.«

Charles zitterte in der Dunkelheit. Besänftigend strich sie über seine nackte Schulter. »Ich würde sagen, das alles sind ungemein ehrbare Sorgen.«

»Da ist noch eine.«

»Welche?«

Er rollte zur Seite, konnte sie nur als blassen Umriß sehen.

»Du.«

»Mein Liebling, verschwende keine Minute darauf, dich um mich zu sorgen. Ich kann schon auf mich aufpassen.« Ihre Stimme klang stolz und beruhigend. Aber er hörte auch eine Spur von Ärger heraus.

»Nun, ich mache mir trotzdem Sorgen. Beim Gedanken an dich hier ganz alleine kann ich nicht schlafen.«

Und deshalb sollte sich ein Mann in Kriegszeiten nicht verlieben. Diese Überzeugung ruhte wie ein Felsblock in ihm, unerwünscht, störend – und zweifellos wahr.

»Das ist albern, Charles.«

»Den Teufel ist es das. Hooker wird mit Sicherheit Fredericksburg angreifen – vielleicht schon in den nächsten Tagen. Die Potomac-Armee könnte das ganze Land überrennen.«

»Boz und Washington und ich können – «

»Ihr könnt euch gegen Blaubäuche verteidigen, die seit Monaten keine hübsche Frau mehr gesehen haben? Jetzt hör aber auf.«

»Du bist streitsüchtig.«

»Du auch. Ich habe gute Gründe. Ich kann nicht aufhören, mir Sorgen zu machen.«

»Du müßtest nur nicht mehr hierherkommen, dann hättest du überhaupt keine Sorgen.«

Kalt und hart fielen die Worte zwischen sie. Er warf sich aus dem Bett, kratzte sich wütend den Bart. Sie berührte ihn an der Schulter.

»Glaubst du vielleicht, ich mache mir deinetwegen keine Sorgen? Ständig? Manchmal glaube ich, ich habe mich zum falschen Zeitpunkt verliebt – in einen Mann, der – «

»Dann sollte ich vielleicht nicht mehr kommen.«

»Ist es das, was du willst?«

»Ich – «

Schweigen. Dann zerbrach etwas in ihm, er wirbelte herum, umarmte ihren nackten Körper, streichelte ihr Haar. »Oh Gott, nein, Gus. Ich liebe dich so sehr, ich weiß manchmal gar nicht mehr, was ich tue.« Zitternd umklammerten sie einander. »Geh nach Richmond«, bat er.

Sie löste sich aus der Umarmung. »Charles, das hier ist mein Zuhause. Ich werde nicht wegrennen.«

»Es hat nichts mit Feigheit zu tun, wenn du die Farm für ein oder zwei Wochen verläßt. Bis Hooker losschlägt und eine Entscheidung fällt.«

»Und wenn die Yankees kommen, und ich bin nicht hier? Wenn sie plündern und alles niederbrennen? Das hier ist alles, was ich habe.«

»Sie können plündern und brandschatzen, während du in der Küche stehst.«

»Richmond ist zu überfüllt. Es gibt keinen Platz – «

»Mein Cousin und dessen Frau werden dich aufnehmen. Boz und Washington auch.«

Sie sank zurück, verschränkte die Arme vor ihrer Brust, als wäre ihr kalt. »Es würde viel Umstände machen, alles zu packen und – «

»Hör auf, Gus. Du bist eine stolze Frau. Stark. Deswegen liebe ich dich. Aber verflucht noch mal – «

»Ich wollte, du würdest nicht ständig fluchen.«

Die leisen Worte drückten ihren Ärger deutlicher als alles andere aus. Er atmete tief durch und umklammerte den Bettpfosten, als müßte er sich festhalten.

»Tut mir leid. Aber die Gründe sind nach wie vor stichhaltig. Stolz und Stärke und zwei Neger reichen als Schutz gegen Joe Hookers Armee nicht aus. Du mußt nach Richmond gehen; wenn du es nicht für dich tust, dann tu es für mich.«

»Für dich?«

»Ja.«

»Ich verstehe.«

»Wenn du den Ton beibehältst, dann schlafe ich im anderen Zimmer – «

»Das tust du wohl besser.«

Und draußen war er, eingewickelt in eine Decke; die Tür knallte hinter ihm zu.

Beim ersten Tageslicht schlich er zu ihr hinein, flüsterte ihren Namen, erschrak, als sie sich hellwach aufrichtete. Ihr Gesicht zeigte ihm, daß sie kaum geschlafen hatte.

Er hielt ihr die Hand hin. »Es tut mir leid.«

Sie umarmten sich, beendeten den Streit, und beim Frühstück sagte sie, sie würde noch vor Ablauf der Woche nach Richmond gehen, wenn er ihr einen Paß besorgen könnte. Er versprach es. Er schrieb ihr den Weg zu Orrys und Madelines Haus auf. Alles war wieder in Ordnung. An der Oberfläche.

Später am Morgen bereitete er sich zum Aufbruch vor. »Ich schau in Richmond vorbei und sage ihnen, daß du kommst.«

Sie standen im Hof. Sie legte ihre Arme um ihn, küßte ihn und sagte: »Ich liebe dich, Charles Main. Du darfst dir keine Sorgen um mich machen.«

»Oh nein, niemals. Und Old Abe wird morgen in Atlanta die Stars and Bars-Fahne hochziehen.«

Er stieg in den Sattel, winkte und trabte auf die Straße zu. Nach einer halben Meile blickte er zurück, aber eine ratternde Kolonne Munitionswagen wirbelte Staub auf. Er konnte nur schwitzende Pferde und knirschende Räder sehen. Als die Kolonne ihn passiert hatte, war der Hof leer.

Wieder bei der Brigade in Sussex County log er Ab vor, der Besuch sei großartig gewesen.

75

»Miss Jane, ich muß gestehen – «

In der Dämmerung hatte er sie zur Veranda ihrer Hütte gebracht, hatte unterwegs versucht, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Sie lächelte ihm ermutigend zu.

»Ich liebe dich. Ich sehne den Tag herbei, wo ich ein freier Mann bin und dich um deine Hand bitten kann.«

Schon lange hatte er sich das zurechtgelegt, es aber nie auszusprechen gewagt. Seine Worte machten sie glücklich. Sie sah Andy an. Die versteckte Sonne ließ den leichten Nebel in staubig rötlicher Farbe aufleuchten. Sanft sagte sie: »Der Tag wird kommen. Dann werde ich voller Stolz ja sagen.«

»Großer Gott! Ich würde dich küssen, wenn nicht so viele Leute zuschauen würden.«

Lachend sagte sie: »Ich sehe niemanden.« Sie gab ihm einen kleinen Kuß auf die Wange und rannte hinein. Sie lehnte sich gegen die Tür, preßte ihre Hände gegen ihre Brüste.

Und dann bemerkte sie den Geruch. Den Geruch eines schmutzigen Körpers und eines schmutzigen Geistes. Er räkelte sich an der weißgetünchten Wand, die Augen trübe. Wo hatte er den Whiskey her bekommen? Wie hatte er sich ins Haus geschlichen?

»Wie kannst du es wagen, Cuffey. Raus hier.«

Er rührte sich nicht. Mit einem verschlagenen Lächeln griff er nach unten und fingerte an sich herum. »Hab’ gehört, was der Nigger sagte. Er liebt dich.« Die dunkelbraune Hand öffnete einen Knopf nach dem anderen, bis er ihr zeigen konnte, was darunter war. »Ich kann’s dir viel besser machen als er.«

»Du betrunkener, dreckiger – «

Cuffey hörte auf, an sich herumzuspielen, und kam auf sie zu. Jane schrie auf und griff nach der Tür. Er erwischte sie an der Schulter und riß sie so hart herum, daß sie stolperte. Dann knallte jemand von der anderen Seite gegen die Tür. Jane flog gegen die andere Wand, schlug schwer auf, sah nicht, wie die Tür aufkrachte und Andy im Rahmen stand. Ängstliche Schwarze drängten sich auf der kleinen Veranda.

Cuffey sagte: »Mach die Tür zu, Nigger. Hau ab, tu das, was du am besten kannst – Ol’ Meeks Arsch küssen.«

Mit einem Blick erfaßte Andy die Situation: Jane, die sich an der Wand wieder hochstemmte, Cuffey, der sein baumelndes Geschlechtsorgan zurück in seine Hose stopfte. Andy senkte leicht den Kopf und kam in die Hütte marschiert.

Cuffey packte einen alten Hocker und schwang ihn im Bogen herum, streifte Andys Kopf. Ein Bein des Hockers brach, das gesplitterte Ende riß Andys Schläfe auf. Das Blut lief ihm ins Auge, als er Cuffey ansprang und zu einem mächtigen Schlag ansetzte. Cuffey wich leicht aus und stach mit dem gesplitterten Bein nach Andys Auge.

»Laß ihn. Warte auf Hilfe«, bat Jane. Falls Andy sie hörte, so achtete er nicht auf sie. Wie ein Soldat marschierte er vor, aufrecht, ohne zu zögern. Cuffey trat ihn zwischen die Beine. Andy krümmte sich zusammen, stieß einen verbissenen Laut aus. Aber er blieb auf den Füßen. Er hob seine verschränkten Hände und hämmerte sie Cuffey seitlich ins Genick; der Schlag schleuderte Cuffey gegen die Wand.

»Du wolltest es nicht anders«, sagte Andy, über dem anderen Mann aufragend und mit beiden Händen auf ihn einhämmernd. Jetzt schrie Cuffey auf. Andy begann ihn wie einen Nagel zu bearbeiten, schlug ihn tiefer, brachte ihn auf die Knie. Cuffey begann aus dem Ohr zu bluten.

»Paß auf, Andy. Mist’ Meek kommt«, rief jemand von draußen. Jane stand auf, sah die Schwarzen von der Veranda verschwinden; der Verwalter tauchte auf, eine Pistole aus seinem breiten Gürtel ziehend.

»Wer kämpft da drinnen?«

»Cuffey und Andy«, antwortete eine Frau, gerade als Cuffey an seinem verdreckten Hemd von Andy hochgezerrt wurde. Auch aus Cuffeys Nase lief jetzt das Blut.

»Ich bring dich um, Nigger. Dich und alle andern hier.«

»Laß ihn los«, befahl Meek vom Eingang her. Andy drehte sich zu dem Verwalter um. Cuffey erkannte seine Chance und gab seinem Gegner einen Stoß.

Andy taumelte gegen den Verwalter. Cuffey riß die Mehlsackvorhänge herunter, die Jane über das hintere Fenster geheftet hatte. Er schwang ein Bein über den Rand.

»Platz zum Schießen«, brüllte Meek und stieß Andy beiseite.

Cuffey packte Jane und schwang sie in die Schußlinie. Meek riß die Mündung der Pistole nach oben, und Cuffey ließ sich aus dem Fenster fallen. Er tauchte in dem Nebel unter, der sich zu einem tiefen grau verdichtete.

»Stop, Nigger!« kommandierte Meek, einen Schuß abgebend. Cuffey verschwand hinter einer Eiche.

»Andy, was ist passiert?«

»Ich war draußen – und hörte Jane schreien.« Die Worte kamen mühsam; er atmete immer noch schwer.

»Ich kam rein, und er hatte sich hier versteckt«, sagte Jane. »Er sagte schmutzige Sachen zu mir und knöpfte dann seine Hose auf.«

Meek, immer noch wütend, daß ihm der Übeltäter entgangen war, schnaubte: »Wenn wir euch Hengste alle zu Wallachen machen würden, dann hätten wir’s hier um einiges friedlicher.«

Andy funkelte ihn an. »Hören Sie – «

Der Verwalter war zu wütend, um ihn zu beachten. Genau in dem Moment dröhnte eine Stimme aus dem dichten Nebel hinter der Hütte: »Ich bring euch alle um, hört ihr?«

»Hol ein paar Männer«, sagte Meek zu Andy. »Mindestens acht oder zehn. Eine üble Nacht, um Ausreißer zu fangen, aber den kriegen wir. Dann werd’ ich’s ihm heimzahlen.«

Die Verfolgung endete drei Stunden später, als der leichte Nebel dicht und schwer geworden war. Im Lichte einer Fackel berichtete Andy Jane von dem Fehlschlag. »Ich denke, er ist weg für immer. Nach Beaufort wahrscheinlich.«

»Gute Reise«, sagte sie.

»Vielleicht sollte ich bis zum Morgen hier draußen auf der Veranda Wache halten«, schlug er vor.

»Er wird nicht zurückkommen.«

»Du hast gehört, was er brüllte, nachdem er aus dem Fenster gesprungen war.«

»Cuffey war ein Angeber, seit ich ihn kenne. Wir werden ihn nie wiedersehen.«

»Hoffentlich hast du recht. Also dann – gute Nacht.«

»Gute Nacht, Andy.« Sie berührte sein Gesicht unter dem Leinenstreifen, den er sich um den Kopf gebunden hatte, um den blutverkrusteten Riß zu schützen. »Du bist ein mutiger Mann. Ich habe es ernst gemeint, als ich sagte, ich sei stolz darauf, deine Frau zu werden.«

Seine Augen leuchteten in dem flackernden Licht. »Ich danke dir.«

Er ging die knarrenden Stufen hinunter und in den Nebel hinaus. Kaum hatte sich ihre Tür geschlossen, da löschte er seine Fackel, drehte um und bezog Posten auf ihrer Veranda, wo er bis zum Morgen auszuharren beabsichtigte.

Obwohl Jane einige Zeit wach lag, hatte sie keine Ahnung, daß er ihr so nahe war. Sie hörte die vielen Geräusche der Frühlingsnacht. Und in ihrer Phantasie hörte sie eine Stimme, die Rache schwor. Sie versuchte, die Stimme zum Schweigen zu bringen, aber es wollte ihr nicht gelingen.

76

Am frühen Morgen des 28. Aprils schrieb Billy beim Schein einer Kerze:

Lije F. und ich sind mit einer Freiwilligenkompanie den drei Corps von Gen. Slocum zugeteilt. Morgen marschieren wir stromaufwärts. Einige glauben, daß wir einen großen Bogen um Lee schlagen und seine Nachhut angreifen. Es werden Rationen für acht Tage gekocht. 2.000 Packmaulesel ersetzen die meisten Versorgungswagen, ein weiterer Beweis für den Wunsch nach Schnelligkeit und Überraschung.

Das Wetter hat sich gebessert – der Regen ist vorbei, auch wenn Straßen und Uferbänke an manchen Stellen noch sehr schlammig sind.

Die meisten der Freiwilligen, die jetzt zur Armee kommen, sind Ersatz für Deserteure oder Gefallene, Verwundete oder Kranke. Die meisten der Greenhorns freuen sich über die Aussicht auf eine Schlacht. Ich habe den Dreck und das Töten so satt und kann nicht die geringste Freude an dem empfinden, was auf uns zukommt. Aber die Freiwilligen sind ja noch Jungs. Noch ehe dieser Frühling vorbei ist, werden sie etwas anderes sein.

Spät am nächsten Tag entdeckten Billy und ein Trupp von zwölf Freiwilligen-Pionieren ein Farmhaus mit einem soliden Stall und einem kleineren Außengebäude; die leichte Brise trug ihnen den kräftigen Duft von Hühnermist zu.

»Was meinen Sie, Sir?« fragte der Unteroffizier der Gruppe, ein Junge aus Syracuse namens Spinnington. Er war zum Corporal ernannt worden, weil er weniger faul und weniger dämlich als die anderen zu sein schien.

Von der Straße aus studierte Billy die ordentlich gehaltenen Gebäude, sich insgeheim wünschend, den Befehl zum Weitermarsch geben zu können. Spinnington zappelte ungeduldig herum. Billy sagte: »In Ordnung.«

Mit Hurragebrüll griffen die Neuankömmlinge das Haus an; die tiefstehende Sonne gleißte wie eine Axtschneide. Ihre langen Schatten kletterten an der Hauswand empor.

Die Vordertür öffnete sich; ein Mann trat heraus. Ein winziger Mann mit einem kleinen, weißen Bart, aber kräftigen, starken Händen.

Billy näherte sich der Veranda. Bevor er etwas sagen konnte, tauchte hinter dem Mann eine Frau auf. Sie war einen Kopf größer als er und dreimal so schwer.

»Mr. Tate«, sagte sie, »geh rein. General Hookers Männer sagten, wir werden erschossen, wenn wir einen Fuß ins Freie setzen.«

»Ein Bluff«, sagte der alte Farmer. »Sie haben Angst, wir geh’n über den Rapidan und warnen Bob Lee. Würde ich nicht tun. Ich muß diesen Platz hier beschützen. Deshalb muß ich mit diesen Jungs reden.«

»Mr. Tate – «

»Was wollt ihr, Jungs?« übertönte der alte Farmer die ständigen Einwände seiner Frau.

Billy nahm sein Käppi ab. »Sir, ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir Befehl haben, Holz zu organisieren. Wir brauchen es, weil die Germanna-Furt ein Sumpf ist und überplankt werden muß, damit General Hookers Streitkräfte den Fluß überqueren können. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie und Ihre Frau wieder hineingingen und uns unsere Arbeit machen lassen würden.«

»Was für Arbeit?« rief der alte Mann. »Was für Arbeit?«

Er wußte Bescheid. Billy schämte sich, ihm in die Augen zu sehen, und wandte sich an Spinnington. »An die Arbeit, Corporal. Zuerst den Stall, vielleicht kriegen wir damit den Wagen voll. Vielleicht brauchen wir den Hühnerstall gar nicht.«

»Ich habe mein Leben lang gebraucht, um das hier aufzubauen«, sagte der alte Mann; Tränen des Zorns rannen aus seinen Augenwinkeln. »Bedeutet Ihnen das gar nichts?«

»Es tut mir leid, Sir. Wirklich leid.«

Ein Nagel quietschte, ein durchdringender, kreischender Laut. Zwei Freiwillige brachen das erste Brett heraus, ein Dritter rannte zum Wagen.

Der alte Farmer torkelte von der Veranda. Billy zog seinen Revolver. Der Farmer zögerte, setzte sich auf die Stufen und warf Billy einen Blick zu, den dieser nie vergessen würde. Dann starrte der Farmer auf seine Schuhe, während die Pioniere den Stall auseinanderrissen. Bei Einbruch der Dunkelheit waren sie fertig; die jetzt nicht mehr eingepferchten Milchkühe und Ackergäule wanderten um den Hühnerstall herum. Billy setzte sich auf den anrollenden Wagen; er gestattete sich keinen Blick zurück.

Ein Eintrag in seinem Tagebuch, irgendwann zwischen Sonnenuntergang und der Morgendämmerung des 30. Aprils geschrieben, lautete:

Ich hasse den Menschen, den dieser Krieg aus mir macht.

»Es sind die Deutschen«, schnarrte Spinnington. »Die verfluchten Deutschen haben sich verschanzt.«

»Maul halten«, sagte Billy, nackt bis zur Hüfte; mit beiden Händen schwang er die Axt.

Es war gerade Tag geworden. Vor einer Stunde, als die von Granaten in Brand gesetzte Wildnis in Flammen stand, war Billys Trupp im Eiltempo zu dem relativ sicheren Gelände bei der Chancellorsville-Kreuzung beordert worden. Den vielen Wachposten und Kurieren nach zu urteilen mußte General Hooker in dem weißen Herrschaftshaus stecken. Niemand schien zu wissen, was er im Schilde führte, aber eines schien gewiß: Fighting Joes großer Plan hatte gar nichts gebracht.

Hooker hatte seine angestrebte Position in der Wildnis eingenommen, war bereit gewesen, Lee von hinten anzugreifen – und hatte den Vorteil aus der Hand gegeben. Warum? dachte Billy, die Axtschläge zur Bekräftigung der wütenden Wiederholung der Frage einsetzend. Warum?

Gestern hatte Fighting Joe seine Männer weiter nach vorn in eine bessere Angriffsposition gebracht – auf höheres und offeneres Gelände. Als seinen Männern feindliches Feuer entgegenschlug, stoppte er den Vormarsch. Die Corps-Kommandeure hatten ihren Zorn nicht verborgen. Billy hatte gehört, was General Meade sagte; es breitete sich aus wie das Feuer in den Wäldern: »Wenn er eine Bergspitze nicht halten kann, wie kann er dann erwarten, sich im Tal zu halten?«

Mittlerweile aber bereiteten sie sich genau darauf vor. Vormarsch; warum? Rückmarsch; warum?

Gestern, während Hooker seine Chance auf eine überlegene Position vergab, waren Bob Lee und Old Jack damit beschäftigt gewesen, ihn zu überlisten. Jackson hatte seine Männer auf einen ihrer berühmten Blitzmärsche geführt, diesmal eine verdammt riskante Flankenbewegung. Aber er hatte es geschafft, ohne entdeckt zu werden, und stand bei Anbruch der Nacht bereit, die rechte Flanke der Union anzugreifen. Howards Deutsche genossen dort gerade in aller Ruhe ihr Abendessen. Old Jacks brüllende, kreischende Farmerjungen überraschten sie vollkommen.

Das war der Anfang vom Ende von Hookers großartigem Plan. Überall im Wald befanden sich die Rebs jetzt in der Offensive. Gott allein mochte wissen, wo sie im nächsten Moment auftauchen würden – was der Grund war, weshalb die Soldaten der Union so verzweifelt Schützenlöcher aushoben, um das offene Gelände bei der Straßenkreuzung verteidigen zu können, während andere, einschließlich Billys Trupp, noch vor den Linien Bäume fällten.

Die Äxte bissen in das Holz. Spinnington arbeitete links neben Billy; Lije dicht hinter ihm. Schweißtropfen glänzten in seinem weißen Bart, als Lije die schwere Axt mit der rechten Hand anhob, als wäre sie ein Strohhalm. Er deutete auf einen größeren Baum, eine Eiche von ungefähr einem Fuß Durchmesser.

»Den als nächsten, Jungs. Der fällt nach rechts, wenn wir ihn richtig schlagen.« Lije mußte laut sprechen, um den ständigen Lärm zu übertönen: Trommeln und Hörnerklang, brüllende Männer, Gewehrfeuer, verirrte, laut muhende Kühe von der Herde. Gegen drei Uhr morgens hatte Billy ein Nickerchen gemacht und war von einer Kuh, die ihm auf den Bauch trat, unsanft hochgeschreckt worden.

Billy und Lije nahmen die Eiche von zwei Seiten in Angriff. Lije fing seinen Blick auf, lächelte auf müde, väterliche Weise. Billy wünschte sich den Glauben des älteren Mannes. Wenn Gott auf Seiten der Union stand, warum überraschte und schlug sie Lee jedesmal? Sie hatten eine weiße Kerbe in den Stamm geschlagen, als Billy hinter all den anderen Geräuschen einen unheilvolleren Laut vernahm: das Heulen einer Granate.

»Die Köpfe runter«, brüllte er, »die kommt mächtig – «

Um ihn herum schleuderte Erde hoch, riß ihn in einer Wolke von Dreck und Gras von den Beinen. Benommen landete er auf dem Rücken. Etwas lag auf seiner nackten Brust: ein großes, gelblichweißes Stück Holz vom Kern der Eiche.

Zwinkernd richtete er seinen Blick auf den Baum, der gerade zu stürzen begann. Männer, genauso benommen wie er, taumelten hoch.

Lije stand ein gutes Stück hinter dem Baum, und auch er sah ihn fallen, genau auf Spinnington zu.

»Spinnington, weg dort«, brüllte Billy. Spinnington drehte sich um, das Gesicht stumpf und verständnislos. Das weitere lief blitzschnell ab.

Lije hechtete vor, rammte den Corporal mit der Schulter, in der Absicht, ihn beiseite zu stoßen. Sein linker Stiefel verfing sich in einer Ranke. Er stürzte auf die Brust, hob den Kopf, krallte sich mit beiden Händen in die Erde, einen Augenblick, bevor ihm die Eiche auf den Rücken krachte.

»Oh Gott«, flüsterte Spinnington, der unverletzt daneben stand.

Billy rannte vor, brüllte Lijes Namen. Männer warfen sich zu Boden; eine weitere Granate schlug zwanzig Meter entfernt ein. Billy knallte mit dem Rumpf auf, Erde und Steine prasselten in sein Gesicht.

Er raffte sich wieder hoch, taumelte auf die gestürzte Eiche zu. Langsam schlug Lije die Augen auf. Ein ganzes Stück links hinter ihnen explodierte die nächste Granate. Ein Mann wurde buchstäblich zerfetzt; Schreie und Stöhnen erhöhten das lärmende Chaos. Billy wußte, welche Schmerzen Lije erdulden mußte, doch die Augen des älteren Mannes bekamen lediglich einen feuchten Schimmer.

»Ich hole dich raus, Lije.« Er sprang zum Baum, griff mit den Händen darunter, zerrte und zog. Schmerz schoß durch seinen Rücken. Die Eiche bewegte sich nicht.

Er wirbelte herum. »Los, Männer, helft mir!«

»Sinnlos«, murmelte Lije. Er schloß die Augen, leckte sich die Lippen, wiederholte das Wort, sagte dann, »Rückzug. Das Feindfeuer wird zu stark. Rückzug – das ist ein direkter – Befehl.«

Trotz ihrer Angst kamen einige Freiwillige angerannt und versuchten die Eiche anzuheben. Der Stamm ruckte ein paar Zentimeter nach oben. Dann rutschten die Hände eines Mannes ab, und der Stamm sackte nach unten. Billy hörte Lijes Zähne knirschen.

»Rückzug«, flüsterte er.

»Nein«, sagte Billy, langsam die Beherrschung verlierend.

»William Hazard, ich befehle – «

»Nein, nein.« Er weinte. »Ich lasse dich hier nicht sterben.«

»Wessen das Leben ist – soll der den Tod nicht schau’n?«

»Hör auf mit der Bibel!« schrie Billy. »Du bleibst nicht hier, so einsam und verlassen.«

»Das werde ich nicht sein.« Lijes Stimme war schwach, aber er sprach jede Silbe deutlich aus. »Ich vertraue dem Wort des Herrn. ›Der, welcher mein Wort höret – und an mich glaubet – soll nicht der Verdammnis anheimfallen.‹ Es war mir vorherbestimmt, hier zu fallen. Dein Schicksal – ist es zu leben – und diese Männer – «

Eine weitere Granate schlug in den Wald, schleuderte Erde in den Rauch und Qualm, verwischte mit ihrer Explosion Lijes schwache Stimme.

»– in Sicherheit zu bringen. Ich befehle es dir.«

»Jesus.« Billy weinte. »Jesus Christus.«

»Versündige dich nicht. Ich befehle es dir. Lebe und – kämpfe weiter. Ich liebe dich wie einen Sohn. Das war mir – vorbestimmt.«

Das war es nicht, schrie eine Stimme tief in Billys Innerem. Es war nicht Gottes Wille, sondern Zufall und eine dämliche christliche Opferbereitschaft.

»Kommen Sie, Sir.« Hände zogen ihn. »Er ist tot, Sir.«

Billy senkte den Blick; Lijes Augen waren geschlossen, sein Gesicht war glatt.

»Kommen Sie, Sir«, wiederholte Spinnington. Überraschend sanft griffen er und ein weiterer bartloser Freiwilliger nach Billys Armen. Er war benommen, murmelte vor sich hin. »Wir holen seine Leiche, wir kommen zurück«, sagte eine ferne Stimme, die er nicht erkannte. Er bohrte seine schmutzigen Fäuste in seine feuchten Augen und ließ sich wegführen.

In der Nähe des Hauptquartiers machte ein Arzt eine Flasche Whiskey auf. Zwei Schlucke rüttelten Billy wach, versetzten ihn in die Lage, wieder einigermaßen zu funktionieren. Er wußte nun etwas, das er zuvor nicht gewußt hatte. Gott regierte einen solchen Krieg nicht – falls er überhaupt irgendwo regierte.

Der Rückzug zum Fluß begann am Vormittag; Soldaten, Kanonen, Ambulanzen, alles zog sich in wirrem Durcheinander zurück, während die Rebelleninfanterie vorrückte und die Rebellenartillerie weiter aus allen Rohren schoß. Billy, Spinnington und zwei andere schlichen sich vor, um Lijes Leiche zu bergen. Aber das Geschützfeuer von Hazel Grove war zu schwer gewesen; zuviele Bäume hatten sich entzündet, und die Flammen hatten sich so schnell ausgebreitet, daß Lijes Körper nichts Menschenähnliches mehr an sich hatte. Keiner von ihnen, nicht mal Billy, konnte länger als ein paar Sekunden hinsehen. Sie verließen die verkohlte Gegend und zogen sich zurück.

Mitten im Rückzug traf Billy die Erkenntnis: Nun, zumindest war er an einem Sonntag zur ewigen Ruhe gegangen.

77

Die ganze Montagnacht hindurch blieb der Militärtelegraph über lange Zeitspannen hinweg still. Im Kriegsministerium konnte man ein ständiges Kommen und Gehen übermüdeter Männer beobachten; einige blieben eine Stunde, andere wollten warten, bis neue Nachrichten eintrafen. Zu ihnen gehörte Stanley, Mitglied einer kleinen Gruppe, deren Status es erlaubte, daß sie in Stantons Büro warteten. Der Präsident hielt sich ebenfalls dort auf, ausgestreckt auf seiner Lieblingscouch; alle paar Minuten drehte er sich rastlos hin und her.

»Wo ist Hooker jetzt? Wo steckt General Stoneman? Warum zum Teufel schicken sie keine Nachricht?«

Stanley hielt sich die Schläfen und rieb sich mit zwei Fingern die schmerzenden Augen. Er hatte die ungeduldigen rhetorischen Fragen des Präsidenten satt. Stanton offensichtlich auch; seine Stimme klang rauh, als er sagte: »Sie werden ihr Schweigen brechen, wenn es angebracht erscheint, Herr Präsident. Ich nehme an, die Generäle sind damit beschäftigt, unseren Sieg zu festigen.«

Es war Dienstag, kurz vor Sonnenaufgang. Während der letzten zwölf Stunden, in denen nur völlig unzulängliche Nachrichten eingetroffen waren, hatte sich ein Gerücht wie eine ansteckende Erkältung ausgebreitet: Hooker hatte einen Sieg errungen, wenn auch zu einem hohen Preis.

Stanley hoffte bei Gott, daß Hooker einen Sieg errungen hatte. Die Partei benötigte mehr als nur diesen einen. Die Präsidentenwahlen fanden in etwas über einem Jahr statt, und wenn Lincoln stürzte, dann riß er viele andere mit sich. Stanley krümmte sich allein beim Gedanken an diese Möglichkeit. Er hatte an seinem Job und der damit verbundenen Macht Geschmack gefunden. Falls Isabel für den Rest ihres Lebens zurück nach Lehigh Station mußte, dann würde sie ihm die Schuld daran geben und ihm das Leben noch schwerer machen. Ein Jammer, daß er über keinen Ersatz für Isabel verfügte – irgendeine jüngere und weniger kluge Frau, die seinen Problemen mit einem gewissen Verständnis und Mitgefühl gegenüberstehen würde.

Als Stanley Willard’s Speisesaal betrat, sah er seinen Bruder ganz allein an einem Tisch frühstücken. Stanleys erster Impuls war, den Raum wieder zu verlassen. Seit Wades Niederlage im Senat hatte er George nicht mehr gesehen, und George würde zweifellos seinen Triumph auskosten.

Doch die lange Nachtwache hatte Stanley in eine für ihn untypische Verfassung gebracht: Er sehnte sich nach der Gesellschaft eines Menschen von außerhalb des Kriegsministeriums. Also steuerte er auf den Tisch zu, an dem George saß und mit einem sehr merkwürdigen Gesichtsausdruck auf seine Bratkartoffeln starrte. Erst als Stanley sich räusperte, hob George den Kopf.

»Hallo, Stanley. Wo kommst du her?«

»Aus dem Telegraphenraum. Ich habe dort die ganze Nacht auf Nachrichten aus Virginia gewartet.«

»Und? Gibt es welche?«

»Sehr wenige. Darf ich mich zu dir setzen?«

George deutete auf einen Stuhl. Noch immer ging ihm nicht aus dem Kopf, was er vorhin auf der Straße gesehen zu haben glaubte. Stanley legte seinen Hut ab und zog seine Weste über die ständig größer werdende Rundung seines Bauches. »Stimmt was nicht, George? Probleme mit Constance oder den Kindern?«

Bastard, dachte George. Es gehörte zu Stanleys Stil, solche Fragen mit hoffnungsvollem Unterton zu stellen. »Ja, es stimmt was nicht. Vor zehn Minuten hab’ ich einen Geist gesehen.«

»Ich bitte dich.«

»Sir?« sagte der Kellner, der auf Stanleys Bestellung wartete.

