Zweites Buch. Der Weg nach unten

Niemand, kein Mensch, kann dieses Land retten. Unsere Männer sind keine guten Soldaten. Sie prahlen, aber sie leisten nichts, sie jammern, wenn sie nicht all das kriegen, was sie wollen, und ein Marsch über wenige Meilen erschöpft sie. Es wird lange dauern, bis das überwunden ist; ich weiß nicht, was die Zukunft uns bringen wird.

Col. William T. Sherman, nach der ersten Schlacht bei Bull Run, 1861

33

Die ganze Nacht über schwirrten Gerüchte durch die Stadt. Elkanah Bent konnte, wie Tausend andere auch, nicht schlafen. Er drückte sich in Bars oder auf den Straßen herum, wo schweigende Mengen auf neue Nachrichten warteten. Er betete darum, daß ein Sieg gemeldet werden würde. Nichts anderes konnte ihn retten.

Gegen drei Uhr gaben er und Elmsdale, der Colonel aus New Hampshire, die Nachtwache auf und kehrten in ihre Pension zurück. Bent döste mehr vor sich hin als daß er schlief; vor Tagesanbruch hörte er das Klatschen des einsetzenden Regens. Dann hörte er Männer auf den Straßen. Schnell kleidete er sich an, ging hinaus auf die Veranda und sah auf einer freien Fläche nebenan acht oder zehn Soldaten im Unkraut liegen. Drei andere, sichtlich verdreckt, rissen einen Bretterzaun ab, um ein Feuer zu machen.

Gähnend schloß sich ihm Elmsdale mit einem Vorrat an Zigarren an. »Schaut übel aus, was?« sagte er. Bent spürte, wie Hysterie in ihm aufstieg.

Die beiden Colonels eilten zur Pennsylvania Avenue. Bent versuchte, sein Zittern zu beherrschen. Auf der Avenue sahen sie Ambulanzen, herumlaufende Männer, denen die Niederlage ins Gesicht geschrieben stand. Dutzende lagen schlafend im President’s Park. Bent sah blutige Gesichter, Arme und Beine.

»Nun«, Elmsdale zündete sich unter seiner Hutkrempe eine Zigarre an, »das ist ein Vorgeschmack von dem, was uns im Westen erwartet.«

Bent war noch nie religiös veranlagt gewesen, aber gestern hatte er Gott um einen Sieg der Union angefleht. Er und Elmsdale besaßen bereits ihre Fahrkarten nach Kentucky. Jetzt würde er auch fahren müssen. Der Krieg konnte Monate dauern. Vielleicht würde er in Kentucky umkommen, sein Genie verschwendet…

Er wollte diesem Schicksal entrinnen, wußte aber nicht wie. An Dills wagte er sich nicht noch einmal zu wenden; der Anwalt mochte seine Drohung wahr machen. Von Fahnenflucht abgesehen, was seine Träume von militärischem Ruhm zu einem abrupten Ende bringen würde, sah er keine Alternative.

Am Tag nach Manassas lagerten Charles und seine Truppe mit der Legion nicht weit vom Konföderierten-Hauptquartier, ziemlich nahe dem Schlachtzentrum und weniger als eine Meile von Bull Run entfernt, wo rötlich verfärbtes Wasser immer noch Leichen von beiden Seiten mit sich führte.

Als das Licht verblaßte, machte sich Charles daran, Sport abzureiben. Er freute sich über den Sieg, ärgerte sich aber über die Umstände, die ihn um die Teilnahme gebracht hatten. Nach seiner Rückkehr aus Fairfax County war die Legion am Freitag von Ashland zur Verstärkung von Beauregard abkommandiert worden. Doch die Richmond, Fredericksburg- und Potomac-Bahnlinie hatte lediglich genügend Waggons für Hampton und seine sechshundert Mann Fußtruppen. Für die vier Kompanien Kavallerie und die Artillerie-Batterie war kein Platz mehr vorhanden.

Nach zahlreichen Verzögerungen kam Hampton am Morgen der Schlacht in Manassas an; seine Kavallerie mühte sich da immer noch über hundertdreißig Meilen sich dahinschlängelnder Straße; viele Flüsse und Flüßchen waren zu überwinden. Charles sprühte auf diesem langen Ritt geradezu vor Zuversicht. Er glaubte, daß sich seine Männer im Kampf bewähren würden; trotz ihrer Disziplinlosigkeit ritten sie als Einheit gut zusammen.

Charles bekam keine Chance, dieses neue Gefühl auf seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen; die Kavalleristen erreichten den Schauplatz, nachdem der Sieg errungen worden war. Sie erfuhren, daß der Colonel sich ausgezeichnet und eine leichte Kopfwunde empfangen hatte, als er seine Infanterie gegen die zerbröckelnde Front der Bundesregimenter geführt hatte.

Präsident Davis war persönlich von Richmond gekommen, um den verschiedenen Kommandanten zu gratulieren, zu denen auch Hampton zählte, den Davis und Old Bory in seinem Zelt aufsuchten. Gegen Montagabend jedoch hörten Charles und viele andere, daß sich gewisse Regierungsmitglieder beklagt hätten; Beauregard habe seinen Vorteil nicht genutzt und Washington nicht erobert.

Charles behielt seine Meinung für sich. Woher sollten fettärschige Bürokraten wissen, daß eine Schlacht harte Arbeit war und daß selbst der größte Mut, der festeste Wille und das stärkste Herz sich der alles überwältigenden Erschöpfung beugen mußten.

Aber von diesen Klagen abgesehen war Manassas zu einem Triumph geworden, ein Beweis für den unerschütterlichen Glauben, daß Gentlemen jederzeit den Pöbel schlagen konnten.

Die Verluste waren gering gewesen. Der Stellvertreter des Kommandanten der Legion, Lieutenant Colonel Johnson aus Charleston, war von der ersten feindlichen Salve getötet worden. Barnard Bee, einer von Cousin Orrys Freunden von der Akademie, war tödlich getroffen worden, kurz nachdem er die Männer zu den Fahnen des verrückten Professors vom Virginia Military Institute, dem Narren Tom Jackson, geführt hatte. Jackson stand wie ein Steinwall nahe des Henry-Hauses, und es schien so, als würde ›Tom der Narr‹ ab sofort einen höflicheren Spitznamen erhalten.

Während Charles Sports Hufe vom Dreck säuberte, näherte sich Calbraith Butler, ein weiterer Truppenkommandant. Butler war ein gutaussehender Bursche mit angenehmen Manieren in Charles’ Alter. Er war mit der Tochter von Gouverneur Pickens verheiratet und hatte eine lukrative Anwaltspraxis aufgegeben, um die Edgefield-Husaren aufzustellen, eine der Einheiten, die Hampton zu seiner Legion zusammengefaßt hatte. Obwohl Butler über keine militärische Erfahrung verfügte, vermutete Charles, daß er sich im Kampf gut schlagen würde; er mochte Butler.

»Du solltest einen Neger für sowas haben«, riet Butler.

»Wenn ich so reich wie ihr Anwälte wäre, dann vielleicht.«

Butler lachte.

»Wie geht’s dem Colonel?« fuhr Charles fort.

»Guter Laune, angesichts des Todes von Johnson und der Verluste, die wir hinnehmen mußten.«

»Wie hoch?«

»Steht noch nicht genau fest. Ich hörte was von zwanzig Prozent.«

»Zwanzig«, wiederholte Charles mit einem leichten Nicken, um seine Befriedigung auszudrücken. Am besten dachte man an die Toten und Verwundeten nicht als Menschen, sondern berechnete sie in Prozenten; man schlief nachts besser.

Butler kauerte sich hin. »Wie ich höre, sind die Yankees nicht nur vor unseren Black Horses davongerannt, sondern allein schon beim bloßen Gedanken an sie. Sie rannten vor Braunen, Grauen, Rotschimmeln – jeder nur denkbaren Farbe. Hielten sie alle für Black Horse. Ich bedaure wirklich, daß wir das verpaßt haben. Aber wenigstens werden wir von den Früchten des Sieges kosten dürfen, so ungefähr in einer Woche.«

Er berichtete, daß dankbare Bürger in Richmond bereits einen Galaball angekündigt hatten, zu dem bevorzugte Offiziere von Manassas eingeladen waren. »Und weißt du was, Charlie, Kavallerieoffiziere sind die bevorzugtesten. Wir müssen den Ladies ja nicht erzählen, daß wir meilenweit von der Schlacht entfernt waren. Das heißt, bei mir fällt das ja flach. Meiner Frau zuliebe werde ich wohl nicht hingehen.«

»Warum nicht? Beauty Stuart ist verheiratet, und ich möchte wetten, er ist dabei.«

»Verdammte Virginier. Müssen überall in vorderster Front sein.« Während der Schlacht hatte Stuart einen vieldiskutierten Angriff die Sudley Road entlang geführt, was seinen Ruf, ein tapferer Mann zu sein – oder ein tollkühner Mann, je nachdem, wer die Geschichte erzählte –, weiter festigte.

»Ein Ball. Das klingt tatsächlich recht verlockend.« Charles gab sich Mühe, die Ambulanzen, die langsam vor der flammenden Scheibe der Sonne vorbeizogen, nicht zu beachten.

»Charmante weibliche Gäste aus der ganzen Gegend sind eingeladen. Die Gastgeber möchten nicht, daß es unseren tapferen Jungs an Tanzpartnerinnen mangelt.«

Nachdenklich sagte Charles: »Ich werde vielleicht gehen, wenn ich eine Einladung erbeuten kann.«

»Na also! Endlich ein Hauch von Leben in dem müden Kämpfer. Gut für dich.« Butler schlenderte davon; Charles nahm seine Arbeit wieder auf, und Sport stupfte zärtlich seinen Arm. Er überraschte sich selbst dabei, daß er vor sich hinpfiff, nachdem ihm klar geworden war, daß er mit etwas Glück Augusta Barclay auf dem Ball finden konnte.

34

Gegen sieben Uhr morgens waren sie in der Hauptstadt angekommen, durchnäßt und kurz vor dem Umfallen. George, Constance und die Kinder gingen direkt zum Willard-Hotel, Stanley, Isabel und die Zwillinge zu ihrem Herrschaftshaus; wortlos, grußlos.

George wusch und rasierte sich, wobei er sich zweimal schnitt, trank einen kräftigen Schluck Whiskey und meldete sich noch ganz benommen im Winder-Gebäude. Die Verzweiflung über die Niederlage war so groß, daß an diesem Morgen nichts erledigt wurde; gegen halb zwölf schloß Ripley das Büro. George hörte, der Präsident habe wieder einen seiner Depressionszustände. Kein Wunder, dachte George, als er sich zum Hotel zurückkämpfte.

Er fiel in einen tiefen Schlaf der Betäubung, aus dem er gegen neun Uhr abends sanft wachgerüttelt wurde. Constance meinte, er müsse etwas essen. Im Speisesaal des Hotels, der vollbesetzt war, in dem aber eine unnatürliche Stille herrschte, erkundigte sich George nach dem Stand der Dinge; die Antworten ließen ihn zusammenzucken. Am nächsten Tag stellte er weitere Fragen. Ausmaß und Konsequenzen der Tragödie bei Bull Run zeichneten sich langsam ab.

Die Verlustquoten waren noch vage, obwohl einige Zahlen bereits feststanden; Simon Camerons Bruder, Kommandant eines Highlander-Regiments, der Seventy-Ninth New York, war getötet worden. Scott und McDowell standen als Schuldige fest. Während George den größten Teil des Montags verschlief, war McDowell seines Postens enthoben worden; Georges alter Klassenkamerad McClellan war aus dem westlichen Virginia herbeigeordert worden und hatte den Oberbefehl über die Armee erhalten, um sie zu einer Einheit zu formen, die diesen Namen auch verdiente.

Am Dienstag wurde die Büroarbeit wieder aufgenommen. George erhielt einen kurzfristigen Reisebefehl, um sich mit der Produktion der Cold-Spring-Gießerei, am Fluß gegenüber von West Point gelegen, vertraut zu machen. Sein Vater hatte die Gießerei während Georges Kadettenjahren besichtigt. Die Gießerei produzierte jetzt großartige, von Robert Parker Parrott entworfene Artilleriewaffen. Der Verbindungsoffizier des Waffen-Departments war ein Captain Stephen V. Benet.

Dienstagnacht, nachdem George gepackt hatte, unterhielten er und Constance sich vor dem Einschlafen über den Wechsel im Oberkommando. »Lincoln und das Kabinett und der Kongreß, sie alle haben McDowell angetrieben. Sie zwangen ihn, schlecht ausgebildete Amateure in die Schlacht zu schicken. Die Freiwilligen kämpften natürlich nicht wie Berufssoldaten, und McDowell bekommt dafür die Schuld in die Schuhe geschoben – von Lincoln und dem Kabinett und dem Kongreß.«

»Ah«, murmelte sie. »Das erste Mädchen auf der Tanzkarte des Präsidenten hat sich als ungeschickt erwiesen, also Partnertausch.«

»Partnertausch. Das drückt es richtig aus.« Er schob sein Nachthemd hoch, um sich am Oberschenkel zu kratzen. »Ich möchte wissen, wie oft er das noch tun wird, bis der Ball vorbei ist?«

George war froh, die hoffnungslose Washingtoner Atmosphäre gegen die Schönheit des Hudson-Tales eintauschen zu können; das herrlich sonnige Wetter machte alles nur noch schöner. Old Parrott, Absolvent von 1824, leitete die Fabrik, und er bestand darauf, seinem Besucher alles persönlich vorzuführen. In Hitze und Licht der Gießerei zubaden, war eine Art freudige Heimkehr. George war fasziniert von der Präzision, mit der die Arbeiter die Kanonenrohre ausbohrten, Vier-zehn-Inch-Eisenbarren erhitzten und zu den Bändern hämmerten, die das Markenzeichen von Parrott-Kanonen waren.

Parrott schien es zu begrüßen, daß jemand im Waffenamt tätig war, der etwas von seinen Problemen als Hersteller und Manager verstand. George mochte den älteren Mann, aber die wirkliche Entdeckung, sowohl persönlich als auch beruflich, war Captain Stephen V. Benet, an den sich George als Angehörigen der Klasse von 1849 erinnerte.

Benet, in Florida geboren und so dunkel, daß man ihn für einen Spanier hätte halten können, teilte seine Zeit zwischen der Gießerei und West Point, wo er Waffentheorie und Geschützwesen lehrte. Gemeinsam überquerten die beiden Männer eines Nachmittags den Fluß, um auf alten Spuren zu wandeln. Sie redeten über alles, von ihren alten Klassen angefangen bis zu den immer heftiger werdenden Angriffen auf die Institution.

Beim Abendessen im Post-Hotel sagte Benet: »Ich bewundere den Patriotismus, der Sie zur Annahme Ihres Postens bewegt hat. In Ripleys Department tätig zu sein – das verlangt nach Beileidsbezeugungen.«

»Die ganze Abteilung ist ein furchtbares Chaos«, bestätigte George. »Verrückte Erfinder in jeder Spalte, Papierstöße, ein Jahr alt, keine Standardisierung. Ich versuche, eine Liste der verschiedenen Typen von Artilleriemunition aufzustellen, die wir verwenden. Es ist ein echter Kampf.«

Benet lachte. »Das kann ich mir vorstellen. Müßten mindestens fünfhundert sein.«

»Vielleicht schlagen wir uns selbst und ersparen den Rebs die Arbeit.«

»Für Ripley zu arbeiten muß jeden entmutigen. Er sucht nur nach Gründen, um neue Ideen abzulehnen. Er sucht nach Schwachstellen. Ich würde nach Positivem suchen, nach Gründen, um ja sagen zu können.« Benet warf seinem Besucher einen forschenden Blick zu und beschloß, ihm zu vertrauen. »Vielleicht schickt der Präsident deswegen Prototypen direkt zur Beurteilung hierher. Wußten Sie davon – daß Ripley umgangen wird?«

»Nein, aber es überrascht mich nicht. Andererseits muß ich Ihnen gestehen, daß Lincoln im Kriegsministerium gerade wegen seiner ständigen Einmischungen sehr unpopulär ist.«

»Verständlich, aber«, wieder dieser Blick, »wie sollen wir ohne das die Ripleys ausschalten?«

Mit dieser pessimistischen Frage im Gepäck kehrte George in die Stadt zurück.

Der heiße Juli tröpfelte dahin, und George saß bis spät abends an seinem Schreibtisch. Stanley sah er selten, Lincoln dagegen recht häufig. Der storchähnliche, leicht komisch wirkende Präsident eilte ständig von einem Regierungsbüro zum anderen, mit Bündeln von Plänen und Papieren und Memoranden und einigen gelegentlich recht obszönen Scherzen.

Obwohl der Leerlauf im Department überwog, konnte man Ripley nicht nur Schlechtes nachsagen. George entdeckte, daß der alte Mann den Kauf von hunderttausend europäischen Gewehren gefordert hatte, um die antiquierten Vorräte in den Lagerhäusern der Union zu ergänzen. Cameron hatte darauf bestanden, daß die Armee nur in Amerika hergestellte Waffen benützte, was George auf die zynische Vermutung brachte, daß einige Freunde des Ministers Waffenkontrakte besitzen mußten. Nach dem Manassas-Debakel sammelten sich noch mehr dunkle Wolken über Camerons Haupt, und sein Einkauf wurde nun als Fehlentscheidung angeprangert. Der Krieg würde nicht mit dem Sommer enden, und es waren nicht genügend Gewehre vorhanden, um die Rekruten zu bewaffnen und zu instruieren, die sich bereits in den Ausbildungslagern von der Ostküste bis zum Mississippi gemeldet hatten.

George wurde von der Arbeit am Entwurf für einen Mörser-Kontrakt abgezogen und damit beauftragt, ein neues Ripley-Angebot über den Ankauf von hunderttausend ausländischen Waffen zu erstellen. Das Angebot ging ans Kriegsministerium, mit einem halben Dutzend Unterschriften versehen, wobei Georges Unterschrift gleich nach der von Ripley kam. Nach drei Tagen des Schweigens ging er persönlich hinüber, um sich nach dem Schicksal des Angebots zu erkundigen.

»Ich hab’ es auf irgendeinem Schreibtisch entdeckt«, berichtete er bei seiner Rückkehr. »Mit der Bemerkung: abgelehnt.«

Ohne mit seinem ewigen Papiergewühle aufzuhören, schnappte Maynadier: »Aus welchen Gründen?«

»Der Minister wünscht das Angebot auf die Hälfte reduziert.«

Ripley horchte auf. »Was? Nur fünfzigtausend Stück?« Er brach in eine Schimpfkanonade aus, vor der seine sonstigen Wutanfälle verblaßten.

George berichtete an diesem Abend Constance: »Cameron genehmigte die Ablehnung, aber Stanley hat unterzeichnet. Ich bin sicher, er tat es mit dem größten Vergnügen.«

Ripley setzte George und einige andere davon in Kenntnis, daß sie alle im August befördert werden würden; Ripley selbst zum Brigadier. George würde dann drei Schleifen aus schwarzer Seide an seinem Waffenrock tragen und den Goldstern eines Majors. Aber die Sünden des Departments, die sich täglich wie die Blütenblätter einer Rose entfalteten, entmutigten ihn zu sehr, als daß er sich darüber hätte freuen können.

Seine Pflichten führten George häufig zum Washingtoner Arsenal in Greenleaf’s Point, einer sumpfigen Ebene am Zusammenfluß von Potomac und Anacostia, im Süden der Stadt. Dort standen zwischen den alten Gebäuden, sauber aufgereiht unter den Bäumen, Geschütze aller Art. George entdeckte, während er auf der Suche nach Munition in den Lagerräumen des Arsenals herumstöberte, eine merkwürdige Waffe mit einer seitlichen Kurbel und einem Trichter obendrauf. Er fragte Colonel Ramsay, den Kommandanten des Arsenals, danach.

»Drei Erfinder haben es Anfang des Jahres gebracht. Der offizielle Name in unseren Büchern lautet .58-Kaliber-Union-Repetiergewehr. Der Präsident taufte es Kaffeemühle. Es feuert sehr schnell – die Munition wird mit diesem Trichter nachgeladen –, und nach den ersten Tests wollte Mr. Lincoln die Waffe nehmen. Man sagte mir, er habe ein Memorandum an Ihren kommandierenden Offizier geschickt«, endete Ramsay mit deutlicher Betonung.

»Mit welchem Ergebnis?«

»Ohne Ergebnis.«

»Keine weiteren Tests?«

»Meines Wissens nicht.«

»Warum nicht?« George ahnte die Antwort bereits, die Ramsay prompt in böser Imitation des neuen Brigadegenerals lieferte: »Hab’ keine Zeit!«

Zu Constance sagte George später: »So eine vielversprechende Waffe vermodert, während wir unsere Zeit mit idiotischen Plänen verschwenden.«

Die nächsten schlechten Nachrichten für Ripleys Büro ließen nicht lange auf sich warten. Camerons Entscheidung gegen ausländische Waffen hatte den Agenten der Konföderation neunzig Tage Zeit gelassen, um die besten Waffen in England und auf dem Kontinent aufzukaufen. Als einige Musterexemplare vom verfügbaren Rest im Winder-Gebäude eintrafen, sank die Stimmung augenblicklich auf den Nullpunkt.

In der dunstigen Dämmerung nahm George ein Muster mit hinunter zum Arsenal. Bei der Waffe handelte es sich um ein .54-Kalibergewehr mit Zündhütchen der österreichischen Jägerbataillone, entwickelt nach dem Lorenzmodell von 1854; die Waffe war häßlich, sperrig und besaß einen brutalen Rückschlag. Nach drei Schüssen fühlte sich seine Schulter an, als hätte ihn ein Maultier getreten.

Er hörte, wie sich eine Kutsche näherte. Er befand sich gerade am Ende eines Piers, und so marschierte er zurück, um zu sehen, wer da kam. Die Kutsche war nicht genau zu erkennen, bis sie sich der Mole genähert hatte. George kannte den Fahrer, William Stoddard, einen von Lincolns Sekretären. In dessen Büro stapelten sich die Muster von Waffen, die von Erfindern in der Hoffnung, Ripley umgehen zu können, direkt an den Präsidenten geschickt wurden.

Mit einem Gewehr in der Hand stieg der Präsident aus der Kutsche, während Stoddard das Gespann an einem Pflock anband. In der Dämmerung wirkte Lincoln noch blasser als gewöhnlich, aber er schien guter Laune zu sein. Er ließ seinen Zylinder zu Boden fallen und nickte George zu, der salutierte.

»Guten Abend, Herr Präsident.«

»Abend, Major – bitte um Entschuldigung, aber ich kenne leider Ihren Namen nicht.«

»Aber ich«, sagte Stoddard. »Major George Hazard. Sein Bruder Stanley arbeitet für Cameron.« Lincoln blinzelte und schien sich leicht zu versteifen; anscheinend tat Georges Beziehung zu diesen Männern nichts für seinen Ruf.