»Kommen Sie später noch mal«, schnappte Stanley. »Erklär mir, was du damit meinst, George.«

»Ich habe Virgilia gesehen. In einem der Wagen auf der Straße.«

Vor Verblüffung verschlug es Stanley für einen Moment die Sprache. »Ich dachte, Virgilia sei weit weg von diesem Teil des Landes. Ich habe seit zwei oder drei Jahren nichts mehr von ihr gehört.«

»Ich bin sicher, daß sie es war – nun, jedenfalls so gut wie sicher. Du weißt, daß sie nie Wert auf ihre Kleidung legte, und diese Frau war elegant gekleidet. Ihr Haar war modisch frisiert. Aber selbst diese Änderungen – «

»Offensichtlich bist du dir alles andere als sicher«, unterbrach ihn Stanley. »Aber angenommen, es war Virgilia. Was geht dich das an? Was für einen Unterschied würde es machen? Für mich und Isabel keinen, das kann ich dir sagen. Bis auf den Nachnamen und die Verachtung des Südens verbindet mich nicht das geringste mit meiner Schwester.«

»Hast du dich nie gefragt, wie es ihr geht?«

»Nie. Sie ist eine Diebin und eine Hure – und das sind noch die freundlichsten Bezeichnungen, die ich finden kann. Ich verspüre keine große Lust, über Virgilia oder ein ähnlich unangenehmes Thema zu sprechen. Ich bin die ganze Nacht auf gewesen und möchte in Ruhe und Frieden mein Frühstück verzehren. Wenn du willst, kann ich das auch an einem anderen Tisch tun.«

»Beruhige dich, Stanley. Bestell etwas, und ich bin still.«

Danach ließ die Unterhaltung zu wünschen übrig. Stanley verzehrte ein gewaltiges Frühstück, während George diffuse Phantasiebilder eines Frauengesichts vor sich sah. Auf eine seltsame Weise waren beide Brüder über die Gesellschaft des anderen froh.

Gemeinsam verließen sie den Speisesaal. »Gehst du jetzt zur Arbeit?« erkundigte sich Stanley draußen. George meinte, er würde die drei Blocks zum Evening Star gehen, um zu sehen, ob dort neue Nachrichten angeschlagen worden waren.

»Wenn’s um genaue Nachrichten geht, verlasse ich mich lieber auf die Korrespondenten. Ihr Burschen in Stantons Büro veröffentlicht anscheinend nur das, was günstig ist, und unterdrückt den Rest.«

Die Beleidigung ärgerte Stanley, aber ihm fiel keine passende Antwort ein; unglücklicherweise hatte sein Bruder recht. Er begleitete ihn zur Star-Redaktion. Eine Menge von fast hundert Leuten drängte sich um die langen, handbeschriebenen Papierstreifen, die draußen hingen.

Das Neueste vom Kriegsschauplatz – – – – – – – – – – General Lee überrascht General Stoneman fällt den Rebellen mit seiner Kavallerie in den Rücken – – – – – – – – – – Feind bedroht Fredericksburg Unsere Virginia-Korrespondenten berichten von schrecklichen Kämpfen Samstag & Sonntag bei Chancellorsville

Mürrisch sagte George: »Altes Zeug. Hab’ ich alles gestern schon gelesen. Ich muß los – «

»Wart einen Moment«, sagte Stanley. »Sie bringen gerade eine neue Nachricht raus.«

Die Menge flüsterte erwartungsvoll, als ein Mann in Hemdsärmeln mit einem langen Bogen Papier in der Hand erschien. Er kletterte eine Leiter hoch und befestigte das Bulletin.

Erregende Neuigkeiten von der Armee! Hooker okay!!! – – – – – – – – – – Unsere Männer vollbringen Wunder an Tapferkeit – Tausende von feindlichen Soldaten gefangen – – – – – – – – – – General Stonewall Jackson angeblich schwer verwundet

Fast augenblicklich kam die Reaktion.

»Wir haben gesiegt! Fighting Joe hat’s geschafft!«

»Soll’n nur diese Gefangenen herbringen, wir hängen sie schon auf.«

»Schau dir das an – Jackson hat gekriegt, was er verdient hat.«

Stanley zog an seiner Weste. »Wenn diese Berichte stimmen – «

George hörte ihn nicht. Er dachte an Jackson, an den seltsamen, scheuen Presbyterianerjungen aus den Hügeln von West-Virginia, der sein Freund geworden war. Er erinnerte sich daran, daß er ihn Tom genannt hatte und wie er mit ihm und Orry und Sam Grant nach der Eroberung von Mexico City zusammengesessen hatte.

Das Bulletin flatterte in der Brise. Die Erfahrung hatte George gelehrt, daß viele solcher Bulletins sich als völlig oder teilweise falsch erwiesen. Bei diesem hier hatte er allerdings ein ungutes Gefühl.

Er wandte sich an Stanley: »Was sagtest du?«

»Ich sagte, es wird ein Segen sein für die Union, wenn die Nachricht über Jackson stimmt. Sogar noch größer, wenn die Verwundung tödlich sein sollte.«

»Halt die Klappe, Stanley. Spar dir deine dämlichen Bemerkungen für die rachsüchtige Menge, mit der du auf so vertrautem Fuß stehst.«

»Ich sage über einen verdammten Verräter, was ich will und – «

»Nein, das tust du nicht. Er war mein Freund.«

Stanley öffnete den Mund, schloß ihn aber schnell wieder. Mit leicht gesenktem Kopf starrte ihn George noch einen Moment drohend an, dann drehte er sich mit steifem Rücken um und verschwand hinter der nächsten Straßenecke.

Jemand in der Menge hatte den Wortwechsel gehört. Ein Mann reckte Stanley sein Kinn entgegen. »Was sagte dieser Offizier eben? Dieser Stonewall war sein Freund?«

»Jeden, der sowas zugibt, sollte man lynchen«, sagte eine fette Frau.

»Ich teile diese Meinung«, erklärte Stanley. Er bedauerte, mit George gefrühstückt zu haben, und überlegte wieder einmal, ob er nicht Colonel Bakers Aufmerksamkeit auf George lenken sollte.

78

Sie würde dafür büßen müssen, daß sie nach Washington fuhr, das wußte Virgilia. Bei ihrer Rückkehr nach Aquia Creek würde sie von der Frau, die erst kürzlich als Leiterin der Krankenschwestern eingesetzt worden war, eine strenge Rüge erhalten; man konnte nicht einfach verschwinden, wenn so viele Verwundete von Chancellorsville eingeliefert wurden. General Hookers großer Vorstoß war zurückgeworfen worden, was in der Hauptstadt kaum bekannt war, wie Virgilia bemerkte.

Virgilias Gewissen hielt sie im Dienst fest, aber einige anderen Umstände waren stärker. Fast vier Wochen hatte sie auf einen Gesprächstermin bei Miss Dix warten müssen. Und sie mußte etwas wegen ihrer immer unerträglicher werdenden Situation unternehmen.

Während ihres Interviews an dem Morgen, an dem George sie gesehen hatte, lobte sie die neue Oberschwester, Elvira Neal, die eine ordentliche Ausbildung genossen hatte. Dann kam sie zum eigentlichen Zweck des Gesprächs. Sie bat um ihre Versetzung in ein anderes Krankenhaus. Ihre Worte sorgfältig wählend, sagte sie, daß anscheinend ihre Persönlichkeit und die der verwitweten Mrs. Neal nicht ganz zueinander paßten. Sie äußerte ihre Meinung, daß sie getrennt voneinander wirkungsvoller arbeiten könnten.

»Und deswegen haben Sie zu solch einem kritischen Zeitpunkt Ihren Posten verlassen?« fragte Miss Dix. »Aus persönlicher Bequemlichkeit?«

Virgilias Temperament ging mit ihr durch. »Ich kann nichts Unrechtes dabei finden, so lange es besser – «

»Daran ist vieles unrecht, wenn man die Bedeutung des gegenwärtigen Feldzugs in Virginia berücksichtigt. Ich werde Ihren Antrag in Erwägung ziehen, aber das wird weder schnell gehen, noch stehe ich der Angelegenheit positiv gegenüber. Sie haben sich bis jetzt gut geführt, Miss Hazard, aber mit dieser Sache haben Sie sich einen schlechten Dienst erwiesen. Guten Morgen.«

Virgilia ging; lautlos verfluchte sie Miss Dix als eine verdammt sture Kuh.

Sie stieg wieder in die Kutschbahn und beruhigte sich nach und nach. Sie fühlte sich wohl im Schwesterndienst. Deswegen war sie jetzt froh, daß sie nicht alle Anschuldigungen gegen Mrs. Neal vorgebracht hatte, die sie auf Lager hatte. Sie waren ohnehin mehr persönlicher als beruflicher Natur. Diese Frau war sentimental, eine Friedensdemokratin, die McClellan gar nicht genug loben oder Männer wie Stevens und Stanton gar nicht genug kritisieren konnte.

Ich hätte mir denken können, daß es so ausgeht, dachte sie. Ein kleiner Seufzer brachte ihr einen Blick von dem neben ihr sitzenden Mann ein. Er bemerkte ihren Busen und setzte zum Sprechen an. Ihre Augen funkelten gefährlich, und er wechselte den Sitz.

Eine wachsende Leere erinnerte sie daran, daß sie nichts mehr gegessen hatte, seit sie in dem billigen Hotel, in dem sie die Nacht verbracht hatte, erwacht war. Sie sah Willard’s an der nächsten Ecke und stieg aus dem Wagen. Sie befand sich an der Tür zum Speisesaal, als eine Gruppe Männer herauskam.

»Kongreßabgeordneter Stout – «

Er wandte sich um. Sie hielt den Atem an – würde er sie erkennen?

Ja! Er zog den Hut, den er gerade auf sein welliges, dunkles Haar hatte drücken wollen.

»Gentlemen, entschuldigen Sie mich. Eine alte Freundin. Ich danke Ihnen; wir werden die Angelegenheit weiterverfolgen.«

Sam Stout ignorierte das leicht unzüchtige Gekicher einiger seiner Freunde und schüttelte ihr die Hand.

»Miss Hazard. Wie geht es Ihnen?«

»Freut mich, daß Sie sich an meinen Namen erinnern.«

»Hatten Sie das Gegenteil angenommen? Was tun Sie in der Stadt?«

»Ich hatte einen Termin bei Miss Dix über dringende Verwaltungsangelegenheiten. Ich habe sehr ungern das Hospital verlassen, aber es ging nicht anders. Gibt es irgendwelche Nachrichten von General Hooker?«

»Nur das, was die Zeitungen bringen. Mein Freund Stanton bewacht den Telegraphen sehr sorgfältig.« Stout blickte sich um, musterte schnell alle Männer und Frauen in der betriebsamen Halle. Er tat es ganz beiläufig, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, was Virgilias Bewunderung für ihn nur noch erhöhte.

Die Begegnung mit ihm versetzte sie in beschwingte Stimmung. Bei einem vorangegangenen Besuch in Washington hatte sie einige Nachforschungen über sein Privatleben angestellt. Er hatte keine Kinder; seine Frau, eine Jugendfreundin aus Indiana, war offensichtlich unfruchtbar. Außerdem war sie mager, mit einer Brust so flach wie ein Brett.

Mit ernstem Gesicht sagte Stout: »Es wäre äußerst interessant für mich, noch etwas über die gegenwärtigen Zustände in den Hospitälern zu hören. Ob sie über die nötige Ausrüstung verfügen, genügende Mengen von Betäubungsmitteln.«

Kluger Mann. Er sprach, den gleichen Vorwand wie sie damals benutzend, laut und deutlich, um gleich jeden Hauch von Unschicklichkeit abzubiegen. Ein Angestellter am Empfang hatte Stout erkannt und lauschte. »Ich glaube, hier entlang kommen wir zu einem ruhigen Salon, Miss Hazard. Wir könnten dort ein wenig plaudern, falls das Ihren Zeitplan nicht durcheinanderbringt.«

Sein direkter Blick drückte aus, was er wirklich im Sinn hatte. Virgilia fühlte sich schwindlig und begann, von ihrer Kleidung beengt, zu transpirieren. Höflich griff er nach ihrem Ellbogen und führte sie den verlassenen Flur entlang. Der Salon, in dem verstreut kleine Tische und Stühle standen, war leer.

Stout war kein Narr; er ließ die Tür weit offen, obwohl er einen Tisch wählte, an dem sie von außen nicht gesehen werden konnten.

»Ich muß gestehen, Miss Hazard, Sie sehen wunderbar aus.« Die vibrierende Stimme klang tief in ihr nach, rührte etwas an.

Sei vorsichtig! sagte eine innere Stimme zu ihr. Laß dich auf keinen beiläufigen Handel ein. Er ist ein verheirateter Mann. Er kann nicht wie ein reifer Apfel gepflückt werden.

»Danke, Kongreßabgeordneter.«

Mit beredter Geste zu einem plüschigen Sessel: »Möchten Sie sich nicht setzen? Wie sind die Zustände in Aquia Creek?«

»Die Arbeit ist mühsam, aber Sie wissen ja, wie sehr mir unsere Sache am Herzen liegt.«

»Das weiß ich noch sehr gut«, erwiderte er nickend. »Das ist einer der vielen Gründe, weshalb ich Sie bewundere.« Er studierte ihren Mund und lächelte ein wenig. Sie fühlte sich schwach. Er drängte nicht.

»Unsere Vorräte scheinen nie auszureichen«, fuhr sie fort.

»Trotzdem ist es eine bemerkenswerte Leistung, die Sie und die anderen Damen vollbringen.«

»Nie gut genug, um mich zu befriedigen, Kongreßabgeordneter.«

»Sam, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Gut. Mein Vorname ist – «

»Virgilia. Ein schöner Name.«

»Sie besitzen solch eine wunderbare Stimme, daß da jeder Name großartig klingt.«

Sein Blick wanderte zur Salontür. Der Flur lag leer und still da. Er schien sich seinen nächsten Zug zu überlegen. Virgilias Augen ermutigten ihn. Schließlich sagte er: »Ich bedaure, daß unser erstes Treffen so entmutigend endete.«

»Ich glaubte, offen zu Ihnen sein zu müssen, obwohl ich Ihre Militanz den Rebellen gegenüber sehr bewundere.« Sie war selbst von der Leichtigkeit überrascht, mit der sie einen Unterton in ihrer Stimme mitschwingen ließ. Sie würde zwar nie so perfekt flirten können wie diese strohköpfige Ashton Main, aber einiges hatte sie bereits gelernt.

Wieder wanderte sein Blick zum Flur. Nur das ferne Gemurmel aus der Hotelhalle war zu hören. Langsam hob er die rechte Hand von seinem Schoß. Wie träge diese Hand schien, die sich da wie ein durch Luftströmungen segelnder weißer Vogel auf ihr Mieder zubewegte. Sie begann zu zittern, preßte die Beine zusammen, als sich sein Daumen auf ihre linke Brust legte und seine Finger die schwellende Rundung umfaßten.

Sie legte ihre rechte Hand über die seine. Leise flüsterte sie seinen Vornamen, schloß dann die Augen. »Oh!«

Im Flur klapperte jemand mit einem Eimer. Schnell zog Stout die Hand zurück. Das alles hatte nicht länger als fünf Sekunden gedauert, aber damit war all das geklärt worden, was zuvor nur unausgesprochen in der Luft gehangen hatte.

Ein älterer Neger in Hotellivree tauchte mit einem Eimer in der Hand auf und begann eine Sandurne vor der Salontür zu säubern. Als er fertig war, glättete er den Sand und verschwand wieder.

Virgilias Gesicht fühlte sich an, als hätte jemand heißes Wasser darüber geschüttet.

Stout beugte sich vor. »Ich möchte Sie wiedersehen.«

»Mir geht es ebenso.«

»Unser nächstes Treffen sollte in einer mehr privaten Atmosphäre stattfinden, meinen Sie nicht auch?«

Einen schwindelnden Augenblick lang geriet sie in Versuchung. Dann erinnerte sie sich daran, was sie zu verlieren – oder zu gewinnen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Stouts polierte Fassade zeigte Risse.

»Ich sagte lediglich – «

»Auch ich fühle – eine starke Anziehungskraft, Sam. Aber ich weigere mich, irgendeine – irgendeine Hinterhofaffäre anzufangen.«

Er legte einen Arm über seinen Sessel und betrachtete sie aufmerksam. »Ist immer noch meine Frau das Problem?«

»Ich fürchte ja.«

Kalt sagte er: »Wenn Sie glauben, ich würde sie Ihretwegen oder wegen irgendeiner anderen Frau über Bord werfen, dann haben Sie sich getäuscht.«

»Ich habe nichts verlangt – «

»Das ist auch gar nicht notwendig, meine Liebe. Ihr Plan ist vollkommen klar. Ich nehme an, ich kann Ihnen nicht vorwerfen, daß Sie sich irgendwelche Hoffnungen machen, aber diese Hoffnung ist fehl am Platz. Ich würde nie aufs Spiel setzen, was ich in dieser Stadt erreicht habe – und noch erreichen will –, indem ich mich moralisch ins Abseits begebe. Haben Sie eine Ahnung, was einige meiner Anhänger tun würden, wenn ich in einen Skandal verwickelt wäre? Sie würden mich abwählen – und Teer und Federn am Bahnhof bereithalten, wenn ich heimkomme.«

Nachdem er den erwünschten Effekt erzielt hatte, griff er nach ihrer Hand. »Warum muß Konvention ein Hindernis sein, Virgilia? Wir verspüren doch beide den gleichen Wunsch und können ihn insgeheim befriedigen, ohne die Interessen irgendeiner Partei dabei zu verletzen.«

»Woher wollen Sie wissen, ob es so funktioniert, Kongreßabgeordneter? Sind Sie ein Experte in solchen Dingen?«

Seine Augen wurden frostig. Er griff nach Stock, Hut und Handschuhen. »Ich habe eine Verabredung. Hat mich gefreut, Sie zu sehen, Miss Hazard. Leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl.«

Er erreichte die Tür. Abrupt stand sie auf. »Sam – «

»Ja?«

Wie schwer es ihr doch fiel, das zu sagen, was gesagt werden mußte. »Nichts. Ich kann von meinen Bedingungen nicht abrücken.«

»Sie sind zu hoch, fürchte ich. Viel zu hoch.« Er schenkte ihr ein weiteres Lächeln; ein verächtliches Lächeln diesmal, das sie treffen sollte. Seine gebeugte Gestalt verschwand den Flur hinunter.

Niedergeschlagen blieb sie sitzen. Wie dumm von ihr, mit solch schlechten Karten bluffen zu wollen. Zweifellos hätte er die Hälfte der Washingtoner Frauen haben können.

Und doch, wenn sie an seine Augen dachte, dann wußte sie, daß er sie haben wollte. Ihre Brüste, ihre Person.

Was spielte es jetzt noch für eine Rolle? Sie hatte alle Trümpfe ausgespielt und trotzdem verloren. Oder war es vielleicht doch ein bißchen voreilig, die Niederlage als endgültig zu betrachten? Wenn sie ihre Gunst so teuer anbot, dann konnte das möglicherweise den Effekt haben, daß Stout sie nur um so stärker begehrte.

Bei diesem Gedanken überfiel sie die feste Überzeugung, daß sie Sam Stout nicht zum letztenmal gesehen hatte. Wo würden sie sich das nächste Mal treffen? Das ließ sich nicht sagen. Aber ganz egal wo, es würde geschehen. Sie verließ den Salon und eilte zuversichtlich den fernen Geräuschen entgegen. Sie bemerkte, daß sie die verstohlenen Blicke der Gentlemen auf sich zog, als sie die Halle durchquerte.

79

»Es ist alles da«, sagte der Albino. »Wo ist das Geld?«

»Alles zu seiner Zeit – alles zu seiner Zeit!«

Bents kleine, dunkle Augen überflogen die eng beschriebenen Seiten. Der Albino, ein sanfter, verletzlich aussehender Junge von achtzehn oder neunzehn Jahren, ging mit mürrischem Gesichtsausdruck ein Stück beiseite; er riß einen Strohhalm aus einem der im Schuppen aufgetürmten Ballen und kaute darauf herum.

Bent las weiter. »Sie finden alles wie versprochen«, sagte der Albino. Es klang wie eine Beschwerde. »Komplettes Verzeichnis der Produktion bei Tredegar – Kanonen, Granathülsen, Geschützlafetten, Panzerplatten für Mr. Mallorys Panzerschiffe. Dazu eine lange Liste mit der jeweiligen Menge. Mein, äh, Freund, der die Informationen zusammengestellt hat, war einer von Joe Andersons Spitzenassistenten.«

Bent, aufmerksam geworden, räusperte sich. »Sagtest du: war?«

»Jawohl, Mr. Bascom.« Geziert strich er sich mit der linken Hand das schöne, weiße Haar von der Schulter. »Leider wurde er letzte Woche entlassen. Einige Unregelmäßigkeiten bei Zahlungen.«

»Was für Unregelmäßigkeiten?«

»Das hat was mit der Begünstigung von gewissen Lieferanten zu tun. Auf diesen Bericht wirkt es sich nicht aus. Der ist hundert Prozent zuverlässig.«

»Oh ja, das glaube ich auch«, sagte Bent nickend. Er faltete die Blätter zusammen und steckte sie in die Seitentasche seines zeltähnlichen Rockes. In seinem neuen schwarzen Alpacca-Anzug, den schweren Stiefeln und dem breitkrempigen Hut ähnelte er einem respektablen Geschäftsmann.

Seine Gedanken rasten. Diese arme Kreatur hatte eben versehentlich eine verderbliche Information ausgeplaudert, als Kontaktmann war er nun nutzlos. Bent wußte, daß er nun handeln mußte, und er würde auch nicht zögern; Baker hatte ihm viel Handlungsspielraum gelassen.

»Ich habe das Geld dabei.« Er wühlte in einer Tasche. Der Albino leckte sich die Lippen. Eine Glocke ertönte auf einem nächtlichen Paketboot. Ein kurzes Stück flußab, jenseits des Kanals, aber noch auf dieser Seite des Flusses, rötete die ausgedehnte Tredegar-Gießerei die Nacht und füllte sie mit dem Lärm ihrer Maschinen.

Bent befand sich noch nicht lange in dieser Abteilung, aber einige der Feinheiten hatte er bereits gelernt. Ein inaktiver Kontaktmann war potentiell gefährlich. Der Albino wußte, daß Bent ein Spion der Union war. Er konnte Bent jederzeit den Behörden melden. Oder er konnte, nachdem Bent Richmond verlassen hatte, ein bißchen zuviel reden und so Bents Risiko bei einer möglichen Rückkehr erhöhen.

Der Albino sagte: »Wie Sie wissen, muß ich den Betrag mit meinem Freund teilen, der die Informationen geliefert hat. In so schweren Zeiten wie diesen ist jeder zusätzliche Dollar willkommen. Was meinen Freund anbelangt, so gehöre ich nicht ausschließlich ihm, falls Sie also Lust haben sollten – «

»Ein andermal«, sagte Bent, nur kurzfristig in Versuchung geführt. Er mußte Pflicht und Vergnügen getrennt halten. Abgesehen davon hatte der kleine Schweinehund vielleicht eine Krankheit. »Ich glaube, damit wäre unser Geschäft beendet.« Er reichte dem Albino das Geld. »Geh du zuerst. Ich lösche die Laternen und folge in wenigen Minuten nach.«

»In Ordnung, Mr. Bascom.« Der Albino klang enttäuscht.

»Übrigens – befindet sich dein Freund noch in Richmond?« Sein Entschluß stand zwar fest, aber die Antwort könnte die Länge seines Aufenthalts in der Stadt beeinflussen.

Unerwarteterweise sagte der Albino: »Nein, Sir. Er ist für ein paar Tage nach Charlottesville heimgefahren, um sich zu fassen. Es war ein schwerer Schlag für ihn, von Joe Anderson rausgeworfen zu werden. Er hat zehn Jahre bei Tredegar gearbeitet.«

»Traurig«, erklärte Bent. Die Nervenanspannung ließ sein Herz jetzt schnell schlagen. Der Albino warf ihm einen letzten bittenden Blick zu.

»Also dann – gute Nacht, Mr. Bascom.«

»Gute Nacht.«

Während der Albino zur Tür schlenderte und nach dem Haken griff, öffnete Bent lautlos sein Klappmesser. Die lange Klinge blitzte im Schein der Laternen auf.

Der Albino hörte den schnellen, schweren Schritt und spähte über die Schulter. Bevor er aufschreien konnte, lag Bents linker Ellbogen um seine Gurgel. Mit aller Kraft stieß er dem Albino das Messer in den Rücken. Die Klinge traf auf Widerstand. Er stieß weiter, drehte das Messer erst in die eine, dann in die andere Richtung. Der Albino zerrte an Bents linkem Arm, aber es fehlte ihm an Kraft. Seine Schuhe scharrten über den Boden. Schließlich fiel der leichte Körper schlaff in sich zusammen.

Bent zog sein blutiges Messer heraus und würgte nur einmal kurz. Er war überrascht und erfreut, daß er sich zu dieser Art von Arbeit eignete. Da er den Freund des Albinos nie getroffen hatte, war er sicher, daß dieser nie Mr. Bascom mit einem gewissen Mr. Dayton aus Raleigh, North Carolina, in Verbindung bringen konnte, der vorübergehend in einem der billigeren Logierhäuser der Stadt abgestiegen war.

Er verbarg die Leiche unter Strohballen, nachdem er die Taschen des toten Jungen geleert hatte; Baker würde froh sein, das Bargeld anderweitig einsetzen zu können. Nach einer nochmaligen sorgfältigen Inspektion der Umgebung löschte Bent die Laternen und trat in die laue Mainacht hinaus. Er ging ein kurzes Stück am Kanal entlang und bog dann nach links ab, in Richtung des Zentrums der Stadt, die um eine Legende trauerte.

Der nächste Tag war Mittwoch, der 13. Mai. In voller Uniform, einschließlich der Schärpe und des Säbels aus Solingen, marschierte Orry mit vielen anderen Offizieren der Konföderation in der Beerdigungsprozession mit.

Hinter den Offizieren folgten Hunderte von Angestellten und untergeordneten Offiziellen aus Parlament und Stadtverwaltung. Direkt vor Orry ging sein Chef, Seddon, sein Freund Benjamin und andere Kabinettsmitglieder; noch davor die schwarz geschmückte Kutsche des Präsidenten und Mrs. Davis.

Ganz vorn wurde von einem einzelnen Soldaten das Lieblingsstreitroß des Generals, Old Sorrel, geführt. Vor Old Sorrel der schwarze Leichenwagen mit den sterblichen Überresten von Thomas Jonathan Jackson, die Pferde mit schwarzen Federbüschen geschmückt; als Ehrengarde ging je ein General neben den vier Rädern.

Jackson war am Sonntag gestorben, nachdem die Wunde seinen ganzen Körper vergiftet hatte; in einem vergeblichen Versuch, sein Leben zu retten, hatten die Ärzte seinen linken Arm amputiert. Den ganzen gestrigen Tag hatte er aufgebahrt im Gouverneursgebäude gelegen, die Nationalflagge über den Sarg drapiert. Als sein Körper für die Prozession zum Capitol Square fertig gemacht wurde, war Jacksons Witwe zusammengebrochen und weggeführt worden. Auf jeder Seite der Marschroute sah Orry tränenüberströmte Gesichter. Nichts hatte die Konföderation in letzter Zeit so tief getroffen wie Jacksons Tod. Seddon hatte Orry gestern zugeflüstert, als sie neben der Totenbahre standen, daß Lee fast untröstlich sei.

Die Prozession betrat Capitol Square durch die Westtore; Orry entdeckte seine Frau bei einer Gruppe von Damen, zu der auch Mrs. Stanard gehörte, eine der Grandes Dames der örtlichen Gesellschaft. Benjamin hatte für eine Empfehlung gesorgt, und Mrs. Stanard hatte sofort Gefallen an Madeline gefunden und ihr mitgeteilt, daß sie für Orrys Schwester, Mrs. Huntoon, nichts übrig habe.

Madelines Anblick heiterte ihn ein bißchen auf. Ansonsten gab es kaum Anlaß zur Heiterkeit. Im Westen ging Sam Grant erbarmungslos gegen Vicksburg vor. Männer senkten nicht mehr die Stimmen, wenn sie über die Absetzung von Davis diskutierten. Und unter General Winders Beamten herrschten weiterhin furchtbare Zustände in den überfüllten Gefängnissen, trotz häufiger Proteste von Orry und anderen.

Cooper befand sich seit fast einem Monat in Richmond. Sein Büro lag in einem anderen Gebäude, so daß Orry ihm nur selten begegnete. Als Folge des Todes seines Sohns hatte sich Cooper auf tragische Weise verändert. Er kümmerte sich um nichts weiter als um seine Arbeit für Marineminister Mallory, dem Orry nicht über den Weg traute.

Vor kurzem war bei Orry und Madeline ein Besucher aus Spotsylvania County eingetroffen: die intelligente, elegante, gelegentlich scharfzüngige Witwe, der Cousin Charles romantische Gefühle entgegenbrachte. Mit ihren beiden Negern war Augusta Barclay von Fredericksburg gekommen und hatte sich auf dem Sofa im Wohnzimmer häuslich niedergelassen, zumindest für die Zeit, bis Hookers Rückzug über den Rapidan zur Gewißheit werden würde.

Charles war eindeutig verliebt. Die Witwe Barclay sagte das zwar nicht direkt, aber aus der Art, wie sie über seinen Cousin sprach, ging das für Orry ziemlich klar hervor. Und Orry stand ebenso wie Madeline der Witwe ziemlich positiv gegenüber. Bevor sie wieder reiste, sagte Augusta Barclay dreimal, daß sie sich nur zu gern für die großzügige Gastfreundschaft erkenntlich zeigen würde und sie sollten nicht zögern, sie zu besuchen. Orry hielt das Angebot für aufrichtig.

Die Halle im Repräsentantenhaus war mit Blumendüften erfüllt. Widerstrebend stellte sich Orry in die Reihe der Offiziere, die sich auf den offenen Sarg zuschoben. Als es an ihm war, einen Blick auf den bärtigen Kopf auf dem Satinkissen zu werfen, wäre er dazu beinahe nicht in der Lage gewesen. Inmitten der Lilien senkte Orry den Kopf und weinte.

Irgendwie drängte sich Madeline durch die Menschenmenge, nahm seinen Arm und hielt ihn ganz fest, bis er sich wieder gefaßt hatte.

Wie ein Elefant wühlte sich Bent an diesem Nachmittag gegen ein Uhr aus seinem Bett. Gestern nacht hatte er ein Hurenhaus besucht und eine Schwarze ordentlich hergenommen. In der Morgendämmerung war er in die Pension zurückgekehrt, zu einer Zeit, wo ihn bestimmt niemand fragen würde, ob er an Jacksons Beerdigungsparade teilzunehmen gedachte. Er jedenfalls hatte ganz gewiß nicht die Absicht, den Tod des Verräters durch seine Anwesenheit zu würdigen.

Bent seifte sein Gesicht ein und holte sein Rasiermesser hervor. Er war erstaunt über die Leichtigkeit, mit der er bis jetzt seine Mission erfüllt hatte. Natürlich hatte er Vorsichtsmaßnahmen getroffen – er war mit zwei Pistolen und einem versteckten Messer nach Richmond gekommen –, aber der Rest war geradezu lächerlich einfach gewesen. Wann immer er angehalten wurde, zeigte er lediglich den von Bakers Spezialisten gefälschten Paß. Die Sprache bereitete ihm keine Schwierigkeiten, weil er sich in einem Teil des Südens befand, in dem der gequetschte Akzent der Baumwollstaaten fremdländisch klang. Abgesehen davon waren überall in der Stadt Yankees – vor allem Huren und Spekulanten – zu finden.

Was die weiblichen Eindringlinge anbelangte, so hatte ihm ein Barmann einen guten Rat gegeben: »Kümmern Sie sich keine Minute um die Sicherheit von Richmond, bis Sie die Huren aus Baltimore Fahrkarten kaufen sehen. Dann sollten Sie sich Sorgen machen.«

Die Informationen über Tredegar in einer Spezialtasche in seinem Jackenfutter verborgen, trottete er zum Capitol Square und stellte sich in die Reihe der vorwärts schlurfenden Leute, die in einer abstoßenden Art und Weise um den toten Verräter weinten. Als er die Totenbahre erreichte, erkannte er kaum den Mann, der da lag. Aber er bemühte sich um einen trauernden Gesichtsausdruck und wischte sich über ein Auge, bevor er weiterging.

Beim Anblick von zwei Leuten, die weiter hinten in der Reihe standen, fuhr er zusammen: ein Mann mit runden Brillengläsern, fast so schwer wie er selbst, und eine Frau, deren dunkle Schönheit vage Erinnerungen in ihm weckte. Er näherte sich einem Offizier.

»Entschuldigung, Major – kennen Sie zufällig das Paar dort drüben? Ich glaube, die Dame könnte eine entfernte Verwandte meiner Frau sein.«

Der Offizier konnte ihm nicht helfen, aber ein Mann mit dem gelackten Aussehen eines hohen Regierungsbeamten hatte die Worte gehört und sagte: »Oh, das ist Huntoon. Aus South Carolina. Er bekleidet eine untergeordnete Stelle im Schatzamt.«

Bent zitterte fast vor Erregung. »South Carolina, sagen Sie? Ist der Mädchenname seiner Frau zufällig Main?«

Die Frage kam mit solcher Intensität, daß der Zivilist Verdacht schöpfte. »Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Der Zivilist entschuldigte sich und ging davon.