Nichtsdestoweniger blieb Lincoln freundlich. »Es ist meine Gewohnheit, im Treasury Park zu schießen, obwohl die Polizei den Lärm haßt. Heute abend konnte ich nicht, weil dort ein Baseballspiel stattfindet.« Er spähte zu der Waffe, mit der George geschossen hatte. »Was haben wir da?«

»Eines der Jägergewehre, die wir vielleicht von der österreichischen Regierung kaufen werden, Sir.«

»Zufriedenstellend?«

»Kaum, obwohl ich kein Experte für Handfeuerwaffen bin. Allerdings befürchte ich, daß wir kaum was Besseres kriegen werden.«

»Ja, Mr. Cameron hat sich ein bißchen spät dem Tanz zugesellt, nicht wahr? Wir könnten diese Waffe als Ersatz nehmen«, Lincolns große, knochige Hand hob das Gewehr, das er mitgebracht hatte, als wäre es federleicht, »aber Ihr Chef hat für Hinterlader nichts übrig, ganz abgesehen davon, daß ein verängstigter Rekrut in der Hitze des Gefechts ordentliche Probleme mit einem Vorderlader kriegen kann. Vielleicht stopft er versehentlich die Kugel vor dem Pulver hinein. Oder er vergißt den Ladestock, und die Kugel fliegt wie ein Speer los.«

Seine freie Hand beschrieb einen Bogen. George studierte den Hinterlader. Auf der rechten Verschlußplatte konnte er gerade noch den Namen des Herstellers entziffern: C. Sharps.

»Mir ist auch klar, daß neu ein verpöntes Wort im Vokabular des Brigadiers darstellt«, fuhr Lincoln lächelnd fort. »Aber Hinterlader sind ja nicht gerade brandneu, oder? Ich persönlich bevorzuge einschüssige Hinterlader, und die Armee wird einige davon kriegen.«

Stoddard fragte George: »Sind in Europa welche bestellt worden?«

»Ich glaube nicht.«

»Keine«, unterbrach Lincoln, mehr melancholisch als gereizt klingend. Dann ging die Bombe hoch: »Deshalb habe ich kürzlich meinen eigenen Einkäufer mit zwei Millionen Dollar und unbeschränkter Vollmacht hinübergeschickt. Wenn ich nichts Befriedigendes von Cameron & Co. bekommen kann, dann muß ich es mir anderweitig besorgen, denke ich.«

Peinliches Schweigen. Stoddard räusperte sich. »Sir, es wird bald dunkel.«

»Dunkel. Ja. Die Stunde zum Träumen – ich beeile mich wohl besser mit dem Schießen.«

»Wenn Sie mich entschuldigen würden, Herr Präsident – « George befürchtete, daß seine Stimme seltsam klang; die schlechte Nachricht hatte seinen Mund ausgetrocknet.

»Gewiß doch, Major Hazard. Hat mich gefreut, Sie hier unten zu treffen. Ich bewundere Männer, die so viel wie möglich zu lernen versuchen. Ich gebe mir auch Mühe.«

Mit dem österreichischen Gewehr unterm Arm zog sich George in die hereinbrechende Nacht zurück. Er fühlte sich, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen. Cameron & Co. steckte in größeren Schwierigkeiten, als er sich vorgestellt hatte. Und er arbeitete für Cameron & Co.

Es hatte Stanley Freude bereitet, das von seinem Bruder ausgearbeitete Angebot zurückzuweisen. Stanley besaß einige wenige klare Erinnerungen an den langen, schrecklichen Rückmarsch von Manassas – daß er am Straßenrand geweint hatte, wußte er nicht, lediglich Isabel erinnerte ihn häufig genug daran –, und dazu gehörte, daß George ihn gestoßen und angetrieben hatte wie irgendeinen Plantagennigger. Nun hatte er noch einen weiteren Grund, um George seine Arbeit so schwer wie möglich zu machen.

Stanley sorgte sich wegen seiner Position als Camerons Trabant. Kneipengerüchte besagten, daß Camerons Stern bereits im Sinken war. Doch im Ministerium schien sich nichts verändert zu haben. Der Minister war aus Trauer um seinen Bruder für einige Tage seinem Schreibtisch ferngeblieben, aber danach gingen die Geschäfte und das Durcheinander wie gewöhnlich weiter.

Wichtige Kongreßabgeordnete hatten sich mündlich, brieflich und mittels Presseverlautbarungen nach den Einkaufsmethoden des Kriegsministeriums erkundigt. Daß Lincoln seinen eigenen Mann zu Waffenkäufen nach Europa gesandt hatte, zeigte kein großes Vertrauen zu ihnen, um es gelinde auszudrücken. Die Ausbildungslager klagten ständig über Mangel an Kleidung, Handfeuerwaffen und Ausrüstung. Mit zunehmender Offenheit wurde darüber gesprochen, daß Cameron eine Mißwirtschaft führte und daß der Armee nur die Hälfte von dem zur Verfügung stand, was sie benötigte.

Mit Ausnahme von Stiefeln, konnte Stanley sich selbst beglückwünschen. Pennyford produzierte in großen Mengen und termingemäß. Lashbrooks Profite, aufs Jahresende hochgerechnet, machten Stanley fassungslos und entzückten Isabel, die behauptete, mit dieser Goldgrube gerechnet zu haben.

Bedauerlicherweise konnte Stanleys persönlicher Erfolg ihm nicht bei der Krise im Ministerium helfen. Schriftliche und mündliche Anfragen waren nun von schneidender Schärfe. Skandalöser Mangel. Unregelmäßigkeiten festgestellt. War eine Unkorrektheit tatsächlich nachgewiesen worden, so leugnete Cameron sie nicht. Er nahm sie nicht mal zur Kenntnis. Eines Tages hörte Stanley zufällig, wie sich zwei Angestellte über diese Technik unterhielten.

»Heute morgen ist wieder ein sehr scharfer Brief gekommen. Diesmal vom Finanzministerium. Man muß die Art bewundern, wie der Boß damit umgeht. Steht schweigend wie ein Steinwall da – so wie der verrückte Jackson bei Bull Run.«

»Ich dachte, die Schlacht wäre bei Manassas geschlagen worden«, sagte der zweite Angestellte.

»Wenn’s nach den Rebs geht, schon. Wenn’s nach uns geht, bei Bull Run.«

Der andere stöhnte. »Wenn die anfangen, die Schlachten nach den Orten zu benennen und wir nach den Flüssen, wie zum Teufel sollen die Schuljungs in fünfzig Jahren damit klarkommen?«

»Wen kümmert das? Mir macht das Heute Sorgen. Selbst der Boß kann seinen Steinwall nicht ewig aufrechterhalten. Mein Rat ist, spar dein Gehalt und – « Er bemerkte Stanley, der sich mit einem Band von Kontrakten beschäftigte. Er stieß seinen Kollegen an, und sie gingen gemeinsam weg.

Stanley kehrte an seinen Schreibtisch zurück, konnte sich aber nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Er mußte eine gewisse Distanz zwischen sich und seinen alten Mentor legen. Wie? Ihm fiel nichts ein. Er mußte das Problem mit Isabel besprechen. Sie würde wissen, was er zu tun hatte.

Doch an diesem Abend war sie nicht in der Laune dafür. Er fand sie beim Zeitungslesen, kochend vor Wut.

»Was ärgert dich so, mein Liebes?«

»Unsere süße, durchtriebene Schwägerin. Sie schmeichelt sich genau bei den Leuten ein, mit denen wir Umgang pflegen sollten.«

»Stevens und dieses Volk?«

Isabel nickte heftig.

»Was hat Constance getan?«

»Sie hat wieder mit ihrem Abolitionistenwerk begonnen. Sie und Kate Chase fungieren als Gastgeberinnen bei einem Empfang für Martin Delany.« Der Name sagte ihm nichts, was seine Frau nur noch wütender machte. »Oh, sei doch nicht so schwerfällig, Stanley. Delany ist der Niggerdoktor, der diesen Roman schrieb, der vor ein paar Jahren jedermann so in Begeisterung versetzte. Blake; so hieß der Roman. Er rennt in afrikanischer Kleidung herum und hält Vorlesungen.«

Jetzt erinnerte sich Stanley. Vor dem Krieg hatte Delany die Idee eines neuen afrikanischen Staates vertreten, in den seiner Meinung nach die amerikanischen Neger emigrieren sollten. Delanys Plan rief die Schwarzen dazu auf, in Afrika Baumwolle anzupflanzen und dann im freien Marktwettbewerb den Süden in den Bankrott zu treiben.

Stanley griff nach der Zeitung, fand die Ankündigung des Empfangs und las die Gästeliste. Seine feuchten, dunklen Augen reflektierten das helle Gaslicht, als er vorsichtige sagte: »Ich weiß, daß du die Farbigen und ihre Förderer nicht ausstehen kannst. Aber du hast recht, wir sollten vielleicht den wichtigen Pro-Abolitionisten, die diese Party besuchen, mehr Aufmerksamkeit schenken. Mit Simon geht es bergab. Wenn wir nicht aufpassen, dann reißt er uns mit hinunter.« Eine ungewohnte Kraft lag in seiner Stimme, als er fortfuhr: »Wir müssen etwas tun, und wir müssen es bald tun.«

35

Die dunstige Hitze des Augusts senkte sich über die Alexandriafront. Nördlich von Centreville lagernd, wartete die Legion auf Ersatz und auf die Enfields, die der Colonel aus eigener Tasche bezahlt hatte. Die Gewehre sollten von einem Blockadebrecher von England gebracht werden.

Die Legion wurde aufgrund der Verluste bei Manassas umorganisiert. Calbraith Butler, zum Major befördert, übernahm das Kommando über die vier Kavalleriezüge. Charles reagierte auf den Wechsel mit anfänglichem Groll, den er vernünftigerweise für sich behielt. Wenn er darüber nachdachte, kam die Wahl nicht überraschend. Butler war ein Gentleman-Freiwilliger, ohne den Anstrich des Berufssoldaten, der Charles charakterisierte. Und mit der Tochter des Gouverneurs verheiratet zu sein, war auch nicht gerade ein Nachteil.

Außerdem wußte Charles, daß er sich mit seinem hartnäckigen Beharren auf Disziplin nicht beliebt gemacht hatte. Er besaß ein weniger hitziges Temperament als viele andere Akademie-Absolventen – ein Yankee-Heißsporn namens Phil Sheridan kam ihm in den Sinn –, aber er brüllte immer noch im allgemein üblichen Stil von West Point.

Zum Teufel damit. Er hatte sich gemeldet, um den Krieg zu gewinnen, nicht um befördert zu werden. Butler war ein ausgezeichneter Reiter und ein instinktiv guter Offizier; er führte seine Männer, indem er ihnen mit gutem Beispiel voranging. Charles gratulierte seinem neuen Vorgesetzten mit ehrlich gemeinter Aufrichtigkeit.

»Anständig von dir, Charles«, sagte der neue Major. »Von der Erfahrung her hättest du es mehr verdient als ich.« Er lächelte. »Ich sage dir was. Mit all diesen neuen Verantwortungen und noch dazu fest verheiratet, wie ich nun mal bin, wirst wohl du nach Richmond müssen, um mich dort auf dem Ball zu vertreten. Nimm Pell mit, wenn du magst.«

Charles benötigte keine weitere Einladung. Er möbelte seine Uniform auf und erledigte schnell seine Aufgaben. Er wurde gerade rechtzeitig zum Abendappell fertig. Bei der Zeremonie nahm der Colonel offiziell die neueste Kriegsflagge des Regiments entgegen, von den Damen zu Hause genäht. Ein Palmenkranz und die Worte Hampton’s Legion zierten die scharlachrote Seide.

Anschließend traf Charles die letzten Vorbereitungen für Richmond. Er wurde von einem Kavalleristen namens Nelson Gervais gestört, der einen langen Brief von seinem Mädchen zu Hause in Rock Hill bekommen hatte. Der neunzehnjährige Farmer trat von einem Bein auf das andere und raschelte mit dem Briefpapier, während er eine Erklärung abgab.

»Ich habe drei Jahre um Miss Sally Mills geworben, Captain. Ohne Erfolg. Und jetzt ganz plötzlich«, das Papier raschelte, »sagt sie, wo ich nun zur Armee bin und nicht mehr zu Hause, da sei ihr klar geworden, was sie für mich fühlt. Sie sagt hier, daß sie einen Heiratsantrag annehmen würde.«

»Gratuliere, Gervais.« Vor lauter eigener Ungeduld bekam Charles den flehenden Blick des Kavalleristen nicht mit. »Ich glaube nicht, daß Sie in nächster Zeit Urlaub bekommen, aber das sollte Sie nicht daran hindern, das Mädchen um ihre Hand zu bitten.«

»Jawohl, Sir, das hab’ ich auch vor.«

»Sie brauchen dazu nicht meine Einwilligung.«

»Ich brauche Ihre Hilfe, Sir. Miss Sally Mills schreibt richtig schön, aber«, sein Gesicht färbte sich so rot wie die neue Fahne, »ich kann’s nicht.«

»Überhaupt nicht?«

»Nein, Sir.« Lange Pause. »Lesen kann ich auch nicht.« Rascheln. »Einer meiner Kameraden hat mir das vorgelesen. Wo Sally geschrieben hat, sie liebt mich und all das – «

Charles begriff; er klopfte leicht auf den Schreibtisch. »Lassen Sie das hier, und wenn ich von Richmond zurück bin, werd’ ich einen Brief mit einem Antrag verfassen, und den gehen wir dann gemeinsam durch, bis Sie damit einverstanden sind.«

»Danke, Sir! Ich danke Ihnen. Ich kann Ihnen kaum genug danken.«

Die Nachtfahrt in den Waggons der Orange & Alexandria wurde durch unvorhergesehene Verzögerungen recht beschwerlich. Charles döste auf dem harten Sitz vor sich hin und gab sich Mühe, Ambroses Gesprächsversuche zu ignorieren. Sein Freund war darüber verärgert, daß sie von Hampton und anderen Senior-Offizieren im Waggon vor ihnen getrennt waren.

Charles fühlte sich erschöpft und dreckig, als sie spät am nächsten Morgen in Richmond ankamen. Bei einer Mississippi-Einheit war für sie Unterkunft vorbereitet worden, so daß er schnell in eine Zinkwanne springen konnte; dann warf er sich auf einen Strohsack und versuchte, eine Stunde zu schlafen. Die Aufregung machte das unmöglich.

Der Spotswood Ballsaal glänzte und glitzerte vor Tressen und Juwelen und Lichtern, die Unmengen von Konföderiertenflaggen beleuchteten. Hunderte drängten sich in den Saal und die angrenzenden Salons und Flure. Charles war gerade eingetreten, da entdeckte er auf der anderen Seite der Tanzfläche seine Cousine Ashton. Sie und ihr blasser Wurm von einem Ehemann lauerten in der Nähe von Präsident Davis. Charles würde sich Mühe geben, nicht in ihre Nähe zu geraten.

Junge Frauen in langen Abendkleidern, die meisten von ihnen schön und lebhaft, lachten und tanzten mit den Offizieren, die sie an Zahl um das Dreifache übertrafen. Charles war nicht begierig auf irgendeine beliebige Gesellschaft; er suchte die richtige Person, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Seine Hoffnungen waren albern gewesen. Fredericksburg war viele Meilen entfernt.

Doch es gab unerwartete Ablenkungen. Ein stämmiger Erster Lieutenant löste sich aus einer Gruppe um Joe Johnston und umarmte Charles heftig.

»Bison! Dacht’ mir’s doch, daß du auch hier bist.«

»Fitz, du schaust großartig aus. Ich hörte, du bist in General Johnstons Stab.«

Fitzhugh Lee, Neffe von Robert E. war ihm in West Point und Texas ein guter Freund gewesen. »Nicht so großartig wie du, Captain.« Er betonte das letzte Wort mit übertriebener Ehrerbietung. Charles lachte.

»Hör bloß auf damit. Ich weiß, wer hier den höheren Rang hat. Du gehörst zur regulären Armee. Wir sind bloß Staatstruppen.«

»Nicht mehr lang, da bin ich sicher. Oh-oh – da ist noch eine Visage, die du erkennen solltest. Und genau dort, wo man mit ihr rechnet – inmitten eines Schwarms bewundernder Damen.«

Charles schaute hin, und sein Herz schlug höher beim Anblick eines alten Freundes, der eigentlich der Rivale seines Colonels war. Jeb Stuarts rostbrauner Bart war voll und glänzend. Eine gelbe Rose schmückte sein Knopfloch. Seine blauen Augen blitzten, während er mit den Damen, die sich um ihn drängten, flirtete.

Der Kommandant der First Virginia Kavallerie war Student im ersten Semester gewesen, als Charles zur Akademie kam. Stuart hatte dem unerfahrenen Neuling einen Haarschnitt verpaßt – genauer gesagt einen halben Haarschnitt –, den Charles nie vergessen würde. Gemeinsam bahnten er und Fitz sich einen Weg zu Stuart. Er erspähte sie und entschuldigte sich bei den enttäuschten Damen, gerade als Charles einen Major der First Virginia entdeckte, der eine vollbusige Blondine in blaßblauer Seide zum Tanz aufforderte. Es war Augusta.

Abseits der Menge wurden Stuarts Stiefel sichtbar; da waren die Goldsporen, über die jedermann redete. »Bison Main! Jetzt ist die Party perfekt!«

Charles Begrüßung war zurückhaltend und korrekt. »Colonel!«

»Komm, komm – du wirst doch deinen alten Barbier nicht so begrüßen.«

»Also gut, Beauty. Großartig, dich zu treffen. Du und General Beauregard, ihr seid die Helden der Stunde.«

»Wie ich gehört hab’, denken diese Yankees, wir reiten alle schwarze Hengste, aus deren Nüstern Feuer und Schwefel faucht. Gut! Wir schlagen sie um so eher, je mehr sie die Hosen voll haben. Komm mit und trink einen Whiskey.«

Die drei gingen zur Erfrischungsbar, wo Schwarze ehrerbietig den Bestellungen nachkamen.

Charles’ Blick kehrte immer wieder zu Augusta zurück. Sie tanzte immer noch mit dem gleichen Major, der in Charles’ eifersüchtiger Phantasie zum Musterbeispiel eines pompösen Langeweilers geworden war.

Er schreckte zusammen, als Fitz sagte: »Hübscher kleiner Leckerbissen.«

»Kennst du sie?«

»Natürlich. Sie ist eine reiche Frau – jedenfalls ziemlich reich, dank ihres verstorbenen Mannes. Die Verwandten ihrer Mutter, die Duncans, zählen zu den ältesten und besten Familien am Rappahannock.«

»Bis auf ihren verräterischen Onkel«, sagte Stuart. »Der hat sich an die Afrikanergruppe verkauft, genau wie mein Schwiegervater.«

»Aber du hast deinen Sohn nach Old Cooke benannt«, sagte Fitz.

»Ich hab’ darauf bestanden, daß Flora den Namen des Jungen ändert. Er heißt nicht mehr Philip; er heißt James – jetzt und für immer.« Eisstücke lagen in Stuarts Lächeln, und seine Augen leuchteten fanatisch. Es beunruhigte Charles.

Andere Bewunderer warteten auf Stuart. Sie trennten sich in bestem Einvernehmen, und doch blieb bei Charles das Gefühl zurück, daß Rivalitäten in Rang und Status sie nun trennten. Er verfiel in leichte Melancholie, die sich steigerte, als das Orchester ein neues Stück spielte und der Major erneut Augusta zum Tanz aufforderte.

»Wenn du hinter ihr her bist, dann nichts wie los«, flüsterte Fitz.

»Er ist ranghöher als ich.«

»Kein Südstaatler mit einem Schuß Selbstachtung würde das für einen Hinderungsgrund halten. Außerdem«, die Stimme von Fitz wurde noch leiser, »kenne ich den Mann. Er ist ein Narr.«

Er klopfte Charles auf die Schulter. »Los, Bison, oder die Nacht ist vorbei, und du hast nichts davon gehabt.«

Zögernd manövrierte sich Charles an den Rand der Tanzfläche, wo die Paare herumwirbelten. Er merkte, daß Augusta ihn beobachtete, freudig und erleichtert, falls er sich das nicht einbildete. Schnell plante er seine Strategie und stürzte dann auf sie zu, als die Musik endete.

»Cousine Augusta! Major, entschuldigen Sie die Störung, ich hatte ja keine Ahnung, daß ich meine Verwandte heute abend hier sehen würde.«

»Ihre Verwandte?« wiederholte der First Virginia Offizier mit einer Stimme, die aus der Tiefe eines Fasses zu kommen schien. »Sie erwähnten nichts von Verwandten in South Carolina, Mrs. Barclay.«

»Hab’ ich nicht? Die Duncans haben einen ganzen Schwarm davon. Und ich habe den lieben Charles sei zwei – nein, seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Major Beesley – Captain Main. Wenn Sie uns entschuldigen würden, Major?« Sie lächelte, nahm Charles’ Arm und zog ihn von dem finster blickenden Virginier fort.

»Beastly, sagten Sie?« flüsterte er. Vom Whiskey brannte er innerlich und reagierte auf den Druck ihrer Brust gegen seinen Arm.

»So müßte er heißen. Federn im Gehirn und Blei in den Füßen. Ich dachte schon, mein Schicksal sei für den restlichen Abend besiegelt.«

»Federn und Blei – das stammt nicht von Mr. Pope, nicht wahr?«

»Nein, aber Sie haben jedenfalls ein gutes Gedächtnis.«

»Gut genug, um mich daran zu erinnern, daß ich Sie auf keinen Fall Gus nennen darf.«

Mit ihrem Fächer versetzte sie ihm einen leichten Schlag auf die Hand. »Seien Sie vorsichtig, oder ich gehe zurück zu Beastly.«

»Das würde ich niemals zulassen.« Er warf einen Blick über die Schulter. »Er belauert uns. Holen wir uns was zu essen.«

Charles reichte Augusta einen Becher mit Punsch und begann dann zwei kleine Teller zu beladen. Er trug sie hinaus auf einen Balkon, von wo aus man die belebte Straße überblicken konnte. Augusta seufzte. »Eigentlich gehöre ich gar nicht auf diese Party. Die Reise ist zu weit, und die Gesellschaft ist größtenteils unerträglich.« Sie nahm eine kleine Scheibe Toast vom Teller; der Kaviar glänzte. »Größtenteils«, wiederholte sie und blickte zu ihm auf.