Bent eilte auf den Platz und drückte sich herum, bis das Paar auftauchte und in eine viersitzige Kutsche stieg, die von einem alten Neger gefahren wurde. Die Kutsche rollte an Bent vorbei; die Frau beachtete weder ihn noch ihre Umgebung. Sie kam Bent ungemein arrogant vor, aber sie ähnelte eindeutig Orry Main. Das war schon eine Nachforschung wert.

Jetzt, wo er seine erste Mission problemlos hinter sich gebracht hatte, steckte er voller Selbstvertrauen. Spontan beschloß er, noch einen weiteren Tag in der Hauptstadt der Konföderation zu riskieren.

In dieser Nacht ging er im Bett seinen Plan durch. Am nächsten Morgen besuchte er in aller Frühe das Postamt. Er stellte sich als Mr. Bell aus Louisville vor und überredete den Angestellten mit einem zusammengefalteten Schein, ihm aus einem dicken Buch die Adresse von James Huntoon herauszusuchen.

In einer Mietkutsche fuhr Bent zweimal an der Residenz in der Grace Street vorbei. Dann suchte er in der Stadt nach einem Laden, in dem er viel zu teures Leinen kaufte, das sich für Verbände und Bandagen verwenden ließ. Die nächsten paar Stunden trödelte er in seiner Pension herum. Er wollte erst spät am Tag seinen Besuch machen, kurz bevor die Regierungsbüros schlossen.

Gegen vier marschierte er zur Grace Street. In einer Gasse, zwei Häuserblocks vor seinem Ziel, band er das Leinen zu einer Schlinge zusammen und steckte seinen linken Unterarm hindurch. Ein paar Minuten später ließ ihn der gleiche Schwarze, der die Kutsche gefahren hatte, ins Foyer.

»Ja, Miz Huntoon zu Haus, aber erwartet keinen Besuch.«

»Ich bin nur kurz in der Stadt. Sag ihr, es sei wichtig.«

»Wie war Name, Sir?«

»Bellingham, Captain Erasmus Bellingham, auf Urlaub von General Longstreets Corps.«

Homer führte Bent in einen kleinen Salon und trottete davon. Bent war zu nervös, um sich hinzusetzen. Er marschierte auf und ab; der Schweiß lief ihm über den Rücken. Gerade, als er sich entschlossen hatte zu verschwinden, kam Ashton Huntoon hereingerauscht; sie machte einen verschlafenen und mürrischen Eindruck. »Captain Bellingham?«

»Erasmus Bellingham, zur Zeit bei General – «

»Das hat mir mein Nigger bereits erzählt.«

»Es ist mir sehr unangenehm. Sie ohne Vorwarnung stören zu müssen, Ma’am – « Ihr Gesichtsausdruck machte deutlich, daß es ihr mindestens genauso unangenehm war. Obwohl die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder ihn automatisch in Rage brachte, behielt Bent sein öliges Lächeln bei. »Meine Zeit hier in Richmond ist jedoch knapp bemessen. Ich habe mich fast von der Verwundung erholt, die ich bei der Belagerung von Suffolk erhielt. Bevor ich zu Longstreets Kommando zurückkehre, wollte ich einige Nachforschungen über einen alten Bekannten anstellen.«

»Sie klingen nicht wie ein Südstaatler, Captain.«

Miststück. Sein Lächeln wurde breiter. »Oh, es gibt alle möglichen südlichen Akzente, finde ich. Tatsächlich bin ich am Ostufer von Maryland aufgewachsen. Ich meldete mich sofort, als die Konföderation zu den Waffen rief.«

»Wie interessant.« Ashton verbarg ihre Langeweile nicht.

Bent erklärte, er habe gehört, daß einer seiner Klassenkameraden aus West Point in Richmond stationiert sei. »Gestern abend unterhielt ich mich in meiner Pension mit einem Gentleman, und als ich meinen Klassenkameraden erwähnte, brachte er sie und Ihren Gatten ins Gespräch. Er meinte, Sie stammten ebenfalls aus South Carolina und Ihr Mädchenname sei mit dem seinen identisch.«

»Heißt Ihr Klassenkamerad Orry Main?«

»Ja.«

Sie reagierte, als hätte er einen Spucknapf über ihr ausgeleert. »Er ist mein älterer Bruder.«

»Ihr Bruder«, echote Bent. »Nein, welch ein außergewöhnlicher Zufall! Ich hab’ ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich glaube mich zu erinnern, daß er sehr liebevoll von Ihnen gesprochen hat.«

Mit einem Spitzentaschentuch betupfte Ashton ihre Oberlippe. »Das bezweifle ich.«

»Bitte, sagen Sie mir, ist Orry in Richmond?«

»Ja, zusammen mit seiner Frau. Ich sehe sie beide nicht. Aus eigenem Entschluß.«

»Ist er zufällig in der Armee?«

»Er ist Lieutenant-Colonel im Kriegsministerium.« Ihre Röcke raffend, erhob sich Ashton. »Sonst noch was?«

»Nur noch seine Privatadresse, wenn Sie so freundlich sein – «

»In der Marshall Street, nahe beim Weißen Haus. Ich bin nie dort gewesen. Guten Tag, Captain Bellingham.«

Bent schaffte es trotz des groben Rausschmisses, die Straße zu erreichen, ohne sich seine Wut anmerken zu lassen. Er hatte eine kurze, schwindelerregende Vision, wie er Ashton Huntoon die Kleider vom Leibe riß und sie gewissen Bestrafungen unterwarf, die auch ihm ein perverses Vergnügen bereiten würden.

Die gehässige Stimmung verflog. In einer Seitengasse warf er die Armschlinge weg. Orry Main war hier. Er sollte schnurstracks ins Kriegsministerium marschieren, Main an seinem Schreibtisch überraschen und ihm einen Schuß direkt zwischen die –

Nein. Das würde nicht nur sein Leben gefährden, es würde ihn um den Genuß seiner Rache bringen. Außerdem mußte er an seinen neuen Job denken. Baker würde ihn in Washington erwarten. Er sollte sein Pferd aus dem Stall holen und auf der Stelle aufbrechen.

Statt dessen beschloß er, noch eine Nacht zu bleiben. Er wollte mit dem Terrain vertraut sein, wenn er, was zweifellos der Fall sein würde, in anderer Mission nach Richmond zurückkehrte. Er wollte genau wissen, wo er Orry Main finden konnte.

Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, am nächsten Tag die Büros des Kriegsministeriums zu finden. Eine halbe Stunde lang beobachtete Bent das Gebäude, ging aber nicht hinein. Die Wohnung in der Marshall Street im eleganten Court-End-Bezirk zu finden, erwies sich als schwieriger. Mit ein paar Münzen mußte er nachhelfen, bis ihm ein kleiner Negerjunge endlich das Haus zeigte.

Er näherte sich von der gegenüberliegenden Straßenseite. Unter der Krempe seines schwarzen Hutes hervor beobachtete er das Haus und bekam einen Schock, als eine sehr hübsche Frau mit einem Sonnenschirm heraustrat und sich nach links wandte.

Bent hatte das Gefühl, ein Blitzschlag habe ihn getroffen. Die Frau, die da vorbeiging, war ihm sofort vertraut, weil er sie – oder eine ihr sehr ähnliche Person – schon oft betrachtet hatte: auf der in New Orleans gestohlenen Leinwand. Diese Frau hier, Mund, Nase, Farbe der Augen und des Haares, war nicht identisch mit der Frau auf dem Gemälde. Aber an der großen Ähnlichkeit gab es nicht den geringsten Zweifel.

Schwitzend stolperte Bent die Stufen zu dem Haus hoch und klingelte. Eine kleine, gebrechliche alte Frau öffnete. Er zog den Hut.

»Bitte um Entschuldigung, Ma’am, ich habe geschäftlich mit einer Mrs. Wadlington zu tun, die ich nicht persönlich kenne. Man hat mir erzählt, sie wohne in diesem Block hier. Ich bin eben an einer Lady vorbeigekommen, auf die ungefähr die grobe Beschreibung zutrifft, die ich erhalten habe. Die Lady kam aus dieser Tür hier, deshalb frage ich mich – «

»Das ist Colonel Mains Frau. Nie was gehört von einer Mrs. Wadlington, und ich kenne jeden. Sie kenne ich nicht.« Wumm.

Außer Atem, aber in Hochstimmung walzte Bent davon. Endlich hatte sich das Glück ihm zugewandt. Zuerst die Verbindung mit Baker und jetzt das. Orry Main, ein hoher Offizier, war mit einer Niggerhure verheiratet – und er besaß den Beweis dafür. Wie er diesen Beweis einsetzen würde, das konnte er jetzt noch nicht entscheiden; dafür war er viel zu erregt. Aber in irgendeiner Form würde er ihn verwenden, da war er sich ganz sicher.

»Mord! Geheimnisvolle Messerstecherei am Kanal!«

Der Ruf des Zeitungsjungen auf der Broad Street unterbrach seine rachsüchtigen Träumereien. Er kaufte eine Zeitung und überflog sie. Die Kälte der Panik verdrängte sein freudiges Delirium. Sie hatten die Leiche von Bents Informanten gefunden.

In weniger als einer Stunde hatte Bent seinen Koffer gepackt, sein Zimmer aufgegeben, sein Pferd gesattelt und die Stadt auf der Straße nach Norden verlassen.

80

Am gleichen Abend stand Cooper knietief im James River und nieste vor sich hin.

Er hatte sich erkältet. Es spielte keine Rolle, genauso wenig wie der elende, erschöpfte Zustand seines Assistenten und der beiden Helfer. »Noch mal«, sagte er. »Richtet die Granate her.«

»Mr. Main, es ist fast dunkel«, sagte sein Assistent, ein ernsthafter, aber vollkommen untalentierter Junge namens Lucius Chickering. Der neunzehnjährige Chickering, ein Aristokrat aus Charleston, hatte sich an Mallorys Marineakademie eingeschrieben und war in schneller Folge nacheinander in Astronomie, Navigation und Seemannskunst durchgefallen und schließlich entlassen worden. Nur der Einfluß seines Vaters hatte ihn vor der absoluten Schande bewahrt; im verachteten Marineministerium fand man einen Job für ihn. Cooper mochte Chickering, auch wenn er wußte, daß der Junge keinem Menschen seinen Arbeitsplatz verriet.

Lucius Chickering besaß eine gewaltige Nase mit einem Höcker in der Mitte. Seine oberen Zähne ragten über seine Unterlippe, und er hatte mehr Sommersprossen, als ein einzelner Mensch verkraften konnte. Seine Häßlichkeit machte ihn irgendwie sympathisch. Und mit der späten Stunde hatte er durchaus recht.

Cooper gab seinem Assistenten zur Antwort: »Wir haben Zeit. Wenn ihr alle zu faul seid, dann mach’ ich das selber.«

Seit Tagesanbruch hatte er nichts mehr gegessen. Den ganzen Tag waren sie schon hier unten in dem Binsengelände, eine Meile von der Stadtgrenze entfernt, und mühten sich mit diesen Treibholztorpedos ab. Sie hatten keinen einzigen Erfolg verbuchen können, und Cooper wußte auch, warum. Das Konzept war falsch.

Das Hauptproblem bestand darin, daß die Bewegung des Treibholzes, in dem der Metallkanister mit dem Pulver befestigt war, in der Flußströmung – und damit auch im Gezeitenstrom eines Hafens – unberechenbar war. Sehr häufig knallte das falsche Torpedoende gegen das Testziel. Kein einziger ihrer Versuchstorpedos war detoniert.

Als Cooper sich ans Werk machte, explodierte Chickering. »Mr. Main, ich muß protestieren. Sie haben uns den ganzen Tag wie Arbeitssklaven schuften lassen, und jetzt sollen wir weitermachen, obwohl wir kaum noch was sehen können.«

»Richtig«, sagte Cooper, sein Körper ein schwarzes Schilfrohr gegen den dunkelroten Himmel. »Wir haben Krieg, Mr. Chickering. Wenn Ihnen die Arbeitsbedingungen nicht zusagen, dann bitten Sie um Ihre Entlassung und gehen zurück nach Charleston.«

Lucius Chickering blickte seinen Vorgesetzten finster an. Cooper Main schüchterte ihn ein und brachte ihn gleichzeitig in Wut.

»Sir, bei allem Respekt«, nachdem er sich etwas Luft verschafft hatte, war Chickering nun ruhiger, »weshalb machen wir mit diesen sinnlosen Experimenten weiter? Unsere Arbeit ist so albern, daß sich alle anderen Abteilungen über uns lustig machen.«

»Seien Sie dankbar, Lucius. Hämische Bemerkungen können einen nie so treffen, wie es bei Kugeln der Fall ist.«

Chickering verfärbte sich bei der Andeutung, er könnte sich vor gefahrvollem Dienst drücken. Cooper begann seine scharfen Worte zu bedauern. Junge Leute ließen sich nun mal von anderen beeinflussen. Chickering hegte eine verständliche Abneigung gegen eine Abteilung, die ständig angegriffen wurde wegen Mißwirtschaft und Projekten, die den Gehirnen von Idioten entsprungen zu sein schienen. Doch der Junge, wie so viele andere auch, begriff einfach nicht, daß man allen Dreck durchsieben mußte, wenn man einen Goldnugget zu finden hoffte.

Cooper hatte sich mit blindwütiger Energie in die Suche nach diesem Goldnugget gestürzt. Hätte er seine Abteilung nicht gehabt, er würde wohl kaum überlebt haben. Hinzu kam noch, daß er an seine Arbeit glaubte; er und Mallory ähnelten sich in diesem und anderen Punkten. Beide hatten sie anfangs die Idee der Sezession verabscheut – zu Beginn des Krieges. Mallorys Worte waren häufig zitiert worden: »Für mich ist das lediglich ein anderer Name für Revolution«, aber nun waren sie beide Falken geworden.

Als der Wagen auf die von Lampen erhellten Hügel zuratterte, fragte sich Cooper, wie spät es wohl sein mochte. Er würde ziemlich spät nach Hause kommen. Judith würde ärgerlich sein. Wieder einmal. Nun, ihm war es egal.

Der Wagenfahrer ließ ihn vor dem Mechanics Institute aussteigen und wünschte ihm mit mürrischer Stimme eine gute Nacht. Cooper störte sich nicht an der Mißbilligung; der Kerl kapierte nichts vom verzweifelten Kampf der Konföderation oder von den Problemen des Ministeriums, die Mallory in zwei Worten zusammenfaßte: ›nie genug‹. Nie genug Zeit. Nie genug Geld. Nie genug Kooperation. Sie improvisierten und lebten von ihrem Geschick. Das erzeugte zwar einen gewissen Stolz, aber dafür brachte einen die Arbeit auch fast um. Cooper nahm an, daß sich Mallory noch in den Büros im zweiten Stock befand, und so war es auch. Alle waren schon gegangen bis auf den stets entgegenkommenden Mr. Tidball, einen der drei Assistenten des Ministers, der gerade seinen Schreibtisch absperrte, als Cooper eintrat.

»Guten Abend«, sagte Tidball und zog der Reihe nach an jeder Schreibtischschublade. Tidball besaß nicht die geringste Phantasie, dafür aber außerordentliche organisatorische Fähigkeiten. Er ergänzte die anderen beiden Mitglieder des Trios – Commodore Forrest, ein aufbrausender alter Fahrensmann, der viel von Seemannskunst verstand, und Cooper, der eine Art Verlängerung von Mallorys eigener erfinderischer Natur darstellte. Diese beiden Männer zogen ein ›Versuchen wir’s‹ einem ›Aus diesem oder jenem Grund können wir das nicht‹ jederzeit vor.

»Er wartet auf Sie«, sagte Tidball mit einem Nicken zum inneren Büro. Tidball ging hinaus, und Cooper betrat das Büro, in dem der Minister beim Schein einer Lampe mit grünem Glasschirm Ingenieurszeichnungen betrachtete.

»Hallo, Cooper«, sagte Mallory. Er war ein rundlicher Mann von fünfzig, in Trinidad geboren und größtenteils in Key West von einer irischen Mutter und einem Yankeevater aus Connecticut aufgezogen. Er besaß eine schiefe Nase, dicke Backen und helle, blaue Augen, die oft vor Erregung funkelten.

»Glück gehabt?«

Cooper nieste. »Nicht die Spur. Das Hauptproblem haben wir ja bereits bei der ersten Untersuchung der Pläne festgestellt. Ein Torpedo, an Treibholz befestigt, tut nur eines mit Sicherheit – treiben. Ohne Führung brennt das Ding eher ein Loch in Fort Sumter, als daß es einen Yankee versenkt. Die Wahrscheinlichkeit, daß es Wochen und Monate im Hafen von Charleston rumtreibt, stets eine potentielle Gefahr, ist am größten. Wird alles in meinem Bericht stehen.«

»Sie empfehlen, wir sollen die Sache vergessen?« Cooper fiel auf, daß der Minister heute abend ungemein erschöpft wirkte.

»Auf jeden Fall.«

»Na, wenigstens das ist eindeutig. Ich weiß es zu schätzen, daß Sie den Test durchgeführt haben.«

»General Rains hat den Wert von Torpedos bei Landoperationen nachgewiesen«, sagte Cooper und setzte sich auf einen harten Stuhl. »Die Yankees mögen das für unmenschlich halten, aber es funktioniert. Wir können sie einsetzen, wenn wir die richtige Methode finden, sie ins Ziel zu bringen, und wenn wir dafür sorgen, daß sie explodieren.«

»Stimmt alles. Aber wir kommen damit verdammt langsam voran.«

»Die Abteilung ist überfordert, Stephen. Vielleicht benötigen wir eine Extra-Gruppe zur Weiterentwicklung auf systematischer Basis.«

»Eine Torpedo-Abteilung?«

Cooper nickte. »Captain Maury wäre der ideale Leiter dafür.«

»Ausgezeichneter Gedanke. Vielleicht kann ich die nötigen Mittel auftreiben.« Cooper schniefte, und Mallory fügte hinzu: »Hört sich ja schrecklich an.«

»Ich habe eine Erkältung, das ist alles.«

Mallory schaute skeptisch drein. Schweiß glänzte auf Coopers Stirn. »Zeit für Sie, heimzugehen und eine warme Mahlzeit zu essen. Dabei fällt mir ein, Angela drängt darauf, daß Sie und Judith endlich mal mit uns zusammen zu Abend essen.«

Cooper sackte noch tiefer auf seinem Stuhl zusammen. »Wir haben schon drei Einladungen von meinem Bruder ausgeschlagen.«

»Ich weiß Ihren Einsatz zu schätzen. Aber Sie müssen sich auch etwas Freizeit gönnen. Sie können nicht ständig arbeiten.«

»Warum nicht? Ich habe offene Rechnungen zu begleichen.«

Mallory räusperte sich. »Also gut. Ich wollte Ihnen noch was anderes zeigen, aber das kann bis morgen warten.«

Cooper schob seinen langen Körper in die Höhe. »Es geht jetzt auch.« Er ging um den Schreibtisch und betrachtete die oberste Zeichnung, die ein seltsames Schiff mit einer Länge von vierzig Fuß zeigte; Heck und Bug waren wie eine Zigarre geformt. »Was zum Teufel soll das sein? Schon wieder ein Tauchboot?«

»Ja«, sagte Mallory und deutete auf einen dekorativen Streifen in der unteren rechten Ecke, wo in Zierschrift H. L. Hunley stand. »Das ist der Name des Schiffes. Im Begleitbrief steht, daß Mr. Hunley, ein gutsituierter Zuckermakler, für das Konzept und einen Teil des Konstruktionsgeldes verantwortlich zeichnet. Sie wurde in New Orleans gebaut. Ihre Konstrukteure transportierten sie nach Mobile, bevor die Stadt fiel. Diese Gentlemen hier machen die Sache fertig.« Er tippte auf eine Zeile darunter: McClintock & Watson, Marine Engineers.

»Sie nennen sie das Fisch-Schiff«, fuhr der Minister fort. »Sie soll wasserdicht und in der Lage sein, mit einem Torpedo im Schlepp unter einem feindlichen Schiff hindurchzutauchen. Der Torpedo detoniert, wenn das Fisch-Schiff sicher auf der anderen Seite angelangt ist.«

»Ah«, sagte Cooper, »darin unterscheidet sie sich von der David.« Das Ministerium mühte sich seit längerem damit ab, ein Tauchschiff für Küsten- und Hafenoperationen zu entwickeln. Das eben erwähnte kleine Torpedoboot trug seine Explosivladung vor sich her, an einem langen Bugausleger.

Nach einem Moment des Zögerns sagte Cooper: »Ich denke, nur die Tests werden uns zeigen, welcher Entwurf der beste ist.«

»Richtig. Wir müssen die Vollendung dieses Schiffes ermutigen. Ich beabsichtige, den Gentlemen in Mobile einen herzlichen und begeisterten Brief zu schreiben – und Kopien der gesamten Korrespondenz an General Beauregard nach Charleston zu schicken. Und jetzt gehen Sie heim und ruhen sich aus.«

»Ich würde gern noch ein bißchen mehr sehen von – «

»Morgen. Gehen Sie heim. Und seien Sie vorsichtig. Ich nehme an, Sie haben ebenfalls von all den Morden und Raubüberfällen in letzter Zeit gelesen.« Cooper nickte ernst. Die Zeiten waren schwer, die Leute verzweifelt.

Er wünschte Mallory eine gute Nacht und hatte das Glück, auf der Main Street eine Kutsche zu erwischen. Judith saß mit einem Buch im Schoß da und hob den Kopf, als er eintrat. Halb mitfühlend, halb verärgert sagte sie: »Du schaust elend aus.«

»Wir haben den ganzen Tag im James herumgeplantscht. Ohne Ergebnis.«

»Der Torpedo – «

»Taugt nichts. Gibt’s was zu essen?«

»Kalbsleber. Du würdest nicht glauben, was das kostet. Ich fürchte, es wird kalt und fettig sein. Ich habe dich schon längst erwartet.«

»Oh, um Himmels willen, Judith, du weißt doch, daß ich eine Menge Arbeit habe.« Er schniefte. »Wo ist Marie-Louise?«

»Wo soll sie zu dieser Stunde sein? Im Bett natürlich. Cooper – «

»Ich wünsche keine Diskussion.« Er wandte sich ab.

»Aber mit dir ist etwas geschehen. Du scheint überhaupt kein Gefühl mehr übrig zu haben für mich, für deine Tochter – nur deine verdammte Abteilung zählt noch.«

Er schniefte wieder, den Kopf leicht gesenkt. Die Art und Weise, wie er sie unter seinen Brauen hervor ansah, ängstigte sie.

»Mit mir ist etwas geschehen«, sagte er leise. »Mein Sohn ist ertrunken. Wegen dieses Krieges, der Gier meiner Schwester und deiner Weigerung, in Nassau zu bleiben. Und jetzt laß mich bitte in Ruhe, damit ich essen kann.«

Er setzte sich neben den kalten Ofen in der Küche, aß drei Bissen und warf den Rest weg. Er ging ins Schlafzimmer, zündete die Gaslampe an und schloß die Tür. Nachdem er sich ausgezogen hatte, türmte er zwei Zudecken über sich, fror aber immer noch.

Bald darauf kam Judith herein. Sie zog sich aus, löschte die Lampe und kam zu ihm ins Bett gekrochen. Er lag mit dem Rücken zu ihr, das Gesicht zur Wand. Sie achtete sorgfältig darauf, ihn nicht zu berühren. Er glaubte sie weinen zu hören, drehte sich aber nicht um. Er schlief ein, mit seinen Gedanken bei den Zeichnungen des Fisch-Schiffes.

Einmal pro Woche wiederholte Madeline ihre Dinner-Einladung. Gegen Ende Mai setzte Judith es schließlich durch, daß Cooper sich für einen Abend vom Marineministerium freimachte. An diesem Tag schickte er um vier Uhr eine Nachricht, daß er später kommen würde. Erst gegen halb neun kam seine Kutsche in der Marshall Street an.

In der großen Wohnung in der oberen Etage umarmten sich die Brüder. »Wie geht’s dir, Cooper?« Orry roch Whiskey; der Anblick des blassen, heruntergekommenen Gastes entsetzte ihn.

»Viel Arbeit im Ministerium.« Die Antwort rief bei Judith ein Stirnrunzeln hervor.

Sie setzten sich zu Tisch. »Orry wird euch Rotwein einschenken, oder Wasser, falls ihr das vorzieht«, sagte Madeline. »Ich weigere mich, dieses üble Gebräu aus gemahlenen Erdnüssen zu servieren, das sie als Kaffee verkaufen.«

»Sie verkaufen eine Menge merkwürdiger Sachen«, sagte Judith. »Kermesbeerensaft als Tinte – « Sie hielt inne, als Cooper seinem Bruder das Glas entgegenstreckte. Orry schenkte es halbvoll mit Wein, aber Cooper zog seine Hand nicht zurück. Orry räusperte sich und füllte das Glas ganz.

»Einige – « Cooper stürzte die Hälfte des Weines hinunter; dunkle Tropfen befleckten sein bereits schmutziges Hemd. »– einige Leute in dieser Stadt trinken richtigen Kaffee und schreiben mit richtiger Tinte. Einige können diese Sachen bezahlen.« Er starrte seinen Bruder an. »Unsere Schwester zum Beispiel.«

»Tatsächlich?« sagte Madeline mit bemühter Leichtigkeit. Coopers starrer Blick war mürrisch, seine Sprache schleppend. Etwas Häßliches lag in der Luft.

»Ich gebe zu, Ashton lebt in einem schönen Haus«, sagte Orry. »Und die paar Mal, die ich sie auf der Straße gesehen habe, war sie stets gut gekleidet – Pariser Schick oder sowas. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich das bei Huntoons Gehalt leisten kann.«

Cooper atmete tief und rauh ein. Judiths Hände verkrampften sich unter dem Tisch. »Ich kann dir sagen, wie sie sich den Luxus leisten können, Orry. Sie sind Kriegsgewinnler.«

Orry legte die Gabel ab. »Das ist eine schwere Beschuldigung.«

»Ich war auf ihrem Schiff, gottverdammt!«

»Lieber«, fing Judith an, »wir sollten vielleicht besser – «

»Es ist an der Zeit, daß sie Bescheid wissen.«

»Welches Schiff meinst du?« fragte Orry. »Der untergegangene Blockadebrecher? Auf dem du –?«

»Ja, ich meine die Water Witch. Ashton und ihr Mann sind zu einem Großteil an dem Schiff beteiligt. Die Eigner erteilten dem Kapitän den grundsätzlichen Befehl, die Blockade um jeden Preis und zu jedem Risiko zu durchbrechen. Wir taten es, und ich verlor meinen Sohn.«

Merklich erregt füllte Orry das Glas von Cooper auf. »Wer weiß sonst noch über Ashton und James Bescheid?«

»Die anderen Eigner, nehme ich an. Ihre Namen habe ich nie gehört. Der einzige Mann an Bord mit diesen Informationen schien der Kapitän zu sein, und der ertrank wie – « Coopers Gesicht zuckte.

Er trank, starrte vor sich hin in die Kerzenflamme. »Ich möchte sie umbringen«, sagte er und stellte sein Kelchglas so hart ab, daß der Stiel brach.

»Entschuldigt mich«, sagte Cooper, von seinem Stuhl aufspringend, der krachend umstürzte. Er streckte die Hand aus, um eine Kollision mit der Wand zu vermeiden, und schwankte ins Wohnzimmer. Er erreichte gerade noch die Couch, bevor er zusammensackte.

Judith entschuldigte sich noch einmal für Coopers Benehmen. Orry, selbst aufgewühlt, sagte, eine Entschuldigung sei unnötig. »Ich hoffe bloß, er meinte die letzte Bemerkung nicht ernst.«

»Sicher nicht. Der Verlust von Judah war für uns beide tragisch, aber ihn scheint es besonders getroffen zu haben.«

Orry seufzte. »Sein ganzes Leben lang hat er die Welt stets für besser gehalten, als sie tatsächlich ist. Menschen mit dieser Art von Idealismus werden am schlimmsten verletzt. Hoffentlich handelt er nicht übereilt, Judith. Ashton hat bereits in dem Punkt, der ihr in Richmond am meisten bedeutete, einen Fehlschlag erlitten – zu den besten Kreisen zu gehören. Die Bestrafung für ihre Profitmacherei wird sie schon noch ereilen. Wenn er sie zu richten versucht«, er warf einen Blick über die Schulter auf die traurige Vogelscheuche auf dem Sofa, »dann wird er nur sich selbst weh tun.«

Ein Windstoß blähte die Wohnzimmervorhänge, strich über das grausträhnige Haar in Coopers Stirn. Judith sagte: »Das versuche ich ihm ja beizubringen. Es nützt nichts. Er trinkt stark, wie ihr sicher bemerkt habt. Ich habe Angst vor dem, was er vielleicht mal tut, wenn er zuviel hat.«

Die Worte, leise und sanft gesprochen, lösten tiefe Bestürzung bei Orry aus. Schweigend saßen die drei da und lauschten dem Regen, der auf das Dach und die Trümmer dieses Abends fiel.

Jede Woche gelangten einige Exemplare vom Richmond Enquirer ins Winder-Gebäude. Eine Ausgabe, die George mit einem Gemisch aus Neugier und Trauer las, enthielt mehrere lange Artikel über Jacksons Beerdigung. Auf einer Seite war eine Liste mit hohen Offizieren abgedruckt, die bei der Prozession mitmarschiert waren. Darunter entdeckte George den Namen seines besten Freundes.

»Da ist es – Colonel Orry Main«, sagte er zu Constance, als er ihr am Abend die Zeitung zeigte. »Er ist zusammen mit anderen vom Kriegsministerium aufgeführt.«

»Bedeutet das, er ist in Richmond?«

»Ich denke schon. Was immer er tut, ich bin sicher, es ist wichtiger, als Gespräche mit Verrückten zu führen und in Verträgen das Kleingedruckte zu lesen.«

Mit einer Spur Bedauern in der Stimme sagte sie: »Du läßt dich schon wieder von deinen Schuldgefühlen überwältigen.«

Er faltete die Zeitung zusammen. »Ja, das tue ich. Jeden Tag.«

Homer betrat das Speisezimmer und machte Meldung.

Huntoon nahm seine Brille ab. »Mr. Main? Welcher? Orry?«

Wie stets wandte sich der alte Neger mit seiner Antwort an Ashton. »Nein. Der andere.«

»Cooper? Na sowas. Ich hatte keine Ahnung, daß er sich in Richmond befindet, James.«

Im Nordwesten donnerte es; bläuliches Licht zuckte und gleißte. Es war ein schwüler Juni, und die Stadt kochte über mit Gerüchten von einem bevorstehenden Einfall in den Norden durch General Lee.

»Er ist hier, er ist eindeutig hier«, drang eine belegte Stimme aus dem Schatten vor dem Speisesaal. Eine erschreckende Gestalt trat durch die Tür – tatsächlich Cooper, aber gealtert, seit Ashton ihn das letztemal gesehen hatte. Schrecklich gealtert und grau. Seine Wangen waren wächsern, und seine Whiskeyfahne rollte wie eine Woge über den Tisch. »Er ist hier und kann es kaum erwarten zu sehen, wie seine liebe Schwester und ihr Ehemann ihren neuerworbenen Reichtum genießen.«

»Cooper, Lieber – «, fing Ashton an; sie witterte Gefahr, versuchte sie mit einem sirupartigen Lächeln beiseitezuwischen. Cooper ließ sie nicht weiter reden.

»Sehr schönes Haus habt ihr hier. Großartige Möbel. Die Gehälter im Finanzministerium müssen höher sein als im Marineministerium. Müssen ja geradezu gewaltig sein.«

Zitternd umklammerte Huntoon die Armlehnen seines Stuhles. Beiläufig griff Cooper in ein offenes Regal nach einem der wunderschönen, leicht bläulich getönten Porzellanteller.

»Hübsches Zeug, das. Habt ihr sicher nicht hier gekauft. Hat es ein Blockadebrecher gebracht? Vielleicht statt Gewehre und Munition für die Armee?«

Mit großer Wucht schmetterte er den Teller zu Boden. Ein Splitter traf Huntoons Handrücken; niemand beachtete seinen gemurmelten Protest.

Ashton sagte: »Lieber Bruder, ich kann mir weder deinen Besuch noch dein flegelhaftes Benehmen erklären. Abgesehen davon, daß du so unangenehm wie eh und je bist, bin ich sehr erstaunt, von dir patriotische Phrasen zu hören. Du klingst wie einer der eifrigsten Parteigänger von Mr. Davis.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln, in der Hoffnung, die darunterliegende Furcht verbergen zu können. Sie befand sich in Gesellschaft eines Irren, dessen Absichten sie nicht erraten konnte. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, sah sie, wie sich Homer von hinten auf Cooper zuschob. Gut.

Ashton stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. Ihr Lächeln wurde hämisch. »Wann fand diese bemerkenswerte Transformation zum Patrioten statt, wenn man fragen darf?«

»Sie fand statt«, sagte Cooper über die Geräusche des Sturmes hinweg, »kurz nachdem mein Sohn ertrunken war.«

Ashtons Beherrschung verwandelte sich in Verblüffung. »Judah – ertrunken? Oh, Cooper, wie absolut – «

»Wir befanden uns an Bord der Water Witch. Kurz vor Wilmington. Der Mond kam raus, die Blockadeflotte war in voller Stärke vertreten. Ich bat Captain Ballantyne, den Durchbruch nicht zu riskieren, aber er bestand darauf. Die Eigner hatten klare Befehle erteilt. Maximales Risiko für maximale Profite.«

Ashtons Hand fiel nach unten. Ihre Haut fühlte sich wie erfroren an.