»Warum sind Sie dann gekommen?«

»Es hieß, sie benötigten mehr Frauen. Ich kam zu dem Schluß«, sie legte eine Pause ein, »daß es meine patriotische Pflicht sei, der Party beizuwohnen. Einer meiner freigelassenen Neger machte die Reise mit. Natürlich hätte ich auch alleine fahren können – warum lächeln Sie?«

»Weil Sie so verdammt – äh, verflucht – «

»Schon gut, ich hab das Wort ›verdammt‹ auch schon gehört.«

»So selbstbewußt sind. Sie haben mehr Schneid als Jeb Stuart.«

»Und das ziemt sich nicht für eine Frau?«

»Das habe ich nicht gesagt, oder?«

»Weshalb erwähnen Sie es dann extra?«

»Nun, es ist – überraschend.«

»Ist das alles – überraschend? Wie denken Sie wirklich darüber, Captain?«

»Gehen Sie nicht gleich wieder auf mich los. Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, es gefällt mir.«

Sie errötete, was ihn verblüffte. »Ich wollte nicht auf Sie losgehen. Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir. Wie ich Ihnen schon beim erstenmal erzählte, war ich nie eine Schönheit und benehme mich nicht immer so, wie es sich gehört.«

»Nichtsdestoweniger, es gefällt mir von ganzem Herzen.«

»Besten Dank, verehrter Sir.« Die Barriere war wieder da. Hatte er sie mit seiner Aufmerksamkeit beunruhigt? Ihn beunruhigte es mit Sicherheit, wie sehr er sich von dieser hübschen, aber unkonventionellen Witwe angezogen fühlte.

Das Orchester setzte wieder ein. »Würden Sie mit mir tanzen, Augusta?«

Sie lag genau richtig in seinen Armen, weich und sanft. Er war so lange ohne Frau gewesen, daß er ganz bewußt Abstand halten mußte, sonst hätte sie gespürt, wie es um ihn stand. Sie tanzten zu Walzerklängen, immer weiter und weiter; Augusta lachte und preßte sich für einen Moment gegen ihn.

Nur zu bereitwillig blieb sie für den Rest des Abends seine Tanzpartnerin, dann begleitete er sie zu der Pension, in der sie ein Zimmer bekommen hatte. Charles war froh, mit ihr noch etwas allein sein zu können. Sein Zug fuhr um drei; bis dahin war es fast noch eine ganze Stunde.

»Ich muß Ihnen die Wahrheit sagen, Charles«, erklärte sie, als sie vor der dunklen Veranda der Pension ankamen. Sie trat auf die unterste Stufe, ihre Augen nun auf gleicher Höhe mit den seinen. »Heute abend haben wir uns über alles unterhalten, angefangen von meiner Ernte bis zu General Lees Charakter, nur das eine Thema, über das wir sprechen sollten, haben wir ausgelassen.«

»Und das wäre?«

»Den wirklichen Grund, weshalb ich so weit gereist bin. Ich bin eine Patriotin, aber so sehr nun auch wieder nicht.« Sie atmete tief durch, als bereite sie sich auf einen Sprung ins kalte Wasser vor. »Ich hoffte, Sie seien hier.«

»Ich – « Verstrick dich nicht in irgendwas. Er ignorierte die innere Warnung. »Ich hoffte das gleiche von Ihnen.«

»Ich bin ziemlich offen und direkt, nicht wahr?«

»Ich bin froh darüber. Ich hätte es nicht als erster sagen können.«

»Sie haben nicht gerade einen schüchternen Eindruck auf mich gemacht, Captain.«

»Im Umgang mit Männern wie Beastly, nein. Aber bei Ihnen – «

Von einem fernen Kirchturm schlug die Glocke die Viertelstunde. Die Nacht war immer noch warm, und ihm war heiß. Ihre rechte Hand schloß sich fest um seine Linke.

»Werden Sie mich auf der Farm besuchen kommen, wenn Sie es ermöglichen können?«

»Selbst wenn ich mich vergesse und Sie Gus nenne?«

Sie schaute ihn an, beugte sich ihm entgegen. Blonde Locken streichelten sanft sein Gesicht. »Selbst dann.« Sie küßte ihn auf die Wange und rannte hinein.

Pfeifend machte er sich zur Bahnstation auf. Die innere Stimme blieb hartnäckig. Sei vorsichtig, Kavalleristen reisen mit leichtem Gepäck. Er wußte, er sollte auf diese innere Stimme hören, aber er fühlte sich riesengroß und stark, und so tat er es nicht.

36

Im Finanzministerium kam James Huntoon aus einer Notsitzung, die der Minister einberufen hatte, um das Fälschungsproblem zu besprechen. Huntoon trat an seinen vom Herbstlicht überfluteten Schreibtisch und legte eine Zehn-Dollar-Banknote darauf, die echt aussah, es aber nicht war. Er hatte den Auftrag bekommen, sie Pollard, dem Herausgeber vom Examiner, zu zeigen, damit die Zeitung ihre Leser vor allen im Umlauf befindlichen Fälschungen warnen konnte – Banknoten, die besser gedruckt waren als jene von Hoyer und Ludwig, der offiziellen Regierungsdruckerei.

Pollard würde Gefallen an der Story finden, und Huntoon genoß den Gedanken, sie ihm zu berichten; er teilte die Abneigung des Herausgebers gegen den Präsidenten, seine Politik und überhaupt gegen die gesamte Regierung. Im Augenblick hatte es die Zeitung auf Colonel Northrop abgesehen, den Generalkommissar der Armee, der im Begriff stand, aufgrund seiner falschen Nahrungsbeschaffung und -Verteilung schnell zum bestgehaßten Mann der Konföderation aufzusteigen. Pollards Anti-Northrop-Leitartikel vergaßen nie zu erwähnen, daß Davis wieder mal mit einem West-Point-Kumpel gemeinsame Sache machte. Der einzige Akademie-Absolvent, den der Examiner unterstützte, war Joe Johnston; und zwar deswegen, weil der Präsident und der General sich heftig wegen des Ranges in den Haaren lagen, zu dem sich Johnston berechtigt fühlte.

In Privatgesprächen äußerte sich Herausgeber Pollard sogar noch bösartiger. Er bezeichnete Davis als ›einen Mississippi-Parvenu‹. Beschuldigte ihn, von seiner Frau Befehle entgegenzunehmen, ›er ist Wachs in ihren Händen‹. Erinnerte Zuhörer daran, daß Davis gegen die Kongreßentscheidung, die Hauptstadt nach Richmond zu verlegen, sein Veto eingelegt hatte – ›Zeigt das nicht überdeutlich, was er für unsere geliebte Stadt übrig hat?‹ – und daß er ›vor Kummer wie betäubt gewesen war‹, nach Aussage seiner Frau, als er erfahren hatte, daß er zum Präsidenten gewählt worden war.

Pollard stellte keinen Einzelfall dar. Ein Zyklon der Feindseligkeit stieg im Süden auf. Stephens, der ältliche Vizepräsident, bezeichnete seinen Vorgesetzten ganz offen mit Worten wie Tyrann und Despot. Viele forderten Davis’ Rücktritt – doch die Wahl, mit der seine vorläufige Präsidentschaft bestätigt werden sollte, würde erst im November abgehalten werden.

Huntoons Unzufriedenheit mit der Regierung war ein Grund für seinen deprimierten Zustand. Ashton war ein weiterer. Sie brachte ihre gesamte Zeit damit zu, sich auf der sozialen Leiter höher zu manövrieren. Zweimal hatte sie ihn zum Besuch von Dinnerparties gezwungen, die dieser verschlagene kleine Jude Benjamin gegeben hatte. Die beiden hatten viel gemeinsam. Immer auf der Hut, versuchten sie es allen recht zu machen und niemandem auf die Füße zu treten – denn wer konnte wissen, aus welcher Richtung der Zyklon nächste Woche blasen würde?

Ein offener, heftiger Streit hatte Huntoon den Sommer verdorben. Zwei Wochen nach dem Empfang im Spotswood hatte der elegante Gentleman mit Verbindungen nach Valdosta und den Bahamas seine Aufwartung in der Residenz gemacht, in die Huntoon und Ashton vor wenigen Tagen eingezogen waren. Der Gentleman bot Huntoon einen Anteil an seiner Maritim-Gesellschaft zum Kauf an. In Liverpool, so sagte er, habe er ein schnelles Dampfschiff entdeckt, die Water Witch, die zu vernünftigen Preisen zum Blockadebrecher zwischen Nassau und der Konföderiertenküste umgerüstet werden konnte.

»Und was soll sie befördern?« fragte Huntoon. »Gewehre, Munition, Sachen dieser Art?«

»Oh nein«, erwiderte Mr. Lamar H.A. Powell. »Luxusgüter. Damit läßt sich wesentlich mehr Geld verdienen. Die Risiken für das Schiff sind beträchtlich, wie Sie wissen. Deshalb planen wir eher kurzfristig als langfristig. Meine Berechnungen besagen, daß bei sorgfältig ausgewählter Fracht allein mit zwei erfolgreichen Fahrten ein Profit von fünfhundert Prozent erzielt werden kann – Minimum. Danach können die Yankees das Schiff versenken, wann es ihnen paßt. Macht die Water Witch noch mehr Fahrten, dann steigt der potentielle Gewinn der Anteilhaber ins Astronomische.«

In dem Augenblick bemerkte Huntoon, daß seine Frau den Besucher intensiv musterte. Huntoon fürchtete gutaussehende Männer, weil er selbst keiner war, aber er konnte nicht entscheiden, ob der gewagte Plan des Fremden oder dessen gutes Aussehen Ashton reizte. Wie auch immer, er jedenfalls wollte nichts mit Mr. L.H.A. Powell zu tun haben, mit dessen Vergangenheit er sich ein wenig beschäftigt hatte, nachdem Powell in einer Nachricht um ein Treffen gebeten hatte.

Es hieß, Powell sei Söldner in Europa und später Freibeuter in Südamerika gewesen. Regierungsberichte zeigten, daß er Befreiung von jeglichem Militärdienst beantragt hatte, aufgrund eines Gesetzes, wonach Besitzer von mehr als zwanzig Sklaven freigestellt wurden; in Powells Erklärung war die Rede von fünfundsiebzig Sklaven auf der Familienplantage in der Nähe von Valdosta. Huntoon erhielt auf Anfrage von Atlanta die telegraphische Nachricht, daß die ›Plantage‹ aus einem heruntergekommenen Farmhäuschen und einigen Schuppen bestand, bewohnt von drei Leuten namens Powell: ein Mann und eine Frau, beide über siebzig, und ein vierzigjähriger Koloß mit dem Gehirn eines Kindes. Ein dritter Bruder war in den Westen auf und davon.

»Ich möchte mit solch’ einem Plan nichts zu tun haben, Mr. Powell.«

»Dürfte ich den Grund erfahren?«

»Es gibt mehrere, aber der Hauptgrund dürfte genügen. Es ist unpatriotisch.«

»Ich verstehe. Sie sind lieber ein armer als ein reicher Patriot, nicht wahr?«

»Parfüm und Seide und Sherry für Minister Benjamin zu importieren deckt sich nicht mit meiner Vorstellung von Patriotismus.«

»Aber James, Liebling«, fing seine Frau an.

Geleitet von einer nicht genau definierten, aber deutlich empfundenen Bedrohung, die der elegante Gentleman für ihn darstellte, unterbrach er sie. »Die Antwort lautet nein, Ashton.«

Nachdem Powell gegangen war, brüllten sie sich bis spät in die Nacht hinein an.

Huntoon: »Natürlich meinte ich, was ich sagte. Mit einem derartigen prinzipienlosen Opportunismus will ich nichts zu tun haben. Wie ich dem Kerl schon sagte, habe ich genügend Gründe dafür.«

Mit geballten Fäusten preßte Ashton hervor: »Dann sag sie.«

»Nun – da ist einmal das persönliche Risiko. Stell dir die Folgen einer Entlarvung vor.«

»Du bist ein Feigling.«

Er wurde rot. »Gott, wie ich dich manchmal hasse.« Aber er hatte sich abgewandt, bevor er es sagte.

Später dann, wieder Ashton, wilder als zuvor: »Es ist mein Geld, von dem wir leben, vergiß das nicht. Du verdienst ja kaum soviel wie baumwollpflückende Nigger. Ich kontrolliere unsere Mittel – «

»Mit meiner Erlaubnis.«

»Das glaubst du! Ich kann das Geld ausgeben, wie ich will!«

»Möchtest du das vor Gericht feststellen lassen? Das Gesetz besagt, daß diese Mittel in dem Moment, in dem wir heirateten, in meinen Besitz übergingen.«

»Immer der selbstgefällige kleine Anwalt, was?« Sie riß Decken von ihrem Bett, öffnete die Tür, und warf das Bündel in den Flur. »Schlaf auf dem Sofa, du Bastard – wenn du dafür nicht zu fett bist.«

Sie stieß ihn hinaus. Besänftigend hob er die Hand; hinter den Brillengläsern tränten seine Augen. »Ashton!« Die zuknallende Tür schlug gegen seine Handfläche. Er lehnte sich gegen die Wand und schloß die Augen.

Am nächsten Tag hatten sie wieder Frieden geschlossen – das taten sie stets –, obwohl sie ihm zwei Wochen lang jeden körperlichen Kontakt verweigerte. Danach besserte sich ihre Laune beträchtlich. Sie war so fröhlich, als würden Powell und sein Plan gar nicht existieren.

Doch die Erinnerung an diesen Streit wollte nicht von ihm weichen; eine weitere dunkle Wolke am Horizont. Mit der gefälschten Banknote saß Huntoon an seinem Schreibtisch, die Augen leer, mit unglücklichem Gesichtsausdruck. Ein Angestellter mußte ihn recht deutlich auffordern, endlich zur Zeitung zu gehen.

An den meisten Wochentagen kam James erst nach halb acht nach Hause, der üblichen Stunde für ein leichtes Abendessen. Auch an diesem Herbstnachmittag rechnete Ashton mit ihm erst am frühen Abend. Eine ganze Stunde brachte sie damit zu, sich attraktiv herzurichten; um zwei Uhr war sie bereit, aufzubrechen, und Homer fuhr die Kutsche vor.

Der Tag war mild, aber Ashton war heiß. Sie ging ein enormes Risiko ein. Würde sie die Sache allein durchstehen? Allein eine Woche hatte es sie gekostet, die Adresse des Mannes aufzuspüren, eine weitere, um eine entsprechende Nachricht zu formulieren, mit der sie ihm Tag und Zeitpunkt ihres Besuches mitteilte, ›um eine kommerzielle Angelegenheit von beidseitigem Interesse‹ zu besprechen. Sie konnte sich das amüsierte Aufleuchten seiner Augen vorstellen, wenn er das las.

Wenn er das las. Sie hatte keine Antwort erhalten. Falls er nun nicht in der Stadt war?

In das Pfeifen eines Zuges an der Broad Street Station hinein rief Homer: »Hier ist die Ecke, wo Sie hinwollten, Miz Huntoon. Soll ich Sie in einer Stunde abholen?«

»Nein. Ich weiß nicht, wie lange ich mit Einkäufen zu tun habe. Wenn ich fertig bin, nehme ich eine Mietkutsche, oder ich schaue bei Mr. Huntoon vorbei und komme mit ihm heim.«

»Sehr wohl, Ma’am.« Schnell betrat Ashton den nächsten Laden und kam wenige Minuten später mit zwei überflüssigen Garnrollen heraus. Sie vergewisserte sich, daß Homer verschwunden war, dann winkte sie die erstbeste Kutsche heran.

Schwitzend, mit klopfendem Herzen, stieg sie vor einem der hübschen Häuser mit hoher Veranda auf Church Hill aus. Es lag an der Franklin Street. Aus Furcht, sie könnte jemanden sehen, der sie beobachtete, stieg sie, ohne nach rechts und links zu blicken, die Stufen hoch und läutete. Würden Diener da sein?

Lamar Powell öffnete persönlich. Vor lauter Erregung wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen.

Er trat zurück in den Schatten. »Bitte, kommen Sie herein, Mrs. Huntoon.«

Im Foyer war es kühl. Durch die offenstehenden Türen zu jeder Seite wurden andere Zimmer sichtbar, Zimmer mit verschwenderischen Holzarbeiten, üppiger Möblierung und passenden Lüstern. Vor kurzem hatte James erneut Powells Namen erwähnt und gesagt, er habe Nachforschungen über ihn angestellt. »Scheint so, als ob der Kerl von Unverschämtheit, Eigenreklame und Kredit lebt.« Falls die hämische Bemerkung auch nur teilweise stimmte, dann mußte Powells Kredit gewaltig sein.

Er lächelte ihr zu. »Ich gestehe, daß mich Ihre Nachricht überrascht hat. Ich war mir nicht sicher, ob Sie die Verabredung einhalten würden. Allein auf die Möglichkeit hin hab’ ich meinen Hausdiener zum Fischen geschickt und bin zu Hause geblieben. Wir sind ganz allein.« Er machte eine Geste mit seinen schlanken, merkwürdig sinnlichen Händen. »Sie brauchen also nicht zu befürchten, kompromittiert zu werden.«

Ashton fühlte sich so verlegen wie ein Kind. Er war groß – so groß – und machte in seinen dunklen Hosen und dem weiten Baumwollhemd einen vollkommen entspannten Eindruck. Er war barfuß. »Es ist ein wunderbares Haus«, rief sie. »Wieviele Zimmer bewohnen Sie?«

Amüsiert von ihrer Nervosität sagte er: »Alle, Mrs. Huntoon.« Sanft griff er nach ihrem Arm. »Als wir im Spotswood einander vorgestellt wurden, wußte ich, daß Sie irgendwann zu mir kommen würden. Sie sehen wunderbar aus in diesem Kleid. Ich vermute, ohne das Kleid würden Sie noch wunderbarer aussehen.«

Ohne zu zögern nahm er ihre Hand und führte sie zur Treppe.

Schweigend stiegen sie die Stufen hoch. In einem Zimmer, in dem eine Jalousie Lichtstreifen auf das Bett warf – sie bemerkte, daß die Bettdecke bereits zurückgeschlagen war –, zogen sie sich aus; er ruhig, sie mit hektischen, nervösen Bewegungen. Nie zuvor hatte ein Mann sie in solch einen Zustand versetzt.

Das Schweigen dehnte sich. Er half ihr mit den Miederknöpfen, küßte sie sehr sanft auf die linke Wange. Dann küßte er ihren Mund, fuhr langsam mit seiner Zunge über ihre Unterlippe. Sie hatte das Gefühl, in einem Freudenfeuer zu versinken.

Er schob die Spitzenbänder von ihren Schultern, entblößte sie bis zur Taille. Vorsichtig, zart hob er erst die eine Brust heraus, dann die andere, preßte sanft seinen Daumen gegen ihre Brustwarzen. Er beugte sich vor, immer noch auf seine merkwürdig entrückte Weise lächelnd. Sie warf den Kopf zurück, mit geschlossenen Augen, feuchten Schenkeln, erwartete, seine Zunge zu spüren.

Mit der Handfläche schlug er gegen ihren Kopf und warf sie aufs Bett. Sie war zu entsetzt, um zu schreien. Lächelnd stand er über ihr.

»Warum –?«

»Damit es keinen Zweifel gibt, wer in dieser Liaison das Kommando führt, Mrs. Huntoon. Ich wußte nach dem ersten Blick, daß Sie eine starke Frau sind. Reservieren Sie diese Eigenschaft für andere.«

Dann bückte er sich und begann sie vollständig zu entkleiden.

Ihr Entsetzen verwandelte sich in eine so intensive Erregung, daßes an Wahnsinn grenzte. Sie war so feucht wie ein Fluß, als er seine Baumwollunterhosen herunterzog. Er war seltsam geformt, kleiner, als sie es aufgrund seiner Statur erwartet hatte. Er spreizte ihre Beine und bohrte sich in sie, ohne die Augen zu schließen.

Sie konnte nicht glauben, was mit ihr geschah. Sie hämmerte auf die zerwühlten feuchten Laken, bis zum Wahnsinn erregt von seinem Schlag. Sie begann zu schreien, als er sein Tempo steigerte; bei anderen Liebhabern war ihr das nie passiert. Tränen strömten über ihre Wangen, und als er ihr den letzten rammenden Stoß versetzte, schluchzte sie auf, stöhnte und fiel in Ohnmacht.

Als sie erwachte, lag er lächelnd da, auf einen Ellbogen gestützt. Sie war verschwitzt, erschöpft, erschreckt von ihrem Ohnmachtsanfall. »Ich war weg – «

»La petite mor! Der kleine Tod. Du meinst, es ist das erste Mal –?«

Sie schluckte. »Noch nie.«

»Nun, es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Du hast fast fünfundzwanzig Minuten geschlafen. Genug Zeit für einen Mann, sich zu erholen.« Er machte eine entschiedene Geste. »Los, mach’s mit dem Mund.«

»Aber ich habe noch nie – bei niemandem – «

Er packte sie an den Haaren. »Hast du gehört, was ich gesagt hab’? Tu es.«

Sie gehorchte.

Viel später fanden sie ein erneut Erfüllung. Wieder schlief sie, und bei ihrem zweiten Erwachen spürte sie nichts mehr von dem früheren Entsetzen.

Die Lichtstreifen änderten sich, wurden dunkler. Der Nachmittag ging zu Ende. Es war ihr egal. Was heute in diesem Zimmer geschehen war, die geheimen Dinge, hatte sie emotional verändert. Sie hatte schon genügend Liebhaber gehabt, das bewies ihre Sammlung an Souvenirs, aber Lamar Powell hatte sie gelehrt, daß sie eine Novizin, ein Kind war.

Allmählich jedoch fiel ihr der zweite Grund ihres Besuches wieder ein. »Mr. Powell – «

Sein Lachen dröhnte auf. »Man sollte meinen, wir kennen uns gut genug, um uns beim Vornamen zu nennen.«

»Ja, das stimmt.« Mit rotem Gesicht schob sie eine feuchte, schwarze Haarsträhne aus der Stirn. In seinem Humor lag eine gehörige Portion Grausamkeit. »Ich wollte mit dir übers Geschäft sprechen. In unserem Haushalt kontrolliere ich das Geld. Ist in deinem Maritim-Syndikat noch Platz für einen weiteren Kapitalanleger?«

»Schon möglich.« Augen wie undurchsichtiges Glas verbargen seine Gedanken. »Wieviel kannst du anlegen?«

»Fünfunddreißigtausend Dollar.« Bei einer Investition in dieser Höhe würden nur noch wenige Tausender übrigbleiben, falls der Plan fehlschlug.

»Diese Summe wird dir einen ordentlichen Anteil an dem Schiff sichern«, sagte er. »Und am Profit. Bedeutet deine Entscheidung, daß dein Mann seine Meinung geändert hat?«

»James weiß nichts davon, und er wird auch nichts davon erfahren, bis ich es für richtig halte. Er wird auch nichts von meinem heutigen Besuch hier erfahren – oder von zukünftigen Besuchen.«

»Falls es zukünftige Besuche geben wird.« Sie sollte sich ruhig ein bißchen krümmen.

»Das wird es, falls du das Geld willst.«

Lächelnd lehnte er sich zurück. »Ich brauche es. Sobald ich es habe, kann es losgehen.«

»Bei unserem nächsten Treffen bringe ich einen Wechsel mit.«

»Abgemacht. Bei Gott, du bist eine Entdeckung. Es gibt verdammt wenige Männer in der Stadt mit deinen Nerven. Wir passen gut zusammen«, sagte er, rollte sich zu ihr und küßte ihren nackten Bauch. Diesmal war er es, der hinterher einschlief.