»Den Rest kennst du, Ashton. Wegen deiner intensiven Hingabe an unsere Sache wurde mein Sohn geopfert.«

»Halt ihn auf, Homer«, kreischte sie, als Cooper vortrat. Huntoon wollte sich von seinem Stuhl erheben. Cooper traf ihn seitlich am Kopf, schlug ihm die Brille herunter.

Homer packte Cooper von hinten und schrie um Hilfe. Cooper rammte ihm den Ellbogen in den Magen, überbrüllte das Gewitterdonnern: »Die Sache des Profits. Deine verfluchte, dreckige Gier.«

Mit beiden Händen griff er nach dem Schrank und zog. Die herrlichen blauen Teller und Tassen und Untertassen und Schüsseln begannen zu rutschen. Erneut kreischte Ashton auf, als die Wedgwood-Sachen zu Boden stürzten. Der Schrank krachte auf den Eßtisch, der auf Huntoons Seite zusammenbrach. Zwei Hausdiener kamen Homer zu Hilfe und zerrten den fluchenden, tobenden Cooper zur Tür. Sie stießen ihn in den strömenden Regen hinaus.

Ashton hörte das Knallen der Tür; ihr erster Gedanke war: »Wenn er herumerzählt, was er weiß?«

»Na und?« schnarrte Huntoon. »Wir haben nichts Gesetzwidriges getan. Und jetzt sind wir ja raus aus dem Geschäft.«

»Hast du gesehen, wie weiß seine Haare geworden sind? Ich glaube, er ist verrückt geworden.«

»Ganz sicher ist er gefährlich«, sagte Huntoon. »Morgen müssen wir Pistolen kaufen, für den Fall – für den Fall – «

Er konnte den Satz nicht beenden. Ashton betrachtete die Scherben. Eine einzige Tasse hatte überlebt. Am liebsten hätte sie vor Wut geheult. Ein Blitz zuckte auf; ihre Lippen preßten sich zusammen.

»Ja, Pistolen«, stimmte sie zu. »Für jeden von uns.«

81

Am gleichen Abend, einem Donnerstag in der ersten Juniwoche, meldete sich Bent wie befohlen in Colonel Bakers Büro. Baker war nicht da. Ein Detektiv sagte, er sei ins Old-Capitol-Gefängnis gegangen, um einen unbequemen Journalisten, der verhaftet worden war, persönlich zu verhören. »Von dort wird er zum Pistolentraining gehen. Die Stunde versäumt er keinen Tag.«

Bent setzte sich und besänftigte seine Nerven mit einem der Äpfel, die er bei einem Straßenhändler gekauft hatte. Nach zwei Bissen blickte er wieder auf das kleine silberne Abzeichen an seinem Revers. Es trug die Worte NATIONAL DETECTIVE BUREAU; Baker hatte es ihm nach seiner Rückkehr aus Richmond verliehen. Sein dortiger Erfolg hatte ihm die offizielle Aufnahme in Bakers Organisation gebracht.

Bent verzehrte gerade seinen dritten Apfel, als Baker, fröhlich summend, ins Büro marschiert kam.

»O’Dell ist letzte Nacht aus Richmond zurückgekommen. Er sah eine Menge Truppenbewegungen westlich von Fredericksburg. An den Gerüchten ist was dran. Lee hat was vor – ah!« Unter der Post fand er einen Umschlag, den er sofort einsteckte. »Ein Brief von Jennie.« Bakers Frau lebte bei ihren Eltern in Philadelphia.

Der Mann, den Baker erwähnt hatte, Fatty O’Dell, war ein weiterer Agent. »Ich wußte gar nicht, daß noch jemand von uns unten war.«

»Doch, doch«, erwiderte Baker, führte das aber nicht weiter aus. Nur er kannte alle Agenten und ihre Aufträge.

Baker lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Fatty hat noch was von dritter Stelle erfahren. Ein Spekulant aus Richmond namens Powell agitiert ziemlich offen gegen Davis.«

Bent klaubte sich ein Apfelstückchen von der Lippe. »Das geht schon über ein Jahr so, nicht wahr?«

»Vollkommen richtig. Diesmal jedoch gibt es eine neue Perspektive. Fatty sagte, Mr. Powells Ankündigungen beinhalteten Gerede über die Gründung eines unabhängigen Konföderiertenstaates in einer noch nicht näher bezeichneten Gegend.«

»Wie war der Name des Spekulanten doch gleich?« fragte Bent.

»Lamar Powell.«

»Hab’ ich in Richmond nie gehört. Auch nichts von einer neuen Konföderation.«

»Vielleicht handelt es sich bloß um Straßenklatsch. Wenn sie Davis aufhängen würden, dann wäre uns schon viel geholfen. Und ich wäre der erste, der Beifall klatschen würde. Aber wahrscheinlich ist das eine vergebliche Hoffnung.«

Er zog eine Schreibtischschublade auf und holte einen der Hefter mit den persönlichen Dossiers heraus. In schöner, fließender Handschrift stand vorne der Name Randolph darauf.

Baker reichte den Hefter über den Schreibtisch. Bent schlug ihn auf und sah mehrere Seiten handschriftliche Notizen und eine Anzahl Zeitungsausschnitte vor sich. Unter einem der Berichte stand: Von unserem Capitol-Korrespondenten Mr. Eamon Randolph.

»Mr. Randolph steht, wie Sie bald feststellen werden, wenn Sie diese pöbelhaften Artikel lesen, nicht auf Seiten derer, für die wir arbeiten. Auch hat er nichts für Senator Wade und den Kongreßabgeordneten Stevens übrig. Sie werden merken, daß Mr. Randolphs Zeitung, der Cincinnati Globe, gegen die Regierung und pro-demokratisch eingestellt ist. Zusätzlich verdient sich nur der Friedensflügel dieser Partei seine Bewunderung. In Krisenzeiten können wir derartige Ansichten nicht tolerieren. Ich bin von gewissen offiziellen Regierungskreisen gedrängt worden, ihn – «, Baker strich sich seinen üppigen Bart, »– zu züchtigen. Ihn kurz zum Schweigen zu bringen, womit auch gleich eine Warnung für seine Zeitung und andere mit ähnlicher Einstellung verbunden ist. Ihre Arbeit in Richmond hat mich beeindruckt, Dayton. Deshalb habe ich Sie für diesen Fall ausgewählt.«

82

Die drei Ärzte saßen in dreckigen Uniformen um den wackligen Tisch. Auch ihre Hände waren dreck- und blutbeschmiert.

Einer der drei bohrte in der Nase. Der zweite rieb sich mit dümmlichem Lächeln zwischen den Beinen. Der dritte Arzt leerte eine für die Verwundeten bestimmte Flasche Alkohol. Eine Ordonnanz, die sich wie ein Wahnsinniger benahm, führte einen jämmerlich hinkenden Verwundeten herein.

»Was haben wir denn da?« sagte der Arzt, der den Alkohol getrunken hatte; anscheinend war er der Chef.

»Ich bin verletzt, Sir«, sagte der Soldat. »Kann ich heim?«

»Nicht so schnell! Zuerst müssen wir eine Untersuchung durchführen. Gentlemen? Darf ich bitten.«

Die Ärzte umringten den Soldaten, bohrten an ihm herum, beratschlagten im Flüsterton. Der Chef verkündete den gemeinsamen Beschluß: »Tut mir leid, aber Ihre Arme müssen amputiert werden.«

»Oh.« Der Patient schaute bedrückt drein, doch einen Moment später grinste er wieder. »Dann bekomme ich Urlaub?«

»Auf gar keinen Fall«, sagte der Arzt, der sich die Geschlechtsteile gerieben hatte. »Das linke Bein muß auch ab.«

»Oh.« Diesmal war es ein Stöhnen. Der Patient mühte sich um ein Lächeln. »Aber danach bekomme ich doch bestimmt Urlaub?«

»Bestimmt nicht«, sagte der Nasenbohrer. »Wenn Sie wieder gesund sind, können Sie eine Ambulanz fahren.«

Dröhnendes Gelächter.

»Gentlemen – eine weitere Beratung«, rief der Chef, und wieder steckten sie die Köpfe zusammen. Diesmal ging es schnell. Der Chef sagte: »Ein letzter Eingriff ist noch notwendig. Wir müssen Ihren Kopf amputieren.«

Der Patient bemühte sich, die Sache positiv zu sehen. »Nun, aber danach, das weiß ich, habe ich Anrecht auf Urlaub.«

»Keineswegs«, sagte der Chef. »Wir sind so knapp an Männern, daß wir Ihren Körper an die Feldschanzen stellen müssen, um den Feind zu täuschen.«

Wieder dröhnte brüllendes Gelächter aus der Dunkelheit. Charles, mit untergeschlagenen Beinen im zertrampelten Gras sitzend, lachte so sehr, daß ihm die Tränen kamen. Auf der winzigen, von Laternen und Fackeln erhellten Bühne, rannte der Soldat, der den Patienten spielte, kreischend herum, während ihn die wahnsinnigen Ärzte mit Meißeln, Sägen und Äxten verfolgten. Schließlich jagten sie ihn hinter einen Vorhang.

Applaus, Japsen und Pfiffe zeigten das Ende des Programms an, das ungefähr vierzig Minuten gedauert hatte. Alle Darsteller und Schauspieler verbeugten sich. Ein anonymer Schreiber der Stonewall-Brigade hatte Der Ärzte-Ausschuß geschrieben, und es hatte sich zu einem Lieblingsstück der Lagerprogramme entwickelt.

Viele undeutliche Schatten erhoben sich und gingen auseinander. Charles rieb sich den steifen Rücken. Ab sagte: »Muß noch meine Stiefel polieren. Verdammt will ich sein, wenn mir je in den Sinn gekommen wäre, ich müßte mich bei den Scouts so aufputzen.«

»Du kennst Stuart«, sagte Charles mit resigniertem Schulterzucken.

»Bei manchen Gelegenheiten wünschte ich, das wäre nicht der Fall. Verdammt will ich sein, falls ich auch nur die geringste Lust verspüre, am Samstag für die Ladies zu paradieren.«

Die beiden Männer überquerten die Eisenbahnschienen, holten ihre Pferde aus dem Pferch und machten sich zu dem Feld auf, wo ihre Zelte bei dem Regiment von Calbraith Butler standen. Unterhalb des Rappahannock fanden massive Verschiebungen der Streitkräfte statt; Ewell und Longstreet standen mit ihrer Infanterie bereits bei Culpeper. Charles wußte nichts vom eigentlichen Ziel der Armee, aber es wurde viel über eine zweite Invasion in Richtung Norden geredet.

Irgendwo über dem Fluß gab es mit Sicherheit Yankees, die Lees Armeebewegungen ausspionierten, aber niemand schien sich deswegen Sorgen zu machen. Stuart lagerte bei Culpeper mit mehr Reitern, als er seit langem zur Verfügung gehabt hatte – fast zehntausend. Die meisten davon bereiteten sich auf Stuarts große Parade am Samstag vor geladenen Gästen vor. Viele Frauen würden aus Richmond und den umliegenden Städten mit Bahn und Kutsche anreisen. Charles wünschte, er hätte Zeit gehabt, Gus einzuladen.

Der Duft süßen Klees hing in der Juninacht. Entlang des ganzen südlichen Horizonts leuchteten die Feuer. Im Camp gab es nur wenige Männer, die sich ausruhten, Briefe schrieben oder Karten spielten. Die meisten Kavalleristen hatten dafür keine Zeit. Sie nähten und putzten, weil Stuart befohlen hatte, daß jeder in anständiger Uniform zur Parade zu erscheinen hatte. Charles hatte zwar für den ganzen Einfall nichts übrig, aber er wollte sich doch so ordentlich wie möglich präsentieren. Wenn Jeb eine große Show abziehen wollte, dann würde er seinen Teil dazu beitragen.

Brandy Station hatte ihren Namen von einer alten Postkutschenhaltestelle bekommen, die für ihren Apfelbrandy berühmt war. Jetzt betrieb die Orange & Alexandria-Bahnlinie die Station. Am Samstag rollten schon frühzeitig die Sonderzüge ein, die Wagen vollgepackt mit Politikern und bunt gekleideten Damen, die sowohl an der Parade als auch an General Stuarts Ball in Culpeper am gleichen Abend teilnehmen würden.

Auf den offenen Wiesen nahe des langgestreckten, relativ flachen Fleetwood Hill führte Stuarts Kavallerie den Besuchern ihre Darbietungen vor. Nach der langen, ermüdenden Parade kehrte Charles zu seinem Lager zurück und freute sich auf eine gute Mahlzeit und einen gesunden Schlaf. Morgen mußte er den Fluß in der Nähe von Kelly’s Furt erkunden. Er versorgte gerade Sport, als eine Ordonnanz erschien.

»Captain Main? General Fitzhugh Lee sendet seine Grüße und bittet heute abend in seinem Hauptquartierszelt um die Gesellschaft des Captains. Das Essen wird vor dem Ball serviert, den der General nicht besuchen wird.«

»Weshalb nicht?«

»Der General war krank, Sir. Kennen Sie die Lage seines Hauptquartiers?«

»Oak Shade Church?«

»Richtig, Sir. Darf der General mit Ihnen rechnen?«

»Ich habe ebenfalls nicht vor, auf den Ball zu gehen. Sagen Sie Fitz – dem General, ich nehme mit Vergnügen an.«

Das ist eine verdammte Lüge, dachte er, nachdem die Ordonnanz gegangen war. Jeder wußte, daß Fitz immer noch eifersüchtig auf Hampton war, weil dieser aufgrund seiner früheren Ernennung ranghöher war. Hamptons Partisanen machten hämische Bemerkungen über Fitz und behaupteten, er sei nur so schnell befördert worden, weil er Old Bobs Neffe war. Da mochte was dran sein. Zwei der fünf Kavallerie-Brigaden wurden von Lees geführt – von Fitz und von Rooney, dem Sohn des Generals.

Die Einladung bereitete Charles ein unbehagliches Gefühl. Die nächsten paar Stunden brachte er damit zu, seine Uniform zu säubern. Schließlich sattelte er Sport und ritt der untergehenden Sonne entgegen. Im Norden verschwammen die Hügel von Fleetwood in blauem Dunst.

Ich wünschte, ich könnte hier weg und Gus besuchen, dachte er. Irgendwas läuft bei diesem Feldzug verdammt verkehrt.

»Freut mich, daß du die Einladung angenommen hast, Bison. Hab’ mich in letzter Zeit ziemlich schlecht gefühlt. Rheumatismus. Ich brauche ein bißchen aufmunternde Gesellschaft.«

Fitz sah tatsächlich blaß und krank aus. Sein Bart war groß und buschig wie stets, seine Uniform makellos, aber ihm fehlte seine gewohnte Energie.

Der Feuerball der Sonne senkte sich auf die flachen Hügel im Westen. Durch das offene Zelt wehte eine leichte, angenehme Brise. Ein Negerdiener servierte Whiskey, und einer von Fitz’ Offizieren schloß sich ihnen an; Colonel Tom Rosser, ein gutaussehender junger Texaner, der im Mai ‘61 graduiert hätte, sich aber zuvor schon dem Süden angeschlossen hatte. Die drei Kavalleristen plauderten zwanglos. Zweimal erwähnte Rosser einen Kadetten der Juni-Klasse von ‘61, der auf Seiten der Union stand.

»Heißt George Custer. Ein Lieutenant. Adjutant von Pleasanton. Ich hab ihn mal für einen Freund gehalten, aber das ist wohl nicht länger möglich.«

Beim Gedanken an Hampton und Freundschaften warf Charles dem General einen versteckten Blick zu. Weshalb hatte Fitz ihn eingeladen? Aus dem offiziellen Grund – Gesellschaft? Oder aus einem anderen Grund?

Zum Thema Custer sagte Fitz: »Ich höre, sie nennen ihn Crazy Curly.«

»Warum das?« fragte Charles.

Rosser lachte. »Wenn man ihn sieht, ist einem das sofort klar. Haare bis hierhin.« Er zeigte zur Schulter. »Trägt ein großes, scharlachrotes Halstuch – schaut aus wie ein verdammter Zirkusreiter, der verrückt geworden ist.« Nachdenklich fügte er hinzu: »An Mut fehlt’s ihm allerdings nicht.«

Der Abend zog sich hin, und Charles wurde immer deprimierter. Er sagte wenig und beobachtete seinen Freund Fitz mit einem Gefühl wachsenden Neides. Für einen jungen Mann hatte es Fitz weit gebracht – und nicht nur aufgrund seiner Familienbeziehungen.

Schließlich erhob sich Rosser, stülpte sich seinen Hut auf. »Ich muß los. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Captain Main. Hab’ viel Gutes von ihnen gehört. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.«

Rossers letzte Bemerkung schien eine verschlüsselte Botschaft für Fitz zu enthalten. Als der Neger des Generals Teller mit Fleisch und Brot vor ihnen abstellte, sagte Fitz: »Du verschwendest deine Zeit beim alten Hampton, das weißt du. Ich habe vor einer Woche einen Colonel verloren. Wenn du willst, kannst du sein Regiment haben.«

Völlig überrascht stotterte Charles: »Fitz, das – nun, das ist sehr schmeichelhaft.«

»Zum Teufel damit. Dieser Krieg bringt zuviele Probleme mit sich, meinen Rheumatismus eingeschlossen, als daß ich eine Minute auf Schmeicheleien verschwenden würde. Du bist ein großartiger Kavallerist, ein fähiger Führer, und, wenn ich das so sagen darf, du dienst unter einem Kommandeur, der nicht ganz das ist, was er sein sollte – Moment, reg dich nicht auf.«

»Aber ich bin seit zwei Jahren bei General Hampton. Ich trat bei ihm ein, als er seine Legion in Columbia zusammenstellte. Er hat Anspruch auf meine Loyalität.«

»Richtig. Jedoch – «

»Er ist ein fähiger und tapferer Offizier.«

»An Wade Hamptons Mut besteht kein Zweifel. Aber der Mann ist – nun – nicht mehr jung. Und gelegentlich hat er eine gewisse Zaghaftigkeit an den Tag gelegt.«

»Fitz, bei allem Respekt, red bitte nicht weiter. Du bist mein Freund, aber Hampton ist der beste Offizier, unter dem ich je gedient habe.«

Fitz’s Stimme wurde merklich kühler. »Schließt diese Aussage auch General Stuart ein?«

»Ich möchte das lieber nicht weiter ausführen, bis auf einen Punkt. Was manche Zaghaftigkeit nennen, bezeichnen andere als Vorsicht – oder Klugheit. Hampton konzentriert seine Kräfte, bevor er angreift. Er will den Sieg, keine großen Opfer oder Schlagzeilen.«

Enttäuscht und verärgert betrachtete Fitz seinen Besucher. »Deine Loyalität mag lobenswert sein, Charles, aber ich behaupte nach wie vor, daß du deine Talente verschwendest.« Keine Spitznamen mehr; das Freundschaftstreffen hatte einen sauren Beigeschmack bekommen. »Fast jeder Offizier unseres West-Point-Jahrgangs ist Colonel oder Major – mindestens.«

Das tat weh. Charles atmete tief durch. »Ich war vor zwei Jahren zur Beförderung dran. Ich habe einige Fehler gemacht.«

»Ich weiß alles über das, was du als deine Fehler bezeichnest. Sie sind bei weitem nicht so ernst, wie du dir einbildest. Grumble Jones und Beverly Robertson achten auch sehr auf Disziplin. Beide verloren deswegen die Wahlen zum Colonel. Aber man fand neue Kommandos für sie.«

»Fitz«, unterbrach Charles, »habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Was ich tue, gefällt mir. Ich will und brauche kein neues Kommando.«

Schweigen senkte sich über das Zelt. Draußen konnte man den schwarzen Diener am Campofen hantieren hören. »Tut mir leid, daß du es so siehst, Charles. Wenn du dich nicht an den Platz stellen willst, wo du am nützlichsten bist, weshalb kämpfst du dann überhaupt für den Süden?«

Die leise Verachtung ärgerte Charles. »Ich kämpfe nicht für den Süden, wenn das Sklaverei oder ein getrenntes Land bedeutet. Ich kämpfe für den Ort, wo ich lebe. Mein Land. Mein Zuhause. Deswegen haben sich die meisten Männer zur Armee gemeldet. Manchmal frage ich mich, ob Mr. Davis das versteht.«

Fitz zuckte mit den Schultern und begann hastig zu essen. »Tut mir leid, dich drängen zu müssen, aber ich muß mich beim Ball sehen lassen. Übrigens, General Lee hat sich für Montag ebenfalls angekündigt. General Stuart hat eine Parade angeordnet.«

»Noch eine? Wie stellt er sich das vor? Nach der heutigen Parade sind die Männer gereizt und die Pferde erschöpft. Wir sollten die Yankees nördlich vom Fluß im Auge behalten, nicht unsere gesamte Energie auf militärischen Tand verschwenden.«

Fitz räusperte sich. »Tun wir so, als wären diese Worte nie gefallen. Ich danke dir für dein Kommen, Charles. Ich fürchte, du wirst mich jetzt entschuldigen müssen.«

Der Abend hatte Charles eine deprimierende Lektion gelehrt. Er und Fitz konnten nicht länger Freunde sein. Rang und unterschiedliche Meinungen trennten sie. In letzter Zeit durchschaute er mehr und mehr die eigenartige Institution, die die Sklaverei war und schon immer gewesen war. Die Wirklichkeit – vom Standpunkt der Versklavten aus – war eine trügerische Maske, hinter der sich Angst und Wut verbargen. Die Art von Maske, die getragen werden mußte, wenn der Sklave überleben wollte.

Gus würde seine Gefühle über die Sklaverei verstehen; sie Ab oder einem anderen seiner Kameraden gegenüber zum Ausdruck zu bringen wagte er allerdings nicht. Der Gedanke schlich sich bei ihm ein, daß er für seine Heimat kämpfte, während die Politiker für Slogans und Rhetorik kämpften, für eine ›gerechte Sache‹. Und sich damit, was das anbelangte, im Unrecht befanden.

Der Parade am Montag wohnten keine Damen bei; deshalb stellte sie ein unerfreuliches Ereignis dar. Noch unerfreulicher war, daß irgendein Idiot John Hood eingeladen hatte, der seine gesamte Infanteriedivision mitbrachte. Die Kavalleristen stießen wüste Drohungen aus, was sie tun würden, wenn ein Infanterist sie mit dem üblichen: »Mister, wo hast du dein Maultier gelassen?« aufziehen würde.

Wie Charles befürchtet hatte, erschöpfte die Parade jedermann – und am Dienstagmorgen sollten sie zum Abmarsch bereit sein. Er und Ab ritten direkt vom Paradeplatz zu Hamptons Lager. Charles schlief sehr unruhig und schreckte abrupt hoch, als die Hörner und Trommeln erklangen.

Es war gerade Tagesanbruch. Das Camp war ein einziges Chaos. Ab rannte durch den dichten Nebel, der sich während der Nacht über die Landschaft gelegt hatte. Er trug ihren Kaffeetopf auf eine Art und Weise, daß Charles wußte, daß er keine Chance gehabt hatte, ihn heiß zu machen.

»Hoch mit deinem Arsch, Charlie. General Stuart hat den Damen zuviel Aufmerksamkeit geschenkt und den Blaubäuchen zuwenig. Eine ganze Kavalleriedivision ist bei Beverly Ford auf der anderen Flußseite.«

»Welche?«

»Bufords, heißt es. Er hat Infanterie und Gott weiß was noch. Vielleicht kommen sie auch bei Kelly’s rüber. Niemand weiß was Genaues.«

Der Hornist rief in den Sattel. »Sollen Tausende von ihnen sein«, sagte Ab und ließ den Kaffeetopf fallen. »Sie kamen aus dem Nebel. Unsere Wachposten ließen sich total überraschen. Wir sollen zusammen mit Butler los, die Nachhut bilden und kundschaften.«

Peitschen knallten. Wie große Schiffe im Meer des weichen, grauen Nebels ragten Stuarts Hauptquartierwagen am Rande des Camps hoch. Verdammt, dachte Charles, im Schlaf überrascht. Unter Hamptons Kommando wäre das nicht passiert. Er packte Schrotflinte und Decke, schwang seinen Sattel über die Schulter und rannte wie der Teufel hinter Ab Woolner her.

Charles merkte, daß Ab eine sehr schlechte Nacht gehabt haben mußten. Zuerst brüllte er ein paar Hospitalratten an, die mit eingebildeten Beschwerden zum Arzt rannten; ein vertrauter Anblick vor Kampfbeginn. Dann fluchte Ab das Blaue vom Himmel herunter, als er ein Paar einwandfreie Stiefel im Unkraut liegen sah. Männer ohne Stiefel, genau wie Pferde ohne Hufeisen, konnten nicht kämpfen – und irgendein verfluchter feiger Hund, wie Ab ihn charakterisierte, hatte seine Stiefel weggeworfen, um einem äußerst unangenehmen Tag zu entgehen.

In dem dünner werdenden Nebel entfernten sich Charles und Ab bald schon von Butlers Truppe. In einem kleinen Pinienwäldchen oberhalb von Stevensburg zog Charles plötzlich scharf die Zügel an.

Jenseits der Bäume näherten sich auf einem Weg neben einem Weizenfeld ein halbes Dutzend Unions-Kavalleristen. Charles konnte kein Anzeichen der berühmten Berge von Ausrüstung entdecken, die die Südstaaten-Kavallerie verächtlich als ›Yankee-Festungswerke‹ bezeichnete. Die feindlichen Reiter hatten weiter nichts als Waffen bei sich.

»Machen wir einen Bogen um sie, Ab. Wir kommen so schneller nach Stevensburg.«

Wild, fast feindselig starrte Ab ihn an. »Schießen wir ein paar Yanks ab. Danach kommen wir um so sicherer nach Stevensburg.«

»Hör zu, wir sollen uns nur umschauen und – «

»Was ist los mit dir, Charlie? Hast wegen dieses Mädels keinen Mut mehr?«

»Du verdammter Hundesohn – «

Aber Ab galoppierte bereits aus dem Wäldchen; seine doppelläufige Schrotflinte dröhnte.

Die Yankees hatten verkündet, daß sie jeden Südstaatler, den sie mit einer solchen Waffe erwischten, aufhängen würden. Aber die beiden, die Ab aus den Sätteln geblasen hatte, würden keine Meldung mehr gegen ihn machen. Mit trockenem Mund trieb Charles Sport voran.

Kugeln zischten vorbei. Sobald er in Schußweite war, feuerte er beide Läufe ab. Damit waren vier Yanks erledigt. Die beiden letzten flüchteten sich in das Weizenfeld. Ab galoppierte auf Stevensburg zu, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Charles haßte seinen Freund, weil er die Wahrheit gesagt hatte.

An diesem Nachmittag kämpfte Jeb Stuarts Kavallerie auf dem sonnigen Fleetwood Hill eine neue Art von Krieg. Sie bekamen es mit Unions-Kavalleristen zu tun, die mit ihren Säbeln und Pferden so geschickt umgingen wie die besten Südstaatenjungs. Die Yanks trieben Stuart vom Hügel runter, und als Charles und Ab von Stevensburg zurückkehrten, wurde jeder verfügbare Kavallerist in den Kampf geworfen. Hampton war von Beverly Ford zurück, wo er den erfolglosen Versuch unternommen hatte, Buford aufzuhalten.

Auch Stevensburg hatte sich zur Katastrophe ausgewachsen. Dort hatte Frank Hampton einen Säbelhieb abbekommen und war anschließend von einer Kugel tödlich getroffen worden. Calbraith Butler hielt seine Position gegen die angreifenden Yankees, aber auf Kosten seines rechten Fußes, der ihm von einem Granatschrapnell fast abgerissen wurde.

Bei Fleetwood sammelten sich die Schwadronen, und Stuart brüllte: »Zeigt ihnen die Säbel, Jungs!« Die Hornisten bliesen Trab und Galopp und schließlich Angriff. Hügelauf stürmten sie, im Sonnenschein, der schnell hinter Schleiern von Rauch und Staub verschwand.

Obwohl Charles ihn nicht sehen konnte, wußte er, daß Ab ganz in seiner Nähe ritt. Seit dem Vorfall bei dem Pinienwäldchen hatten sie nur das Nötigste gesprochen. Charles wußte, daß sein Freund mit der Anschuldigung nur herausgeplatzt war, weil er übermüdet und angespannt war. Aber das machte es nicht weniger wahr.

Dann waren sie auf den Höhen von Fleetwood. Artillerie wurde herumgezerrt. Säbel schepperten aufeinander. Pistolen blitzten. Pferde und Männer verkeilten sich ineinander. Formationen lösten sich auf. Charles kämpfte mit einer Verbissenheit wie nie zuvor. Er mußte sich in Abs Augen bewähren.

Bluttropfen sammelten sich in seinem Bart. Er tauschte den Säbel gegen die Schrotflinte, die Schrotflinte gegen den Revolver, wechselte dann wieder zurück zu der Waffe, die stets seine letzte Zuflucht darstellte, wenn keine Zeit zum Nachladen blieb.

Er stieß auf einen Mann in Grau ohne Pferd, streckte ihm die Hand entgegen, um ihm zu helfen. Der Mann schlug nach ihm mit einem Ladestock, hätte ihm beinahe den Schädel eingedroschen; Charles konnte gerade noch ausweichen und stieß dem Yank seinen Säbel in die Brust. Der dichte Staub machte an diesem Nachmittag viele blaue Uniformen grau. Ein Mann konnte sterben, weil er die Farben nicht rechtzeitig auseinandergehalten hatte.

Wie bei den meisten Schlachten löste sich auch der Kampf um den Hügel in viele kleine, häßliche Gefechte auf. Sie erkämpften die Anhöhen, verloren sie, stürmten erneut an. Beim zweiten Angriff wäre Charles beinahe in einen ganzen Trupp Unions-Kavalleristen geritten. Er hob seinen Säbel, um den Schlag eines wild blickenden Offiziers mit wehendem Haar und einem scharlachroten Halstuch zu parieren.

Säbel gegen Säbel, schiebend und stoßend, höhnte der Lieutenant: »Dein ergebener Diener, Reb – «

»Aber ich nicht der deine.« Charles spuckte dem Yank ins Gesicht, um einen Vorteil zu erringen; er hätte ihn auch durchbohrt, wäre nicht das Pferd des Offiziers gestolpert. Wahnsinnig gewordener Zirkusreiter, hallte eine Stimme in ihm nach, als sich ihre Blicke für einen Augenblick ineinander krallten.

Das Pferd stürzte; der Yankee verschwand. Keiner der beiden Männer würde den anderen vergessen.

»Paß auf, Charlie«, brüllte Ab über den Schlachtenlärm hinweg – Durch Staubwolken erkannte Charles undeutlich, daß Ab hinter ihn deutete. Er drehte sich um, sah, wie ein Yank-Sergeant eine gewaltige Pistole in Anschlag brachte.

Ab raste auf den Yank zu. Seinen leeren Revolver als Keule benutzend, schlug er auf den Arm des Sergeants. Der Sergeant änderte sein Ziel und schoß Ab aus zwei Fuß Entfernung in die Brust.

»Ab!« Der Schrei nützte nichts mehr. Ab war bereits tot, rutschte seitlich aus dem Sattel, die Augen offen, aber ohne jedes Bewußtsein. Der Sergeant tauchte in dem Getümmel unter.

Mit zusammengebissenen Zähnen parierte Charles den Schlag eines Unions-Kavalleristen, der mit seinem Pferd Sport rammte. Dann ein zweiter Schlag. Funken stoben, wo Metall auf Metall traf.

Der Kavallerist kämpfte mit seinem bockenden Pferd; ein Rotschopf, noch keine zwanzig, mit einem närrischen Grinsen unter seinem großen, roten Schnurrbart.

»Hast den Mut verloren?« Mit diesem Gedanken war Ab gestorben. Und trotzdem hat er mich gerettet –

»Diesmal krieg ich dich«, brüllte der Rotschopf. Mit einer geschickten Drehung entging Charles dem Säbel und bohrte seinen eigenen in die Kehle des Jungen. Ohne Bedauern zog er ihn wieder heraus. Ab hatte recht gehabt: Gus hatte ihn weich und schwach gemacht. Dieser blutige Junitag war nötig gewesen, um das ans Licht zu bringen.

Charles kämpfte weiter mit dem Säbel wie ein Wahnsinniger, täuschte und schlug so schnell, daß er nicht zu treffen war. Schließlich siegten die Südstaatler und hielten den Hügel. Doch die Unions-Aufklärung hatte ihr Ziel erreicht: Lees Armee war gestellt.

Und noch etwas hatten die Yanks erreicht, ungeplant und unbeabsichtigt: sie hatten einen Säbelhieb tief in das Selbstvertrauen der konföderierten Kavallerie geführt.