Ashton besaß ein Kästchen, das ihr Mann noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Darin bewahrte sie Erinnerungsstücke an romantische Affären auf, die einen Monat oder eine Woche oder eine Nacht gedauert hatten. Das aus Japan stammende Kästchen war aus lackiertem Holz, mit kleinen Perlensplittern besetzt. Den Deckel zierte ein Tee schlürfendes Pärchen. Die Innenseite des Deckels zeigte das gleiche Paar, doch hier hatten sie ihre Kimonos hochgerafft und kopulierten mit breitem Lächeln. Der Künstler hatte sein Werk so dargestellt, daß die Genitalien beider Partner deutlich zu sehen waren. Der gewaltige Penis des Mannes ließ Ashton den glücklichen Gesichtsausdruck der Frau nachfühlen.

Die Souvenirs, die sie in diesem Kästchen aufbewahrte, bestanden aus Hosenknöpfen. Lange vor dem Krieg hatte sie mit ihrer Sammlung begonnen, nach einem Besuch bei Cousin Charles, als dieser noch Kadett in West Point war. Zu der Zeit war es Sitte, daß ein Mädchen dem Kadetten in ihrer Begleitung ein kleines Geschenk machte – für gewöhnlich irgendwelche Süßigkeiten – als Gegenleistung für einen Knopf von seinem Waffenrock. Ashton unterhielt an einem einzigen Abend nicht einen, sondern sieben Kadetten in der muffigen Finsternis des Pulvermagazins. Von jedem verlangte sie ein unkonventionelles Souvenir: einen Knopf von seinem Hosentürchen.

Jetzt, während Powell schlief, kroch sie leise aus dem Bett, suchte seine Hosen, die er auf den Boden geworfen hatte, und zerrte, bis sich ein Knopf löste. Dann legte sie sich zufrieden wieder ins Bett. War der Knopf erst sicher in ihrem Kästchen untergebracht, dann würde sich ihre Sammlung auf achtundzwanzig Knöpfe belaufen – einen für jeden Mann, der ihre Gunst genossen hatte. Unberücksichtigt blieben dabei der Junge, der sie als Mädchen entjungfert hatte, und ein Matrose mit viel Erfahrung, mit dem sie Beziehungen unterhalten hatte, bevor der West-Point-Besuch sie zu ihrer Sammlung anregte. Der einzige durch keinen Knopf repräsentierte Partner war ihr Ehemann.

37

Washington war in diesem Herbst auf der Suche nach Sündenböcken. Auf McDowell wurde weiterhin eingeprügelt, aber auch Scott bekam nun einen Teil der Schuld an Bull Run in die Schuhe geschoben. Und fast jeden Abend kehrte Stanley mit neuen Horrorstories über Cameron heim. Der Boß wurde generell von Bürokraten, der Presse und der Öffentlichkeit gegeißelt.

»Selbst Lincoln hat sich der Claque angeschlossen. Unser Spion hat ein paar Notizen seines Sekretärs Nicolay entdeckt.« Er zog einen Zettel hervor, auf den er die alarmierenden Zitate gekritzelt hatte: Präsident sagt, Cameron sei vollkommen unwissend. Selbstsüchtig. Verhaßt im ganzen Land. Unfähig, irgend etwas zu organisieren oder allgemeine Pläne auszuführen. Er gab ihr den Zettel. »Gibt noch mehr davon.«

Sie studierte das Papier, dann sagte sie: »Wir haben zu lange gewartet, Stanley. Du mußt dich von Cameron trennen, bevor sie ihm den Kopf abschlagen.«

»Nur zu gern. Ich weiß bloß nicht, wie.«

»Ich habe lange darüber nachgedacht. Es existiert eine eindeutige Spaltung, und wir müssen daraufsetzen, daß eine der Seiten gewinnt.«

Verblüfft schüttelte Stanley den Kopf. »Aber welche?« sagte er, den Mund vollgestopft mit Hummer.

»Das kann ich dir am besten beantworten, wenn ich dir erzähle, wer mich heute nachmittag besucht hat. Caroline Wade.«

»Die Frau des Senators? Isabel, du erstaunst mich immer wieder. Ich wußte gar nicht, daß du mit ihr bekannt bist.«

»Bis vor einem Monat war ich das auch nicht. Ich habe dafür gesorgt, daß wir einander vorgestellt wurden. Heute war sie recht herzlich, und ich glaube, ich habe sie davon überzeugen können, daß ich ein Anhänger ihres Mannes und seiner Clique bin – Chandler, Grimes und all die anderen. Außerdem deutete ich an, wie unglücklich du über Simons Management des Kriegsministeriums seiest, aus Loyalitätsgründen aber nichts dagegen unternehmen könntest.«

Er wurde augenblicklich blaß und sagte: »Du hast doch nicht Lashbrook erwähnt?«

»Stanley, du machst die Fehler, nicht ich. Mrs. Wade hat es nicht ausdrücklich betont, aber jedenfalls vermittelte sie mir den Eindruck, daß der Senator einen neuen Kongreßausschuß bilden möchte, der die diktatorische Macht des Präsidenten beschneidet und die Kriegsführung beaufsichtigt. Solch ein Ausschuß würde sicherlich als erstes Simon seines Postens entheben.«

»Glaubst du? Ben Wade ist einer von Simons engsten Freunden.«

»War, mein Lieber. War. Alte Allianzen sind in Bewegung geraten.« Sie beugte sich zu ihm. »Ist Simon immer noch verreist?«

Er nickte; der Minister besuchte den Westen.

»Dann ist es eine einmalige Gelegenheit. Du wirst nicht so genau beobachtet werden. Besuche Wade, und ich schicke die Einladungen zu einem Empfang ab, den ich für seine Frau und den Senator und ihren Kreis plane. Vielleicht lade ich, um den Schein zu wahren, auch George und Constance ein. Einen Abend werde ich ihre Arroganz schon ertragen können.«

»Schön und gut, aber was soll ich dem Senator sagen?«

»Sei still, und hör zu; ich werd’s dir erklären.«

Das Essen war vergessen; er saß lauschend da, bis ins Mark erschreckt von dem Gedanken, dem gefährlichsten der Radikalen gegenüberzutreten. Doch je länger Isabel sprach, desto überzeugter wurde er, daß Wade für sie ein Mittel zum Überleben werden konnte.

Am nächsten Tag traf er die Verabredung, allerdings erst zum Wochenende. Die Verzögerung brachte seine Verdauung durcheinander und ruinierte seinen Schlaf.

Am Freitag endlich saß Stanley auf einer Bank in Senator Benjamin Franklin Wades Vorzimmer. Sein Magen schmerzte. Die verabredete Stunde des Treffens, elf Uhr, verstrich. Gegen viertel nach elf schwitzte Stanley heftig. Um halb zwölf war er fluchtbereit. In diesem Augenblick öffnete sich Wades Bürotür. Ein untersetzter Mann mit Brille und herrlichem Bart kam herausmarschiert. Vor lauter Entsetzen war Stanley zu keiner Bewegung fähig.

»Morgen, Mr. Hazard. Sind Sie in ministeriellen Angelegenheiten hier?«

Sag was! Geh in Deckung! Er war überzeugt davon, daß sein schlechtes Gewissen deutlich erkennbar war. »Es ist – eigentlich ist es mehr persönlich, Mr. Stanton.« Der kleine, aber einschüchternd wirkende Mann stammte wie Wade aus Ohio; ein Demokrat, seit langem einer der besten und teuersten Anwälte Washingtons und eine Zeitlang Buck Buchanans Justizminister. Außerdem war er Simon Camerons persönlicher Anwalt.

»Bei mir ebenfalls«, sagte Edwin Stanton. »Ich bedaure, daß mein Termin sich mit dem Ihren überschnitten hat. Wie geht es meinem Klienten? Schon wieder aus dem Westen zurück?«

»Nein, aber ich erwarte ihn bald.«

»Wenn er zurückkehrt, richten Sie ihm meine Grüße aus. Ich stehe ihm für die Abfassung seines Jahresberichts zur Verfügung.« Und damit verschwand Stanton in den Fluren des Kapitols.

»Gehen Sie bitte hinein«, forderte ihn Wades Verwaltungsassistent von seinem Schreibtisch aus auf.

»Was? Oh, ja – danke.«

Stanley stolperte auf den großen Walnußschreibtisch des Senators zu; Wades verächtlich hängende Oberlippe und das Glitzern der kleinen, schwarzen Augen schüchterten ihn ein. Wade, einst Staatsanwalt im nordöstlichen Ohio, war mindestens sechzig, strahlte aber eine Energie aus, die ihn jugendlich wirken ließ.

»Setzen Sie sich, Mr. Hazard.«

»Jawohl, Sir.«

»Ich erinnere mich, wir haben uns schon mal bei einem Empfang für Mr. Cameron getroffen. Was kann ich für Sie tun?« Er feuerte die Worte wie Kugeln ab.

»Senator, es ist schwierig, einen Anfang zu finden.«

»Fangen Sie an, oder lassen Sie es bleiben, Mr. Hazard. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann.«

Falls Isabel sich täuscht –

Wade verschränkte seine Hände auf dem Schreibtisch und funkelte ihn an. »Mr. Hazard?«

Sich wie ein Selbstmörder fühlend, stürzte sich Stanley kopfüber hinein. »Sir, ich bin hier, weil ich Ihren Wunsch nach einer wirkungsvollen Kriegsführung und angemessener Bestrafung des Feindes vorbehaltlos unterstütze.«

»Die einzig angemessene Bestrafung hat gnadenlos und total zu sein. Fahren Sie fort.«

»Ich – « Zu spät für einen Rückzug; die Worte überstürzten sich. »Ich glaube nicht, daß der Krieg richtig geführt wird. Weder von der Exekutive«, Wades Augen erwärmten sich leicht, »noch von meinem Ministerium.« Sofort verdeckte eine Maske die Wärme. »Im ersteren Fall kann ich nichts tun.«

»Der Kongreß kann und wird. Fahren Sie fort.«

»Im letzteren Fall würde ich gern tun, was in meinen Kräften steht. Es gibt«, mit schmerzendem Magen zwang er sich, Wades schwarzem Blick standzuhalten, »Unregelmäßigkeiten bei der Versorgung, von denen Sie sicherlich gehört haben, und – «

»Einen Moment. Ich dachte, Sie seien einer der Auserwählten?«

Verwirrt schüttelte Stanley den Kopf. »Sir? Ich – «

»Einer aus dem Pennsylvania-Haufen, den unser gemeinsamer Freund mit nach Washington brachte, weil sie ihm bei der Finanzierung seiner Wahlkampagnen geholfen hatten. Ich hatte den Eindruck, daß Sie zu dem Rudel gehören – Sie und Ihr Bruder, der für Ripley arbeitet.«

Kein Wunder, daß Wade so mächtig und gefährlich war. Er wußte alles. »Ich kann nicht für meinen Bruder sprechen, Senator. Ja, es stimmt, ich kam hierher, um unseren, äh, gemeinsamen Freund zu unterstützen. Aber Menschen verändern sich.« Ein schwaches Grinsen. »Der Minister war einst ein Demokrat – «

»Er wird von Zweckmäßigkeit geleitet, Mr. Hazard.« Der mitleidlose Mund zuckte – Wades Version eines Lächelns. »Wie wir alle in dieser Branche. Was haben Sie anzubieten? Wollen Sie ihn verkaufen?«

Stanley erbleichte. »Sir, diese Ausdrucksweise ist – «

»Grob, aber korrekt. Hab’ ich recht.« Der verängstigte Besucher blickte zur Seite. »Natürlich hab’ ich recht. Also, dann lassen Sie mal Ihr Angebot hören. Gewisse Kongreßmitglieder könnten daran interessiert sein… Vor zwei Jahren waren Simon, Zach Chandler und ich unzertrennlich, aber die Zeiten ändern sich.«

Stanley leckte sich die Lippen und überlegte, ob sich der Senator über ihn lustig machte.

Wade fuhr fort: »Die Kriegsanstrengungen sind mangelhaft, das weiß jeder. Präsident Lincoln ist mit Simon unzufrieden. Auch das weiß jeder. Falls Lincoln nicht handelt, werden es andere tun.« Eine kurze Pause. »Was könnten Sie ihnen anbieten, Mr. Hazard?«

»Informationen über unrechtmäßig vergebene Kontrakte«, flüsterte Stanley. »Namen. Daten. Alles. Mündlich. Kein schriftliches Wort.«

»Und was würden Sie als Gegenleistung für diese Hilfe verlangen? Eine Immunitätsgarantie für Sie?«

Stanley nickte.

Wade lehnte sich zurück; sein Blick nagelte seinen Besucher fest, drückte Verachtung aus. Stanley wußte, er war erledigt. Cameron würde bei seiner Rückkehr alles erfahren. Zum Teufel mit seinem dämlichen Weib.

»Ich bin interessiert. Aber Sie müssen mich davon überzeugen, daß Sie keine Fälschungen anzubieten haben.« Der Staatsanwalt beugte sich dem Zeugen entgegen. »Geben Sie mir zwei Beispiele. Mit allen Details.«

Stanley wühlte in seinen Taschen nach Notizen, die er auf Isabels Vorschlag hin vorbereitet hatte. Nachdem er Wade einige kleine Geheimnisse serviert hatte, verhielt sich der Senator erkennbar herzlicher. Wade forderte ihn auf, sich draußen vom Assistenten den Termin für ein neues Treffen an sicherem Ort geben zu lassen. Ganz benommen erkannte Stanley, daß alles vorüber war.

An der Tür schüttelte ihm Wade kräftig die Hand. »Ich erinnere mich, daß meine Frau einen Empfang in Ihrem Hause erwähnte. Ich freue mich darauf.«

Sich wie ein schlachterprobter Held fühlend, schwankte Stanley hinaus. Gesegnet sei Isabel. Sie hatte schließlich doch recht behalten. Es gab eine Verschwörung, um den Boß seines Postens zu entheben. Gehörte Stanton vielleicht auch zu den Eingeweihten?

Egal. Was zählte, war seine Abmachung mit dem alten Gauner aus Ohio. Wie Daniel hatte er sich unter die Löwen gewagt und überlebt. Am späten Nachmittag war er davon überzeugt, daß alles sein Werk war und Isabel nur eine zufällige Nebenrolle gespielt hatte.

38

Sein Name war Arthur Scipio Brown. Er war siebenundzwanzig, ein Mann mit breiten Schultern, einer Taille wie ein Mädchen, Händen gewaltig wie Waffen und einer bernsteinfarbenen Haut. Doch seine Stimme war sanft und leise, mit dem leicht nasalen Klang von New England. Er war in Roxbury geboren, außerhalb von Boston, von einer schwarzen Mutter, deren weißer Geliebter sie verlassen hatte.

Zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Constance Hazard sagte Brown, seine Mutter habe sich geschworen, nicht dem Mann nachzutrauern, der versprochen hatte, sie ewig zu lieben, und der sie dann verlassen hatte. Mit ihrem Verstand und ihrer Energie – mit ihrem ganzen Leben, sagte er – hatte sie ihrer Rasse gedient. Sechs Tage in der Woche hatte sie die Kinder von freien schwarzen Männern und Frauen in einem Schuppen unterrichtet; jeden Sonntag hatte sie Schülern einer Negergemeinde Unterricht erteilt. Vor einem Jahr war sie gestorben, schwer krebskrank, aber die Hand ihres Jungen haltend und mit klarem Blick; bis zum Schluß hatte sie sich geweigert, Laudanum zu nehmen.

»Sie war zweiundvierzig. Hat nie viel vom Leben gehabt«, sagte Brown. Es war eine Feststellung, keine Bitte um Mitleid.

Constance traf Scipio Brown bei dem Empfang für Dr. Delany, den Pan-Afrikaner. Delany hatte den jungen Brown mitgebracht. Im Gespräch mit Brown waren George und Constance von seinem Benehmen ebenso fasziniert wie von seiner Geschichte und seinen Ansichten.

Als Brown sagte, er sei ein Jünger von Martin Delany, fragte Constance: »Sie meinen, Sie würden das Land verlassen und nach Liberia oder einen ähnlichen Ort gehen, wenn Sie die Chance bekämen?«

Brown trank einen Schluck Tee. »Vor einem Jahr hätte ich auf der Stelle ja gesagt. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Amerika ist aufs schärfste gegen Neger eingestellt, und ich denke, so wird es auch noch für einige Generationen bleiben. Aber ich rechne trotzdem mit Verbesserungen.«

George sagte: »Ich gebe zu, daß Ihre Rasse unsägliche Leiden erdulden mußte. Aber würden Sie nicht auch meinen, daß Sie persönlich Glück gehabt haben? Sie wuchsen in Freiheit auf, und Sie haben Ihr ganzes Leben so verbracht.«

Überraschenderweise verriet Browns Miene Ärger. »Glauben Sie ehrlich, das macht irgendeinen Unterschied, Major Hazard? Jeder Farbige in diesem Land wird von den Ängsten der Weißen versklavt und der Art und Weise, wie diese Ängste das Verhalten der Weißen beeinflussen. Ich bin ein schwarzer Mann. Dieser Kampf ist mein Kampf.«

Leicht gereizt sagte George: »Wenn Ihnen dieses Land so übel erscheint, was hält Sie dann davon ab, es zu verlassen?«

»Ich dachte, das hätte ich Ihnen gesagt. Die Hoffnung auf Veränderung.«

»Also die Hoffnung auf Veränderung hält Sie hier«, fing Constance an.

»Das und meine Verantwortung. Hauptsächlich die Kinder halten mich hier fest.«

»Ah, Sie sind verheiratet.«

»Nein, das bin ich nicht.«

»Aber wessen –?«

Ein Ruf von Kate Chase unterbrach den Satz. Dr. Delany hatte sich bereiterklärt, kurz zu sprechen. Die attraktive Tochter des Ministers äußerte den Wunsch, die Gäste möchten ihre Tassen und Teller füllen und sich einen Platz suchen.

Am Serviertisch, wo ein junges schwarzes Dienstmädchen Brown einen bewundernden Blick zuwarf, sagte George: »Ich würde gern mehr von Ihren Ansichten hören. Wir wohnen im Willard.«

»Ich weiß.«

»Würden Sie dort abends mal mit uns zusammen speisen?«

»Besten Dank, Major, aber ich glaube, die Geschäftsleitung würde das gar nicht gern sehen. Die Willardbrüder sind anständige Männer, aber schließlich bin ich einer ihrer Angestellten.«

»Sie sind was?«

»Ich bin Portier im Willard-Hotel. Der beste Job, den ich hier finden konnte.«

»Willard’s«, murmelte George. »Ich bin sprachlos. Sind wir uns mal in der Halle oder in den Fluren begegnet?«

Brown führte sie zu den Stühlen. »Dutzende von Malen. Sie mögen mich anschauen, aber Sie sehen mich nie. Das ist ein Privileg der Farbe. Mrs. Hazard, möchten Sie hier Platz nehmen?«

Zu weiterer Unterhaltung fanden sie keine Gelegenheit. Aber seine Anspielung auf die Kinder hatte Constances Neugier geweckt. Am nächsten Nachmittag suchte sie ihn im Hotel; sie fand ihn, wie er die Sandurnen von Abfall und Zigarrenstummeln reinigte. Die starrenden Leute in der Hotelhalle ignorierend, bat sie Brown um eine Erklärung.

»Die Kinder sind Flüchtlinge, das, was dieser schieläugige General Butler als Konterbande bezeichnet. Zur Zeit ergießt sich ein schwarzer Strom aus dem Süden. Manchmal flüchten Kinder zusammen mit ihren Eltern, und dann gehen die Eltern verloren. Manchmal gehören die Kinder zu niemandem, sondern sind einfach nur mit irgendwelchen Erwachsenen geflüchtet. Möchten Sie einige der Kinder sehen, Mrs. Hazard?«

Seine Augen hielten ihren Blick fest. »Wo?« konterte sie.

»Draußen, wo ich wohne, auf der nördlichen Tenth Street.«

»Negro Hill?« Ihr kurzes Atemholen vor der Frage verriet sie. Er reagierte darauf nicht ärgerlich.

»Kein Grund zur Angst, bloß weil es sich um eine schwarze Gemeinde handelt. Auch wir haben unseren Anteil an Übeltätern, genau wie hier unten – nein, ich nehme es zurück, hier gibt es mehr.« Er grinste. »Sie haben ja auch die Politiker. Ich arbeite am Dienstag nicht. Wir könnten während des Tages gehen.«

»Einverstanden«, sagte Constance, in der Hoffnung, daß George zustimmen würde, was er überraschenderweise auch tat.

Am Dienstag ratterten sie im Wagen durch die Hitze des Herbstes hoch nach Negro Hill, einer deprimierenden Enklave winziger Häuschen, die meisten ungestrichen, und elender, aus Lattenkisten und Segeltuch zusammengenagelter Schuppen. Constance sah Hühnerställe, Gemüsebeete, Blumentöpfe.

Die Schwarzen, an denen sie vorbeifuhren, warfen ihnen neugierige, gelegentlich mißtrauische Blicke zu. Bald schon bog Brown in einen ausgefahrenen Weg ein. Am Ende stand eine frisch gestrichene Hütte, so gelb wie Sonnenblumen.

Das leuchtende kleine Haus roch herrlich nach Holz und Rauch und im Inneren nach Seife. Es gab zwei Räume; im vorderen Zimmer saß eine kräftige schwarze Frau auf einem Hocker, die Bibel in der Hand; zu ihren Füßen hatten sich zwölf ärmlich gekleidete Kinder in allen Schattierungen versammelt. Das jüngste Kind mochte vier oder fünf sein, das älteste zehn oder elf. Durch den Türbogen konnte Constance genau ausgerichtete Reihen von Strohsäcken sehen.

Ein wunderschönes kupferfarbenes Mädchen rannte auf den großen Mann zu. »Onkel Scipio, Onkel Scipio!«

»Rosalie.« Er hob sie hoch und drückte sie an sich. Andere Kinder umklammerten seine Beine. Er tätschelte Köpfe, Gesichter, Schultern, fand für jedes Kind die richtigen aufmunternden Worte.

Constance aß mit Brown, den herrenlosen Kindern und der schwarzen Frau, Agatha, die sich um die Kinder kümmerte, während Brown seinem Job nachging. Die meisten Kinder lachten und kicherten und stupften einander, aber zwei waren dabei, die traurig und ernst dasaßen, kein Wort sagten und lediglich in der erschöpften Manier der Alten ihre Suppe schlürften. Constance mußte den Blick abwenden, um nicht in Tränen auszubrechen.