Noch vor Einbruch der Dunkelheit befahl Pleasanton den allgemeinen Rückzug. Als die Sonne versank und der Wind den Rauch und Staub von Fleetwood wegwehte, ließen sich Legionen von glänzenden blauen Schmeißfliegen auf dem zertrampelten roten Gras nieder. Truthahngeier kamen aus dem Zwielicht des Himmels angesegelt. Charles suchte so lange, bis er Abs Leiche gefunden hatte, hundert Meter von der Stelle entfernt, an der er gestorben war. Die Aasgeier waren bereits bei seinem Gesicht angelangt. Charles verscheuchte die Vögel, aber einer kam mit einem Stück rosigen Fleisches im Schnabel hoch. Charts zog seinen Colt und tötete den Vogel.

Er begrub Ab in einem Wäldchen südlich der Eisenbahnlinie. Während er grub, versuchte er Trost zu finden beim Gedanken an die guten Zeiten, die er und Ab zusammen erlebt hatten; er fand keinen.

Er legte Ab in das Loch, kauerte sich am Rand hin. Eine Minute verstrich. Er knöpfte sein Hemd auf und zog den Lederriemen über den Kopf. Er betrachtete das Buch mit der eingebetteten Kugel. Das Buch hatte ihn nicht beschützt, es hatte ihn verweichlicht. Er warf den Beutel in das Grab und begann, Erde hineinzuschaufeln.

Während des Kampfes hatte er General Hampton mehrmals gesehen, seinen großen Säbel schwingend und vor seinen Männern galoppierend, wie das gute Kavalleriegeneräle stets taten. An diesem Abend sah Charles ihn erneut. Der Verlust seines Bruders ließ Hampton wie einen alten Mann aussehen.

Charles hörte, daß die Ärzte Calbraith Butlers Fuß wahrscheinlich nicht retten konnten. Soviel war an diesem Tag bei Fleetwood geschehen – so viele Tote und kleine Heldentaten, einige bemerkt, andere unbemerkt. Charles hatte seinen einzigen guten Freund verloren; dafür hatte er etwas wiedergewonnen, was er aufgegeben hatte.

Er rieb Sport ab, fütterte ihn und streichelte seinen Hals. »Wir haben’s wieder mal geschafft, alter Freund.« Der Graue reagierte mit einem kleinen Schütteln des Kopfes; er war ebenso erschöpft wie Charles.

Brandy Station begründete den Ruf der Unions-Kavallerie. Stuarts Reputation bekam einige Flecken ab. Und mit einiger Verspätung wurde Charles klar, wie sehr er doch mit seiner Angst vor einer Beziehung mit Gus recht gehabt hatte. Solch eine Verbindung war in Kriegszeiten falsch. Falsch für sie, falsch für ihn.

Charles war während der Angriffe auf Fleetwood beobachtet worden. Er wurde von Hampton lobend erwähnt und erhielt die Ernennung zum Major. Und er selbst hatte sich ein neues Ziel gesteckt. Zuerst mußte er an seine Pflicht denken. Er liebte Gus; daran würde sich nichts ändern. Aber Spekulationen über Heirat, eine gemeinsame Zukunft, durften im Kopf eines Soldaten keinen Platz finden. Das schläferte seine Konzentration ein, machte ihn verletzbar, weniger tatkräftig.

Er mußte Gus sagen, wie es um ihn stand. Das war nur fair. Doch jetzt war er zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen, wann und wie er ihr das mitteilen würde.

83

»Pack sofort«, sagte Stanley.

Verschwitzt und gereizt von der Hitze an diesem Montag, dem 15. Juni, schnappte Isabel zurück: »Wie kannst du es wagen, einfach mitten am Tag bei mir hereinzuplatzen und Befehle zu erteilen?«

Er wischte sich das Gesicht, war aber sofort wieder schweißüberströmt. »Also gut, bleib hier. Ich bring die Jungs mit dem Vier-Uhr-Zug über Baltimore nach Lehigh Station. Ich habe das Dreifache des normalen Preises für die Fahrkarten gezahlt, und da habe ich noch Glück gehabt.«

Ganz plötzlich spürte sie Beklommenheit – nie sprach er in diesem scharfen Ton zu ihr – und mäßigte sich. »Was ist der Grund dafür, Stanley?«

»Den Grund schreien die Zeitungsjungs an jeder Straßenecke heraus. ›Washington in Gefahr‹. Ich habe gehört, daß Lee in Hagerstown ist – daß er in Pennsylvania ist –, morgen früh haben die Rebs die Stadt vielleicht schon eingeschlossen. Ich habe beschlossen, daß es Zeit für einen Urlaub ist. Wenn du keinen Wert darauflegst, dann ist das deine Angelegenheit.«

Es hatte Gerüchte über Militärbewegungen in Virginia gegeben, aber bis jetzt hatte man nichts Genaues erfahren. Konnte sie seiner Beurteilung der Lage trauen? Sie roch seine Whiskeyfahne; in letzter Zeit trank er viel.

»Wieso hast du die Erlaubnis zur Abreise bekommen?«

»Ich erzählte dem Minister, zu Hause sei meine Schwester schwer erkrankt.«

»Kam ihm der Zeitpunkt nicht ein bißchen sehr merkwürdig vor?«

»Sicher. Aber das ganze Ministerium ist ein einziges Irrenhaus. Niemand tut etwas. Und Stanton hat gute Gründe, mich bei Laune zu halten. Ich hab seine Instruktionen an Baker weitergegeben. Ich weiß, wieviel Dreck an seinen Händen klebt.«

»Trotzdem könnte es deiner Karriere schaden, wenn – «

»Hör auf«, schrie er. »Lieber ein lebender Feigling als ein toter Patriot. Glaubst du, ich bin der einzige Regierungsbeamte, der verschwindet? Hunderte sind bereits weg. Wenn du mit mir kommen willst, dann fang an zu packen. Ansonsten verhalte dich ruhig.«

Eine bemerkenswerte, nicht ganz willkommene Veränderung war in den letzten Monaten mit ihrem Mann vorgegangen. Sie hatte diesen neuen Mann geschaffen. Und sie liebte einige Aspekte dieser Schöpfung – den Reichtum, die Macht, die Unabhängigkeit von seinem üblen Bruder. Wenn sie ihn weiterhin kontrollieren wollte, dann mußte sie ihren eigenen Stil ändern und subtilere Methoden anwenden.

Von der Tür her funkelte er sie an. Mit gesenktem Blick und vorgetäuschter Unterwürfigkeit sagte sie: »Ich entschuldige mich, Stanley. Es war klug von dir, auf die Abreise zu drängen. In einer Stunde bin ich fertig.«

Ächzend und grunzend kletterte Elkanah Bent, der in seinem weißen Leinenanzug wie ein Berg Schweineschmalz auf Beinen aussah, vom Kutschbock; der Fahrer hatte genau vor Mrs. Devores Privatresidenz für junge Damen gehalten, deren Geschäfte den Geräuschen nach zu urteilen trotz der Panik in der Stadt sehr gut zu gehen schienen. Zwei weitere Männer der Abteilung schoben die hinteren Vorhänge der geschlossenen Kutsche beiseite und sprangen hinaus. Bent signalisierte einen zu einem Durchgang, der zur Hintertür des Hauses führte. Der andere folgte ihm die Steinstufen hoch.

Die Detektive hatten nach der besten Möglichkeit gesucht, wie sie ihr Opfer zu fassen bekommen könnten. Es schien nicht ratsam, einen bekannten Journalisten bei hellem Tageslicht von der Straße zu zerren. Sie hatten sein Logierhaus in Erwägung gezogen, aber Bent, der das Kommando führte, hatte sich schließlich für das Bordell entschieden. Allein die Umgebung würde vielleicht die unvermeidlichen Proteste des Mannes dämpfen.

Er läutete die Glocke. Der Schatten einer Frau mit hochgetürmten Haaren fiel auf das Milchglas. »Guten Abend, Gentlemen«, sagte die elegante Mrs. Devore. »Möchten Sie nicht eintreten?«

Lächelnd folgten Bent und sein Begleiter der Frau in einen hell erleuchteten Salon, in dem sich Huren im Abendkleid und eine fröhliche Menge aus Offizieren und Zivilisten drängten. Einer der Zivilisten, ein dürrer, satanischer Mensch, näherte sich Bent.

»Abend, Dayton.«

»Abend, Brandt. Wo?«

Der Mann blickte zur Decke. »Zimmer 4. Heute hat er zwei im Bett. Gemischte Farben.«

Bents Herz klopfte rasend, eine Mischung aus Furcht und Erregung – Jetzt erst entdeckte Mrs. Devore die Ausbuchtung an Bents rechter Hüfte.

»Sie halten hier unten alles unter Kontrolle, Brandt. Niemand verläßt den Raum, bis ich ihn geschnappt habe.« Brandt nickte. »Los«, sagte Bent zu dem anderen Detektiv. Sie gingen auf die Treppe zu.

Alarmstimmung leuchtete in Mrs. Devores Augen auf. »Gentlemen, wohin wollen –?«

»Verhalten Sie sich ruhig«, sagte Bent und wandte sein Revers, um sein Abzeichen zu zeigen. »Wir sind vom National Detective Bureau. Wir wollen einen Ihrer Kunden. Mischen Sie sich nicht ein.«

Die Stufen hochwalzend, zog Bent seinen Revolver, einen nagelneuen LeMat .40-Kaliber, in Belgien hergestellt. Es war eine durchschlagskräftige Waffe, die meist von den Rebellen benutzt wurde.

Im oberen Flur konnte der starke Parfümduft nicht ganz den Geruch nach Desinfektionsmitteln verdecken. Bents Stiefel trampelten über den Teppich, vorbei an geschlossenen Türen; hinter einer Tür stöhnte eine Frau in rhythmischen Ausbrüchen. Seine Lenden bebten.

Vor Zimmer 4 postierten sich die Detektive auf beiden Seiten der Tür. Bent dreht den Türknauf mit der linken Hand und stürzte hinein. »Eamon Randolph?«

Ein Mann in mittleren Jahren mit weichlichen Gesichtszügen lag nackt im Bett; ein hübsches schwarzes Mädchen saß rittlings über ihm, eine ältere weiße Frau, deren schwere Brüste über seiner Nase baumelten, hinter seinem Kopf. »Wer zum Teufel sind Sie?« rief der Mann, während die Huren aufsprangen.

Wieder ließ Bent sein Abzeichen aufblitzen. »National Detective Bureau. Ich habe einen Haftbefehl gegen Sie, unterzeichnet von Colonel Lafayette Baker.«

»Oh-oh«, sagte Randolph und richtete sich mit kampflustigem Gesichtsausdruck auf. »Ich soll wohl wie Dennis Mahoney beiseite geschafft werden?« Mahoney, ein Journalist mit ähnlicher Einstellung wie Randolph, hatte letztes Jahr drei Monate im Gefängnis gesessen.

»Sowas in der Art«, sagte Bent. Die weiße Hure grapschte nach ihrem Morgenrock. Die junge Schwarze, weniger verängstigt, beobachtete alles vom offenen Fenster aus. »Die Anklage lautet auf illoyale Praktiken.«

»Aber natürlich«, schoß Randolph mit hoher Stimme zurück, gegen die Bent sofort eine heftige Abneigung empfand. Das fliehende Kinn und die hervorquellenden Augen des Reporters erweckten den falschen Eindruck von Schwäche. Anstatt sich zu krümmen, schwang er recht munter die Beine aus dem Bett.

»Meine Damen, wenn Sie mich entschuldigen würden. Ich muß mich ankleiden und diese Totschläger begleiten. Ihr könnt gehen.«

Einen Blick auf die schwarze Hure werfend, wedelte Bent mit dem LeMat. »Jeder bleibt an seinem Platz. Ihr kommt alle in den Wagen.«

»Oh Gott«, sagte die Weiße und bedeckte ihre Augen. Das schwarze Mädchen schlüpfte in ein elfenbeinfarbenes Seidenkleid; jetzt sah sie aus wie eine in die Enge getriebene Ratte.

»Er blufft, Mädels«, sagte Randolph. »Geht.«

»Ein schlechter Rat«, konterte Bent. »Ich möchte eure Aufmerksamkeit auf diese Waffe lenken. Sie ist mit Schrotkugeln geladen. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie ein Gesicht aussieht, das ich mir zum Ziel genommen habe?«

»Er wird nicht schießen«, sagte Randolph, auf die nackten Füße springend. »Diese Regierungsleute sind alle feige Hunde. Und was den Haftbefehl anbelangt, den können Sie ins gleiche Feuer werfen, in dem Sie und Baker und Stanton schon ihre Verfassungskopien verbrannt haben. Und jetzt treten Sie bitte beiseite, und stören Sie mich nicht beim Ankleiden.«

»Bewach die Tür«, knurrte Bent seinem Helfer zu. Er holte mit dem LeMat aus und schlug zu. Randolph, nicht darauf gefaßt, bekam den Schlag voll ins Gesicht. Seine Haut platzte auf; Blut tropfte auf sein weißes Brusthaar.

Die weiße Frau schluchzte melodramatisch. Im Korridor erklangen Schritte, Flüche, Fragen. Bent rammte den LeMat in Randolphs nackten Bauch, schlug dann erneut auf seinen Kopf ein. Mit hervorquellenden Augen kippte Randolph aufs Bett, machte die Laken blutig.

Bent am Ärmel fassend, sagte der andere Detektiv: »Hör auf, Dayton. Wir wollen ihn nicht umbringen.«

Bent schlug mit dem linken Arm nach hinten, schüttelte die Hand des anderen ab. »Halt’s Maul. Ich befehle hier. Und was dich anbelangt, du Dreckstück – « Er knallte Randolph den Revolverkolben auf den Schädel. »Für dich haben wir ein Spezialzimmer im Old-Capitol-Gefängnis reserviert – Paß auf sie auf!«

Der Detektiv sprang auf das schwarze Mädchen zu. Aber sie hatte bereits ein nacktes Bein über den Fenstersims geschwungen und war blitzschnell verschwunden. Bent hörte einen scharfen Aufschrei, als sie landete.

Fäuste hämmerten gegen die Tür. Der andere Detektiv streckte den Kopf zum Fenster raus. »Harkness! Eine haut ab.«

»Laß sie gehen. Nichts weiter als Niggergeschmeiß«, sagte Bent. Mit dem Revolver versetzte er Randolphs Schulter einen harten Stoß. »Anziehen.«

Fünf Minuten später zerrte er zusammen mit seinem Helfer den halb bewußtlosen Journalisten die Treppe runter. Sie warfen den in eine Decke gewickelten Körper hinten in die Kutsche. »Du hast ihn hart geschlagen«, sagte der andere Detektiv.

»Du sollst das Maul halten, hab’ ich gesagt.« Bent schnaufte laut; er fühlte sich, als hätte er eben eine Frau gehabt. »Ich habe die Sache erledigt. Das ist alles, was Colonel Baker will.«

Brandt stieg zu ihnen in die Kutsche. Detektiv Harkness setzte sich neben den Kutscher. »Die Niggerin ist entwischt, Dayton«, sagte er. Bent grunzte; allmählich wurde er ruhiger. Am Boden gab der Gefangene wimmernde Laute von sich. Bent begann sich Sorgen zu machen; hatte er ihn wirklich zu hart getroffen?

Lächerlich, sich darüber Gedanken zu machen. Oft genug war bei Bakers Verhören wesentlich Schlimmeres passiert. Er hatte nichts weiter als seine Arbeit getan.

»Los, sonst kriegen wir noch die städtische Polizei auf den Hals«, brüllte er. Der Fahrer schüttelte die Zügel; die Kutsche ruckte an.

Brett trat auf die vordere Veranda hinaus; sie hatte sich zum Abendessen umgekleidet, aber schon brach ihr wieder der Schweiß aus. Kein Lufthauch rührte sich.

»Brett? Hallo! Wichtige Neuigkeiten!«

Die belegte Stimme gehörte dem fett gewordenen Stanley, der in Hemdsärmeln mit aufgeschlagener Zeitung auf der Veranda seines eigenen Hauses saß. Seit er und Isabel mit ihren widerwärtigen Söhnen nach Belvedere zurückgekehrt waren, hatte Brett nach Möglichkeit einen Bogen um sie gemacht. Auch jetzt überlegte sie, ob sie grob und unhöflich sein sollte, brachte es aber nicht über sich. Gleich würde die Glocke zum Abendessen rufen; solange konnte sie es schon mit ihm aushalten.

Sie ging die paar Schritte nach nebenan, ihr Schatten auf dem messingfarbenen Rasen dreimal so groß wie sie. »Was gibt’s?« fragte sie vom Fuße der Treppe aus. Sie roch seine Ginfahne und bemerkte seinen glasigen Blick. Im oberen Stock konnte sie die Zwillinge fluchen und streiten hören.

Schwankend streckte Stanley ihr den Ledger-Union entgegen. »Zeitung hat telegraphisch Nachricht aus Washington bekommen. Am Samstag«, Zischlaute mischten sich in seine schon undeutliche Aussprache, »Präs’dent Lincoln ersetzt Gen’ral Hooker. Gen’ral Me’s hat’s Kommando jetzt.«

»General wer?«

»Me. M-e-a-d-e. Me.«

Betrunken, dachte sie. Von der Dienerschaft des anderen Hauses hatte sie zufällig einigen Klatsch über Stanleys neues Laster aufgeschnappt. Sie sagte zu ihm: »Ich fürchte, ich weiß so gut wie nichts über diese Männer oder ihre Fähigkeiten.«

»Gen’ral Me is’ ein Fels. Wenn einer die Reb-Invasion stoppn kann, dann er.« Ein nervöser Blick Richtung Süden. »Gott, ich wünscht’, wir hätt’n das alles hinter uns.«

Mit der Zeitung klatschte er sich gegen das Bein. Bei der plötzlichen Bewegung verlor er die Balance und konnte sich gerade noch an einen Verandapfosten klammern. Für einen kurzen Moment hatte Brett Mitleid mit ihm. »Ich wünsche es mir mindestens so sehr wie du«, sagte sie.

Er blinzelte, zerrte an seinem feinen Leinenhemd. »Weiß schon, du hättest Billy gern daheim. Ich auch. Aber der verfluchte Krieg sollt nich’ bloß wegen der Familie vorbei sein. Hab auch noch’n paar politische Gründe. Nich’ persönlich gemeint, jetzt«, ein schmieriges Grinsen, »aber wir Republikaner werd’n das alte Dixie-Land für immer umkrempeln.«

Gereizt von seiner alkoholisierten Selbstzufriedenheit, aber doch neugierig geworden, fragte sie: »Oh, wirklich? Wie denn?«

Geheimnistuerisch legte er den Finger an die Lippen, flüsterte dann: »Ganz einfach. Rep’likanische Partei wird so tun, als war sie der Freund von all’n befreit’n Niggern da unten. Dummes Pack, Niggers. Wir geb’n ihnen das Wahlrecht, dann wähl’n sie, was wir ihnen sagn. Mit den Niggerstimmen kriegt unsre Partei die Mehrheit, bevor du piep sagen kannst.«

»Stanley, das ist ein ziemlich kaltblütiger Plan. Bist du sicher, daß du ihn nicht erfunden hast?«

Das schmierige Grinsen wurde noch breiter. »Würd’ ich meine eigne Verwandte anlüg’n? Pläne sind schon lange gemacht. Von einer gewissen – inneren Gruppe.« Er verdrehte die Augen. »Ich sag’ besser nichts mehr.«

Empört erwiderte Brett: »Du hast schon genug gesagt. Ihr nützt die gleichen Leute schamlos aus, die ihr angeblich unterstützen wollt?«

Er kicherte. »Nigger kapier’n sowas nicht, kapier’n auch nicht, daß wir sie benutzen.«

»Das ist absolut skrupellos.«

»Nein, bloß Pol’tik. Ich – «

»Entschuldige mich«, sagte sie, mit ihrer Geduld am Ende. »Ich muß zum Essen.«

Sie aß allein, erhitzt und verärgert. Maude, eines der Serviermädchen, nahm ihren Mut zusammen und fragte: »Alle reden von einer großen Schlacht. Werden sie hier auch kämpfen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Brett. »Niemand weiß genau, wo die Armeen stehen.«

In der Hoffnung auf etwas Kühlung spazierte Brett den Hügeln entgegen, in die von Hazards Licht gerötete Dunkelheit hinein. Wo war Billy? Seit fast drei Wochen hatte sie keinen Brief mehr bekommen. Sie stieg höher, durch den Lorbeer auf den Anhöhen hindurch. Gedankenverloren brach sie einen Lorbeerzweig. Sie erinnerte sich daran, daß Billy ihre Liebe mit dem Lorbeer verglichen hatte. Beide würden sie diese schrecklichen Zeiten überleben, hatte er gesagt. Würden sie wirklich?

Wo mochte ihr Mann heute abend sein? Wo die Armeen? Konnte es sein, daß Harrisburg brannte, und sie hatte in diesem friedlichen Tal keine Ahnung davon? Sie schauderte unter den rötlichen Sternen, starrte nach Südwesten in die Dunkelheit, stellte sich die unsichtbaren Armeen vor, die sich in der heißen Nacht gegenseitig belauerten.

Verstört und verschreckt warf sie den Lorbeerzweig weg und eilte den Hügel hinab. Erst in der Morgendämmerung schlief sie ein.

84

Lee war im Feindesland untergetaucht. Eine Stadt, eine Regierung, ein ganzes Land hielt den Atem an in der Hoffnung auf gute Nachrichten.

Keine guten Nachrichten aus dem Westen, teilte Orry Madeline mit. Rosecrans war in Tennessee in Bewegung, und Grant hielt Vicksburg in einem stündlich enger werdenden Würgegriff. Orrys Arbeit bestand aus einem Alptraum von Konferenzen, Memoranden und ständigen Zusammenstößen mit Winder und dessen Gefängnispersonal über die laufend steigende Zahl der Toten unter den Kriegsgefangenen.

Sie lasen und erwiderten die gelegentlichen Briefe von Philemon Meek. Augusta Barclay besuchte sie für einen Tag und erkundigte sich sehr besorgt nach Cousin Charles. Seit zwei Monaten hatte sie keinen Brief mehr von ihm erhalten; ihre Angst, er könnte bei dem Kavalleriegefecht bei Brandy Station gefallen sein, war groß.

Orry versicherte ihr, daß er die Verlustlisten genau beobachtete; bis jetzt sei der Name von Major Charles Main nirgendwo aufgetaucht. Gus wußte noch nichts von seiner Beförderung. Sie sagte, sie freue sich darüber, aber es klang nicht sonderlich begeistert.

Kurz vor ihrer Abreise brachte sie den Mains gegenüber erneut ihre Dankbarkeit für deren Gastfreundschaft während der Kämpfe bei Chancellorsville zum Ausdruck; sie würde sich gern für die erwiesenen Freundlichkeiten revanchieren. Madeline dankte ihr, und die beiden Frauen umarmten sich; sie hatten Gefallen aneinander gefunden.

Nachdem Gus gegangen war, sagte Madeline: »Irgendwas stimmt nicht zwischen ihr und Charles, ich weiß bloß nicht, was.«

Orry war der gleichen Meinung; genau wie seine Frau hatte er eine gewisse Traurigkeit in den Augen der Besucherin entdeckt.

Auch mit Cooper stimmte etwas nicht. Orry traf seinen Bruder gelegentlich am Capitol Square. Cooper war kurz angebunden und lehnte weitere Essenseinladungen mit einem schroffen »Im Augenblick zu beschäftigt« ab.

Seit einigen Monaten wußte Orry, daß Beauchamps Oyster House in der Main Street als illegaler Briefkasten für Post nach dem Norden diente. Ende Juni schrieb er George einen langen Brief, adressiert an Hazards in Lehigh Station. Er erkundigte sich, wie es Constance und Billy und Brett ging, berichtete von seiner Eheschließung mit Madeline und erwähnte, daß Charles Dienst bei den Iron Scouts tat. An einem schwülen Abend betrat er in dem einzigen Zivilanzug, den er von Mont Royal mitgebracht hatte, Beauchamps und übergab dem Barmann den versiegelten Umschlag, zusammen mit vierzig Konföderiertendollar. Es gab keine Garantie, daß der Brief weiter als bis zur nächsten Mülltonne kommen würde. Doch Orry vermißte seinen alten Freund, und nachdem er es auf Papier zum Ausdruck gebracht hatte, fühlte er sich besser.

Die Junihitze hielt an. Das Warten auch.

»Ich mache mir Sorgen«, sagte Ashton am gleichen Abend, an dem Orry seinen Brief abschickte.

»Worüber?« fragte Powell. Nackt bis auf die Unterhosen saß er da und las die Besitzurkunde über eine kleine Farm durch, die er und seine Partner gekauft hatten. Die Farm lag am Ufer des James, unterhalb der Stadt in der Nähe von Wilton’s Bluff. Powell hatte nicht erklärt, weshalb dieser Besitz einen Vorteil bot, doch Ashton wußte, daß es etwas mit dem Plan, Davis zu eliminieren, zu tun hatte.

Powells Desinteresse brachte Ashton dazu, ärgerlich zu erwidern: »Über meinen Mann.« Er hörte den Zorn in ihrer Stimme und legte die Urkunde beiseite. »Jeden Morgen erkundigt er sich nach meinen Plänen für den Tag. Als ich gestern in der Stadt einkaufen war, hatte ich das komische Gefühl, beobachtet zu werden – und dann entdeckte ich James auf der anderen Straßenseite, wie er hinter einem Wasserwagen lauerte und möglichst unverdächtig dreinzuschauen versuchte.«

»Hat er dir an dem Abend Fragen gestellt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er war noch an der Arbeit, als ich das Haus verließ.«

»Aber du glaubst, er weiß Bescheid?«

»Er hat einen Verdacht. Ich will es nicht, aber ich glaube, ich muß es sagen, Lamar. Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns eine Weile nicht mehr sehen würden.«

Seine Augen wurden eisig. »Wenn ich dich richtig verstehe, willst du damit zum Ausdruck bringen, daß ich dich langweile, ja, meine Liebe?«

Sie rannte auf ihn zu, preßte ihre Handflächen gegen seine harte Brust. »Oh, mein Gott, nein, mein Schatz. Nein! Aber James ist so – es läuft schlecht für ihn, und er ist völlig durcheinander. Egal, wie vorsichtig du bist, er könnte dich eines Abends überraschen. Dich verletzen.« Sie begann sich an seiner Hüfte zu reiben. »Es würde mich umbringen, wenn ich für sowas verantwortlich wäre.«

Powell führte ihre Hand tiefer und murmelte: »Nun – vielleicht hast du recht.«

Er erlaubte ihr, noch etwas weiterzumachen, dann schob er abrupt ihre Hand weg und nickte in Richtung eines anderen Stuhls. Gehorsam setzte sie sich hin. »Meine persönliche Sicherheit kümmert mich am wenigsten. Ein gewaltiges Werk ist in Gang gebracht worden. Ich will nicht, daß es durch irgendeine idiotische, vermeidbare Gewalttat gestört wird. Um dir die Wahrheit zu sagen, ich habe mir auch schon Gedanken wegen deines Mannes gemacht.« Er legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Letzte Woche bin ich auf eine Möglichkeit gestoßen, sicher zu gehen, daß er keine Bedrohung für uns darstellt. Ich habe darüber nachgedacht und bin jetzt überzeugt davon, daß die Idee vernünftig ist.«

»Was hast du vor? Willst du für seine Entlassung sorgen und ihn heimschicken?«

Powell ignorierte den Sarkasmus. »Ich beabsichtige, ihn für unsere Gruppe zu rekrutieren.«

»Ihn zu rekrutieren?« Sie sprang auf. »Das ist die lächerlichste, um nicht zu sagen gefährlichste – «

»Sei still, und laß mich ausreden.« Seine kalte Stimme brachte sie zum Schweigen. »Natürlich klingt es so – anfangs. Aber denk mal drüber nach. Es sprechen ganz logische, zwingende Argumente dafür.«

»Tut mir leid, ich kann keine entdecken«, konterte sie.

»Bei jedem derartigen Unternehmen braucht man immer eine gewisse Anzahl von – sagen wir mal, Soldaten. Männer, die die gefährlichsten Phasen des Plans ausführen. In unserem Fall müssen diese Männer mehr als vertrauenswürdig sein; sie müssen fanatisch gegen die Freiheit der Nigger sein, denn nur das bringt absolute Loyalität. Unsere Soldaten müssen Davis und seine West-Point-Stümper und die Judenbürokraten hassen und für die Errichtung unserer neuen Konföderation sein. Vom letzten Aspekt abgesehen, von dem er noch nichts weiß, gehe ich davon aus, daß dein Mann all diese Bedingungen erfüllt.«

»Nun, so betrachtet, mag es vielleicht zutreffen.«

Powells verschlagenes Lächeln verstärkte sich. »Und schließlich, wäre es nicht besser, ihn ganz in der Nähe und unter Kontrolle zu haben, als ihn frei herumlaufen zu lassen?« Er kam um den Tisch und wickelte eine Locke ihres Haares um seinen Finger. »Bei einer aktiven Beteiligung deines Mannes könnten wir uns auch wesentlich leichter sehen.«

»Da stimme ich dir zu – vor allem jetzt, wo er sich wegen der Fehlschläge des Präsidenten in einem solchen Zustand befindet.«

»Siehst du? So verrückt ist der Einfall also doch nicht.«

Mit dem Finger strich er an ihrem Nacken auf und ab. »Bloß mal angenommen, er kommt uns, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, auf die Schliche. Gerät aus dem Gleichgewicht, ist daher nicht mehr vertrauenswürdig.« Er ließ ihre Haarsträhne los und legte seine Hand auf den Sharps-Revolver mit den vier Läufen. »Auch damit können wir fertig werden.«

Ashtons Blick ging von seinem Gesicht zu der glänzenden Waffe und zurück. Erschreckt, erfreut und ganz plötzlich erregt schlang sie die Arme um seinen Hals, küßte ihn und flüsterte: »Oh, mein liebster Lamar. Du bist so klug.«

»Dann hast du nichts gegen meinen Plan einzuwenden?«

»Nein.«

»Nicht das geringste?«

Über seine Schulter hinweg sah sie den glänzenden Sharps-Revolver. »Nein – nein. Ich bin mit allem einverstanden, was du willst, so lange ich nur für immer bei dir bleiben kann.«

Sie spürte ihn gegen ihr Kleid, groß und potent. Sie hatte das Gefühl, mehr als nur etwas Physisches zu berühren. Sie berührte seine Stärke; seine Ambitionen; die Macht, die sie schließlich miteinander teilen würden.

»Für immer«, wiederholte Powell und hob sie wie ein Kind hoch. »Dafür müssen wir allerdings darin übereinstimmen, daß James Huntoon, Esquire, nötigenfalls geopfert wird.«

Ihr leidenschaftlicher Kuß gab ihm die Antwort.

Spät am Mittwoch, dem 1. Juli, trat Stanley aus dem Erste-Klasse-Abteil des Zuges von Baltimore. Selbst durch den Schleier von einigen kräftigen Schlucken aus der Bourbonflasche hindurch konnte er kaum fassen, was ihm während der letzten vierundzwanzig Stunden alles zugestoßen war.

Gerüchte von einer bevorstehenden Schlacht hatten Lehigh Station erreicht. Er und Isabel hatten gerade gepackt, um sich auf den Familiensommersitz Fairlawn in Newport zurückzuziehen, als Stantons scharf formuliertes Telegramm eintraf. Stanley war fast die ganze gestrige Nacht und den heutigen Tag unterwegs gewesen. Erschöpft und halb betrunken hatte er schließlich gegen halb sieben das Heiligtum des Ministers betreten und zehn Minuten lang Stantons Zorn über sich ergehen lassen, bevor er mit einer Mietkutsche zur Nordseite des Capitol Square fuhr. Hier stand das Gebäude, das seit 1861 als Gefängnis diente.

Stanley hatte seine Ankunft angekündigt. Bakers Brauner, Slasher, war am Ringpfosten beim Eingang angebunden. Der Colonel wartete draußen, in bösartiger Stimmung, aber eindeutig nervös. Bei ihm befand sich der Gefängnisdirektor Wood.

»Wo ist er?« wollte Stanley von Wood wissen.

»Raum 16. Wo wir alle Reporter unterbringen.«

»Haben Sie die anderen aus dem Raum entfernt? Es ist wichtig, daß mich niemand erkennt. Zeitungsleute würden mich bestimmt erkennen.« Man versicherte ihm, daß das erledigt worden sei. »Sie haben das versaut, Baker – das wissen Sie?«

»Nicht meine Schuld«, beschwerte sich Baker, als Stanley die Stufen hochzusteigen begann.

»Der Minister sieht das anders. Wenn wir das nicht wieder hinbiegen, dann kann es Sie Ihr kostbares Spielzeug kosten – diese vier Kavallerietruppen, zu denen Sie Mr. Lincoln überredet haben.«

Raum 16 war eine lange, trostlose Kammer mit einem dreckigen Fenster am Ende. Spinnweben verklebten die Ecken. Merkwürdige Flecken färbten die Wände; auf Feldbetten häuften sich schmutzige Decken und Gepäck. Die Möblierung bestand aus zwei dreckigen Tischen und Bänken. Mit Kohle hatte jemand an die Wand geschmiert: Hier wird Maultierfleisch serviert.