Trotzdem fühlte sie sich von dem Ort und den Kindern fasziniert. Es fiel ihr schwer, sich von ihnen zu trennen. Auf dem Rückweg zu Willard’s fragte sie: »Was haben Sie für Pläne mit den Kindern?«

»Zuerst mal muß ich sie füttern, damit sie nicht verhungern. Die Politiker tun nichts für sie, das weiß ich nur zu gut.«

»Sie haben eine starke Abneigung gegen Politiker, Mr. Brown.«

»Warum sagen Sie nicht Scipio? Es wäre schön, wenn wir Freunde sein könnten. Ja, ich verachte diese Brut.«

Die Kutsche holperte eine Weile weiter. Dann sagte sie: »Vom Überleben abgesehen, haben Sie noch weitergehende Pläne für die Kinder?«

»Von der Notwendigkeit zum Ideal. Wenn ich noch einen passenden Ort finden könnte, dann wäre es möglich, weitere zwölf aufzunehmen. Aber bei meinem Gehalt ist das unmöglich. Es ließe sich nur mit Hilfe eines Gönners einrichten.«

»Haben Sie mich deswegen nach Negro Hill gebracht?«

»Weil ich Hoffnungen hegte?« Er lächelte sie an. »Selbstverständlich.«

»Und selbstverständlich wußten Sie, daß ich ja sagen würde – obwohl mir die Einzelheiten noch nicht klar sind.«

»Tun Sie es nicht, wenn Sie bloß Ihre weißen Schuldgefühle besänftigen wollen.«

»Zum Teufel mit Ihrer Impertinenz, Brown – meine Gründe, weshalb ich das tue, suche ich mir selbst. Ich habe mein Herz an diese Waisen verloren.«

»Gut«, sagte er.

Constance wußte nicht, wie George auf ihren Wunsch, Brown zu helfen, reagieren würde. Zu ihrem Entzücken ging er weit über bloße Zustimmung hinaus. »Wenn er einen Platz für die Kinder braucht, warum besorgen wir den nicht? Und Nahrung, Kleidung, Bücher – das wird uns nicht gerade arm machen. Und die Sache scheint es mehr als wert zu sein.«

Er blinzelte durch den Rauch seiner Zigarre. Sein Gesichtsausdruck verbarg wirkungsvoll einen sentimentalen Zug, den Constance vor Jahren bei ihm entdeckt und seitdem geliebt hatte. »Ja, ich bin eindeutig der Meinung, du solltest Brown einladen, sein Werk bei uns zu Hause fortzusetzen.«

»Wo genau?«

»Wie wär’s mit dem Schuppen oberhalb von Hazards? Das alte Flüchtlingsdepot?«

»Die Lage ist gut, aber das Gebäude ist zu klein.«

»Wir vergrößern es. Ein paar zusätzliche Schlafräume, ein Klassenzimmer, ein Speisesaal. Die Werksschreiner können die Arbeit machen.«

Die Realität drängte sich in seine Begeisterung, als sie sagte: »Werden sie es tun?«

»Sie arbeiten für mich – ich möchte es ihnen geraten haben.« Er überlegte stirnrunzelnd. »Ich verstehe nicht, wieso du fragst.«

»Die Kinder sind schwarz, George.«

»Glaubst du, das spielt eine Rolle?«

»Bei den meisten Einwohnern von Lehigh Station würde ich meinen, ja, sehr sogar.«

»Mmm. Ist mir nie in den Sinn gekommen.« Er marschierte zum Kamin, drehte die Zigarre in den Fingern, wie so oft, wenn er an einem Problem arbeitete. »Trotzdem – die Idee ist gut. Wir machen es.«

Begeistert klatschte sie in die Hände. »Vielleicht könnten Mr. Brown und ich heimfahren, um die Dinge in Gang zu bringen. Möglicherweise nehmen wir ein paar Kinder mit.«

»Ich könnte Kurzurlaub nehmen und mitkommen.«

Hell wie eine Warnleuchte der Eisenbahn in der Nacht leuchtete vor ihr ein Name auf: Virgilia.

»Das ist sehr nett von dir, aber du hast zuviel zu tun. Mr. Brown und ich werden es schon schaffen.«

»Fein.« Seine Worte und sein Achselzucken erleichterten sie. »Ich werde Christopher einen Brief schreiben, daß alle deine Wünsche zu befolgen seien. Übrigens, da wir gerade bei Briefen sind, hast du das gesehen?« Vom Kaminsims nahm er ein verknittertes, versiegeltes Schreiben.

»Von Vater«, rief sie, als sie die Handschrift sah. »Er hat Houston erreicht, ständig eine Hand am Revolver, wie er schreibt. Oh, ich hoffe so sehr, er schafft den Rest der Reise auch noch.«

George ging zu ihr, legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter.

Constance und Brown verließen wenige Tage später Washington. Brown hatte drei Kinder für die Reise ausgewählt: Leander, einen stämmigen Elfjährigen mit herausforderndem Benehmen; Margaret, ein scheues, kohlschwarzes Kind; und Rosalie, die hübsche Kleine, die mit ihrer Fröhlichkeit das Schweigen der anderen überspielte.

Die Furcht, die sie George gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte, war nicht unbegründet, wie sie bald schon entdeckte. Ein Schaffner am Bahnhof von Washington bestand darauf, daß Brown und die Kinder in der für Farbige reservierten zweiten Klasse fuhren. Browns Augen zeigten seine Erbitterung, aber er machte keine Szene. Die Kinder den Gang entlangführend, sagte er: »Ich sehe Sie später, Mrs. Hazard.«

Als sie den Wagen verlassen hatten, sagte der Schaffner: »Ist der Nigger Ihr Diener, Ma’am?«

»Dieser Mann ist mein Freund.«

Kopfschüttelnd entfernte sich der Schaffner.

In Baltimore stiegen sie um und fuhren durch die goldene Landschaft weiter nach Philadelphia. Das Lehigh-Tal, von den roten und gelben Farben des Herbstes bemalt, wirkte erfrischend friedlich auf die müden Reisenden. Constance hatte ihre Ankunft telegraphiert. Ein Stallknecht wartete mit einer Kutsche auf sie. Der schnelle Wechsel in seinem Gesichtsausdruck, als er bemerkte, daß Brown und die Kinder ihre Begleitung darstellten, entging ihr keineswegs.

Die Kutsche ratterte die Straße entlang. Die beiden kleinen Mädchen quietschten und umarmten Brown, als der Wind ihnen durch Haar und Kleidung fuhr. Pinckney Herbert winkte von seiner Ladentür aus, aber die Gesichter einiger anderer Bürger zeigten Feindseligkeit, vor allem das eines gefeuerten Hazardarbeiters namens Lute Fessenden.

Brett wartete auf der Veranda des Herrschaftshauses, zusammen mit einer Frau, die Constance erst in der Einfahrt erkannte. Die Kutsche stoppte; Constance rannte die Stufen hoch. »Virgilia? Wie hübsch du aussiehst! Ich traue meinen Augen nicht.«

»Das ist das Werk unserer Schwägerin«, sagte Virgilia, in Richtung Brett nickend. Sie sprach so, als wäre ihre Verwandlung ohne jede Bedeutung, aber ihr lebhafter Gesichtsausdruck verriet sie.

Constance staunte voller Bewunderung. Virgilias Kleid aus rostfarbener Seide schmeichelte ihrer Figur. Ihr Haar, ordentlich zu einem Knoten zusammengebunden, glänzte so sauber, wie Constance es bei ihr noch nie gesehen hatte. Virgilias Wangen besaßen Farbe, aber Rouge und Puder waren dezent und geschickt aufgetragen worden.

»Ich vernachlässige meine Pflichten«, sagte Constance. Sie stellte die Leute vor und erklärte mit wenigen Sätzen, weshalb sie Scipio und die Kinder nach Belvedere gebracht hatte.

Brett war Brown gegenüber höflich, aber kühl; auch ihm war ihr Akzent nicht entgangen. Constance beobachtete, wie Virgilias Blick von Browns Gesicht über seine Brust wanderte. Schnell beschäftigte er sich mit den Kindern. Brown verlegen zu sehen stellte eine neue Erfahrung für Constance dar. Sie erinnerte sich an Virgilias Vorliebe für Schwarze; in gewissen grundsätzlichen Dingen schien sich Georges Schwester nicht verändert zu haben.

Die Besucher wurden ins Haus geführt, verköstigt und für die Nacht untergebracht. Am nächsten Morgen, während Virgilia nach den Kindern sah, fuhren Constance und Brown zu dem Schuppen hoch.

Brown besichtigte alles. »Nach einigen Reparaturen wird das genau das Richtige sein.« Sie besprachen Einzelheiten, während sie zum Haupttor zurückfuhren. Die Arbeiter machten der Kutsche respektvoll Platz, ihre Augen verrieten aber Mißbilligung darüber, daß sich die Frau des Besitzers öffentlich mit einem Schwarzen zeigte.

Gegen Mittag hatten sie mit Wotherspoon gesprochen; er stellte Männer ab, die eine Wand des Schuppens abbrachen und die anderen weiß tünchten. Der Vorarbeiter der Maler, ein Bursche namens Abraham Fouts, war seit fünfzehn Jahren bei Hazard beschäftigt. Sonst stets freundlich, nickte er an diesem Nachmittag Constance lediglich grußlos zu. Am Abend, während die Erwachsenen und die Kinder aßen, warf jemand einen Stein durch das vordere Fenster.

Frühmorgens fuhr Constance allein zum Schuppen; sie kam gleichzeitig mit Abraham Fouts und seinen vier Männern an. Beim Anblick der großen, groben Buchstaben, die jemand mit schwarzer Farbe über eine Schuppenwand geschmiert hatte, unterdrückten Fouts und ein zweiter Mann ein Grinsen: Wir sind für den Krieg, aber wir sind NICHT FÜR DIE .

Traurig und wütend zugleich wischte Constance über die letzten Buchstaben. Sie waren trocken. »Mr. Fouts, übermalen Sie bitte diese Gemeinheit. Wenn sowas noch mal passiert, dann tun Sie es wieder, so lange, bis das aufhört oder dieses Gebäude unter hundert Anstrichen zusammenbricht.«

Der blasse Mann zupfte nervös an seiner Unterlippe. »Gibt viel Gerede über den Ort hier bei den Männern, Miz Hazard. Sie sagen, das wird so ‘ne Art Zuhause für Niggerbabys. Gefällt ihnen gar nicht.«

»Was ihnen gefällt, ist mir völlig egal. Das hier gehört meinem Mann, und ich werde damit tun, was ich für richtig halte.«

Fouts bohrte einen Zeh in den Dreck, aber ein anderer Mann war kühner. »Wir sind nicht gewöhnt, Befehle von einer Frau zu empfangen, selbst wenn sie die Frau vom Boß ist.«

»Gut.« Verärgerung und Unsicherheit wallten in Constance auf, aber sie wagte es nicht zu zeigen. »Ich bin sicher, es gibt eine Menge Fabriken, wo es nicht nötig ist. Holen Sie sich Ihren Lohn bei Mr. Wotherspoon ab.«

Der verblüffte Mann hob eine Hand. »Warten Sie, ich – «

»Sie sind fertig hier.« Sie deutete auf ein paar Farbflecken an der Hand des Mannes. »Wie ich sehe, haben Sie letzte Nacht schwarze Farbe benützt. Wie mutig von Ihnen, Ihre Meinung unter dem Schutzmantel der Dunkelheit zu äußern.« Ihre Stimme brach, als sie schnell vortrat. »Verschwinden Sie, und holen Sie Ihren Lohn ab.«

Der Mann rannte.

»Ich bedaure diesen Vorfall, Mr. Fouts, aber mein Entschluß steht fest. Wollen Sie weitermachen oder kündigen?«

»Ich arbeite«, murrte Fouts. »Aber für einen Haufen Nigger? Ist nicht richtig.«

»Abscheulich«, sagte Virgilia, als Constance ihr von der Schmiererei berichtete. »Wenn wir in Washington einen richtigen Führer hätten, dann stünden die Dinge anders. Ich glaube, das wird auch bald der Fall sein.«

»Weshalb?« fragte Brett über den mit gewaltigen Schüsseln beladenen Tisch hinweg. Rosalie, Margaret und Leander aßen nicht; sie schlangen in sich hinein, was nur hineinging. Selbst Brown schien nicht genug kriegen zu können.

»Der Präsident ist ein Schwächling.« Virgilia gab die Erklärung im gleichen herablassenden Tonfall ab, der schon in der Vergangenheit so viel Ärger verursacht hatte. »Aber Thad Stevens und einige andere werden ihn schon auf Trab bringen. Wenn die richtigen Republikaner die Macht haben, dann wird Lincoln das kriegen, was er so reichlich verdient. Ebenso wie die Rebs.«

»Bitte entschuldigt mich«, sagte Brett und verließ den Raum.

39

Gegen Ende Oktober war Mrs. Burdetta Halloran aus Richmond eine Frau in Not und Bedrängnis. Sie war dreiunddreißig, seit zwei Jahren kinderlose Witwe, besaß eine üppige Figur, herrliches kastanienbraunes Haar, ein umwerfendes Hinterteil und die dazu passenden Brüste. Das hatte ausgereicht, um den Weinhändler zu kapern, der sie geheiratet hatte, als sie einundzwanzig war. Sechzehn Jahre älter als sie, war Halloran im Kampf, ihren starken sexuellen Appetit zu befriedigen, an Herzversagen gestorben.

Armer Kerl, sie hatte ihn gern gehabt, auch wenn es ihm an Stehvermögen gefehlt hatte, um sie physisch glücklich zu machen. Er hatte sie jedoch gut behandelt, und sie hatte ihm lediglich zweimal Hörner aufgesetzt: Das erste Verhältnis hatte vier Tage gedauert, das zweite eine einzige Nacht. Sein Dahinscheiden hatte sie in guten Verhältnissen zurückgelassen – zumindest hatte sie das geglaubt, bis dieser elende Krieg ausgebrochen war.

Wenn sich jetzt der Rest der Stadt über einen Sieg beim Potomac begeisterte, dann mußte sie sich über die steigenden Preise aufregen. Ihr Pfund Schinken hatte fünfzig Cent gekostet, ihr Pfund Kaffee empörende anderthalb Dollar. Bei einer derartigen Inflation würde sie nicht mehr lange im gewohnten Stil weiterleben können.

Eine geborene Soames – ihr Stammbaum ging über vier Generationen zurück –, beklagte sie jeden Wandel in ihrer Stadt, ihrem Staat und in der gesellschaftlichen Rangordnung. Die Stadt platzte aus allen Nähten. Huren und Spekulanten strömten aus jedem ankommenden Zug. Horden von Niggern, viele zweifellos Flüchtlinge, ließen den Pöbelhaufen der Nichtstuer in den Straßen anschwellen. Gefangene Yankees füllten die improvisierten Gefängnisse. Ihre unvergleichliche Arroganz und ihre Verachtung allen Dingen des Südens gegenüber empörte aufrechte Bürger wie Burdetta Halloran, die jede freie Minute damit zubrachte, Socken und immer noch mehr Socken für die Truppen zu stricken.

Vor zwei Wochen hatte sie mit dem Stricken aufgehört, als ihr Kummer die Ausmaße einer echten Krise angenommen hatte. Heute nachmittag war sie mit einer Kutsche zum Church Hill unterwegs. Seit Tagen hatte sie diesen Besuch erwogen. Schlaflosigkeit und wachsende Verzweiflung hatten sie schließlich dazu getrieben.

Die Kutsche verlangsamte das Tempo. Schnell nahm sie noch einen verstohlenen Schluck von dem Whiskey in ihrer Reiseflasche.

»Soll ich warten?« fragte der Fahrer, nachdem er Ecke Twenty-Forth gehalten hatte. Eine unangenehme Vorahnung ließ Mrs. Halloran nicken.

Ihr Herz schlug schmerzhaft. Das schräg einfallende Oktoberlicht kündigte den Winter an – Trauer und Einsamkeit. Oh Gott, war er nicht da? Wieder klopfte sie, diesmal fester und ausdauernder.

Die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter. Vor Erleichterung wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Dann betrachtete sie ihren Geliebten genauer. Ungekämmte Haare, Morgenrock zu dieser Stunde?

Zuerst dachte sie, er sei krank. Dann erkannte sie die Wahrheit und das ganze Ausmaß ihrer Dummheit.

»Burdetta.« In dem Wort lag weder Überraschung noch Willkommen, noch machte er die Tür weiter auf.

»Lamar, du hast keinen einzigen meiner Briefe beantwortet.«

»Ich dachte, du würdest die Bedeutung meines Schweigens verstehen.«

»Guter Gott, du willst damit doch nicht sagen – du würdest mich nicht einfach hinauswerfen – nicht nach sechs Monaten unglaublicher – «

»Das wird peinlich«, sagte er, seine Stimme so laut und so hart wie sein Penis, wenn er sie auf die verschiedensten Weisen nahm, bis sie schließlich nach vier oder fünf Stunden vollkommen befriedigt war. »Für uns beide.«

»Wen hast du jetzt? Irgendeine junge Schlampe? Ist sie drinnen?« Sie schnüffelte. »Mein Gott, tatsächlich. Du mußt ja in ihrem Parfüm gebadet haben.« Tränen füllten ihre Augen. Sie streckte die Hand durch die Öffnung. »Darling, laß mich wenigstens rein. Reden wir darüber. Sollte ich dich irgendwie gekränkt haben – «

»Nimm die Hand raus, Burdetta«, sagte er lächelnd. »Sonst tust du dir weh. Ich mach’ jetzt die Tür zu.«

»Du unglaublicher Bastard.« Ihr Flüstern blieb ohne Wirkung; langsam begann sich die Tür zu schließen. Er hätte ihr das Handgelenk oder die Finger gebrochen, hätte sie nicht schnell die Hand zurückgezogen. Die Tür fiel ins Schloß. Sechs Monate lang hatte sie ihren guten Ruf aufs Spiel gesetzt, hatte alles für ihn getan, und das sollte nun das Ende sein? Voller Gleichgültigkeit? Abserviert, wie ein Mann eine Hure abservieren würde?

Burdetta Soames Halloran war im Stil der Südstaaten erzogen worden; sie brauchte weniger als zehn Sekunden, um sich zu fassen. Als sie sich umdrehte und vorsichtig die erste Stufe hinabstieg, ihren Reifrock in der behandschuhten Hand gerafft, lächelte sie.

»Fertig?« fragte der Kutscher überflüssigerweise, da sie darauf wartete, daß er abspringen und ihr die Tür öffnen würde.

»Ja, das bin ich. Es hat nur einen Augenblick in Anspruch genommen, um die Angelegenheit zu erledigen.« In Wirklichkeit hatte sie erst begonnen.

40

Aufruhr überflutete die Küste von Carolina in diesem Herbst. Am7. November dampfte Commodore Du Ponts Flottille in den Port Royal Sound und eröffnete das Feuer auf Hilton Head Island. Das Bombardement von Du Ponts Kanonenbooten zwang die kleine Konföderierten-Garnison noch vor Sonnenuntergang zum Rückzug aufs Festland. Zwei Tage später fiel der historische kleine Hafen von Beaufort. Gerüchten zufolge wurden die Häuser der Weißen von raubgierigen Yankee-Soldaten und rachsüchtigen Schwarzen geplündert und gebrandschatzt.

Jeder neue Tag brachte neue Gerüchte. Charleston würde bald niedergebrannt und an seiner Stelle eine neue Stadt für schwarze Flüchtlinge aufgebaut; Harriet Tubman befand sich im Staat oder würde in den Staat kommen oder dachte daran, den Staat zu besuchen, um die Sklaven zur Revolte oder zur Flucht zu drängen; wegen seiner Mißerfolge im westlichen Virginia war Lee strafversetzt worden und hatte das Kommando über das neue Department von South Carolina, Georgia und East Florida übertragen bekommen.

Letzteres erwies sich als richtig. Völlig überraschend erschienen der berühmte Militär und drei seiner Stabsoffiziere zu Pferd auf dem Weg nach Mont Royal. Eine Stunde saßen sie mit Orry in dessen Wohnzimmer zusammen.

Lee brachte das Gespräch auf die Ursache seines Besuchs. Er wollte, daß Orry den Posten in Richmond annahm, auch wenn er selbst dort nicht länger sein Hauptquartier haben würde und Orry ihm nicht direkt unterstellt wäre. »Sie können dem Kriegsministerium jedoch von großem Nutzen sein. Es stimmt nicht, daß sich Präsident Davis ständig einmischt oder daß in Wirklichkeit er das Ministerium leitet.« Lee machte eine Pause. »Zumindest stimmt es nicht ganz, möchte ich sagen.«

»Ich werde so bald wie möglich kommen, General. Ich warte lediglich auf die Ankunft eines neuen Aufsehers, der die Plantage leitet. Er müßte jeden Tag kommen.«

»Gute Nachrichten. Ausgezeichnet! West-Point-Männer wie Sie sind für die Armee von unschätzbarem Wert. Nur die Macht der Waffen wird uns die Unabhängigkeit bringen. Die Männer der Akademie verstehen diesen Krieg und werden ihn so führen, wie er geführt werden muß, falls wir nicht vorhaben, aufzugeben oder uns mit der Niederlage abzufinden.«

»Kämpfen«, grollte einer der Stabsoffiziere. Orry nickte zustimmend.

»Das ist der richtige Geist«, sagte Lee, sich erhebend. Er schüttelte Orry die Hand, sprach auf der Piazza ein paar verbindliche Worte mit Madeline, dann ritt er los, den Pflichten seines obskuren Kommandos entgegen. Orry zog seine Frau an sich. Die Trennung war nun unvermeidlich. Allein der Gedanke schmerzte.

Am nächsten Tag kam der Aufseher aus North Carolina, Philemon Meek, auf dem Rücken eines Maultiers. Orrys erste Reaktion war Enttäuschung. Er hatte wohl mit einem Mann in den Sechzigern gerechnet, aber nicht mit jemandem, der wie ein alternder Schullehrer wirkte. Vorn auf seiner Nasenspitze saß sogar eine Brille mit halben Gläsern.

Orry unterhielt sich mit Meek eine Stunde lang in der Bibliothek, und der erste Eindruck begann sich zu ändern. Meek beantwortete die Fragen seines neuen Arbeitgebers knapp, aber ehrlich. Wenn er etwas nicht wußte oder verstand, dann sagte er das auch. Er erzählte Orry, daß er kein Anhänger übertrieben scharfer Disziplin und religiös eingestellt sei. Er besaß und las nur ein Buch, die Heilige Schrift.

»Ich bin mir über ihn noch nicht ganz im klaren«, sagte Orry abends zu Madeline. In der nächsten Woche wurde seine Einstellung positiver. Trotz des Alters war Meek physisch stark und ließ sich von niemandem auf der Nase herumtanzen. Andy schien Meek nicht sonderlich zu mögen, kam aber mit ihm aus. Also packte Orry seine Koffer und holte endlich seinen Solingen-Säbel hervor.

Am Tag vor Abfahrt des Zuges machten er und Madeline einen Spaziergang.

»Du kannst es kaum erwarten, nicht wahr?« sagte Madeline.