»Untere Koje, links«, flüsterte Wood.

Der Fußboden knarrte, als sie auf Zehenspitzen zu dem kleinen, fast zwergenhaften Mann schlichen, der mit dem Rücken zu ihnen schnarchte. Die sichtbare Seite seines Gesichts war übel zerschlagen, sein Auge nur noch ein verquollener Schlitz.

»Guter Gott«, sagte Stanley.

Randolph bewegte sich, wachte aber nicht auf. Stanley schob Baker beiseite und ging hinaus. Unten in Woods Büro knallte er die Tür zu und sagte: »Folgendes ist geschehen. Eine schwarze Hure entkam, als Randolph bei Mrs. Devores geschnappt wurde. Die Hure telegraphierte Cincinnati. Die Besitzer von Randolphs Zeitung sind Demokraten, aber sie besitzen genügend Einfluß in Ohio, um eine Antwort von der republikanischen Regierung verlangen zu können – womit speziell Mr. Stanton gemeint ist. Habeas Corpus hin oder her, Randolph wird morgen früh entlassen.«

Baker seufzte. »Damit wäre das also erledigt.«

»Den Teufel ist es. Wer hat ihn so schlimm zugerichtet?«

»Der Mann, den Sie mir geschickt haben, Dayton.«

»Werden Sie ihn los.«

Baker strich sich achselzuckend den Bart. »Nichts leichter als das.«

»Und die Zeugen.«

»Nicht ganz so einfach.«

»Warum nicht? Eine ist in Haft.«

»Die weiße Prostituierte«, sagte Wood. »Sie war bei der anderen Frau.«

»Besorgen Sie sich den Namen der Niggerin bei Mrs. Devore«, befahl Stanley. »Finden Sie sie, und bringen Sie beide Frauen aus Washington raus. Drohen Sie ihnen, geben Sie ihnen Bestechungsgeld, aber auf jeden Fall will ich sie fünfhundert oder tausend Meilen von hier entfernt haben. Sie sollen falsche Namen annehmen, wenn ihnen ihr Fell lieb ist.« Baker wollte Einwände erheben, aber Stanley plusterte sich auf: »Tun Sie, was ich Ihnen sage, Colonel, oder Sie haben die längste Zeit den Ersten Bezirk der Columbia Cavalry kommandiert.«

Mit undeutlichem Gemurmel wandte sich Baker ab. Wood kratzte sich am Kinn. »Da ist immer noch Randolph. Niemand hat ihm die Zunge rausgeschnitten.«

Stanley warf dem Direktor einen vernichtenden Blick zu; zu einem solchen Zeitpunkt scherzte man nicht.

»Randolph unterliegt Mr. Stantons Verantwortlichkeit. Der Minister spricht gerade mit Senator Wade, und man kann davon ausgehen, daß einige angesehene Kongreßabgeordnete Randolphs Verlegern einen guten Rat geben werden. Die Botschaft wird ganz simpel sein. Es wird nur zu ihrem Vorteil sein, wenn sie sich ruhig verhalten; wenn nicht, dann werden sie sehr viel Ärger bekommen. Ich nehme an, sie werden sich für ersteres entscheiden. Wenn Randolph dann redet, wer soll seine wilde Geschichte bestätigen? Seine Zeitung wird es nicht tun. Die Frauen auch nicht, die werden verschwunden sein. Dayton ebenfalls. Viele haltlose Geschichten über Regierungsexzesse sind heutzutage in Umlauf. Da kommt es auf eine mehr nicht an.«

»Ich rede morgen mit Dayton«, versprach Baker.

»Heute abend«, sagte Stanley und ging die Treppe hinunter, hinaus auf den Platz.

»Ich bedaure das«, sagte Lafayette Baker zu Elkanah Bent, der sich noch im Halbschlaf befand. Es war halb zwölf. Bent war von Detektiv O’Dell geweckt und ins Büro geschleppt worden.

Baker räusperte sich. »Aber Tatsachen sind Tatsachen, Dayton. Sie haben Randolph durch mehrfache Schläge verletzt.«

Bent umklammerte die Armlehnen seines Stuhls und schob sich vor. »Er hat sich der Verhaftung widersetzt.«

»Selbst dann ist offensichtlich, daß Sie mehr Gewalt als nötig angewendet haben.«

Bent schlug auf den Schreibtisch. »Und was tun Sie und Wood, wenn Sie jemanden befragen? Ich bin im Gefängnis gewesen. Ich habe die Schreie gehört – «

»Das reicht«, sagte Baker mit unheilverkündender Stimme.

»Sie wollen einen Sündenbock – «

»Ich will gar nichts, Dayton. Sie sind ein fähiger Agent, und wenn ich Sie behalten könnte, dann würde ich das auch tun, glauben Sie mir das.« Bent stieß einen Fluch aus. Baker verfärbte sich, kontrollierte aber seine Stimme. »Ich stehe unter Befehl vom Kriegsministerium. Der Minister höchstpersönlich. Aber für das, was Randolph geschehen ist, muß eine gewisse Wiedergutmachung angeboten werden, und ich bedaure – «

»– daß ich der Knochen bin, der den Wölfen zum Fraß vorgeworfen wird«, rief Bent; es war mehr ein Kreischen. Jemand klopfte an die Tür.

»Alles in Ordnung, Fatty«, rief Baker zurück. Und leiser: »Ich verstehe Ihre Gefühle. Aber es wird zu Ihrem Vorteil sein, wenn Sie das mit Anstand tragen.«

»Den Teufel werd’ ich. Ich lasse mich nicht von Ihnen auf den Müllhaufen werfen, auch nicht von Stanton oder sonst jemandem – «

»Halten Sie den Mund!« Baker sprang auf, deutete auf den anderen Mann. »Sie haben vierundzwanzig Stunden, um aus Washington zu verschwinden. Das ist endgültig.«

Wie ein harpunierter Wal stieß sich Bent von seinem Stuhl hoch. »Behandelt die Regierung loyale Angestellte so? Belohnt sie so treue Dienste?«

Abrupt setzte sich Baker. Seine Hände begannen emsig, Dossiers durchzublättern. Ohne den Blick zu heben, sagte er: »Vierundzwanzig Stunden, Mr. Dayton. Oder Sie werden unter Arrest gestellt.«

»Auf wessen Betreiben? Auf wessen Befehl?«

Wütend sagte Baker: »Mäßigen Sie Ihre Stimme. Eamon Randolph wurde übel zusammengeschlagen. Ihnen wird viel Schlimmeres passieren, falls Sie Ärger machen. Sie werden im Old Capitol verschwinden und einen grauen Bart kriegen, bevor Sie das Tageslicht wieder erblicken. Und jetzt raus hier, und morgen um diese Zeit sind Sie aus Washington verschwunden. O’Dell!«

Die Tür flog auf. Der Detektiv kam hereingeschossen, die rechte Hand unter der Jacke.

»Bring ihn raus. Verschließ die Tür, wenn er draußen ist.«

Augenblicklich verwandelte sich Bent in einen blinzelnden, keuchenden Haufen Hilflosigkeit. Er brachte ein einziges, schwaches »Aber – « hervor.

»Dayton«, sagte Fatty O’Dell und trat beiseite, um den Weg freizugeben. Bent stolperte hinaus.

Einige Stunden zuvor rollte ein eleganter, offener Einspänner die Hollywood Cemetery Straße westlich von Richmond entlang. Lichtschein drang aus entfernt stehenden Häusern. Belaubte Zweige strichen dicht über die Köpfe von James Huntoon und Lamar Powell, dem Fahrer des Einspänners.

»Ich kann nicht glauben, was Sie mir da erzählt haben, Powell.«

»Genau deshalb habe ich Sie hierher gebracht«, erwiderte Powell. »Ich möchte Sie gern für unsere Gruppe rekrutieren, aber ich konnte nicht riskieren, an einem Ort darüber zu sprechen, wo wir vielleicht belauscht werden.«

Huntoon zog ein Taschentuch hervor, um seine beschlagene Brille zu putzen. »Das verstehe ich natürlich.«

Powell schüttelte die Zügel, um das Tempo auf einem geraden Straßenstück zu beschleunigen. »Ich weiß, daß wir unsere, äh, Geschäftsverbindungen nicht gerade in bestem Einvernehmen begannen, Huntoon. Aber letzten Endes hat Ihnen die Water Witch einen ordentlichen Profit eingebracht.«

»Das stimmt. Unglücklicherweise hat mich meine Frau deswegen hintergangen.«

»Das tut mir leid. Ich habe das Gefühl, Ihre Frau ist äußerst charmant, aber ich kenne sie kaum, und so wäre es wohl mehr als unpassend, wenn ich mich zu Ihrer häuslichen Situation äußern würde.«

Er hielt den Blick auf die Straße gerichtet. Dann sagte ihm ein flüsterndes Seufzen, daß sich die Gedanken des Anwalts wieder dem Plan zugewandt hatten, den er ihm eben umrissen hatte. »Sind Sie entsetzt von dem, was ich Ihnen eben sagte?«

»Ja.« Entschlossener: »Ja – wie auch nicht? Meuchelmord ist – nun nicht nur ein Verbrechen; es ist ein Akt der Verzweiflung.«

»Für die einen. Nicht für meine Gruppe. Wir unternehmen lediglich einen genau geplanten und absolut notwendigen Schritt zur Errichtung einer neuen Konföderation im Südwesten. Natürlich wird es auch dort eine Regierung geben. Sie könnten dabei eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Das Talent dazu besitzen Sie sicherlich. Ich habe mich über Ihre Arbeit im Finanzministerium informiert.«

Entzückt wie ein Junge sagte Huntoon: »Tatsächlich?«

»Glauben Sie, ich würde jetzt so offen mit Ihnen sprechen, wenn das nicht der Fall wäre? Sie sind einer von diesen überaus fähigen Männern, die King Jeff auf untergeordneten Posten verkümmern läßt, um seine verdammten Virginier fördern zu können. Für Sie könnte ich mir sehr wohl einen wichtigen Posten in unserem Finanzministerium vorstellen, wenn Ihnen das zusagt. Falls nicht, können wir Sie sicherlich mit einem anderen hohen Amt, höchstwahrscheinlich auf Kabinettsebene, zufriedenstellen.«

Kabinettsebene. Wäre Ashton da nicht begeistert? Vielleicht würde sie ihn dann nicht mehr für so unzulänglich halten.

Aber es war gefährlich. Und Powell sprach so leichtfertig von Mord. Zögernd sagte er: »Ehe ich mich entscheide, brauche ich weitere Details.«

»Details, ohne daß Sie zu uns gehören? Ich fürchte, das ist unmöglich, James.«

»Dann Bedenkzeit. Die Risiken…«

»Sind gewaltig, daran ist nicht zu rütteln«, unterbrach ihn Powell. »Aber mutige Männer mit Zukunftsvisionen können damit fertig werden. Vorhin eben haben Sie ein sehr zutreffendes Wort gebraucht – Verzweiflung. Aber es trifft auf die anderen weit mehr zu als auf uns. Die Konföderation von Davis und seiner Bande ist verloren, und sie wissen das. Dem Volk wird das ebenfalls langsam klar. Die einzige Regierung, die Erfolg haben kann, ist eine neue Regierung. Unsere. Also ist die Frage ganz simpel: Wollen Sie sich uns anschließen oder nicht?«

In Huntoons Kopf wirbelten Erinnerungen durcheinander: Ashtons hingebungsvolle Augen, als sie seinen Heiratsantrag annahm; die jubelnden, klatschenden Mengen, vor denen er in seinem Heimatstaat für die Sezession plädiert hatte. Seit er in diese verfluchte Stadt gekommen war, hatte er diese Art von Anerkennung schmerzlich vermißt.

»Ihre Antwort, James?«

»Ich bin – geneigt, mich Ihnen anzuschließen. Aber vor der endgültigen Entscheidung muß ich noch einmal darüber nachdenken.«

»Natürlich. Allerdings nicht zu lange«, murmelte Powell. »Die Vorbereitungen sind bereits im Gange.«

Wieder schüttelte er die Zügel. Das Klappern der Hufe wurde schneller. Powell lächelte. Der Fisch hing fest am Haken.

Nach seiner Entlassung durch Lafayette Baker zerbrach Elkanah Bents mühsam bewahrte Selbstbeherrschung wie ein trockener Zweig. Schnurstracks fuhr er zur Residenz von Jasper Dills.

Wie einst bei Starkwether hämmerte Bent jetzt gegen die Tür von Dills Haus; hämmerte dagegen, bis seine Faust schmerzte und ein hochmütiger Diener endlich öffnete. »Mr. Dills hat die Stadt für einige Tage verlassen.«

»Feigling«, murmelte Bent, während ihm die Tür vor der Nase zugeknallt wurde. Wie so viele andere auch war der Anwalt bei der ersten Drohung einer Invasion geflohen.

Ohne die Hilfe des Anwalts wagte Bent es nicht, in Washington zu bleiben. Ein plötzlicher Einfall kam ihm. Weshalb sollte er überhaupt im Norden bleiben? Er haßte diese Armee, weil sie seine militärischen Talente nicht erkannt und ihm die Karriere verweigert hatte, die er verdiente. Er haßte den Präsidenten, weil er die Neger hätschelte. Und am meisten haßte er diese Regierung, weil sie ihn benutzt und dann weggeworfen hatte.

In seinem Zimmer warf er Kleidung und einige wenige Besitztümer in zwei Koffer. Zuletzt packte er das Gemälde aus New Orleans ein. Während er arbeitete, stieg erneut der Haß in ihm auf.

Er drehte sich um und starrte sein Bild in dem alten, fleckigen Spiegel an. Wie häßlich er war; aufgedunsen vom Fett. Mit einem Aufschrei packte er den Porzellanwasserkrug und schmetterte ihn in den Spiegel.

Augenblicke später klopfte die Vermieterin gegen die Tür. »Mr. Dayton, was tun Sie da?«

Um das Zimmer zu verlassen, mußte er die Tür aufsperren und die alte Frau beiseitestoßen. Sie fiel hin. Er beachtete sie nicht. Den großen Koffer auf der Schulter, den kleinen Koffer in der Hand, so polterte er die Treppe hinunter, während die Frau hinter ihm her blökte.

In einem gemieteten Einspänner ratterte er nach Süden in die Morgendämmerung hinein. Sein kleines silbernes Abzeichen und eine Portion Frechheit brachten ihn durch die Befestigungslinien. Er hielt geradewegs auf Port Tobacco zu, wo gewisse Matrosen loyal zur Konföderation standen, vorausgesetzt, diese Loyalität wurde mit Bargeld unterstützt.

Bent achtete kaum auf die Landschaft. Vielleicht waren die Südstaatenführer gar nicht so schlimm, wie er immer geglaubt hatte. Und während seiner Zeit in Richmond hatte er gemerkt, daß er sich, ohne Verdacht zu erregen, anpassen konnte. Es mußte einen Platz für ihn in der Konföderation geben; im Norden gab es keinen mehr. Er mußte einen Weg finden, um zu überleben.

Als der Morgen heißer und der Straßenstaub dichter wurde, fiel ihm eine Möglichkeit ein. Baker hatte einen Mann erwähnt, der eine zweite Konföderation zu erreichen versuchte. Wie war sein Name? Nach einigen Minuten erinnerte er sich: Lamar Powell. Wie Baker gesagt hatte, handelte es sich vielleicht nur um ein Gerücht. Aber ein paar Fragen konnten nicht schaden.

In dem verschlafenen Nest Port Tobacco sagte ein alter Binnenschiffer, dessen eine Gesichtshälfte von einem Schlaganfall gelähmt war, zu Bent: »Ja, für die Summe kann ich Sie rüber nach Virginny schmuggeln. Wann kommen Sie zurück?«

»Hoffentlich nie.«

»Dann lade ich Sie zur Feier des Tages zu einem Glas ein«, sagte der alte Mann mit einem halben Grinsen. »Wir machen die Fahrt, sobald die Sonne untergegangen ist.«

85

»Ihnen nach«, schrie Charles und trieb Sport die Landstraße entlang. Die Schrotflinte in der linken Hand donnerte er auf die vier erschrockenen Yankees zu, die eben aus dem eine halbe Meile entfernten Wäldchen geritten waren. »Wir schnappen uns einen«, brüllte Charles seinem Begleiter zu, der zwei Längen hinter ihm ritt; ein achtzehnjähriger Farmerjunge, der zweihundertdreißig Pfund wog. Er war ein fröhlicher, fügsamer junger Mann mit lediglich zwei Ambitionen: »Ich möchte eine Menge Südstaatengirls lieben und einen Haufen Yankeeschädel einschlagen.«

Jim Pickles war sein Name. Er war den Scouts zugeteilt worden, weil er für den normalen Dienst zu bullig und nicht elegant genug schien. Er hatte sich dem Senior-Scout angeschlossen – der darauf bestand, Charlie und nicht Major Main genannt zu werden –, seit Stuart und seine Männer ihren Ritt nach Norden begonnen hatten, hinaus aus Virginia und weg von der eigentlichen Armee, die Longstreet in Feindesland führte.

Drei Brigaden – diejenige von Hampton, Fitz Lee und die des verwundeten Rooney Lee unter dem Kommando von Colonel Chambers – hatten in der Nacht des 27. Juni den Potomac überquert. Reichlich vagen Befehlen von General Lee folgend, führte sie ihre Route östlich der Bergketten fast genau nach Norden. Sie ritten drauflos, ohne eine Ahnung vom Standort der Unionsstreitkräfte zu haben.

Charles hörte Beschwerden und Gemurmel, daß General Jeb im Begriff sei, eine weitere spektakuläre Show abzuziehen – ähnlich dem Ritt auf der Halbinsel um McClellan herum, der ihm soviel Ruhm eingebracht hatte. Stuarts Ruf hatte bei Brandy Station einige Flecken abbekommen; vielleicht glaubte er, mit einem zweiten Umgehungsmanöver der Unionsarmee diese Flecken wieder tilgen zu können.

Nun schrieben sie den 2. Juli. Ungefähr fünf Meilen südlich der Stelle, wo Charles und Jim Pickles auf die vier Yankees gestoßen waren, dröhnten Kanonen. Hinter dem Wäldchen, aus dem die blauen Kavalleristen aufgetaucht waren, stieg eine beachtliche Staubwolke auf. Ein großer Reitertrupp, wie Charles annahm, in Richtung Hunterstown unterwegs. Aber er wollte die genaue Ursache für diese Staubwolke wissen; General Hampton ebenfalls, davon war er überzeugt. Deshalb sein Wunsch, einen Yankee zu erwischen.

Er fühlte, wie die Erschöpfung von ihm abfiel, als er auf die vier zugaloppierte. Letzte Nacht hatte er überhaupt nicht geschlafen, und obwohl er in letzter Zeit häufig geglaubt hatte, er würde keine einzige Meile mehr schaffen, ohne vom Pferd zu fallen, war er auch heute morgen wieder mit Pickles losgeritten – und jetzt war er hellwach, angespannt und nur noch darauf aus, einen der Blaubäuche zu schnappen.

Es gab einiges Durcheinander bei den Yanks, dann begannen sie mit ihren Karabinern zu schießen. Charles hörte links von sich eine Kugel vorbeipfeifen. Er stieß einen dieser jaulenden Rebellenschreie aus, bei denen sich die Yanks in die Hosen machten. Sein Bart, in dem sich nun vereinzelte weiße Stellen zeigten, flatterte über seine linke Schulter.

Pickles schloß hinter ihm auf; sein Gewicht brachte Schaum auf die Flanken seines Rotschimmels. Charles galoppierte brüllend weiter. Eine Kugel schlug gegen seine Hutkrempe, und dann gingen die Yanks mit Revolvern und gezogenen Säbeln zum Gegenangriff über.

»Jetzt«, brüllte Charles, als die Entfernung stimmte. Seine Schrotflinte kam hoch, er feuerte beide Läufe ab und riß dann Sport zur Seite. Pickles, der nun freies Schußfeld hatte, feuerte ebenfalls. Sie holten zusammen zwei Yanks aus dem Sattel. Die anderen beiden galoppierten auf das Wäldchen zu.

»Hoffentlich lebt einer noch«, schrie Charles im Weiterreiten. Bald schon konnte er die Fliegen sehen, die sich am offenen Mund des auf der Straße liegenden Kavalleristen sammelten. Hier waren keine Informationen mehr zu holen. Der andere Yank war nirgendwo zu sehen.

In dem hohen Unkraut zu seiner Linken hörte Charles schlagende Geräusche, dann ein Stöhnen. Er stieg ab und näherte sich vorsichtig dem Straßenrand. Schweiß tropfte von seiner Nasenspitze, als er sich vorbeugte und den Unionskavalleristen entdeckte, einen bärtigen Burschen, der unten im Graben saß, seinen Revolver noch in der Hüfttasche. Sein linker Oberschenkel war blutdurchtränkt.

Den Mann im Auge behaltend, zog Charles mit der rechten Hand seinen Colt, richtete ihn auf den Yank, während er in den Graben kletterte. Pickles, ein eifriger Schüler, beobachtete alles.

»Zu welcher Einheit gehörst du?«

»General – Kilpatrick’s – Dritte Division.«

»Wohin unterwegs?«

Der Yank zögerte. Charles drückte ihm die Revolvermündung gegen die schwitzende Stirn. »Wohin?«

»Lees linke Flanke – wo immer die auch sein mag.«

Schnell richtete sich Charles auf. Aus dem Süden rollte weiterhin Kanonendonner heran. Nach einem weiteren Blick auf den Verwundeten kletterte Charles aus dem Graben heraus. Als er sich nach seiner Schrotflinte bückte, ließ er den Yank für eine Sekunde aus den Augen. Jim Pickles rief: »He, Charlie, paß auf!«

Herumwirbelnd spürte er mehr die Abwärtsbewegung der Hand des Yankees, als daß er sie wirklich sah. Sofort schoß er. Die Kugel riß den Mann zur Seite. Während Charles in die Mündung seines Colts blies, bemerkte er, daß der Yank mit der linken Hand nach seiner Wunde gegriffen hatte, nicht mit der rechten Hand nach dem Revolver.

»In Ordnung, Jim. Bringen wir Hampton die Nachricht. Die Staubwolke gehört zu Kilpatrick, der ein Flankenmanöver versucht.«

Sie ritten die verlassene Straße entlang; Pickles zeigte ein gewaltiges Grinsen. »Guter Gott, Charlie, du bist schon einer. Kalt wie ein Eisblock. Obwohl mir der Yank irgendwie leid tut. Hat bloß nach unten gegriffen, weil er Schmerzen hatte.«

»Manchmal muß deine Hand schneller sein als dein Gehirn«, sagte Charles achselzuckend. »Hätte ich gewartet, vielleicht hätte er doch den Revolver gezogen. Lieber einen Fehler machen als im Grab liegen.«

»Du bist schon einer. Ihr Jungs bei den Scouts, ihr seid die reinsten Killermaschinen.«

»So ungefähr ist’s gedacht. Jeder Tote auf ihrer Seite bedeutet weniger Tote auf unserer Seite.«

Jim Pickles schauderte, nicht nur aus reiner Bewunderung. Im Süden ging das Donnern der Kanonen bei Gettysburg weiter.

Pechschwarze Finsternis vor ihnen, pechschwarze Finsternis hinter ihnen. Regenbäche rannen von Charles’ Hut. Sein Umhang war bereits seit Stunden durchweicht.

In vieler Hinsicht war es die schlimmste Nacht, die er je während seiner Soldatenzeit verbracht hatte. Sie befanden sich auf dem Rückzug, hielten auf das Gebiet südlich vom Potomac zu, eine Kolonne konfiszierter Farmwagen. An jedem Wagen hing eine bleiche Laterne; die Prozession erstreckte sich über Meilen.

Hamptons Männer bildeten die ehrenvolle Nachhut. Für Charles war es mehr die Vorpostenlinie der Hölle. Ironischerweise war der Tag, dessen letzte Stunden jetzt gerade verstrichen, der 4. Juli.

Gestern hatte Hampton seine dritte Verwundung durch ein Schrapnellfragment erlitten, nach einem vergeblichen Versuch, Meade zu umgehen und von hinten anzugreifen. Manche gaben Stuart ganz offen die Schuld an dem Debakel von Gettysburg. Kritiker behaupteten weiterhin, er habe die Armee ihrer Augen und Ohren beraubt, weil er sich zu weit von Lee entfernt hatte.

Bei einem Besuch bei seiner alten Einheit, der Second South Carolina, hatte Charles erfahren, daß Calbraith Butler, als Invalider nach Brandy Station heimgeschickt, sein restliches Leben mit einem Korkfuß verbringen mußte. Der Gedanke daran wollte ihm heute nacht nicht aus dem Kopf gehen; hinzu kamen noch die Rufe und Schreie der Verwundeten, die wie Sardinen in die ungefederten Wagen gepackt worden waren; jedes Schwanken und jedes Rütteln vergrößerte ihre Schmerzen. Ihre Stimmen füllten die regnerische Finsternis.

»Laßt mich sterben. Laßt mich sterben.«

»Jesus Christus, schafft mich aus dem Wagen. Habt Mitleid mit mir. Tötet mich.«

»Bitte, warum kommt denn niemand? Hier, der Name meiner Frau, schreibt ihr.«

Das kam von dem Wagen, der Charles am nächsten war. Unter ihm rutschte Sport in dem Schlamm weg; er versuchte, nicht hinzuhören. Aber es ging weiter und weiter: das Rauschen des Regens; das Quietschen der Achsen; die Männer, die wie die Kinder weinten. Es brach ihm das Herz.

Jim Pickles kam an seine Seite geritten. »Wir halten. Schätze, irgendein Hindernis weiter vorn.«

»Kommt denn niemand? Ich schaff’s nicht. Ich muß Mary sagen – «

Vor Wut kochend schwang Charles sein rechtes Bein über den Sattel; am liebsten hätte er seinen Colt gezogen und dem Schreier das Gehirn aus dem Schädel geblasen. Er sprang ab, klatschte in tiefen Schlamm. Sports Zügel drückte er Pickles in die Hand. »Halt ihn.«

Über das Hinterrad des Ambulanzwagens kletterte er unter die Leinwand, hinein in den Gestank. Er dachte an Weihnachten 1861. Damals hatte es geschneit. Jetzt regnete es. Aber die gleiche Arbeit mußte getan werden.

Seine Seele war wundgescheuert. Er hatte den ganzen Wahnsinn satt, die Idiotie, Männer der anderen Seite töten zu müssen, um ein Paar Männer auf seiner Seite zu retten. Warum hatten sie das damals auf der Akademie mit keinem einzigen verfluchten Wort erwähnt?

Hände zupften an seinen Hosen, die scheuen, sanften Berührungen verängstigter Kinder. Der Regen trommelte auf das Leinwanddach. Er hob seine Stimme, um gehört zu werden, aber sein Ton war sanft.

»Wo ist der Mann, der seiner Frau schreiben möchte? Er soll sich Melden, ich helfe ihm.«

Vom Wohnzimmerfenster aus schaute Orry die Marshall Street hinunter, zu den vom Sonnenuntergang geröteten Dächern und Reihenhäusern. Seit Tagen war die Stadt in ungewöhnliches Schweigen gehüllt, aus Gründen, die der normalen Bevölkerung noch nicht aufgegangen waren. Aber er verstand es.

»Einige der Narren im Ministerium behaupten, Lee sei erfolgreich gewesen – er habe seine Absicht verwirklicht: die Armee im Feindesland neu zu verproviantieren.« Grau gekleidet, ernst und schweigsam saß Madeline da und wartete darauf, daß er weitersprach. »Die Wahrheit ist, daß sich Lee auf dem Rückzug befindet. Seine Verluste mögen bis an die dreißig Prozent gehen.«

»Guter Gott«, flüsterte sie. »Wann wird das bekannt werden?«

»Du meinst, wann die Zeitungen davon erfahren? Ein Tag, zwei Tage, schätze ich.« Er rieb sich die Schläfen, die ihn in der Gluthitze plötzlich schmerzten. »Es heißt, Pickett habe die Unionsstellungen am Cemetery Hill im hellen Tageslicht angegriffen. Ohne jede Deckung. Wie Weizen, in den die Sense fährt, so fielen seine Männer. Armer George – warum haben wir diese verfluchte Sache nur angefangen?«

Sie ging zu ihm, schlang die Arme um ihn und preßte ihre Wange gegen seine Schulter. Sie wünschte, sie könnte ihm eine Antwort darauf geben. So hielten sie sich fest, während das rötliche Licht schwächer und schwächer wurde.

In einer armseligen Kneipe unten am Flußbecken bestellte Elkanah Bent ein Bier, das warm und abgestanden schmeckte. Angewidert stellte er es ab, gerade als ein weißhaariger Mann hereingerannt kam, dem die Tränen über die Backen liefen.

»Pemberton hat aufgegeben. Am 4. Juli. Der Enquirer hat eben eine Extraausgabe rausgebracht. Grant hat ihn ausgehungert. Die Yanks haben Vicksburg und vielleicht den ganzen verdammten Fluß. Wir können nicht mal unser eigenes gottverfluchtes Territorium halten.«

Bent stimmte in die mitfühlenden Flüche der anderen ein. In der Ferne begann eine Kirchenglocke zu läuten. War er genau in dem Moment nach Richmond gekommen, als alles auseinanderzufallen begann? Ein Grund mehr, diesen Powell so schnell wie möglich zu finden.

Mr. Jasper Dills litt unter Kopfschmerzen, die noch schlimmer waren als die von Orry Main. Die Kopfschmerzen begannen am Unabhängigkeitstag, einem Samstag, als die Nachricht von einem großartigen Sieg bei Gettysburg die Stadt erreichte. Washington hatte seit Tagen auf gute Nachrichten gewartet. Dadurch bekam die Feierlichkeit etwas mehr Saft und Kraft.

Die erfreulichen Neuigkeiten konnten die zermürbenden Auswirkungen des allgemeinen Lärms auf Anwalt Dills nicht ausgleichen, konnten ihn nicht mit dem vertrauten Muster versöhnen, das sich in den Tagen nach der Feier abzeichnete. Wie alle Generäle vor ihm schien Meade zu zaudern. Er verfolgte Lee nicht aggressiv und vertat so die Chance, den Kern der Konföderiertenarmee zu vernichten. Die Festbeleuchtung erlosch in den Fenstern der Herrschaftshäuser und der öffentlichen Gebäude. Die Freudenfeuer sprühten Funken, brannten nieder; beißender Rauch stieg auf.

Mit immer noch schmerzendem Kopf grübelte Dills über zwei weiteren unangenehme Informationen. Sein Butler hatte ihm mitgeteilt, daß Bent an der Haustür wie ein Verrückter getobt habe. Und ein scharfer Brief von Stanley Hazard setzte Dills davon in Kenntnis, daß der von ihm empfohlene Mann beinahe eine Katastrophe ausgelöst habe, indem er einen demokratischen Reporter zusammenschlug, obwohl niemand ihm ein solches Verbrechen befohlen hatte.

Stanton hatte verlangt, daß jemand zur Verantwortung gezogen wurde. ›Ezra Dayton‹ wurde entlassen, mit der Anweisung, Washington zu verlassen – und Mr. Dills möchte doch so nett sein und niemanden mehr der Sonderabteilung empfehlen, besten Dank.

Zwei Tage und zwei Nächte hatten von Dills Firma beschäftigte Boten die Stadt abgesucht. Es stimmte – Bent war verschwunden. Niemand wußte, wohin. Dills saß in seinem Büro; in seinem Kopf hämmert es, während er an das feste Gehalt dachte, das ausbleiben würde, wenn er die Spur von Starkwethers Sohn verlor. Was sollte er tun? Was konnte er tun?

»Der Tag war eine einzige Katastrophe«, beklagte sich Stanley beim Abendessen. Es war der Dienstag nach dem Unabhängigkeitstag. »Der Minister ist wütend, weil Meade nicht losschlägt, und mir gibt er die Schuld an dem Schlamassel mit Randolph.«

»Ich dachte, du hättest es geschafft, das zu vertuschen.«

»Bis zu einem gewissen Grad. Randolph wird nichts publizieren. Das heißt, seine Zeitung in Cincinnati wird nichts bringen. Aber Randolph läuft wieder frei auf den Straßen rum, und seine Verletzungen sind die beste Reklame für das, was man ihm angetan hat. Und heute nachmittag bekamen wir weitere schlechte Nachrichten. Laurette?«

Er deutete auf sein leeres Glas. Isabel betupfte ihre Oberlippe mit einem Taschentuch. »Du hattest bereits vier, Stanley.«

»Nun, dann will ich eben noch eins. Laurette!« Das Mädchen füllte das Glas mit rotem Bordeaux. Er nahm einen kräftigen Schluck, während seine Frau die Hand an die Stirn führte. Merkwürdige Veränderungen gingen mit ihrem Mann vor. Die berufliche Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, und die gewaltigen Summen, die sich auf ihren Bankkonten ansammelten, schienen irgendwie zuviel für ihn zu sein.

»Was ist sonst noch schiefgelaufen?« fragte sie.