Orry blinzelte in das Sonnenlicht. »Ich bin nicht begierig darauf, dich zu verlassen, obwohl mir jetzt, wo Meek hier ist, wohler zumute ist.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage, Sir.«

»Ja, ich kann es kaum erwarten. Den Grund wirst du nie erraten. Es ist mein alter Freund Tom Jackson. In sechs Monaten ist er zum Nationalhelden geworden.«

»Du überraschst mich. Ich hätte nie gedacht, daß dein Ehrgeiz in diese Richtung geht.«

»Oh, nein. Jedenfalls nicht mehr seit Mexiko. Bei Jackson ist die Sache die, daß wir Klassenkameraden waren. Er ist sofort zu den Fahnen geeilt, um seine Pflicht zu tun, während ich ein halbes Jahr gezögert habe. Nicht ohne guten Grund – aber trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen.«

Sie schlang die Arme um ihn. »Das mußt du nicht. Deine Wartezeit ist vorbei. Und in einigen Wochen, wenn Meek sich eingelebt hat, komme ich nach Richmond.«

»Gut.« Orry betastete sein Kinn. »Letzte Woche habe ich eine Lithographie von Tom gesehen. Er trägt einen schönen Vollbart. Alle Offiziere scheinen einen zu haben. Möchtest du, daß ich mir auch einen wachsen lasse?«

»Das kann ich nicht sagen, bevor ich nicht weiß, wie schlimm das kratzt, wenn wir – «

Sie hielt inne. Der Hausdiener, Aristotle, winkte eindringlich von einem Seiteneingang her; sie eilten zu ihm.

»Haben zwei Besucher, Mr. Orry. Hochnäsiges Niggerpaar. Wollen nur Ihnen oder Miss Madeline sagen, was sie wollen. Hab’ sie in der Küche warten lassen.«

Orry fragte: »Sind es Männer von einer anderen Plantage?«

Der verwirrte Sklave murmelte: »Es sind zwei Frauen.«

Orry und Madeline gingen ins Küchengebäude. Eine ältere Negerin saß auf einem Hocker neben der Tür; ihr rechtes Bein, grob mit Stöcken und Lumpen verbunden, ruhte auf einer leeren Nagelkiste.

»Tante Belle«, rief Madeline, während Orry sich über die Identität ihrer Begleiterin Gedanken machte, ein erstaunlich attraktives junges Mädchen im heiratsfähigen Alter, dunkel wie Mahagoni.

Madeline umarmte die zerbrechliche alte Frau. »Wie geht’s dir? Was ist mit deinem Bein passiert? Ist es gebrochen?« Seit einer Generation hatte Tante Belle Nin, freigelassen und alleine lebend, als Hebamme im Distrikt gearbeitet.

»Viele Fragen auf einmal«, sagte Tante Belle und verzog das Gesicht. »Ja, es ist gebrochen, zweimal oder dreimal. Kein Segen in meinem Alter. Wollte gestern abend in unseren Wagen klettern und bin gefallen.« Helle, tiefliegende Augen studierten Orry, als wäre er ein Ausstellungsstück. »Sehe, Sie haben sich einen anderen Mann gesucht.«

»Ja, Tante Belle, das ist Orry Main.«

»Ich weiß, wer er ist. Ganzes Stück besser als der andere. Das hübsche Ding hier ist meine Nichte Jane. Gehörte der Witwe Milsom, aber die alte Dame starb letzten Winter an Lungenentzündung. In ihrem Testament schenkte sie Jane die Freiheit. Seitdem hat sie bei mir gelebt.«

»Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Jane ohne jede Ehrerbietung. Orry fragte sich, ob er Tante Belle glauben sollte; genausogut konnte das Mädchen ein Flüchtling sein.

»Tante Belles Gesundheit ist in letzter Zeit nicht gut gewesen«, sagte Jane nach einer Pause. »Aber sie wollte ihr Haus nicht aufgeben, bis ich sie überzeugt hatte, daß es einen besseren Ort gibt.«

»Sie meinen doch nicht hier?« fragte Orry.

»Nein, Mr. Main. Virginia. Dann der Norden.«

»Das ist eine lange, gefährliche Reise, vor allem für Frauen in Kriegszeiten.« Beinahe hätte er schwarze Frauen gesagt.

»Was uns erwartet, lohnt das Risiko. Wir wollten gerade aufbrechen, als Tante Belle sich das Bein brach. Sie braucht Pflege und einen Ort, wo sie sich ausruhen kann.«

Tante Belle sagte zu Madeline: »Ich hab’ Jane erzählt, daß Sie eine gute Christin seien. Ich dachte, Sie würden uns für eine Weile aufnehmen.«

Orry und Madeline warfen sich gegenseitig fragende Blicke zu. Da Orry abreiste, lag die Entscheidung bei Madeline. »Natürlich helfen wir. Liebling, würdest du Andy suchen, damit er sie zu den Hütten bringen kann?« Orry, der zu verstehen schien, daß sie noch eine andere Absicht verfolgte, nickte und entfernte sich.

»Tante Belle, mein Mann geht morgen nach Richmond zur Armee. Ich führe hier das Kommando, bis ich ihm nachfahre. Ich gebe dir nur zu gern Unterkunft, mit einer Einschränkung. Richtig oder falsch, die Leute auf Mont Royal haben keine Erlaubnis, nach Norden zu gehen, wie ihr es plant. Es könnte für mich oder für euch Ärger geben.«

»Ma’am?« sagte Jane, um Madelines Aufmerksamkeit zu erregen. »An der Sklaverei gibt es nichts Richtiges, nur Falsches.«

Madelines Antwort klang scharf. »Selbst wenn ich in dem Punkt mit dir übereinstimmen würde, die praktische Lösung ist eine andere Sache.«

Jane dachte mit sichtbarem Trotz, den Madeline zwar bewunderte, aber nicht tolerieren konnte, darüber nach. Schließlich stieß Jane eine kleinen Seufzer aus. »Ich glaube nicht, daß wir bleiben können, Tante Belle.«

»Denk noch mal drüber nach. Diese Lady hier ist anständig. Sei du es auch. Benimm dich nicht wie ein Ziegenbock.«

Jane zögerte. Tante Belle funkelte sie an. Das junge Mädchen sagte: »Könnten wir uns so einigen, Mrs. Main? Ich arbeite für Sie, um unseren Unterhalt zu verdienen. Ich erzähle niemandem, wohin wir gehen. Sobald Tante Belle reisen kann, packen wir unsere Sachen.«

»Das ist fair«, sagte Madeline.

»Jane hält ihr Wort«, sagte Tante Belle.

»Ja, den Eindruck hab’ ich auch.« Madeline nickte, den Blick auf das Mädchen gerichtet. Keine der beiden Frauen lächelte, aber in diesem Augenblick begannen sie, einander sympathisch zu finden. »Unser neuer Verwalter wird vielleicht für diese Vereinbarung nicht viel übrig haben, aber ich glaube, er akzeptiert – «

Stimmen in der Dunkelheit unterbrachen sie. Orry und der Vorarbeiter traten in den orangen Schein der Laterne neben der Küchentür.

»Ich habe Andy die Sache erklärt«, sagte Orry. »Eine leerstehende Hütte wäre verfügbar. Das heißt – « Eine fragende Pause.

»Ja, wir haben die Einzelheiten besprochen«, erklärte ihm Madeline. »Andy, das ist Tante Belle Nin und ihre Nichte Jane.« Sie schilderte kurz die getroffene Abmachung.

»In Ordnung«, sagte Andy. »Mr. Orry meint, ihr habt einen Wagen. Ich fahr euch zur Hütte.«

»Nimm ein bißchen Barbecue aus der Küche mit«, sagte Orry. »Die beiden werden wahrscheinlich hungrig sein.«

»Ausgehungert«, sagte die winzige Alte. »Ich kenne Sie nicht, Mr. Main, aber Sie hören sich auch wie ein guter Christ an.«

Als der Wagen sich langsam der Sklavensiedlung näherte, warf Andy einen schüchternen Blick über die Schulter in Richtung Jane. Noch nie hatte er ein schöneres Mädchen gesehen.

Er sammelte genügend Mut und brachte dann heraus: »Du sprichst mächtig gut, Miss Jane. Kannst du lesen?«

»Und schreiben«, erwiderte sie. »Rechnen kann ich auch. Mrs. Milsom wußte ein Jahr, bevor sie starb, daß es bald mit ihr zu Ende gehen würde, und begann mich zu unterrichten.«

»Das war gegen das Gesetz.«

»Sie sagte, zum Teufel mit dem Gesetz. Sie war eine mutige alte Dame. Sie sagte, ich müsse bereit sein, meinen Weg allein zu machen.« Das Maultier trottete dahin. »Kannst du lesen und schreiben?«

»Nein.« Dann, verzweifelt bemüht, einen guten Eindruck zu machen, platzte er heraus: »Aber ich würd’s gern können. Ein Mann kann sich nicht verbessern, wenn er nichts lernt.«

»Ein Mann kann sich nie verbessern, wenn er das Besitztum von – « Tante Belle schlug ihrer Nichte aufs Handgelenk. »Ich würde dir gern Unterricht geben, aber ich muß erst Mrs. Main um Erlaubnis fragen.«

»Ausgezeichnet«, sagte Andy jubilierend.

Mit Hut, Gehrock und Krawatte, passend zu einer Beerdigung, küßte Orry am nächsten Morgen seine vage lächelnde Mutter. »Dank für Ihren Besuch, Sir. Besuchen Sie uns bald wieder, ja?« sagte sie.

Als er seine Frau küßte, klammerte sie sich an ihn und flüsterte: »Behüt dich Gott, Liebster. Als ich noch klein war, da kam eines Tages plötzlich der Moment, wo ich die Bedeutung des Wortes Tod verstand. Ich fing an zu weinen und rannte zu meinem Vater. Er nahm mich in die Arme und sagte, ich solle mich davon nicht zu sehr ängstigen lassen, weil wir alle von diesem Problem betroffen seien. Er sagte, der Gedanke, daß wir alle sterblich sind, besänftige Herz und Geist. Ich hab’ Jahre gebraucht, um ihn zu verstehen und ihm zu glauben. Ich tu es jetzt, aber – ich möchte nicht, daß es dir früher als unbedingt notwendig zustößt. Das Leben ist so wunderschön geworden.«

»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte er sie. »Bald sind wir wieder vereint. Und ich glaube nicht, daß jemand auf Offiziere feuert, die hinter Schreibtischen sitzen.«

Er küßte und umarmte sie noch einmal, und dann rollte er, mit Aristotle auf dem Kutschbock, die Straße hinunter.

41

Gewisse amerikanische Bürger erinnerten sich, daß Dreck und Krankheit der britischen Armee im Krimkrieg am meisten zugesetzt hatten. Kurz nach dem Fall von Sumter beschlossen diese Leute, nach Möglichkeit eine Wiederholung dieser Fehler in den Lagern der Union zu verhindern.

Nach Bekanntwerden dieses Plans begannen die Armeeärzte bald schon zu spotten und die Zivilisten als Amateure zu bezeichnen, die sich bloß einmischen wollten; die meisten Regierungsbeamten teilten diese Meinung. Die Zivilisten blieben hartnäckig und gründeten die United States Sanitary Commission, die Hygiene-Kommission. Im Hochsommer hatte die Organisation einen Direktor, Frederick Law Olmsted; dieser Mann hatte 1856 den Central Park in New York entworfen und in einem viel gelesenen Reisebericht die Sklaverei mit äußerst unfreundlichen Bezeichnungen bedacht.

Lincoln und das Kriegsministerium wollten die Kommission nicht anerkennen, waren aber schließlich dazu gezwungen, weil wichtige Leute damit in Verbindung standen, einschließlich Mr. Bache, ein Enkel von Ben Franklin, und Samuel Gridley Howe, der berühmte Arzt und Humanist aus Boston.

Die Kommission scharte Unmengen von Frauen im ganzen Norden um sich; die in den ersten Kriegswochen größtenteils individuell geleistete freiwillige Hilfe verlief nun konzentrierter und zielgerichteter. Wie anderswo auch organisierten die Damen den ersten von vielen Gesundheitsmärkten, um Geld und Güter für die Organisation zu sammeln.

Während Scipio Brown seine restlichen Waisenkinder zu dem neu ausgebauten Gebäude brachte und sie der Obhut eines zur Beaufsichtigung angestellten ungarischen Paars anvertraute, war Constance damit beschäftigt, einen Gesundheitsmarkt für den zweiten Freitag und Samstag im November zu planen, unten in Hazards Lagerhaus bei den Eisenbahnschienen neben dem Kanal.

Wotherspoon ließ Arbeitstrupps zwei Tage und Nächte schuften, um eine gewaltige Schiffsladung Eisenblech aus dem Gebäude auf eine Reihe von Spezialzügen zu verladen. Virgilia half als Kommissionsmitglied, ebenso wie Brett, die das vor sich selbst aus zwei Gründen rechtfertigte: Ihr Ehemann war ein Unionsoffizier, und abgesehen davon überwog in jedem Fall das humanitäre Anliegen. Die Kommission wollte letzten Endes nichts weiter als Leben retten. Bretts wirkliches Problem in Verbindung mit dem Markt war die Zusammenarbeit mit Virgilia; sie gestaltete sich schwierig.

Ihre Tätigkeit erregte Virgilia; sie führte einen kleinen, aber sinnvollen Schlag gegen den Süden. Außerdem war sie mit ihrem äußeren Erscheinungsbild recht zufrieden. Constance hatte ihr einen Schal geliehen und Brett eine Ansteckbrosche für ihr dunkelbraunes Kleid. Ein Seidennetz hielt ihr Haar zusammen. Wegen ihrer Redegewandtheit, bei Auftritten an Abolitionistenversammlungen erworben, war sie das beste Zugpferd in der Halle. Sie bekam ein Kompliment von ihrem Sektionsvorsitzenden und ein noch bedeutsameres von einem Mann, den sie nicht kannte.

Es handelte sich dabei um einen Major von der Forty-seventh. Während Virgilia als Demonstration den schlechten Uniformstoff buchstäblich und verbal zerriß, beobachtete er sie über den Gang hinweg, von dem Parfümstand aus; die Soldaten bettelten geradezu um Duftwässerchen, um sich vor dem Gestank der Camplatrinen zu schützen.

Der Offizier betrachtete Virgilia während ihrer Vorführung genau. Sie verlor den Faden, als sein Blick von ihrem Gesicht zu ihren Brüsten und zurück wanderte. Dann ging er, am Arm einer Frau, möglicherweise seiner Ehefrau, aber diese wenigen Momente, in denen er Virgilia angeblickt hatte, waren für sie von ungeheurer Wichtigkeit.

Nach dem letzten Tag des Marktes sank Virgilias Stimmung abrupt. Sie streifte durch Haus und Stadt, wohl wissend, daß ihre Zeit hier abgelaufen war, aber ohne sich zu einem Entschluß durchringen zu können. Die Tage vergingen, und nichts änderte sich.

Fast zwei Wochen nach dem Markt kam Constance mit einem Brief an den Abendbrottisch. »Er ist von Dr. Howe, von der Gesundheitskommission. Ein alter Freund.«

»Ist er das? Von wo kommt er?« fragte Virgilia.

»Newport. Er und seine Frau haben dort zur gleichen Zeit wie wir den Sommer verbracht. Erinnerst du dich nicht?« Virgilia schüttelte den Kopf und beugte sich über ihren Teller; sie hatte diese Jahre fast vollkommen verdrängt.

Brett sagt: »Erwähnt der Doktor unseren Markt?«

»Das tut er. Er schreibt, unserer sei bis jetzt einer der erfolgreichsten gewesen. Bei einer Dinnerparty habe er das Miss Dix persönlich berichtet – hier, lies selbst.«

Brett überflog den Brief und murmelte dann: »Miss Dix, ist das die Frau aus New England, von der ich gelesen habe? Die so schwer um die Reform der Asyle gekämpft hat?«

Constance nickte. »Du hast wahrscheinlich den langen Artikel über sie in Leslie’s gelesen. Es heißt da, Florence Nightingale habe sie dazu inspiriert, bei Kriegsausbruch nach Washington zu gehen. Seit dem Sommer hat sie Oberaufsicht über die Armeekrankenschwestern.«

Virgilia blickte auf. »Sie verwenden Frauen als Pflegepersonal?«

»Mindestens hundert«, erwiderte Brett. »Billy hat’s mir erzählt. Die Frauen bekommen ein Gehalt, Kostgeld, freien Transport – und das Privileg, Soldaten baden zu dürfen, worüber die meist gar nicht begeistert sind, wie mir Billy sagte.«

Constance war Virgilias plötzliche Aufmerksamkeit nicht entgangen. »Würde dich die Arbeit einer Krankenschwester interessieren?«

»Ich glaube schon – obwohl ich wahrscheinlich nicht über die nötigen Qualifikationen verfüge.«

Constance erschien es gnädiger, Virgilia gewisse Details des Artikels in Leslie’s vorzuenthalten. Miss Dix verlangte weder medizinische noch wissenschaftliche Ausbildung; die Bewerberinnen sollten lediglich über dreißig und nicht attraktiv sein. Also konnte Constance wahrheitsgemäß sagen: »Da bin ich anderer Meinung. Soll ich Dr. Howe um ein Empfehlungsschreiben bitten?«

»Ja.« Dann entschlossener: »Ja, bitte!«

In dieser Nacht konnte Virgilia vor Erregung nicht schlafen. Als sie schließlich doch die Augen schloß, überfielen sie gespenstische Träume. Gradys Grab öffnete sich; er streckte seine Hand aus, flehte, daß ihn jemand rächen möge. Das Bild verschwamm, dann tauchte eine lange Reihe von Männern in grauer Uniform auf; sie beobachtete, wie jeder von ihnen erschossen wurde, dann noch einmal, dann ein drittes und viertes Mal. Blutspritzer tränkten den Stoff, während ein einzelner Mann im Blau der Union endlos feuerte. Sie kannte den Mörder. Sie hatte ihn in einem Feldlazarett gepflegt, bis er wieder seinen Dienst verrichten konnte.

Schweißgebadet wachte sie auf.

Seinem Empfehlungsschreiben legte Dr. Howe zwei Ratschläge bei: Virgilia sollte sich zu einem Gespräch mit Miss Dix nicht zu sehr herausputzen, und obwohl die Leiterin der Krankenschwestern plumpe Schmeichelei schnell durchschauen würde, konnte ein kleines Lob für Gespräche über allgemeine Dinge nicht schaden. Miss Dix’ kleiner Haushaltsratgeber hatte sich seit seiner Publikation im Jahre 1824 stetig verkauft und war jetzt in der sechzehnten Auflage. Die Autorin war stolz auf ihr Kind.

Anfang Dezember, gerade während eines Wärmeeinbruchs, kam Virgilia in Washington an. Als sie auf den sonnenhellen Bahnsteig trat, rümpfte sie die Nase über den Gestank, der von den acht Pinienkisten im Gepäckwagen aufstieg. Sie fragte den Gepäckmann, was die Kisten enthielten.

»Soldaten. Bei solchem Wetter hält sich das Eis nicht.«

»Hat es eine Schlacht gegeben?«

»Nichts Großes, soviel ich weiß. Diese Jungs sind wahrscheinlich an der Ruhr oder Ähnlichem gestorben. Wenn Sie länger hier sind, sehen Sie Hunderte von diesen Kisten.«

Am nächsten Morgen betrat sie um zehn Uhr das Büro von Dorothea Dix. Miss Dix, eine sechzigjährige Jungfer, war in Kleidung, Gesten und Sprache sauber und ordentlich.

»Eine Freude, Sie zu sehen, Miss Hazard. Sie haben einen Bruder in Minister Camerons Amt, nicht wahr?«

»Genaugenommen zwei. Der zweite arbeitet für General Ripley. Und mein jüngster Bruder ist bei den Pionieren in Virginia. Seine Frau hat mir Ihr Buch empfohlen, das ich sehr genossen habe.« Sie betete, Miss Dix möge keine Fragen über den Inhalt stellen, da sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, ein Exemplar zu kaufen.

»Freut mich zu hören. Werden Sie Ihre Brüder während Ihres Aufenthalts in der Stadt sehen?«

»Oh, selbstverständlich, wir stehen uns sehr nah.« Klang das zu Übertrieben? »Allerdings hoffe ich, daß mein Aufenthalt hier von Dauer sein wird. Ich würde gern als Krankenschwester arbeiten, obwohl ich keine offizielle Ausbildung besitze.«

»Jede intelligente Frau kann die technischen Aspekte schnell lernen. Was sie nicht erwerben kann, falls sie es nicht bereits besitzt, ist ein Charakterzug, den ich für unverzichtbar erachte.«

Miss Dix faltete die Hände und betrachtete Virgilia aus graublauen Augen.

»Ja?« sagte Virgilia.

»Seelenstärke. Die Frauen in meinem Schwesterncorps werden mit Dreck, Blut, Verderbtheit konfrontiert und einer Rohheit, die zu beschreiben mir die gute Erziehung verbietet. Meine Schwestern sind das Ziel von Feindseligkeiten, sowohl von Seiten der Patienten als auch der Ärzte, die zumindest in der Theorie unserer Verbündeten sein müßten. Das sind die Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen. Wenn Sie sich uns anschließen, Miss Hazard, dann werden Sie nicht nur einen Blick in die Hölle werfen, Sie werden mitten hindurch marschieren.«

Leicht zischend atmete Virgilia ein, versuchte die sinnliche Erregung zu verbergen, die sie erneut erfaßte. Eine blendende Vision tauchte auf, von jungen Männern in Kadettengrau, die blutend und schreiend stürzten. Grady grinste zu dem Spektakel, die schönen künstlichen Zähne zeigend, die sie ihm gekauft hatte, um jene zu ersetzen, die man ihm gezogen hatte, um ihn als Sklaven zu markieren.

»Miss Hazard?«

»Tut mir leid. Bitte verzeihen Sie. Eine vorübergehende Benommenheit.«

Stirnrunzeln. »Haben Sie das öfters?«

»Oh nein – nein! Es ist die Hitze.«

»Ja, außergewöhnlich für Dezember. Was halten Sie von dem, was ich Ihnen gesagt habe?«

Virgilia betupfte ihre Oberlippe mit dem Taschentuch. »Ich war in der Abolitionistenbewegung aktiv, Miss Dix. Als Folge davon sah ich häufig«, sie zwang mehr Festigkeit in ihre Stimme, »die verstümmelten Leichen geflüchteter Sklaven, die von ihren Herren ausgepeitscht worden waren. Ich sah Narben, gräßliche Verstümmelungen. Ich hab’ es ertragen. Ich kann auch die Härten der Krankenpflege ertragen.«

Endlich lächelte die Frau aus Boston ihrer Besucherin zu. »Ich bewundere Ihre Sicherheit. Das ist ein gutes Zeichen. Ihr Erscheinungsbild ist passend und Dr. Howes Empfehlung enthusiastisch. Sollen wir uns den Einzelheiten Ihres Gehalts und Ihrer Lebensumstände zuwenden?«

42

Lieutenant Colonel Orry Mains Ankunft und seine ersten achtundvierzig Stunden in Richmond waren voller Hektik. Er fand eine Unterkunft in einer Pension, unterschrieb verschiedene Papiere, leistete den Eid, kaufte seine Uniformen und meldete sich bei Colonel Bledsoe, der in den Büros des Kriegsministeriums das Kommando führte, in der Ninth Street neben dem Capitol Square.