»Einer von Bakers Männern war in Port Tobacco. Er hörte, daß Mr. Dayton, der Bursche, der Randolph zusammengeschlagen hat, anscheinend zum Feind übergelaufen ist, nachdem ihn Baker aus der Stadt gejagt hat. Gott weiß, was für wichtige Informationen er mitgenommen hat.« Er kippte den restlichen Wein hinunter und ließ sich nachschenken. »Zusätzlich ist jetzt noch die allgemeine Wehrpflicht in Kraft. Die Leute hassen das Gesetz. Wir erhielten bereits Berichte von Protesten, von Gewalttätigkeit – «

»Hier?«

»Hauptsächlich in New York.«

»Nun, mein Lieber, das ist ein gutes Stück entfernt von diesem Haus; und ausnahmsweise könntest du deinem Glück mal dankbar sein. Du könntest einberufen werden – jung genug bist du noch –, wenn du nicht im Kriegsministerium wärst oder reich genug, um einen Ersatzmann bezahlen zu können.«

Immer noch mürrisch dreinschauend, schlürfte Stanley seinen Wein. Isabel schickte Laurette aus dem Zimmer und trat hinter ihren Mann. »Trotz all deiner Sorgen haben wir noch Glück, Stanley. Wir sollten dankbar sein, daß der Kongreß die Weisheit hatte, die Ersatzklausel einzubauen. Dankbar, daß es der Krieg des reichen Mannes, aber der Kampf des armen Mannes ist, wie es so schön heißt.«

»Constance?« Sie lag neben George im Bett, an diesem schwülen Mittwoch nach Gettysburg, und deutete mit einem Murmeln an, daß sie zuhörte. »Was soll ich tun?«

Seit Monaten hatte sie diese Frage erwartet; gefürchtet.

»Du meinst wegen des Ministeriums?« fragte sie, obwohl das kaum nötig war.

»Ich kann die Dummheit und die Politisiererei nicht länger ertragen. Und all das Geld, das aus Tod und Leiden gemacht wird – Gott sei Dank habe ich nichts mit Stanleys Kontrakten zu tun. Ich würde sie ihm in die Kehle stopfen, bis er daran erstickt.«

Ihre linke Brust begann zu schmerzen. In letzter Zeit hatte sie häufig diese dumpfen Schmerzen verspürt, in ihren Beinen, im ganzen Brustbereich, hinter der Stirn. Sie vermutete einen ganz einfachen Grund dahinter – Sorge. Sie sorgte sich um ihre Kinder, um ihren Vater im fernen Kalifornien, um ihr Gewicht, das sich jeden Monat um ein oder zwei Pfund vergrößerte. Am meisten Sorgen machte sie sich um George.

Vor allem Ripleys Starrsinn war nicht mehr zu ertragen; es gab unzählige Beispiele dafür. Seine wachsende Verbitterung darüber hatte George zu der Frage heute abend veranlaßt. Sie lag regungslos in der Dunkelheit ihres Bettes.

»Was würdest du gerne tun, George?«

»Welche Antwort möchtest du hören, die Idealvorstellung oder die realistische?«

»Gibt es zwei? Dann die Idealvorstellung zuerst.«

»Ich würde gern für Lincoln arbeiten.«

»Ehrlich? Bewunderst du ihn so sehr?«

»Ja. Seit dem Abend, als wir uns beim Arsenal trafen, habe ich das Gefühl, ich kenne ihn gut. Der Mann besitzt Qualitäten, die in dieser Stadt verdammt knapp sind. Ehrlichkeit. Idealismus. Stärke. Ja, ich wünschte, ich könnte in irgendeiner Form für ihn arbeiten, aber da ist kein Platz.«

»Du hast dich erkundigt?«

»Sehr diskret. Ich habe dir nichts davon erzählt, weil ich es ohnehin für unmöglich hielt.«

»Und wie lautet die realistische Antwort?«

»Ich kann zu den Militäreisenbahnen gehen, wenn Herman Haupt mich will. Es ist eine gute Alternative. Und ich bin begierig darauf.«

Seine prompte Antwort machte ihr klar, daß er diesen Gedanken schon seit einiger Zeit hegte. Betont ruhig sagte sie: »Das ist Felddienst. Dicht bei den Schlachtlinien.«

»Manchmal, ja. Aber es ist eine Arbeit, von der ich glaube, daß ich sie tun kann und daß ich stolz darauf sein kann.«

Schweigen, nur vom ewigen Gerumpel der nächtlichen Wagen unterbrochen. Er spürte ihre Spannung und rollte sich auf die Seite, streichelte ihren Busen, so wunderbar tröstend in seiner Vertrautheit.

»Möchtest du, daß ich es nicht tue?«

»George, in – «, sie räusperte sich, »– in unserer Ehe stellt keine Seite solche Fragen, das weißt du.«

»Ich möchte trotzdem gerne wissen – «

»Tu, was du tun mußt«, sagte sie und küßte ihn. Sie zwinkerte schnell, in der Hoffnung, er möge ihre Tränen nicht spüren, die ihr die Angst in die Augen getrieben hatte.

»Also Herman – brauchst du einen neuen Mann?«

Spät am nächsten Tag stellte George diese Frage, als er und der bärtige Brigadier an Willards Bar lehnten. Haupt sah erschöpft aus. Er war quer durch Pennsylvania gehetzt, um die Bahnlinien von Gettysburg zu reparieren.

»Du kennst die Antwort darauf. Die Frage ist, wird der Minister dich gehen lassen?«

»Bei Gott, das möchte ich ihm geraten haben. Ich ertrage es nicht, innerhalb einer Meile von diesem Mann zu arbeiten.« Er schlürfte eine rohe Auster von der Platte vor ihm. »Vermutlich hast du von dem Randolph-Skandal gehört?«

»Wer nicht? Ich denke, er darf nicht darüber schreiben, aber er sammelt Zuhörer und wiederholt die Geschichte bei jeder sich bietenden Gelegenheit.«

»Damit hat er verdammt recht. Es ist eine Schande.«

»Nun, solche philosophischen Überlegungen mal beiseite, ich rate dir dringend, schnell zu handeln. Ich glaube, Stanton will meinen Kopf. Ich verabscheue ihn genauso wie du, und er weiß das. Wie willst du den Wechsel bewerkstelligen?«

»Morgen habe ich eine Verabredung mit dem Kommandierenden General.«

»Mit Halleck? Dem Meister des Papierkriegs? Ich wußte nicht, daß du mit Old Brains bekannt bist.«

»Ich bin ihm zweimal auf gesellschaftlicher Ebene begegnet. Er ist ein Mann der Akademie.«

»Die Klasse von ‘39. Vier Jahre nach mir. West Pointler halten zusammen – verläßt du dich darauf?«

»Ja«, sagte George. »Ein bißchen habe ich kapiert, wie diese Stadt funktioniert, Herman.«

Henry Halleck, der George zehn Minuten in seinem Terminkalender einräumte, war mehr Gelehrter als Soldat, jedoch ein fähiger Verwalter.

Vom Fenster aus, wo er in seiner üblichen Pose stand, die Hände hinter dem Rücken auf seiner makellosen, sauber geknöpften Uniform verschränkt, sagte er: »Als ich Ihren Namen in meinem Kalender las, habe ich mir Ihre Akte kommen lassen, Major. Sie ist außerordentlich. Sie sind fest entschlossen, das Waffenamt zu verlassen?«

»Jawohl, General. Ich möchte mich nützlicher machen. Der Dienst am Schreibtisch ist schal geworden.«

»Ich vermute, Sie meinen, Ripley ist schal geworden«, sagte Halleck mit einem seltenen Anflug von Humor. »Wie Sie wissen, ist er Ihr Vorgesetzter. Wegen eines Transfers müßten Sie sich an ihn wenden.«

Wohl wissend, was er riskierte, schüttelte George den Kopf. »Bei allem Respekt, Sir, das kann ich nicht. General Ripley würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit meine Bitte abschlagen. Wenn ich allerdings mit Ihrer Genehmigung direkt zum Generaladjutanten gehen könnte – «

»Nein, das ist nicht statthaft.«

George wußte, er hatte verloren. Aber Halleck sprach weiter: »Ich verstehe allerdings Ihre Zwangslage und fühle mit Ihnen. Ich weiß, Sie kamen nur auf Camerons Betreiben nach Washington, motiviert von einem starken patriotischen Pflichtgefühl. Ich begrüße Ihren Wunsch, sich mehr dem Kern der Dinge zuzuwenden. Wenn Sie das schaffen wollen, dann muß es ordentlich gemacht werden.«

Er reckte seinen großen, fast kahlen Schädel vor und senkte die Stimme, wie jeder gute Washingtoner, wenn er einen kleinen Plan ausheckt.

»Lassen Sie Ihre Bitte um einen Transfer dem Generaladjutanten durch die entsprechenden Kanäle zukommen – und achten Sie darauf, daß eine Kopie an General Ripley geht. In der Zwischenzeit werde ich mich für Sie einsetzen. Inoffiziell, versteht sich. Falls wir Erfolg haben, bereiten Sie sich auf einen Kampf mit Minister Stanton vor.« Er streckte die Hand aus. »Ich wünsche Ihnen Glück.«

George hatte die von Halleck angesprochenen Papiere bereits vorbereitet. Er schickte sie augenblicklich los und wurde viel früher als erwartet zum Minister zitiert.

Im Gebäude des Kriegsministeriums, in dem George sich am Montag um halb drei meldete, herrschte eine eindeutig düstere Atmosphäre. Meade hatte getrödelt; Lee war ihm glatt entwischt; die allgemeine Wehrpflicht löste mehr Gewalt in den Straßen von New York City aus. Vom Präsidenten hieß es, daß er nach einer Periode intensiver Aktivität und Hoffnung in eine weitere Depression gestürzt sein sollte.

»Sie möchten für Haupt arbeiten? Mein lieber Major«, sagte Stanton mürrisch, »wissen Sie, daß er niemals offiziell den Rang eines Brigadiers nach seiner Ernennung im letzten September akzeptiert hat? Wer kann schon sagen, wie lange er noch das Kommando über die Militäreisenbahnen hat?«

Aus der Stimme des bärtigen, buddhaähnlichen Mannes hörte George Abneigung und eine Warnung heraus. »Nichtsdestoweniger, Sir«, sagte er, »wünsche ich diesen Transfer. Ich kam auf Minister Camerons Bitte ins Waffenamt, und ich habe mich bemüht, meinen Pflichten ordnungsgemäß nachzukommen, obwohl ich mir dabei nie sehr nützlich vorgekommen bin. Ich möchte in direkterer Weise dienen.«

»Würde es Ihre Meinung ändern, wenn ich Ihnen sage, daß General Ripley vielleicht bald aus dem Dienst ausscheidet?« Ein unaufrichtiges Lächeln. »Der General ist immerhin bereits neunundsechzig.«

»Nein, Sir, das hätte keine Auswirkungen auf meine Bitte.«

»Wollen wir offen sein, Major Hazard. Seit Ihrem Eintritt hier habe ich eine gewisse Feindseligkeit in Ihrer Stimme entdeckt – nein, bitte, ersparen Sie mir irgendwelche Einwände.« George errötete; er hatte nicht erkannt, daß seine Gefühle so durchsichtig waren. »Ich glaube, Sie mögen dieses ganze Ministerium nicht. Habe ich recht?«

»Sir – « Sag besser nichts, geh hinaus, und die Sache ist erledigt. Aber sein Charakter und sein Gewissen wollten das nicht zulassen. »Bei allem Respekt, Herr Minister – jawohl, Sie haben recht. Ich stimme mit einigen Verfahrensweisen des Kriegsministeriums nicht überein.«

»Könnten Sie etwas deutlicher werden, Sir?«

»Da ist diese Sache mit Eamon Randolph – «

Laut unterbrach ihn Stanton. »Darüber weiß ich nichts.«

»Soviel ich weiß, wurde der Mann von Angehörigen Ihres Detective Bureau zusammengeschlagen, einzig und allein deswegen, weil er die Politik dieses Ministeriums kritisiert hat – was ich für das gute Recht eines jeden Bürgers gehalten hatte.«

»Nicht in Kriegszeiten.« Stantons Lächeln wurde kalt. »Darf ich hinzufügen, Major, falls Sie sich je Hoffnungen auf eine dauerhafte militärische Karriere gemacht haben, so können Sie die begraben. Sie sind über das Ziel hinausgeschossen.«

»Bedaure«, sagte George, was keineswegs den Tatsachen entsprach. »Die Sache hat mir auf dem Gewissen gelegen, und es ist allgemein bekannt, daß Lafayette Baker für Sie arbeitet.«

Immer noch dieses Lächeln, tödlich und verschlagen. »Durchsuchen Sie das gesamte Ministerium einschließlich der Papierkörbe, Sie werden nicht den Hauch eines Beweises finden, der diese Behauptung stützt. Und jetzt verlassen Sie freundlicherweise mein Büro. Ich werde mit Freude Ihr Gesuch befürworten – Sie und dieser verrückte Haupt sind aus dem gleichen Holz geschnitzt.«

»Sir – «

Stanton hämmerte auf seinen Schreibtisch. »Hinaus.«

George hörte, wie sich hinter ihm die Tür öffnete. Jemand kam hereingestürzt. »Ihr Bruder möchte gehen«, sagte der Minister. George wandte sich um und sah Stanley vor sich, bleich vor Sorge und Angst. »Sorgen Sie bitte dafür, daß er es mit dem nötigen Tempo tut.«

Stanley packte Georges Ärmel. »Komm.«

»Stanley«, Georges Stimme senkte sich um eine halbe Oktave, »vor langer Zeit hab’ ich dich schon mal niedergeschlagen. Nimm deine Hand weg, oder ich tu’s wieder.«

Zwinkernd gehorchte Stanley, das Gesicht schweißüberströmt. Was bin ich doch für ein Idiot, dachte George, ein halsstarriger, großmäuliger Idiot. Und doch hatte ihm sein kleines Sprüchlein ein Gefühl des Stolzes und der Erleichterung vermittelt – und er war noch nicht fertig.

»Wenn diese Regierung den Krieg nur dann gewinnen kann, wenn sie jeden, der die leiseste Kritik äußert, zusammenschlagen läßt oder einsperrt, dann möge Gott uns gnädig sein. Dann haben wir es verdient, zu verlieren.«

Sanft, ganz sanft strich sich Stanton durch den Bart. Aber er war fahl vor Wut. »Major Hazard«, sagte er, »ich würde vorschlagen, Sie verschwinden, falls Sie nicht wegen Aufruhrs vors Kriegsgericht gestellt werden möchten.«

Als sich die Bürotür geschlossen hatte, flüsterte Stanley: »Ist dir eigentlich klar, wen du beleidigt hast?«

»Jemanden, der es verdient hat.«

»Weißt du, wie sehr das deiner Karriere schaden kann?«

»Meine sogenannte Karriere ist eine Farce. Von mir aus können sie mich morgen aus der Armee schmeißen. Ich würde mit Freuden zurück nach Lehigh Station gehen und Kanonen bauen.«

»Du könntest wenigstens an mich denken, George.«

»Das tue ich«, erwiderte er, immer noch wütend. »Ich hoffe, Stanton grillt dich bei lebendigem Leib, weil du so einen aufrührerischen Verwandten besitzt. Dann kannst du nach Massachusetts gehen und Militärstiefel verkaufen – an beide Seiten, wie ich gehört habe.«

»Du verdammter, lügnerischer – «, fing Stanley an und versuchte gleichzeitig, George mit einem wilden Schwinger zu treffen. Aber Stanley war schwächlich und seine Bewegung matt. George brauchte nur die linke Hand zu heben, um die Faust seines Bruders beiseite zu wischen. Er stülpte sich den Hut auf den Kopf und marschierte aus dem Gebäude.

Er eilte in Haupts Büro, fand niemanden vor und hinterließ eine Nachricht:

Habe mit Minister S. gesprochen und meine Armeekarriere ruiniert. Plane, mich zur Feier des Tages zu besaufen. Transfer scheint gewiß.

86

Der Arbeitszug mit zwei Plattformwagen ratterte nach Süden auf Manassas zu. Der schwere Duft des Regens hing über dem grauen Tag.

Pinienzweige reckten sich neben den Schienen und strichen über Billys Gesicht. Mit baumelnden Beinen, den Karabiner neben sich, saß er auf der Seite eines der Wagen. Unter seinem Hemd steckte ein kleines Schreibheft für seine Tagebucheintragungen. Seine staubigen Hosen verbargen teilweise die am Rand des Wagens weiß aufgemalte Inschrift U.S.M.R. NO. 19.

Im schüttelnden Rhythmus des langsam fahrenden Zuges dachte er an eine ganze Anzahl von Dingen: Brett, nach deren Gesellschaft er sich sehnte, und wenn es nur für eine einzige Nacht gewesen wäre; Lije, dessen Tod eine so sinnlose Verschwendung schien; die beunruhigenden telegraphischen Nachrichten von New York, die sie gerade noch vor ihrer Abfahrt gehört hatten. Die Stadt war bereit für Demonstrationen, vielleicht sogar für Aufruhr, als die ersten Namen zur Einberufung gezogen wurden.

Die Pioniere hatten am Gettysburg-Feldzug teilgenommen, dabei allerdings nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Jetzt befanden sie sich wieder in Virginia, und Billy und sechs Mannschaftsdienstgrade waren zur Orange & Alexandria abkommandiert worden, um eine neue Linie nahe der Bull-Run-Bockbrücke zu überwachen. Guerillas hatten die Bockbrücke in letzter Zeit zum sechsten oder siebten Mal zerstört.

Rauch strich über die entspannt auf der offenen Plattform liegenden Soldaten. Ruß und Asche prasselte gegen sie, aber das war auch schon das Schlimmste, bevor die Schüsse explodierten. Der erste Schuß ließ die Glocke der Lokomotive aufklingen. Eine Salve folgte.

»Wo zum Teufel stecken sie?« rief ein blonder Corporal, warf sich auf den Bauch und schnappte sich seinen Karabiner. Billy tat es ihm nach. Er hörte den Feind, bevor er ihn sah. Sie kamen hinter dem Eisenbahnerwagen vorgesprengt, acht zerlumpte Männer mit langen Bärten auf sehnigen Pferden.

»Bleib unten«, brüllte Billy, als der blonde Soldat närrischerweise aufsprang und, die Beine gespreizt, sein Ziel suchte, während der Plattformwagen schwankte. Ein dürrer Mann in einem verstaubten, schwarzen Anzug, der die Reiter auf Billys Seite anführte, bückte sich unter einem Ast hindurch, feuerte dann seinen Revolver ab und blies Johnson über den Rand des Wagens.

Billy fiel auf ein Knie, versuchte sich im Gleichgewicht zu halten. Der Heizer war auf den Tender geklettert. Billy spürte den Zug rucken, als der Pionier den Dampf aufdrehte. Einer der Pioniere schoß einen Guerilla auf der anderen Seite aus dem Sattel, was dem Grinsen und Schreien der Partisanen ein Ende bereitete.

Der Zug wurde schneller. Der Himmel verdunkelte sich; Regen begann auf die Plattformen zu klatschen. Die Guerillas schoben sich seitlich neben den Wagen, auf dem die Pioniere fuhren. Billy wirbelte herum, um einen Schuß in Richtung der entfernten Seite abzugeben, als jemand seinen Arm umklammerte, an ihm zerrte.

Benommen vor Furcht taumelte er über den Wagenrand, gezogen von dem Mann im dunklen Anzug, der dicht genug an ihn heran geritten war, um ihn zu erreichen. Billy schlug keuchend auf dem Boden auf; die Luft blieb ihm weg.

Billys Karabiner lag neben der nächsten Eisenbahnschiene. Zwei der Partisanen kamen herangetrabt. Der sich entfernende Zug wurde langsamer, die Pioniere sorgten sich um die heruntergefallenen Männer. Die Partisanen feuerten mehrere Salven auf den Zug, der wieder Tempo aufnahm.

Auf Händen und Knien griff Billy nach dem Karabiner.

»Lang hin, und ich bring dich um«, sagte eine fröhliche Stimme. Er hob den Kopf, sah den gebrechlichen Mann im schwarzen Anzug vor sich. In der Hand hielt er eine gewaltige Pistole.

»Wir haben zwei, den Captain hier mitgezählt«, rief Schwarzkittel. »Lebt der andere noch?«

»Nein, der ist erledigt«, rief jemand von hinten. Billy schnitt eine Grimasse; Johnson hatte auf die Nachricht von der Geburt seines zweiten Kindes in Albany gewartet.

»Sicher?« erkundigte sich Schwarzkittel bei dem Mann, der mit Johnsons Leiche angeritten kam.

»Toter als das Hirn von ‘nem Niggerkind.«

»Irgendwelche Wertsachen?«

»Wir können ihm das Gold aus den Zähnen holen, aber das wär’s auch schon.«

»Teufel auch«, sagte Schwarzkittel. »Das hier scheint der einzige Preis zu sein, den wir erwischt haben. Steh auf, Yank! Gib mir deinen Namen und deine Einheit, damit wir die Beerdigungspapiere richtig ausfüllen können.«

Billy konnte nicht glauben, daß es der Mann ernst meinte. Er konnte nicht glauben, daß all das geschehen war – der überraschende Angriff, die zufällige Gefangennahme. Aber die Kugel, die einen verfehlte – oder tötete –, tat das ebenfalls zufällig.

»Captain William Hazard. Pionier-Bataillon, Potomac-Armee. Wer seid ihr?«

Gelächter, amüsiertes Geflüster, dann eine dröhnende Stimme: »Er ist mittendrin im Fairfax County und fragt, wer wir sind.«

Der Mann mit der tiefen Stimme, häßlich und fett, ritt heran, damit Billy ihn sehen konnte. »Major John S. Mosbys Partisan Rangers, vom Kongreß der Konföderation ordnungsgemäß zu unabhängigen Aktionen autorisiert. Das sind wir, du Stück Yankeescheiße.« Mit dem Kolben seiner Schrotflinte schlug er nach Billys Kopf.

Wütend griff Billy nach dem Kolben. Schwarzkittel langte nach unten und riß an seinem Haar. Billy japste und ließ los. Er roch die ungewaschenen Männer, bemerkte ihre dreckige Kleidung, abgelegte Uniformstücke – und wußte, daß sie nicht logen. John Mosby hatte eine Weile für Stuart als Scout gearbeitet, sich aber vor kurzem als Guerilla-Kommandant etabliert. Er kam und ging bei Nacht, riß Schienen auf, verbrannte Versorgungsdepots, schoß aus dem Hinterhalt Wachen ab – um so mehr gefürchtet, als er und seine kleine Bande kaum zu sehen waren. Graue Gespenster.

Und er hielt sich nicht an die Kriegsgesetze, erinnerte sich Billy mit einem Klumpen in der Magengegend. Schwarzkittel riß erneut an seinem Haar und brachte seine Pistole in Anschlag.

»Hände auf den Kopf, Junge.«

»Was?«

»Ich sagte, leg beide Hände auf deinen Kopf. Ich möchte das schnell erledigen.«

»Was schnell erledigen?«

Höhnisches Gelächter. Einer der lautesten Lacher sagte: »Er ist wirklich dämlich, was?«

»Nun, Ihre militärische Exekution, Captain Hazard. Sir«, sagte Schwarzkittel, jedes Wort sarkastisch betonend. »Wenn Sie nichts dagegen haben, dann gestatten Sie vielleicht, daß ich mit der Sache fortfahre, damit ich mich dringenderen Pflichten zuwenden kann.«

Ungläubig starrte Billy die dunkle Gestalt auf dem Pferderücken an. Der Wind pfiff durch die Pinien. Warum kam der Zug nicht zurück? Sie mußten ihn für tot halten, wie Johnson.

»Hände auf den Kopf!« sagte Schwarzkittel. »Und dreh dich um, damit ich deinen Rücken sehen kann.«

»Unter – «, Billy gab sich Mühe, damit seine Stimme nicht brach, »– unter Kriegsgesetz habe ich das Recht, als Gefangener behandelt zu werden und – «

Aufrichtig wütend sagte Schwarzkittel: »Zum letztenmal, Yank – tu deine Hände auf den Kopf.«

Billy legte seine linke Handfläche auf seine nassen Haare, die rechte obendrauf. Er schämte sich, die Augen zu schließen, aber vielleicht war es auf diese Weise leichter.

Schwarzkittel salutierte mit der Pistole. »Also dann, Captain Pionier. Sir!«

In Billys Innerem verkrampfte sich alles, während er auf die Kugel wartete.

Reiter. Dieses Geräusch drang langsam in sein Gehirn. Reiter trabten zwischen den Pinien neben der Eisenbahnlinie hindurch. Billy schlug die Augen auf, die Hände auf dem Kopf.

Sechs Männer, zwei davon in Uniform, zügelten ihre Pferde neben den anderen. Schwarzkittel und der Rest wandten sich sofort mit einer gewissen Ehrerbietung einem schmächtigen, schlanken Offizier mit sandfarbenem Haar zu, das unter einem Hut mit Straußenfeder zu sehen war. Der Offizier mochte ungefähr dreißig sein; sein glatt rasiertes Gesicht wirkte streng, aber nicht unfreundlich. Er schien mehr an Schwarzkittel als an Billy interessiert zu sein.

»Was geht hier vor?«

»Wir haben diesen Yank von einem Arbeitszug gezogen, Sir. Wir waren gerade dabei – « Schwarzkittel schluckte, warf seinen Kameraden nervöse Blicke zu.

»Den Gefangenen zu erschießen?« sagte der Offizier.

Schwarzkittel wurde rot, sagte leise: »Jawohl, Sir.«

»Das verstößt gegen die Gesetze eines zivilisierten Krieges, das weißt du genau. Ganz egal, was für Greuel die Yankeezeitungen uns andichten, mit Mord haben wir nichts zu tun. Du wirst dafür Strafe zahlen.«

Verängstigt steckte Schwarzkittel seine Pistole weg. Billys Herzschlag verlangsamte sich. »Die Hände runter«, sagte der Offizier zu ihm. Billy gehorchte. »Nennen Sie mir Namen und Einheit, bitte.«

»Captain William Hazard, Pionier-Bataillon, Potomac-Armee.«

»Nun, Captain, Sie sind Gefangener der Partisan Rangers.«

Billy hielt den Atem an. »Sind Sie –?«

Der Stulpenhandschuh berührte die Hutkrempe. »Major John Mosby. Zu Ihren Diensten.« Er unterdrückte ein Lächeln. »Man hat Sie vom Zug gezogen, was? Na, wenigstens sind Sie noch an einem Stück. Ich werde veranlassen, daß Sie ins Richmond-Gefängnis für Unionsoffiziere gebracht werden.«

Mosbys unerwartete Ankunft hatte Billy beschwingt und verwirrt. Er hätte ihn sofort erkennen müssen; gleich nach dem von Stuart war sein Federbusch der berühmteste in der ganzen Konföderation. Mosby wandte sich an den anderen Mann in Uniform, einen Sergeanten. »Sorg dafür, daß er zu essen bekommt und nicht mißhandelt wird. Wir müssen weiter.«

Sie ritten los; einer von ihnen blieb zurück, um sich um den Gefangenen zu kümmern. Schnell flüsterte Schwarzkittel Billy zu: »Du kommst ins Libby-Gefängnis. Wenn du siehst, wie ihr Yankeejungs dort behandelt werdet, dann wirst du dir noch wünschen, ich hätte abgedrückt. Wart nur ab.«

87

Der August brachte Richmond eine alles niederdrückende Hitze mit hoher Luftfeuchtigkeit; staubige Blätter und die regungslose Luft warteten auf den großen befreienden Sturm, der nordwestlich vom Potomac hing, sich aber nicht von der Stelle zu rühren schien. Eine durchdringende Verzweiflung folgte den beiden Erkenntnissen: Der Mississippi war verloren; und Gettysburg war nicht der Triumph gewesen, als den das Oberkommando ihn ausgegeben hatte. Ein deutliches Zeichen dafür war der illegale Wechselkurs. Ein Yankeedollar, von denen sich Tausende in Umlauf befanden, hatte vor dem Debakel in Pennsylvania zwei Konföderiertendollar gekostet. Jetzt kostete er vier.

Vicksburg spuckte Tausende von neuen Gefangenen in die bereits überfüllten Camps und in die in Gefängnisse umgewandelten Lagerhäuser. Gettysburg brachte den überbelegten Hospitälern Tausende von frischen Verwundeten. Huntoon nahm das alles am Rande zur Kenntnis, während er seine Arbeit erledigte, die ihn nicht länger interessierte. Memminger hatte ihm die verhaßte Aufgabe aufgebürdet, Listen jener fast zahllosen Geschäftsunternehmen zu erstellen, die mit Druck und Verteilung illegaler Cent-Noten zu tun hatten.

Die Konföderation besaß kein Silber für kleine Münzen, und so hatte das Schatzamt Staaten und Städte bevollmächtigt, Papiergeld von fünf bis fünfzig Cents als Wechselgeld herauszugeben. An diesem Morgen schrieb Huntoon von Informanten des Schatzamtes in Florida und Mississippi zur Verfügung gestellte Namen ab – verhaßte Arbeit, auf die sein Schweiß wie Tränen tropfte.

Es interessierte ihn nicht mehr, was diese Regierung tat. Aber eine neue Konföderation – das konnte einen in Versuchung führen, das elektrisierte ihn. Nachts lag er wach und dachte darüber nach. An seinem Schreibtisch hing er Tagträumen nach, bis ihn irgendein Vorgesetzter ermahnte. Eines heißen Mittags schließlich schreckte er seine schläfrigen Kollegen auf, als er plötzlich seinen Hut packte und mit verzücktem Gesichtsausdruck aus dem Büro stürmte.

In den Saloons hatte er bereits Nachforschungen angestellt. Die meisten Barkeeper kannten Powell recht gut, und bald schon wußte Huntoon die Adresse des Georgiers. Ashton hatte er nicht fragen wollen, aus Furcht, sie wüßte Bescheid.

Huntoon wollte Powell einige zusätzliche Fragen stellen. Er benötigte mehr Details, wollte sich aber gleichzeitig auch nicht unbeliebt machen. So hatte er das eine Weile hinausgezögert. Sein angeregter Zustand trieb ihn schließlich an diesem kochendheißen Mittag aus dem Büro und in eine Mietkutsche.

»Church Hill«, rief er. »Ecke Twenty-fourth und Franklin.«

Mit Staub bedeckte Blätter hingen regungslos über dem Gehsteig. Aufgeregt stolperte Huntoon die Stufen hoch und klopfte. Eine Minute später klopfte er erneut. Endlich ging die Tür auf.

»Powell, ich habe beschlossen – «

»Was zum Teufel tun Sie hier?« fragte Powell und zog den Gürtel seines Samtmorgenmantels zu.

Die St. John’s-Kirche begann die halbe Stunde einzuläuten. Huntoon hatte das unbehagliche Gefühl, daß es die Totenglocke für seine Chance war. »Ich wollte nicht stören.«

»Aber das tun Sie. Ich bin ungemein beschäftigt.«

Huntoon blinzelte, von Furcht überwältigt. »Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an. Ich bin nur gekommen, weil Sie eine schnelle Entscheidung von mir wollten. Heute morgen habe ich sie getroffen.« Ein hastiger Blick die Straße hinunter. Dann glaubte er die Bewegung einer unsichtbaren Person hinter der Tür zu hören.

»In Ordnung. Reden Sie.«

»Ich – ich möchte mitmachen, wenn Sie mich haben wollen.«

Ein Teil des Zorns schwand aus Powells Gesicht. »Natürlich. Das sind gute Neuigkeiten.«

»Könnten wir über die Einzelheiten sprechen, wann und wie?«

»Nicht jetzt. Ich nehme Verbindung auf.« Als er Huntoons Reaktion auf seine schroffe Antwort sah, lächelte Powell. »Sehr bald schon. Ich würde es gerne heute machen, aber unglücklicherweise muß ich mich um viele andere Dinge kümmern. Ich bin froh, Sie bei uns zu haben. Wir brauchen einen Mann mit Mut und Visionen im neuen Schatzamt. Sie werden bald von mir hören, das verspreche ich.«

Er schloß die Tür. Huntoon blieb draußen in der Hitze stehen. Natürlich war er ohne Voranmeldung gekommen, und Südstaatler mochten solche Unhöflichkeiten nicht. Er hatte kein Recht, verstimmt zu sein, obwohl er sich fragte, welche Privatangelegenheit es nötig machte, daß Powell mitten am Tag einen Morgenmantel trug. Huntoon hegte einen Verdacht, der zu schmerzhaft war, als daß er ihn lange hätte aufrechterhalten können.

Während er sich auf die Suche nach einer Kutsche machte, vollführte er eine emotionale Kehrtwendung. Powell wurde zu der Person, der eine Kränkung widerfahren war; er selbst wurde zum Angreifer. Sein Geist vollführte den Umschwung, weil er das Gefühl brauchte, ein echter Bestandteil von Powells Plan zu sein.

Am meisten aber wünschte er sich, seiner Frau von seiner tapferen Entscheidung zu berichten.

»Knappe Sache«, sagte Powell im Foyer und schlüpfte aus der heißen Samtrobe. Huntoon watschelte auf dem Gehsteig davon, und Ashton, splitternackt, gab sich dem Gelächter hin, das sie mühsam unterdrückt hatte, während sie hinter der Tür versteckt gewesen war.