Ein Angestellter namens Jones aus Maryland mit mürrischem, geheimnistuerischem Benehmen zeigte Orry seinen Schreibtisch hinter einer der dünnen Trennwände, die das Büro unterteilten. Am nächsten Tag empfing ihn Minister Benjamin. Der rundliche, kleine Mann hatte Walker abgelöst, den offenen, direkten Anwalt aus Alabama, dem man angelastet hatte, nicht mehr Kapital aus dem Sieg von Manassas geschlagen zu haben.

»Entzückt, Sie endlich bei uns zu sehen, Colonel Main.« Der Minister strahlte, von seinen unlesbaren Augen abgesehen, Kameraderie aus. »Wenn ich recht informiert bin, speisen wir Samstagabend zusammen.«

Orry drückte Überraschung aus. Benjamin sagte: »Die Einladung ist möglicherweise jetzt erst in Ihrer Unterkunft abgegeben worden. Angela Mallory führt eine ausgezeichnete Tafel, und die Eisdrinks des Ministers sind berühmt. Mr. Mallory ist voll des Lobes über die Arbeit, die Ihr Bruder und Bulloch in Liverpool leisten – ah, aber ich kann mir vorstellen, Sie sind mehr daran interessiert, etwas über Ihre eigenen Pflichten zu erfahren.«

»Jawohl, Sir.«

»Der Platz, den Sie auszufüllen haben, ist viel zu lange unbesetzt gewesen. Der Job ist sowohl notwendig als auch, wie ich eingestehen muß, schwierig, denn er erfordert Kontakt mit einer recht verhaßten Person. Sagt Ihnen der Name Winder etwas?«

Orry dachte kurz nach. »In West Point wurde über General William Winder geredet. Er verlor die Schlacht von Bladensburg im Jahre – 1814, ja?« Benjamin nickte. »Jetzt erinnere ich mich. Winder kämpfte aus überlegener Stellung mit überlegenen Kräften, aber die Briten schlugen ihn trotzdem, marschierten dann unbehelligt nach Washington und brannten es nieder. Später, beim Wiederaufbau der Stadt, wurde ein Gebäude nach ihm benannt.«

»Ich spreche von Winders Sohn. Er war eine gewisse Zeit taktischer Offizier in West Point.«

»Das wußte ich nicht.«

Sorgfältig die Worte wählend, fuhr Benjamin fort: »Tatsächlich war er dort Ausbilder, als Präsident Davis diese Institution besuchte. Deshalb hatte ihn der Präsident in guter Erinnerung, als Major Winder zu Beginn des Jahres hier ankam. Er ernannte ihn zum Brigadegeneral und Kommandeur der Militärpolizei. Seine Büros liegen ganz in der Nähe. Im Grunde ist er ein besserer Polizist – was an sich kein Problem darstellen würde, wenn ihn sein zunehmendes Alter nicht so unflexibel gemacht hätte. Und schließlich ist er bedauerlicherweise auch noch ein Leuteschinder. Aber trotz allem genießt er die Gunst des Präsidenten.« Benjamin sah Orry direkt in die Augen. »Jedenfalls zur Zeit.«

Benjamin erklärte ihm, daß der Kommandeur der Militärpolizei eine Anzahl von Männern angeheuert hatte, die in seinen Dienstlisten als professionelle Detektive geführt wurden. »Ich würde sie eher als Totschläger bezeichnen. Importierte auch noch. Yankeeabschaum, die keine Ahnung vom Süden haben. Sie scheinen besser geeignet zu sein, Rowdies aus Kneipen rauszuwerfen als ordentliche Detektivarbeit zu leisten. Aber wie ich schon sagte, sie sind verantwortlich für die Aufklärung von militärischen wie von zivilen Vergehen und Verbrechen. Aufgrund des, äh, Charakters des Generals neigen sie dazu, die Grenzen ihrer Autorität zu überschreiten. Ich kann nicht zulassen, daß sie die Befugnisse dieses Amtes beschneiden. Wenn sie es versuchen, dann müssen wir ihnen auf die Finger schlagen. Der letzte Mann, der dafür verantwortlich war, zeigte sich der Aufgabe nicht gewachsen. Daher meine Freude über Ihre Ankunft.«

Wieder dieser direkte, starre Blick. Benjamins weitere Worte lösten einen kleinen Schock bei Orry aus.

»Außerdem beansprucht Winder die Aufsicht über die lokalen Gefängnisse. Wenn er bei der Behandlung der Gefangenen nicht wenigstens ein Minimum an Humanität einführt, dann kann uns das auf diplomatischer Ebene Schaden zufügen, vor allem, weil die europäisc he Anerkennung immer noch zweifelhaft ist. Kurz gesagt, Colonel, es gibt viele Möglichkeiten, wie der General der Konföderation schaden kann; wir müssen ihn daran hindern.«

»Der Herr Minister wird mir die Bemerkung gestatten, daß General Winder ranghöher ist als ich.«

»Das ist er – außer er stellt eine direkte Bedrohung des Wohlergehens dieses Ministeriums dar. Dann werden wir sehen, wessen Rang höher ist.« Benjamin schob seinen Stuhl vor und warf Orry einen Blick zu, der das Eisen unter der Seide enthüllte. »Ich hoffe zuversichtlich, daß Sie Ihren Aufgaben mit Takt und Können nachkommen werden, Colonel.«

Das war keine Hoffnung; das war ein Befehl.

Am nächsten Morgen stattete Orry dem Militärpolizeikommandeur einen Höflichkeitsbesuch ab; das Büro war in einem häßlichen Gebäude in der Broad Street nahe Capitol Square untergebracht. Schon bei seinem Eintritt begannen sich die ersten negativen Eindrücke anzusammeln. Ein paar von Winders Rowdies, Zivilisten mit schlammigen Stiefeln und gewaltigen Revolvern, lümmelten auf Bänken herum und starrten ihn an, als er zu den Büroangestellten hinüberging.

Brigadegeneral John Henry Winder ließ ihn eine Stunde warten. Als Orry schließlich eintreten durfte, sah er einen stämmigen Offizier vor sich, der wesentlich älter als sechzig wirkte. Strähnenweise stand ihm das weiße Haar, das anscheinend schon längere Zeit nicht mehr gekämmt, geschnitten und gewaschen worden war, vom Kopf ab. Winders Haut schuppte sich, so trocken war sie, und sein ständig zu einem auf den Kopf gestellten U verzogener Mund deutete darauf hin, daß Lächeln nicht zu seinen Angewohnheiten zählte.

Orry wollte sich freundlich vorstellen und seiner Hoffnung auf gute Zusammenarbeit Ausdruck verleihen. Der Kommandeur war daran nicht interessiert.

»Ich weiß, Ihr Boß ist ein Freund von Davis, aber das bin ich auch. Wir werden gut miteinander auskommen, wenn Sie zwei Regeln befolgen: Kommen Sie mir nicht in die Quere, und stellen Sie meine Autorität nicht in Frage.«

Weniger freundlich sagte Orry: »Ich glaube, der Minister hat ebenfalls Regeln, General. In Dingen, die in irgendeiner Form die Armee betreffen, bin ich angewiesen, dafür zu sorgen, daß die Vorschriften – «

»Zum Teufel mit den Vorschriften. Wir haben Krieg. Ganz Richmond steckt voller Feinde.« Uralte Schildkrötenaugen fixierten Orry. »Mit und ohne Uniform. Ich werde sie ausrotten und mich dabei den Teufel um Vorschriften scheren. Ich habe zu tun. Sie sind entlassen.«

»Zu Ihren Diensten, General.« Er salutierte, aber Winder hatte sich bereits über seine Akte gebeugt und erwiderte den Gruß nicht. Mit rotem Gesicht marschierte Orry hinaus.

Nur noch wenige Angestellte hielten sich in den Büros des Ministeriums auf, unter ihnen Jones. Orry beschrieb sein Zusammentreffen, und Jones lachte höhnisch. »Typisches Benehmen. In der ganzen Regierung gibt es keinen Mann, den ich mehr verachte. Sie werden bald ebenso empfinden.«

»Ich will verdammt sein, wenn das nicht bereits der Fall ist.«

Jones kicherte und machte sich wieder daran, in eine Art Journal zu schreiben. Später sah Orry, wie Jones das Journal in eine untere Schreibtischschublade zurücklegte und dabei verstohlen um sich blickte. Führte er ein Tagebuch? Man hütete wohl besser seine Zunge in Gegenwart dieses Burschen.

Bei der Dinnerparty im Hause des Marineministers Stephen Mallory am Samstagabend herrschte eine bessere Atmosphäre. Mallory, in Florida geboren, Eltern Yankees, hatte das große Glück – oder Pech, je nach Perspektive –, ein Ministerium zu leiten, das von Jefferson Davis fast vollkommen ignoriert wurde. Schnell machte der Minister seinen Gast mit seiner Einstellung bekannt.

»Ich habe die Sezession immer nur als Synonym für Revolution betrachtet. Aber jetzt, da wir kämpfen, will ich nicht das Zugeständnis des Feindes gewinnen, daß wir als Nation existieren dürfen, sondern ich will ihn schlagen. In diesem und in vielen anderen Punkten haben der Präsident und ich unterschiedliche Ansichten. Noch einen Julep, Colonel?«

In Orrys Kopf wirbelte es bereits, vom ersten Drink und vom Glanz der Versammlung. Das strahlendste Schmuckstück war Mallorys spanische Gattin Angela, eine anmutige, schöne Frau. Sie lobte Cooper und stellte Orry ihren kleinen Töchtern vor, ehe sie sie zu Bett brachte.

Während des ausgezeichneten Mahles wurden viele Toasts auf die Konföderation und vor allem auf ihre gefangenen Repräsentanten, Mason und Slidell, ausgebracht, beide Favoriten der Erzsezessionisten. Auch Benjamin zählte dazu, obwohl Orry die Ernsthaftigkeit des glatten, kleinen Mannes bezweifelte; auf Orry machte er nicht den Eindruck eines Eiferers, sondern eher eines Mannes, der es vorzieht zu überleben. Trotzdem brachte der Minister Witz und Fröhlichkeit in die Runde. Der Tisch war dermaßen überladen mit Köstlichkeiten, daß Orry Mühe hatte, sich daran zu erinnern, daß sie sich im Krieg befanden. Für eine kurze Weile vergaß er sogar, wie sehr er Madeline vermißte.

Als die Party ihrem Ende zuging, lud Benjamin ihn zu einem seiner Lieblingsplätze ein. »Johnny Worsham’s. Ich möchte gegen seine Faro-Bank gewinnen. Johnny hat da eine feine Sache am Laufen. Man trifft die richtigen Leute, ebenso wie die richtigen Damen, aber man kann sich auch der Diskretion des Hauses sicher sein und wird nicht betrogen.«

Benjamin liebte abendliche Spaziergänge, und Orry erhob keine Einwände. Als sie am Spotswood vorbeikamen, wo gerade eine lärmende Menge von einer anderen Party aufbrach, rannte jemand zufällig gegen Orry. »Ashton!«

Die Überraschung ließ ihn freundlicher als beabsichtigt klingen. Seine Schwester hing am Arm ihres Ehemannes; sie schenkte ihm ein Lächeln, so warm und herzlich wie ein Januartag. »Lieber Orry! Ich hörte, daß du hier bist – und auch noch verheiratet. Ist Madeline ebenfalls hier?«

»Nein, aber sie wird bald kommen.«

»Wie großartig du in Uniform aussiehst.« Ashtons Lächeln für den Minister war erkennbar herzlicher. »Arbeitet er für Sie, Judah?«

»Ich bin froh, das bejahen zu können.«

»Welches Glück. Orry, mein Lieber, sobald wir die Zeit finden, müssen wir einmal zusammen essen. James und ich werden ja vollkommen von gesellschaftlichen Verpflichtungen aufgefressen. In manchen Wochen haben wir kaum fünf Minuten für uns.«

»Ganz richtig«, sagte Huntoon. Seine Brillengläser beschlugen in der Kälte. Ashton winkte und warf Benjamin flirtende Blicke zu, während ihr Mann ihr in die Kutsche half.

»Attraktive junge Frau«, murmelte Benjamin im Weitergehen. »Angenehm für Sie, eine Schwester in Richmond zu haben.«

Sinnlos, etwas zu verschweigen, das ohnehin bald allgemein bekannt sein dürfte. »Wir stehen nicht auf gutem Fuß miteinander, fürchte ich.«

»Ein Jammer«, sagte Benjamin mit einem kleinen, perfekten und leeren Beileidslächeln. Ich segle mit einem Meisternavigator der politischen Gewässer, dachte Orry. Er wußte, daß er von Ashton nichts mehr wegen des Essens hören würde. Das paßte ihm ausgezeichnet.

»Ashton?«

»Nein.«

Sie wandte sich von seiner Hand und seinem bettelnden Gejammer ab und schob ihr Kopfkissen so weit wie möglich an den Rand des Bettes. Gerade als sich köstliche Gedanken an Powell in ihrem Kopf zu formen begannen, belästigte er sie erneut.

»Ziemliche Überraschung, deinen Bruder zu sehen.«

»Eine unangenehme Überraschung.«

»Hast du wirklich vor, für uns drei ein Essen zu geben?«

»Nachdem er mich aus dem Haus geworfen hat, in dem ich aufgewachsen bin?« Ein verächtlicher Laut beantwortete die Frage. »Ich wollte, du wärst still. Ich bin erschöpft.«

Ashton sah Powell mindestens einmal die Woche, sogar zweimal, wenn Huntoons Arbeitszeit günstig war. Sie trafen sich auf Church Hill. Natürlich war es für sie immer noch ein Risiko, aber im Grunde liebte sie die Gefahr, bei Tageslicht in die Franklin Street zu kommen; einmal im Inneren des Hauses, befand sie sich in vollkommener Sicherheit, was in irgendeiner Absteige nicht der Fall gewesen wäre.

Powell brachte Ashton nicht nur Erfüllung mit seinen gelegentlich grausamen Liebesspielen, er faszinierte sie auch als Mensch. Er war ein hitziger Patriot, gleichzeitig aber skrupellos auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Das war kein Widerspruch. Er liebte die Konföderation, haßte aber ›King Jeff‹. Er beabsichtigte, den schicksalhaften Krieg zu überleben und dabei reich zu werden.

»Dafür bleibt mir ungefähr ein Jahr. Davis wird noch für eine Weile seine unkontrollierten Stümpereien begehen. Wir kämpfen für eine gerechte Sache – wir sollten und wir könnten gewinnen. Wenn uns der richtige Mann führt, dann könnte ich zum Prinzen eines neuen Königreiches werden. Unter den gegenwärtigen Umständen und dem gegenwärtigen Diktator kann ich, so fürchte ich, lediglich reich werden.«

Ein Patriot, ein Spekulant, ein unvergleichlicher Liebhaber – nie zuvor hatte sie einen solch vielschichtigen Mann gekannt. Im Vergleich schnitt Huntoon noch schlechter ab, als er es in der Vergangenheit ohnehin schon getan hatte.

Ihre Gewißheit, daß sie Powell liebte, wurde immer stärker. Ashton bezweifelte, daß Powell sie liebte. Sie hielt ihn für unfähig, jemand anders als sich selbst zu lieben. Es störte sie nicht. Was sie zu geben hatte, würde für beide reichen –

»Ashton?«

Ihr Rücken war immer noch ihrem Mann zugewandt. Sie knurrte ein Schimpfwort und schlug mit der Faust auf das Kissen. Warum konnte er sie nicht in Ruhe lassen? »Was ist?«

Eine schlaffe, widerliche Hand kroch über ihre Schulter. »Warum bist du so kalt zu mir? Es ist schon Wochen her, seit du mir das letzte Mal meine ehelichen Rechte zugestanden hast.«

Gott, selbst wenn er nach Liebe jammerte, hörte er sich wie ein Anwalt an. Er würde dafür bezahlen, daß er sie gestört hatte. Sie rollte sich zur Seite, suchte ein Streichholz, zündete es an, riß den Schirm von der Lampe und steckte den Docht an. Auf die Ellbogen gestützt, zerrte sie ihr Nachthemd über die Hüften hoch.

»Also gut, dann mach.«

»W-Was?«

»Zieh dieses stinkende Nachthemd aus, und nimm dir, was du willst, solange du es noch kriegen kannst.« Die Lampe entzündete kleine Feuer in ihren Augen. Sie beugte die Knie, öffnete die Schenkel, biß die Zähne zusammen. »Komm schon.«

Er kämpfte mit dem langen Flanellnachthemd. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf Kommando kann.« Er entblößte seinen weißen Körper, und sie sah, daß er nur zu recht hatte. Huntoon schien jeden Moment in Tränen auszubrechen. Ashton lachte ihn aus.

»Du kannst ja nie. Selbst wenn dieses kümmerliche kleine Ding ein bißchen Leben zeigt, dann spüre ich nicht mehr als einen Fingerhut in mir. Wie konntest du je erwarten, eine Frau zu befriedigen? Du bist lächerlich.«

Und damit klappte sie ihre Beine zusammen, zerrte ihr Nachthemd herunter, ergriff die Lampe und verließ das Schlafzimmer.

Huntoon lauschte ihren Schritten, die nach unten führten. »Du gemeine Hündin«, brüllte er. Doch sein Ärger schmolz so schnell dahin wie die leichte Versteifung seines Gliedes, die er zustandegebracht hatte, als sie ihn anschrie. Ihre Grausamkeit tat mehr, als ihn nur zu verletzen. Sie bestätigte einen Verdacht, den er schon seit einigen Tagen hegte. Es gab einen anderen Mann.

Huntoon warf sich aufs Bett. Eine Stunde lang blieb er so liegen und stellte sie sich nackt mit einem anderen Mann vor. Irgendein Offizier vielleicht? Dieser verschlagene kleine Jude mit seinem Kabinettsposten und seinen feinen Manieren? Oder konnte es ein Mann wie dieser glatte, hinterlistige Powell aus Georgia sein? Mit trockenem Mund stellte sich Huntoon vor, wie seine Frau sich verschiedenen Verdächtigen hingab. Er konnte sie zur Rede stellen, konnte verlangen, daß sie ihm den Namen –

Er konnte es nicht; das Wissen würde ihn wahrscheinlich umbringen.

Nach zwei Stunden raffte er sich aus dem Bett hoch, zog einen Morgenrock an und ging nach unten.

»Ashton? Ich wollte mich entschuldigen – «

Der Satz verlor sich. Er schnitt eine Grimasse. Fest schlafend lag sie zusammengerollt in einem großen Ledersessel; sie atmete leicht und gleichmäßig. Auf ihrem Gesicht lag ein sinnliches, zufriedenes Traumlächeln.

Er drehte sich um und stolperte die Treppe hoch; dieses Lächeln brannte sich wie Säure in sein Gedächtnis. Die Tränen kamen ihm. Er haßte sie, wußte aber, daß er machtlos war, etwas gegen sie zu unternehmen. Wie ein alter Mann stieg er die Stufen hoch; die Uhr im Flur schlug drei.

43

Auf Belvedere setzte Brett ihren täglichen Kampf gegen die Einsamkeit fort.

Ein Trost: Billys Briefe klangen fröhlicher. Seine alte Einheit, die Pionierkompanie A, war nach Washington zurückgekehrt und hatte auf dem Gelände des Bundesarsenals Quartier bezogen, zusammen mit zwei der drei neuen Freiwilligenkompanien, die der Kongreß im August bewilligt hatte – B aus Maine und C aus Massachusetts.

Das neugegründete Pionierbataillon gehörte nun zu McClellans Potomac-Armee und wurde von Captain James Duane kommandiert, einem Offizier, den Billy respektierte. Um bei dem Bataillon bleiben zu können, hatte Billys Freund Lije Farmer als Captain der Freiwilligen zurücktreten und ein Patent der regulären Armee als Erster Lieutenant annehmen müssen. Der älteste in der Potomac-Armee, behauptete er, aber Billy war zufrieden und froh, daß er bei ihnen war.

Brett fragte sich, ob es eine Hoffnung auf Urlaub für ihn gab. Sie vermißte ihn so sehr; es gab viele Nächte, in denen sie nur wenige Stunden schlief. Sie half im Haus soviel sie konnte, aber trotzdem blieben ihr noch viele leere Stunden. Constance war wieder zu George nach Washington zurückgekehrt. Dieser seltsame, hitzige Farbige, Brown, war ebenfalls dort und sammelte weitere verirrte Schäfchen ein. Virgilia hatte eine Stelle bei Miss Dix’ Krankenschwestern bekommen und würde nicht zurückkehren. Brett war ganz allein, in düsterer Stimmung und einsam.

An einem stahlgrauen Dezembertag spazierte sie zum Tor von Hazards, dann den Hügel zum Brown-Gebäude hoch. Sie entdeckte zwei der Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die mit Mr. Czorna, dem Ungarn, an einer Tafel lernten. Seine Frau rührte die Suppe am Ofen. Brett grüßte beide.

»Morgen, Madam«, erwiderte die grauhaarige Frau, ehrerbietig, aber nicht besonders freundlich. Jede von ihnen sprach mit Akzent: Mrs. mit deutlich europäischem, Brett mit deutlich südstaatlichem. Brett wußte, daß ihr das Paar kein Vertrauen entgegenbrachte – nicht gerade neu in Lehigh Station.

Sie wollte etwas sagen, bemerkte dann aber ein Kind im angrenzenden Raum. Auf einem Strohsack sitzend, starrte das kleine, kupferfarbene Mädchen mit gesenktem Kopf auf seine Hände.

»Ist das Kind krank, Mrs. Czorna?«

»Nicht krank, nicht diese Art von Krankheit. Vor seiner Abreise hat Mr. Brown ihr eine Schildkröte gekauft. Vor zwei Nächten, als wir den Schnee hatten, kroch die Schildkröte aus dem Fenster und erfror. Sie will nicht, daß ich das Tier beerdige. Sie will nicht essen, nicht sprechen oder lachen – ich vermisse ihr Lachen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Gerührt vom Anblick der hoffnungslosen Gestalt im anderen Raum, sagte Brett impulsiv: »Darf ich einen Versuch machen?«

»Nur zu.«

»Ihr Name ist Rosalie, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt.«

Brett ging in den Schlafsaal und setzte sich neben das kleine Mädchen, das sich nicht bewegte. In der offenen Handfläche des Kindes lag die tote Schildkröte – nicht sonderlich gut riechend.

»Rosalie? Darf ich deine Schildkröte nehmen und ihr ein warmes Plätzchen geben?«

Das Kind starrte Brett mit leeren Augen an. Es schüttelte den Kopf.