»Ums Haar hättest du uns verraten.«

»Aber – ich mußte lauschen, Lamar.« Sie lachte so sehr, daß ihr die Tränen kamen. »Es war – so köstlich – mein Ehemann auf der einen Seite der Tür – mein Liebhaber auf der anderen.« Sie hielt sich die Seiten; ihre Brüste bebten.

»Ich habe nicht gehört, wie du runtergeschlichen bist. Bei deinem Anblick hätte mich beinahe der Schlag getroffen.« Mit der linken Hand umklammerte er ihr Kinn und hob es grob an. »Tu sowas nie wieder.«

Ihr Lächeln verblaßte. »Nein, nein – es tut mir leid – ich werd’s nie wieder tun. Aber ich bin so froh, daß er ja gesagt hat. Seit Tagen kämpft er mit der Entscheidung. Er hat kein Wort davon zu mir gesagt, aber es war offensichtlich.« Sie griff nach seinem Arm. »Du bist erfreut, nicht wahr? Jetzt haben wir ihn da, wo wir ihn im Auge behalten können.«

»Vor allem wollen wir nicht, daß er seinen Entschluß noch mal umstößt. Also mußt du irgendwelche Zweifel, die er noch haben mag, zerstreuen. Mach ihn stolz auf seine Entscheidung, indem du ihn belohnst.« Er drückte ihr Kinn zusammen; ein Zucken ihrer Mundwinkel zeigte den Schmerz. »Du verstehst, Liebes?«

»Ja. Ja. Ich tue, was du sagst.«

»Wie immer.« Er ließ los. Der Abdruck seiner Finger verblaßte. Lächelnd drückte er einen kurzen, väterlichen Kuß auf ihre Wange. »Deshalb liebe ich dich.«

Nachdem an diesem Abend die Dienerschaft entlassen und die Türen zum Speisezimmer geschlossen worden waren, räusperte sich Huntoon auf eine Art und Weise, die eine Ankündigung verhieß.

Lächelnd sagte sie: »James, was ist los? Du bist so aufgeregt.«

»Mit gutem Grund. Kürzlich führte ich einige persönliche Gespräche mit Mr. Lamar Powell.« Er schob die Terrine mit der dampfenden Fischsuppe beiseite, sprang auf. »Oh, ich kann nicht sitzen!« Er eilte zu ihr. »Er unterbreitete mir einen höchst erstaunlichen Plan, Ashton – ein Angebot, das ich akzeptiert habe, weil ich es für meine patriotische Pflicht halte, weil ich es für moralisch richtig halte und weil ich glaube, daß es uns große Vorteile bringen wird.«

»Meine Güte«, murmelte sie mit der richtigen Mischung aus Überraschung und Zurückhaltung. »Will er Geld für ein weiteres Schiff?«

»Guter Gott, nein, nichts so Weltliches, Profanes. Ich werde es dir sagen, aber mach dich auf einiges gefaßt. Zögere nicht, nun ja, tollkühn zu denken. Unkonventionell. Liebling – Mr. Powell und einige Verbündete, die ich noch nicht kennengelernt habe, beabsichtigen«, er packte ihren Arm, beugte sich zu ihr nieder, »einen neuen Konföderiertenstaat zu gründen.«

»Was?«

»Bitte nicht so laut. Du hast mich richtig verstanden. Eine neue Konföderation. Laß dir erzählen.«

Es dauerte eine halbe Stunde, bis er alles herausgesprudelt hatte. Die Fischsuppe war längst zusammengeklumpt, als er fragte: »Jetzt sag mir – hab’ ich falsch gehandelt? Ich habe keines der Fakten zurückgehalten, einschließlich meines starken Wunsches, mich Powells Gruppe anzuschließen. Ich möchte sein neuer Finanzminister werden, und ich glaube, es ist möglich. Der Südwesten ist weit von unserem Heimatstaat entfernt, aber denk nur an den Lohn, der uns erwartet, wenn wir eine neue Regierung etablieren. Die Aufmerksamkeit, der Respekt der ganzen Welt wird auf uns gerichtet sein.«

»Daran denke ich gerade. Es ist einfach nur ein bißchen – nun – überwältigend.«

»Aber du bist nicht wütend auf mich?«

»James – James!« Sie begann sein wabbeliges Gesicht mit kleinen Küssen zu überschütten. »Selbstverständlich nicht. Deine Vision erregt mich, ich bin stolz auf deinen Mut, stolz darauf, daß du soviel Intelligenz und Initiative zeigst. Ich wußte schon immer, daß du über diese Eigenschaften verfügst. Ich bin so glücklich, daß diese elende Arbeit in Richmond dich nicht deines Ehrgeizes beraubt hat.«

»Der Hauptgrund meines Ehrgeizes bist du, Ashton. Ich möchte, daß du in der neuen Konföderation eine der bedeutendsten Frauen wirst.«

»Oh, Liebling!« Sie legte ihre Hände um sein feuchtes Gesicht, drückte es, küßte ihn, schob ihre Zunge tief in seinen Mund. Er stieß ein Stöhnen aus, als sie ihre rechte Hand auf seinen Schenkel gleiten ließ. »Ich bin so stolz auf dich.«

Jemand klopfte leise; in der Küche schien man sich über den endlosen Suppengang zu wundern. Ashton glättete ihr Kleid, blickte in Huntoons Kuhaugen – sie wußte, was heute nacht unvermeidlich kommen würde – und trällerte: »Komm herein, Della.«

Huntoon kehrte an seinen Platz zurück. Aber kaum war das Essen beendet, da war er schon wieder an ihrer Seite, fummelte an ihrem Kleid herum und flehte sie an, ins Schlafzimmer zu kommen. Sie gab vor, ebenso atemlos zu sein wie er, streckte schwach die Hand aus, um sich von ihm führen zu lassen.

Nackt gurrte sie über seinem Körper und verhalf ihm zu einer gewaltigen Erektion. Das zumindest war etwas Neues; sie konnte es kaum erwarten, Lamar davon zu erzählen.

Nördlich von Richmond, unter den Bäumen eines Wäldchens, unterhielten sich zwei Männer, von denen keiner den anderen sehen konnte, obwohl dunstiger Mondschein die umliegende Landschaft erhellte.

Über die leisen Geräusche der sich unruhig bewegenden Pferde sagte der eine: »Ich muß dir mitteilen, zum besten von uns allen, daß du zu oft und zu offen gesprochen hast. Es heißt, selbst dieser verdammte Lafayette Baker habe von uns gehört.«

»Von mir aus. Männer meines Staates machen kein Geheimnis aus ihren Überzeugungen. Gouverneur Brown tut das nicht, und ich tue es auch nicht.«

»Aber du hast Aufmerksamkeit auf dich gelenkt und damit möglicherweise auch auf uns andere.«

»Oh, ich bezweifle, daß man einem weiteren Verschwörungsmärchen viel Glauben schenken wird – es gibt so viele davon. Außerdem habe ich keine andere Möglichkeiten Männer mit dem nötigen Nerv zu rekrutieren. Ich kann nur den Köder auswerfen und warten. Bei dir hat’s funktioniert.«

Widerwillig: »Stimmt.«

»Befinden wir uns in unmittelbarer Gefahr?«

»Ich glaube nicht. Davis hat von dem Gerede gehört und einen Brief geschickt, in dem er den General zu Nachforschungen auffordert. Ich habe mich dafür freiwillig gemeldet, patriotischer Eifer, der Haß auf Verräter, die üblichen Phrasen.«

»Sehr clever. Kannst du die Nachforschungen abblocken?«

»In die Länge ziehen«, korrigierte der andere. »Wir haben nicht mehr soviel Zeit wie zuvor.«

»Dann werden wir schneller vorgehen. In wenigen Monaten wird Jeff Davis tot sein.«

»Wenn nicht, dann werden wir tot sein.«

»Wir werden den Sonnenschein und die freie Luft des Südwestens genießen. Inzwischen – bin ich für die Warnung sehr dankbar.«

»Ich weiß, es ist ein weiter Ritt bis hier heraus, aber es ist der sicherste Ort, der mir eingefallen ist, und ich dachte, es könnte dich interessieren.«

»Vollkommen richtig. Besten Dank. Ich bleibe in Verbindung.«

Sie schüttelten sich die Hände, wünschten einander gute Nacht und wandten ihre Pferde in entgegengesetzte Richtungen. Fahles Mondlicht strich über das Gesicht von Lamar Powell, als er auf der einen Seite aus dem Wäldchen getrabt kam, und über die freundlichen Gesichtszüge des Agenten des Kommandeurs der Militärpolizei, Israel Quincy, der auf der anderen Seite aus dem Wäldchen trabte.

88

LIBBY & SONSchiffs- & Kolonialwarenhändler

Von einem Gewehrlauf aus dem Planwagen getrieben, sah Billy das Schild, das noch aus der Zeit stammte, als das quadratische Gebäude ein Warenhaus und kein Gefängnis gewesen war. Ungefähr drei Dutzend Offiziere kletterten aus Billys Wagen und den zwei Wagen dahinter. Wie die anderen war Billy erschöpft, hungrig und vor allem nervös.

Kurz vor dem Libby-Gefängnis waren die Wagen an Handelshäusern und unbebauten Grundstücken vorbeigekommen. Zuerst fielen Billy die uniformierten Wachen auf, die in Abständen um das Backsteingebäude postiert waren.

Im Morgenlicht wirkte das Gefängnis streng. Die Wagen hatten an der unteren Seite gehalten, wo das Gebäude vier Stockwerke hoch war. Auf der gegenüberliegenden Seite waren es nur drei. Die Warnung, die über einer der Türen eingeschnitzt sein sollte, war in der ganzen Unionsarmee bekannt: Die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren.

»Antreten, in Einerreihen antreten«, sagte ein gelangweilter Sergeant. Die meisten der Gefangenen nahmen ihre Lage recht gelassen hin. Einige hatten während der Fahrt nach Richmond in einem dreckigen Güterwaggon die unvermeidlichen Witze machen müssen. Aber als der Zug in der feindlichen Hauptstadt einfuhr, war Schluß mit den Witzen. Von all den Offizieren schien nur ein stattlicher Artillerie-Captain, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als Billy, tief getroffen von diesem Erlebnis; seine Augen waren feucht, als er seinen Platz in der Reihe einnahm.

»Schaut euch das an«, sagte ein Offizier und deutete auf eine Barkasse, die von einem nicht weit vom Gefängnis entfernten Pier ablegte. Die ganze offene Decksfläche war von ausgemergelten Männern in schmutzigen blauen Uniformen belegt. Vom Dach des Ruderhauses hing ein weißes Tuch. Die Barkasse fuhr flußabwärts.

Ein Wachmann bemerkte, daß die Gefangenen zuschauten, und sagte: »Das Schiff mit der Parlamentärflagge. Bringt eine Ladung von euren Jungs aus diesem Gebäude hier zum Tausch. Viele Boote legen heutzutage nicht mehr ab. Wird lange dauern, bis einer von euch für den Trip dran ist. Und jetzt los.«

Sie gingen durch das Tor und schoben sich die ächzenden Stufen hoch. Die Gerüche brachten die Männer zum Husten: Fisch, Tabak, etwas Beißendes.

»Was zum Teufel ist das für ein Gestank?«

Von einer sarkastischen Wache bekam der Gefangene Antwort. »Brennender Teer. Ihr Yanks riecht so scheußlich, daß wir den Ort regelmäßig ausräuchern müssen.«

Sie gelangten in einen großen, unmöblierten Raum mit hohen Fensterschlitzen, die nur wenig Tageslicht zuließen. Ein Mannschaftsdienstgrad befragte jeden Gefangenen, trug Name, Rang und Einheit in ein Schreibheft. Dann übergab er sie einem Corporal, der mit hinter dem Rücken verschränkten Händen unter einem Fenster stand. Bei seinem Anblick verkrampften sich Billys Eingeweide. »Aufstellen – acht Mann in einer Reihe – hier anfangen.« Der Corporal war ein gesunder, rosagesichtiger Junge mit blonden Locken und Augen, so strahlend und klar wie der Oktoberhimmel. Als die Gefangenen Reihen gebildet hatten – Billy befand sich in der zweiten – trat der Corporal vor sie.

»Ich bin Corporal Clyde Vesey und habe den Auftrag, euch Gentlemen hier im Libby-Gefängnis zu begrüßen, von dessen Gastfreundschaft ihr zweifellos schon gehört habt. Ihr werdet euch nun bis auf die Haut ausziehen, damit Private Murch und ich eine Suche nach Geld und anderen illegalen Materialien, die ihr vielleicht bei euch habt, durchführen können.«

Hemden wurden ausgezogen, Hosen fielen; dreckige Hände mühten sich mit den Knöpfen der Unterwäsche. Es gab keine Beschwerden; die Zugwachen hatten sie vor der Durchsuchung gewarnt und gemeint, oft hänge es von der Laune der durchsuchenden Soldaten ab, was man behalten könne. Veseys blaue Augen und seine Ansprache stimmten Billy nicht optimistisch.

»Mach den Mund auf«, fuhr Vesey einen Major in der vordersten Reihe an. Der Major weigerte sich. Vesey schlug ihm zweimal hart mit dem Handrücken ins Gesicht. Zwei Plätze weiter nach links stieß der dicke Artillerie-Captain einen hörbaren Aufschrei des Abscheus aus.

»Aufmachen«, wiederholte Vesey. Der wütende Major gehorchte. Vesey griff hinein und holte eine kleine, spuckebedeckte Papierröhre heraus. Vesey rollte die Zehn-Dollar-Note auf, wischte sie an seiner Bluse ab, steckte sie ein und ging weiter.

Er erreichte den Artilleristen, lächelte, spürte dessen Schwäche. Nach einer Routinedurchsuchung von Mund und Achselhöhlen trat er zurück. »Umdrehen und Arschbacken spreizen.«

»W-was? Hören Sie, das ist weder anständig noch – «

Vesey lächelte ein süßliches Lächeln. »Du hast nicht zu beurteilen, was im Libby-Gefängnis anständig oder unanständig ist. Solche Beurteilungen liegen in den Händen des Gefängnisdirektors, Lieutenant Turner, und derjenigen Leute, die das Privileg haben, ihm zu dienen.« Seine Hand schnellte hoch, packte das Ohr des Captains und verdrehte es. Der Artillerist kreischte wie ein Mädchen. Vesey lächelte. »Dreh dich um, pack deine Arschbacken, und spreize sie.«

Die Gefangenen wechselten wütende Blicke. Mit rotem Gesicht drehte sich der Artillerist um und griff nach seinem Hinterteil. In dieser Position ließ ihn Vesey stehen, fünfzehn Sekunden – zwanzig – dreißig. Der Captain begann vor Anstrengung zu zittern. Vesey schlug ihm seitlich ins Gesicht. Der Captain quietschte und fiel nach vorn. Männer in der nächsten Reihe stießen ihn zurück. Der Captain begann zu heulen. Billy machte einen halben Schritt nach vorn.

Vesey sagte zu ihm: »Oh, ich würde mich nicht einmischen. Das zahlt sich nicht aus.«

Billy zögerte, trat wieder zurück. Die Suche ging weiter. Billys Mund wurde trocken, als der Corporal die zweite Reihe abschritt. Vesey bückte sich und durchwühlte den Kleiderstapel neben Billys nackten Füßen.

»Was ist das?« fragte Vesey erfreut. Aus Billys Jacke zog er das Schreibheft.

»Das ist mein Tagebuch«, sagte Billy. »Es ist rein persönlich.«

Vesey erhob sich und wedelte mit dem Heft dicht vor Billys Nase herum. »In Libby ist nichts persönlich, außer wir machen es dazu. Dies ist ein Buch. Regelmäßiger Kirchgang hat mich gelehrt, Büchern zu mißtrauen, vor allem Romanen, und all jenen, die sie lesen. Es ist nicht nur meine Christenpflicht, euch als Gefangene zu halten, sondern euch auch von euren Irrwegen abzubringen. ›Ich will euch vor den Heiden retten‹, sagte der Prophet Ezechiel. Das ist genau das, was ihr Yankees seid. Heiden.«

Er ist verrückt, dachte Billy. »Murch?« Vesey schleuderte das Büchlein dem anderen Soldaten zu, der es auffing und einsteckte. Vesey schenkte Billy ein flüchtiges Lächeln und ging weiter zum nächsten Mann.

Billys Beine begannen zu schmerzen. Endlich war Vesey fertig und baute sich wieder, die Hände hinten verschränkt, vor ihnen auf. Jetzt können wir wenigstens hier weg und uns hinsetzen, dachte Billy.

»Es ist meine Pflicht und mein Privileg, euch Gentlemen einige moralische Instruktionen zu geben.« Vesey stellte sich breitbeinig hin. Ein Offizier fluchte. Vesey funkelte ihn an. Der Artillerist weinte immer noch leise. »Die Instruktionen betreffen euren Status in diesem Gefängnis. Wie ich schon zu dem Mann mit dem versteckten Tagebuch sagte, wir betrachten euch nicht nur als Feinde; wir betrachten euch als Heiden. Ihr seid keine Offiziere mehr. Ihr seid keine Gentlemen mehr. Euer Status hier ist der eines Niggers. Nein, ich bin zu großzügig. Ihr seid niedriger als Nigger, und ihr werdet lernen, das zu spüren – in jeder Minute, die ihr unter meiner Obhut seid, werdet ihr das einatmen. Jetzt!«

Ein tiefer Atemzug. Dann lächelte er.

»Zeigt mir, daß ihr verstanden habt, was ich euch gerade gesagt habt. Zeigt mir, wer ihr seid. Runter auf die Knie!«

»Was zum Teufel?« grollte Billy. Hinter ihm sagte ein anderer Offizier: »Du verfluchter Rebellenaffe!«

»Murch?« Vesey winkte. Mit seinem Revolver schlug der Soldat dem Offizier über den Hinterkopf. Der Mann taumelte. Ein zweiter Schlag warf ihn fast bewußtlos nieder.

Vesey lächelte erneut. »Ich sagte«, murmelte er, »kniet nieder. Heidennigger. Kniet – nieder!«

Der Artelleriecaptain ließ sich als erster keuchend fallen. Jemand verfluchte ihn. Vesey flitzte zur dritten Reihe und schlug den Frevler, packte ihn dann an den Schultern und zwang ihn auf die Knie. Besorgte Blicke flackerten zwischen den Gefangenen auf, müde Männer, die sich vor diesem Irren in Sicherheit bringen wollten. Einer nach dem anderen sank langsam auf die Knie, bis nur noch drei nackte Offiziere standen. Vesey studierte das Trio und ging zum nächsten – Billy.

»Knie nieder«, schnorrte Vesey.

Mit hämmerndem Herzen sagte Billy: »Ich verlange, daß diese Gefangenengruppe entsprechend den Kriegsregeln behandelt wird. Regeln, die Ihr Vorgesetzter sicher versteht, selbst wenn das bei Ihnen nicht der Fall – «

Er sah die Hand auf sein Gesicht zufliegen, versuchte auszuweichen, aber die Müdigkeit machte seine Bewegungen langsam. Der Schlag mit der offenen Hand schmerzte mehr, als er erwartet hatte. Er taumelte zur Seite, wäre beinahe gestürzt.

»Ich hab’ es bereits gesagt. Hier existieren nur die Regeln, die ich aufstelle. Auf die Knie.«

Makellose Fingernägel gruben sich in Billys nackte Schulter. »Jesus«, sagte Billy, Tränen in den Augen. Veseys Nägel rissen ihm die Haut auf; Blut tropfte, als er tiefer bohrte.

»Das ist Blasphemie. Runter!«

Billy wollte stehenbleiben, aber seine Beine gaben nach. Sein Kopf begann zu vibrieren wie der fehlerhafte Teil einer Maschine. Er biß die Zähne zusammen, widerstand dem stetigen Druck nach unten.

Unerwartet zog Vesey. Billy verlor das Gleichgewicht, stürzte nach vorn, knallte mit den Knien auf den Boden, rutschte mit den Handflächen darüber, ein langer Splitter fuhr ihm in die rechte Hand. Er hob den Kopf und sah, wie sich der Corporal abwandte.

»Murch?«

»Sir?«

»Wie heißt er?«

»Hazard. William Hazard. Pionier.«

»Danke. Ich möchte sichergehen, daß ich den Namen nicht vergesse«, sagte Vesey; seine Lippen waren vor Wut so schmal, daß sie alle Farbe verloren hatten.

Sein Blick glitt zu den beiden anderen noch stehenden Offizieren. Erst kniete der eine nieder, dann der andere. »Gut«, sagte Vesey.

Billy kauerte sich hin. Blut tröpfelte von seinem Arm. Er beobachtete, wie sich die strahlenden Oktoberaugen wieder auf ihn richteten und Maß nahmen.

Gegen fünf Uhr nahm der Wind zu, der Himmel färbte sich schwarz, der Hitzeschild zerbrach unter dem Ansturm des peitschenden Regens und des prasselnden Hagels. Orry ging gerade durch den Kapitol-Rundbau, als der Sturm losbrach; die Gaslichter brannten noch nicht, und er fand sich plötzlich in fast völliger Dunkelheit wieder. Er prallte gegen einen anderen Offizier, trat verblüfft zurück.

»George? Ich wußte nicht, daß du in Richmond bist.«

»Doch«, sagte sein alter Freund Pickett mit seltsam entrückter Stimme. Picketts langes Haar war ungekämmt, seine Augen hatten dunkle Ringe. »Ja, für eine Weile – ich bin vorübergehend abkommandiert. Freut mich, dich zu sehen. Wir müssen uns mal zusammensetzen«, sagte er über die Schulter und eilte in die Dunkelheit hinein. Donnerschläge ließen den Marmorboden vibrieren.

Er hat mich nicht erkannt. Was ist los mit ihm?

Doch Orry glaubte Bescheid zu wissen, er hatte die Geschichten gehört. Einst fröhlich und unbekümmert, hatte Pickett seine Jungs den Cemetery Hill hochgeführt, wo sie abgeschlachtet worden waren. Als er wieder herunterkam, war er ein gebrochener Mann. Orry blieb regungslos stehen. Das ganze Gebäude erzitterte, als wollten die Elemente es auseinanderreißen.

Am gleichen Tag erhielt George einen zerknitterten Briefumschlag, der von Lehigh Station mit einer zusätzlichen Drei-Cent-Marke nachgeschickt worden war. Er öffnete ihn, faltete den Briefbogen auf, sah die Unterschrift und stieß einen Begeisterungsruf aus.

Orry befand sich nicht nur in Richmond, er war mit Madeline dort, die mittlerweile seine Frau geworden war. George schüttelte voller Erstaunen den Kopf, als er den Brief durchlas, der offensichtlich per illegalem Kurier nach Pennsylvania gelangt war. Ironischerweise hatte das Schicksal die Freunde auf ähnliche Pfade geführt. Genau wie George waren auch Orry seine Pflichten im Kriegsministerium fast unerträglich.

Trotz des melancholischen Tons mußte George lächeln, wann immer er den Brief las. Und er las ihn oft, er las ihn laut Constance vor und wieder und wieder für sich allein, bevor er ihn zu seinen anderen Erinnerungsstücken tat.

Keiner der Gäste an der Hotelbar lachte; wenige hoben ihre Stimme über ein Murmeln. Weshalb sollte man fröhlich sein? Nicht einmal das Wetter gab Anlaß dafür. Die Hitzewelle war gebrochen, aber der Sturm, der Erleichterung gebracht hatte, war so heftig gewesen, daß man hätte meinen können, er wolle ganz Richmond dem Erdboden gleichmachen.

Lamar Powell, der an einem Briefentwurf für den Vorarbeiter der mexikanischen Mine arbeitete, versuchte all die unzufriedenen Stimmen zu ignorieren. Er hatte sich einen Tisch hinten in der Ecke ausgesucht, um ungestört zu sein, und kündete dem Vorarbeiter gerade an, daß er innerhalb der nächsten zwölf Monate persönlich erscheinen würde, um das Kommando zu übernehmen.

Einen Augenblick zu spät hörte er das Quietschen der nassen Stiefel. Schnell faltete er den Briefentwurf zusammen und schaute zu dem Mann auf, dessen Schatten auf den Tisch gefallen war. Der Mann war fett, gewaltig, sein verstaubter Anzug so groß wie ein Zelt. Er hatte dunkles Haar, verschlagene Augen, eine verschwörerische Art.

»Habe ich die Ehre mit Mr. Lamar Powell?«

Powell wünschte sich, er hätte seine vierläufige Sharps heute abend mitgenommen. Konnte es sich bei diesem feisten Burschen um einen von Winders Spionen handeln, auf der Suche nach Kritikern des Präsidenten?

»Was wollen Sie?« entgegnete Powell.

Etwas irritiert räusperte sich der Fremde. »Man hat mir gesagt, daß Sie Mr. Powell sind. Ich suche Sie seit einigen Tagen. Ich interessiere mich für, äh, gewisse Pläne von Ihnen. Darf ich mich setzen und mich näher erklären? Oh, verzeihen Sie – mein Name ist Captain Bellingham.«

An diesem Abend feierte Bent, indem er sich in seiner Pension bis zur Bewußtlosigkeit vollaufen ließ. Mr. Lamar Powell war raffiniert. Mit keiner Silbe hatte er bestätigt, daß er an einer Verschwörung gegen die Regierung beteiligt sei, und ebensowenig hatte er den leisesten Hinweis gegeben, daß eine solche Verschwörung existierte. Doch seine Blicke und Gesten ließen keinen Zweifel daran. Er war daran beteiligt, und er konnte vertrauenswürdige Rekruten gebrauchen – vor allem einen in Maryland geborenen Südstaatensympathisanten, der kürzlich in Diensten von General Longstreet verwundet worden war.

Powell befragte ihn eingehend, wie und wo er seinen Namen gehört hatte. Bent verweigerte die Antwort. Natürlich war es ein Risiko, in diesem Punkt auf stur zu schalten. Doch wenn Powell ihn für zu weich und nachgiebig hielt, dann verzichtete er möglicherweise auf seine Dienste. Also grub sich Bent ein und sagte wiederholt, nein, er könne seine Quellen nicht enthüllen.

Er verabschiedete sich in der Hotelbar von Powell, betrank sich in seiner Pension und machte sich auf eine Wartezeit gefaßt. Eine Woche, einen Monat – wie lang immer es dauern mochte. In der Zwischenzeit konnte er einen weiteren kleinen Plan verfolgen, nun, da er sich in der gleichen Stadt wie Orry Main befand, der von seiner Anwesenheit keine Ahnung hatte. Er konnte ihn überraschen.

Am nächsten Abend verließ Ashton das Haus in der Grace Street um halb sieben. Die Luft war merklich kühler; von Nordwesten her zogen weiterhin häßliche, schwarze Wolken herauf.

Sie zog ihre Handschuhe an und war in Gedanken so mit dem gemeinsamen Abend mit Powell beschäftigt, daß sie den hinter einer Säule am Fuße der Treppe halb verborgenen Mann gar nicht bemerkte.

»Mrs. Huntoon?«

»Wie können Sie es wagen, mich derart zu erschrecken – oh!« Sie erkannte ihn: ein gewaltiger Fleischberg in dunklem Wollstoff, ein fettes Gesicht unter einem breitkrempigen Hut. Er hatte sie zuvor schon einmal aufgesucht, obwohl sein Name ihr entfallen war. Er trug eine Ölleinwandrolle unter dem Arm.

»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht ängstigen«, sagte er, schnelle Blicke auf das Haus werfend. »Gibt es hier in der Nähe einen Ort, wo wir uns ungestört unterhalten können?«

»Wie war Ihr Name?«

»Captain Erasmus Bellingham.«

»Richtig. General Longstreets Corps.«

»Nun Invaliden-Corps, fürchte ich«, erwiderte Bent mit seinem gefühlvollsten Gesichtsausdruck. »Ich bin nicht mehr bei der Armee.«

»Beim erstenmal sagten Sie, mein Bruder sei ein Freund von Ihnen.«

»Es tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck erweckt habe. Ich bin kein Freund, lediglich ein Bekannter. Bei dieser Gelegenheit brachten Sie zum Ausdruck, daß Ihre Gefühle Colonel Main gegenüber etwas, nun, sagen wir, etwas weniger als herzlich seien? Deswegen bin ich heute abend vorbeigekommen – die erste Gelegenheit nach meiner Entlassung aus dem Chimborazo Hospital.«

»Captain, ich habe es eilig. Kommen Sie zur Sache.«

Seine plumpen Finger trommelten auf die Leinwandrolle. »Ich habe hier ein Gemälde. Ich würde es Ihnen gerne zeigen, das ist alles. Ich will es nicht verkaufen, Mrs. Huntoon – ich würde mich nicht davon trennen. Aber ich glaube, Sie werden es trotzdem sehr interessant finden.«

Charles erreichte am gleichen Abend Barclays Farm. Er hatte Jim Pickles eingeladen und ihm unterwegs erklärt, daß er zur Witwe Barclay in romantischer Beziehung stehe.

Gus umarmte und küßte ihn herzlich, und als sie hinausging, um zwei Hühner fürs Abendessen schlachten zu lassen, stieß Jim seinen Gefährten an. »Du bist ein Glückspilz. Sie ist eine echte Schönheit.« Charles paffte weiter schweigend seine Maiskolbenpfeife und röstete seine nackten Füße am Küchenherd; der Regen unterwegs war peitschend und kalt gewesen.

Das Essen verlief fröhlich, aber der Krieg ließ sich nicht ganz ausklammern. Gus bemerkte, daß sie über die kürzlichen Aufstände in New York City, die Schwarzen und Weißen das Leben gekostet hatten, keine Freude empfinden könne. Besitztum im Wert von über zwei Millionen Dollar war zerstört worden, ehe Einheiten von Meades Armee aus Pennsylvania anrückten und den Aufruhr stoppten. Diese Bemerkung löste einen Streit aus.

»Du solltest glücklich darüber sein, Gus. Wir brauchen Hilfe, wo wir sie finden können.«

»Das kann nicht dein Ernst sein. Das war Gemetzel, kein Krieg. Frauen mit Messern erstochen. Kleine Kinder gesteinigt.«

»Scheußlich, das gebe ich zu. Aber wir können uns keine weichen Herzen mehr leisten. Selbst wenn wir siegen, verlieren wir. In jeder Schlacht verbrauchen beide Seiten Männer, Pferde, Munition. Die Yanks können es sich leisten – sie haben von allem reichlich. Wir nicht. Wenn sie je einen General finden, der das mitkriegt, dann ist es mit unserer Seite aus.«

Sie schauderte. »Du klingst so blutrünstig.«

Seine Laune ging mit ihm durch. »Und du so mißbilligend.«

Ihre alte Verteidigung, ein sprödes Lächeln, tauchte auf. »Mr. Pope und ich, wir fragen uns, was die Ursache deiner schlechten Verfassung ist.«

»Meine Verfassung geht dich nichts an.«

Sie zitierte trotzdem: »War vielleicht krank«, ein Augenblick des Zögerns, »verliebt oder hatte nicht gespeist?«

An einem Hühnerflügel nagend fragte Jim: »Wer ist Mr. Pope? Ein Farmer hier aus der Gegend?«

»Ein Dichter, von dem Mrs. Barclay sehr viel hält, du Dummkopf.«

»Charles, du bist unhöflich«, sagte sie.

Er seufzte. »Ja. Tut mir leid, Jim.«

»Oh – schon vergessen«, antwortete Jim, sein Hühnchen im Auge behaltend.

»Ich möchte trotzdem wissen, weshalb du so ungemütlich bist, Charles.«

»Ich bin ungemütlich, weil wir verlieren, verdammt noch mal.« Beim letzten Wort schlug er seine Pfeife so kräftig gegen den Herd, daß der Stiel brach.

Später glätteten sie die Wogen – sie ergriff die Initiative – und schliefen zwischen Mitternacht und Morgen zweimal miteinander. Aber der Schaden war da.

Am nächsten Nachmittag rissen die Wolken auf, als die Männer zu ihrem Ritt zurück zum Camp unterhalb vom Rapidan aufbrachen, wohin sich die Infanterie hinter den Schutzschild der Kavallerie zurückgezogen hatte. Alle Kommandos im berittenen Dienst sollten neu beurteilt und möglicherweise neu organisiert werden. Als ob das Charles nicht völlig egal gewesen wäre.

Der Himmel, der sich gegen Abend tief orange färbte, wirkte verloren und hoffnungslos. Herbstlicht. Charles trabte neben dem jüngeren Scout; er bemerkte, daß die Truthahnfeder an Jims Hutband, vor ein paar Minuten noch nach hinten geneigt, nun auf die Straße vor ihnen zeigte.

Jim bemerkte den starren Blick seines Gefährten. »Stimmt was nicht, Charlie?«

»Der Wind hat gedreht.«

So war es; jetzt kam er scharf und kalt aus Nordwesten. Viel zu kalt für die Sommerzeit. Jim wartete auf weitere Erklärungen, aber es kam nichts mehr. Er kratzte sich seinen stoppligen Bart. Seltsamer Mann, Charlie. Tapfer wie der Teufel. Aber momentan mächtig unglücklich.

Gegen den steifen Nordwind ankämpfend, der die Gräser der Felder flach preßte und die Bäume ächzen ließ, ritten sie in den orangefarbenen Abend.

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