»Bitte, Rosalie. Sie verdient es, warm und gemütlich zu liegen, während sie schläft. Hier drinnen ist es kalt. Kannst du es nicht spüren? Komm, hilf mir draußen. Danach gehen wir zu mir, zu Kuchen und Kakao. Du kannst die große Mamakatze sehen, die letzte Woche Junge gekriegt hat.«

Sie faltete die Hände, wartete. Das Kind starrte sie an. Langsam griff Brett nach der Schildkröte. Das Kind schaute hinunter, sagte aber nichts. Brett bat Mrs. Czorna um einen großen Löffel, dann gingen sie zusammen hinter das weißgetünchte Gebäude. Mit dem Löffel grub Brett ein Loch in den winterlichen Boden. Sie wickelte die Schildkröte in ein sauberes Tuch, legte sie hinein und häufte vorsichtig Erde darüber. Als sie aufblickte, sah sie Rosalie weinen.

»Oh, armes Kind. Komm her.«

Sie breitete die Arme aus. Das kleine Mädchen rannte auf sie zu. Während der kalte Wind pfiff, hielt Brett das zitternde Körperchen. In diesem Augenblick, an diesem grauen Morgen, wurde ihr etwas bewußt. Rosalie fühlte sich nicht anders an als jedes andere verletzte Kind auch.

Brett schloß sie fest in die Arme, spürte, wie die Hände des kleinen Mädchens um ihren Nacken glitten, und dann fühlte sie die feuchte Kälte seiner Wange, die sich wärmesuchend gegen die ihre preßte.

44

Tante Belle Nin starb am 10. Oktober. Seit Tagen war es mit ihr langsam zu Ende gegangen, Opfer einer Blutvergiftung, wie es der Arzt der Mains bezeichnete. Sie war bis zuletzt bei klarem Bewußtsein, rauchte eine Maiskolbenpfeife, die Jane ihr gestopft hatte, und gab Kommentare zu Träumen ab, die ihr Szenen aus dem Leben nach dem Tod gezeigt hatten. »Es macht mir nichts aus zu gehen, abgesehen von einem Detail«, sagte sie durch die Rauchwolken hindurch. »Wahrscheinlich werd’ ich meine beiden Ehemänner auf der anderen Seite treffen, und darauf könnt’ ich gut verzichten.«

Tante Belle paffte einige kräftige Züge, lächelte ihrer Nichte zu, reichte ihr die Pfeife und schloß die Augen.

Madeline war sofort damit einverstanden, daß Tante Belle am nächsten Tag auf Mont Royal begraben wurde – der gleiche Tag, an dem ein Feuersturm durch Charleston raste. Viele Häuserblöcke weit verbrannte Erde, sechshundert zerstörte Gebäude, Besitz im Wert von Millionen Dollars vernichtet. Schwarze Brandstifter sollten dafür verantwortlich sein. Die Neuigkeiten erreichten Mont Royal am Abend nach der Beerdigung; ein Kurier, unterwegs zur Ashley-Plantage, warnte vor einem möglichen Aufstand.

Während der Kurier sich mit Madeline und Meek unterhielt, schlenderte Jane allein durch das kühle Mondlicht am Fluß entlang. Ein Knirschen von Planken ganz vorn am Dock erschreckte sie. Cuffey beobachtete sie jetzt ständig, und als sie sich umwandte und die drohende Silhouette eines Mannes sah, dachte sie, er sei ihr gefolgt.

»Ich bin’s bloß, Miss Jane.«

»Oh, Andy. Hallo!« Sie entspannte sich, zog an ihrem Schal. Der Wintermond erhellte sein Gesicht, als er sich ihr scheu näherte.

»Wollte dir nur sagen, wie sehr der Tod deiner Tante mich bekümmert hat. Dachte, bei der Beerdigung ist nicht der richtige Ort dafür.«

»Ich danke dir, Andy.« Zu ihrer eigenen Überraschung stellte sie fest, daß sie ihn länger als nötig ansah.

»Möchtest du dich einen Moment hinsetzen?« fragte er. »Hab’ nicht viel Möglichkeiten, dich zu sehen, den ganzen Tag die Arbeit und – «

»Ist dir nicht kalt? Du hast nur dieses Hemd an.«

»Oh, das ist schon in Ordnung.« Er lächelte. »Warte, ich helfe dir – «

Er nahm ihre Hand, damit sie nicht fiel, als sie sich an den Rand des Docks setzte, und ließ sie dann fast erschrocken wieder los. Im Grunde genommen war Jane genauso nervös wie er. In Rock Hill hatte sie nie viel mit Männern zu tun gehabt. Sie war noch Jungfrau, und die Witwe Milsom hatte ihr den eindringlichen Rat gegeben, das auch zu bleiben, bis sie einen Mann gefunden hatte, den sie liebte und heiraten wollte.

»Schrecklich, dieses Feuer in Charleston.«

»Schrecklich«, stimmte sie zu, obwohl sie nichts für die weißen Besitzer übrig hatte. Sie wünschte sich keine Toten, hätte aber nichts dagegen gehabt, wenn jede Plantage im Staat niedergebrannt wäre.

»Ich denk’, du wirst jetzt bald nach Norden aufbrechen.«

»Ja, ich glaub’ schon. Nun, wo Tante Belle beerdigt ist, bin ich – « Sie hielt inne, verbiß sich das Wort ›frei‹, falls es ihn verletzen würde. Es war ein mächtiges Wort, frei. »-- kann ich tun, was ich will.«

Er studierte seine Finger; schließlich brach es aus ihm heraus. »Hoffentlich stört es dich nicht, wenn ich noch was sag’.«

»Kann ich erst wissen, wenn du’s gesagt hast, oder?«

Er lachte, nun etwas lockerer. »Ich wollt’, du würdest bleiben, Miss Jane.«

»Du mußt mich nicht dauernd Miss nennen.«

»Scheint angebracht. Du bist eine feine, hübsche Frau – klüger, als ich’s je sein werde.«

»Du bist klug, Andy. Ich kann das beurteilen. Und es wird noch besser, wenn du lesen und schreiben gelernt hast.«

»Das ist ein Teil von dem, was ich meine, Mi… Jane. Wenn du weg bist, wird niemand mehr hier sein, der mich unterrichtet. Niemand, der irgendeinen von uns unterrichten könnte.« Er beugte sich vor. »Die Soldaten von Lincoln kommen immer näher. Aber so wie ich jetzt bin, komme ich in der Welt der Weißen nicht zurecht. Weiße schreiben Briefe, Rechnungen, machen Geschäfte. Ich bin nicht besser auf die Freiheit vorbereitet als irgendein alter Hund, der den ganzen Tag in der Sonne liegt.«

Sie fühlte einen Schuß Ärger. »Du meinst, ich soll mich schämen, weil ich nicht bleibe und unterrichte. Das ist nicht meine Aufgabe. Das ist nicht meine Pflicht.«

»Bitte sei nicht böse. Das ist nicht alles.«

»Was meinst du, das ist nicht alles? Ich versteh’ nicht.«

Er schluckte. »Nun – Miss Madeline geht bald zu Mr. Orry. Meek ist kein bösartiger Verwalter, aber er ist hart. Die Leute brauchen jetzt eine andere stützende Hand, eine Freundin wie Miss Madeline.«

»Und du glaubst, ich könnte sie ersetzen?«

»Du bist – bist keine Weiße, aber du bist frei. Ist das Nächstbeste.«

Woher kam so plötzlich diese Woge der Enttäuschung? Sie wußte es nicht. »Tut mir leid, daß ich dich falsch verstanden hab’. Und danke für dein Vertrauen, aber – « Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als er ihre Hand packte.

»Ich will nicht, daß du gehst, weil ich dich mag.«

Er sprudelte den Satz so schnell heraus, daß er wie ein einziges Wort klang. Kaum fertig, klappte er den Mund zu und schaute drein, als würde er im nächsten Moment vor Scham in den Boden versinken. Er war fast nicht zu hören, als er hinzufügte: »Ich entschuldige mich.«

»Nein, das brauchst du nicht. Was du sagtest, war – «, wie schwer, sowas auszusprechen, »– lieb.« Sie neigte den Kopf, und ihre Lippen streiften seine Wangen. Noch nie war sie so kühn gewesen; sie war nun ebenso verlegen wie Andy. »Es ist kalt. Wir sollten gehen.«

»Darf ich dich begleiten?«

»Gern.«

Schweigend legten sie die dreiviertel Meilen zu den Hütten zurück. Mit merkwürdig erstickter Stimme sagte Andy: »Gute Nacht, Miss Jane.« Ohne anzuhalten, steuerte er auf seine eigene Hütte zu. Ein letzter Satz trieb zu ihr herüber. »Hoffentlich hab’ ich dich nicht zu wütend gemacht.«

Nein, aber er hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Mächtig sogar. Still und heimlich hatte sie ein romantisches Interesse an Andy entwickelt. Mein Gott, nach den vergossenen Tränen bei der Beerdigung war sie sich ihres nächsten Schrittes ganz sicher gewesen. Jetzt war sie vollkommen durcheinander und –

»Bloß der Nigger vom Boß ist wohl gut genug für dich, huh?«

»Wer ist da?«

Erschreckt von der Stimme aus der Dunkelheit schaute sie sich suchend um; eine Gestalt löste sich von einer dunklen Veranda zu ihrer Linken. Cuffey kam auf sie zugeschlendert.

»Wirst schon wissen, wer.« Er stieß einen angsteinflößenden kleinen Zischlaut aus. »Ich war mal Vorarbeiter. Bin ich damit gut genug für ‘nen Mondscheinspaziergang? Ich weiß, wie man ‘nem Mädel was Gutes tut. Hab’s gelernt, seit ich neun oder zehn war.«

Sie machte einen Bogen um ihn. Er umklammerte ihren Unterarm so fest, daß es schmerzte. »Hab’ dich was gefragt. Bin ich gut genug für dich oder nicht?«

Jane bemühte sich, ihre Furcht zu verbergen. »Nichts auf dieser Welt könnte dich gut genug machen. Du läßt mich jetzt los, oder ich kratz dir die Augen aus, und dabei kann ich auch gleich nach Mr. Meek rufen.«

»Meek wird sterben.« Cuffey schob sein Gesicht dicht an das ihre. »Er und all die Weißen, die uns unser Leben lang getreten und geschlagen und rumkommandiert haben. Ihre Niggerlieblinge werden auch sterben. Also, du Hündin, überleg dir, auf welche Seite du – «

»Laß los, du ignoranter, stinkender Wilder. Ein Mann wie du verdient die Freiheit nicht. Auf dich kann man nur spucken, zu was anderem taugst du nicht.«

Auf dunklen Veranden saßen Zuhörer. Eine Frau kicherte, ein Mann lachte laut heraus. Cuffey wirbelte nach links herum, dann nach rechts, auf der Suche nach den unsichtbaren Spöttern. Jane riß sich los, rannte in ihre Hütte und blieb keuchend mit dem Rücken gegen die Tür stehen.

Sie beschloß, die Lampe brennen zu lassen. In der Flamme sah sie die Gesichter zweier Männer. Sie würde so bald wie möglich von hier fortgehen.

Morgen.

Das Krähen der Hähne weckte sie am nächsten Morgen nach einer Nacht voller unruhiger Träume. Tante Belle hatte den Träumen immer Bedeutung zugemessen, obwohl man hart arbeiten mußte, um sie wirklich zu durchschauen. Jane machte sich ans Werk und hatte nach einer Stunde einen Entschluß gefaßt.

Zu bleiben würde schwerer werden als wegzugehen. Aber trotz Cuffey: Sie würde auch ihren Lohn empfangen; sie konnte ihre eigenen Leute auf den Tag der Befreiung vorbereiten, an die sie so sicher glaubte.

Und dann war da noch Andy. Doch auch ohne ihn mußte sie dem Ruf ihres Gewissens folgen. Sie zog sich an, richtete ihr Haar und eilte, auf der Suche nach Madeline, zu dem großen Haus.

Orrys Frau frühstückte gerade. »Setz dich, Jane. Magst du etwas Biskuit und Marmelade? Tee?«

Die Einladung, mit der weißen Herrin den Tisch zu teilen, machte sie sprachlos. Sie dankte Madeline, setzte sich ihr gegenüber, aß aber nichts. Sie fing den empörten Blick des Hausmädchens auf, das in die Küche zurückkehrte.

»Ich wollte über meine Abreise reden, Miss Madeline.«

»Ja, das dacht’ ich mir. Wird es bald sein? Wann immer du gehst, ich werde dich vermissen. Viele andere auch.«

»Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Ich hab’ mir’s anders überlegt. Ich würde gerne noch eine Weile in Mont Royal bleiben.«

»Oh, Jane – das würde mich sehr glücklich machen. Du bist eine intelligente junge Frau. Ich hoffe, Ende des Monats nach Richmond aufbrechen zu können. Dann könntest du Mr. Meek eine große Hilfe sein.«

»Ich möchte meinen eigenen Leuten helfen. Sie müssen bereit sein, wenn die Befreiung kommt.«

Madelines Lächeln verschwand. »Du glaubst, der Süden wird verlieren?«

»Ja.«

Madeline warf einen vorsichtigen Blick zur Küchentür. »Ich gestehe, ich befürchte das auch, obwohl ich es nicht zuzugeben wage, weil es Meeks Autorität zerstören würde. Und Gott allein weiß, wie mein Mann die Plantage hier leiten will, ohne – «

Sie brach ab, suchte Janes Blick. »Ich habe zuviel gesagt. Ich muß dir vertrauen, daß du nichts davon weitererzählst.«

»Das werd’ ich nicht.«

»Wie, glaubst du, könntest du deinen Leuten helfen?«

Es war zu früh, von Unterricht zu sprechen; ein erstes Zugeständnis mußte erreicht werden. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich kenn’ einen Ort, wo ich nach der Antwort suchen könnte. Ihre Bibliothek. Ich hätte gern Ihre Erlaubnis, mir dort Bücher auszuleihen.«

Mit einem winzigen Löffel tippte Madeline gegen den Goldrand ihrer Teetasse. »Du weißt, daß das gegen das Gesetz verstößt?«

»Ja.«

»Was hoffst du, in Büchern zu finden?«

»Ideen – Möglichkeiten, den Leuten auf dieser Plantage zu helfen.«

»Jane, wenn ich dir die Erlaubnis dazu geben und irgend jemand, Weiß oder Schwarz, kommt dadurch zu Schaden, dann bekommst du es nicht mit Mr. Meek zu tun. Das erledige ich dann mit meinen eigenen Händen. Ich dulde nicht, daß Unruhe oder Gewalt gesät wird.«

»Das würde ich nicht tun.« Ihren restlichen Gedankengang behielt Jane für sich: Aber ein anderer vielleicht schon.

Madeline blickte sie fest an. »Ich nehme das als weiteres Versprechen.«

»Das können Sie. Und das erste gilt auch noch. Ich werde keinen der Leute ermutigen, wegzurennen.«

»Du bist eine sehr offene junge Frau«, sagte Madeline; es war alles andere als eine Verurteilung. Sie erhob sich. »Komm mit.«

Jane folgte ihr zum sonnenbeschienenen Foyer. Madeline griff nach den Klinken der Bibliothekstüren. »Dafür könnte ich ausgepeitscht und aus diesem Staat gejagt werden.« Aber es schien sie mit Stolz zu erfüllen, die Türen aufzustoßen und zur Seite zu treten.

Langsam ging Jane hinein. Madeline folgte ihr und schloß lautlos die Türen.

»Ideen haben mir nie Angst eingejagt, Jane. Sie sind die Erlösung und Rettung dieses Planeten. Lies von all dem soviel, wie du willst.«

Lederner Duft stieg von den Regalen auf, in denen keine einzige freie Stelle zu finden war. Jane hatte das Gefühl, in einer Kathedrale zu sein. Sie blieb weiter schweigend stehen, wie ein Bittsteller. Dann legte sie den Kopf etwas zurück und hob den Blick zu den Büchern, zu all den Büchern; ein inneres Leuchten ließ ihr Gesicht erstrahlen.

45

»George, du darfst nicht so toben. Du wirst noch einen Schlaganfall kriegen.«

»Aber – aber – «

»Rauch eine Zigarre. Ich gieße dir einen Whiskey ein. Es ist jeden Abend dasselbe. Du kommst wütend heim. Die Kinder haben es auch schon bemerkt.«

»Nur eine Statue könnte in diesem Saustall ruhig bleiben.« Er riß sich den Uniformkragen auf und stampfte zum Fenster, wo die Schneeflocken an der Scheibe schmolzen. »Weißt du, womit ich den Nachmittag verbracht habe? Ich hab’ diesem Schwachkopf aus Maine zugesehen, wie er seinen Wassertreter vorführte: unter je einen Schuh ein kleines Kanu. Genau das Richtige für die Infanterie! Über die Flüsse von Virginia im Stil der Bibel!«

Constance hielt sich eine Hand vor den Mund. George drohte ihr mit dem Finger. »Wage nicht zu lachen. Was noch schlimmer ist, im letzten Monat hatte ich es mit vier Erfindern von Wassertretern zu tun.«

Er raufte sich das Haar und starrte hinaus in den Dezemberschnee, ohne ihn wirklich zu sehen. Dunkelheit und Mutlosigkeit lagen über der Stadt.

»Bestimmt tauchen gelegentlich auch mal intelligente Erfinder auf«, fing Constance an.

»Natürlich. Mr. Sharps – dessen Hinterladergewehre Ripley nicht haben will, obwohl Colonel Berdans Sonderregiment die kleinen Extrakosten aus eigener Tasche bezahlen wollte. Die Sharps ist neumodisch, sagt Ripley. Vor elf Jahren hat ein Armeeausschuß das Gewehr getestet und für gut befunden, aber es ist neumodisch.« Er trat so heftig gegen ein Hockerbein, daß er sich die Zehe verstauchte und losfluchte.

»Kann Ripley nicht überstimmt werden? Kann denn nicht Cameron eingreifen?«

»Der hat mit seinen eigenen Problemen genug zu tun. Ich glaube nicht, daß er den Monat übersteht. Aber selbstverständlich kann man was unternehmen. Das wurde bereits im Oktober getan. Allerdings nicht von uns. Lincoln hat fünfundzwanzigtausend Hinterlader bestellt.«

»Er hat über den Kopf des Ministeriums hinweg gehandelt?«

»Kann man ihn deswegen tadeln?« George ließ sich aufs Sofa sinken. »Ein anderes Beispiel. Es gibt da einen jungen Burschen aus Connecticut namens Christopher Spencer. War unter anderem bei Colt’s in Hartford. Er hat sich ein raffiniertes Schnellfeuergewehr patentieren lassen, bei dem man ein Magazin mit sieben Patronen in den Schaft führt. Weißt du, was Ripley dagegen einzuwenden hatte?« Sie schüttelte den Kopf. »Unsere Jungs würden zu schnell feuern und Munition verschwenden.«

»George, es fällt einem schwer, das zu glauben.«

Seine Hand schoß hoch, zum Eid bereit. »Die reine Wahrheit. Wir wagen es nicht, die Infanterie mit Gewehren auszurüsten, die vielleicht den Krieg verkürzen würden. Bei den Hinterladern mußte Ripley nachgeben, aber bei den Repetiergewehren bleibt er steinhart. Also erledigt weiterhin der Präsident unsere Arbeit. Heute nachmittag erzählte mir Bill Stoddard, vom Regierungsbüro seien zehntausend Spencers geordert worden. Gegen Weihnachten können Hiram Berdans Scharfschützen sie ausprobieren.«

George stürmte wieder hoch, den Rauch einer neuen Zigarre hinter sich herziehend. Vor dem Fenster blieb er stehen, den Kopf gesenkt. Oft genug hatte Constance die Temperamentsausbrüche ihres Mannes erlebt, aber diese Art von Verzweiflung noch nicht. Von hinten legte sie die Arme um ihn, drückte ihre Brust gegen seinen Rücken.

»Ich versteh schon, daß du dich elend fühlst.« Sie lehnte ihre Wange gegen seine Schulter. »Ich hab’ auch eine Neuigkeit. Eigentlich zwei. Vater hat das Territorium von New Mexico erreicht und versucht dort, den Armeen von Union und Konföderation aus dem Weg zu gehen. Er ist zuversichtlich, gegen Ende des Winters in Kalifornien zu sein.«

»Gut.« Die Antwort klang teilnahmslos. »Was noch?«

»Wir sind zu einem Empfang bei deinem alten Freund, dem Oberbefehlshaber der Armee, eingeladen.«

»Little Mac? Jetzt, wo er der Mann an der Spitze ist, wird er möglicherweise gar nicht mehr mit mir reden.« McClellan war am 1. November ernannt worden; Scott war am Ende.

»George, George – « Sie drehte ihn zu sich und blickte ihm in die Augen. »Das ist nicht der Mann, den ich kenne. Mein Ehemann. Du bist so bitter.«

»Es war eine Katastrophe, herzukommen. Ich verschwende nichts als meine Zeit. Ich sollte zurücktreten und mit dir und den Kindern heimfahren.«

»Halt noch eine Weile durch. Ich glaube, es ist deine Pflicht. Krieg ist nie leicht, für niemanden. Das hab’ ich gelernt, als ich jede Nacht wach lag und Angst um dich hatte, als du in Mexiko warst.«

Sie küßte ihn, nur eine hauchzarte Berührung von Mund zu Mund. Ein Teil seiner Anspannung verflüchtigte sich.

»Was würde ich ohne dich anfangen, Constance? Ich hätte keine Chance zu überleben.«

»Oh doch. Du bist stark. Aber ich bin froh, daß du mich brauchst.«

Er zog sie fest an sich. »Mehr denn je. Also gut, ich werde noch bleiben. Aber du mußt versprechen, mir einen guten Anwalt zu besorgen, falls ich die Nerven verliere und Ripley ermorde.«

Der Dezember wurde zu einem Monat, in dem verschiedene Ströme verborgener, aber aufrichtiger Verzweiflung in der Regierung zusammenliefen. Sie bedrohten Stanleys Unternehmen, dessen Wert in weniger als sechs Monaten um fünfzig Prozent gewachsen war. Zusätzlich trieb ihn seine steigende Panik zu extremen Maßnahmen. Spätabends knackte er die Schubladen bestimmter Schreibtische, las die vertraulichen Berichte und kopierte Schlüsselsätze. Häufig traf er sich in Parks und Saloons mit einem Mann aus Wades Stab und übergab ihm eine Unzahl von Informationen, ohne wirklich zu wissen, ob er damit seiner Sache tatsächlich half. Er setzte alles auf eine Karte: auf Camerons Sturz.

Selbst Lincoln wurde von der Militanz von Wade und dessen Leuten bedroht. Das neue Kongreßkomitee sollte bald ins Leben gerufen werden. Von den wahren Gläubigen unter den Republikanern beherrscht, würde es die Unabhängigkeit des Präsidenten beschneiden und den Krieg so führen, wie ihn die Radikalen geführt haben wollten.

Aus all diesen Gründen war die Atmosphäre im Kriegsministerium gespannt. So war Stanley an diesem Montagmorgen, nachdem ihn gerade eine weitere schlechte Nachricht erschreckt hatte, nur zu froh, das Haus verlassen zu können. Er eilte durch den leichten Schneefall zur 352 Pennsylvania, wo über einer Bank und einem Drogisten das erste Porträt-Studio der Stadt und der Nation ansässig war, Brady’s Photographic Gallery of Art. Stanleys Uhr zeigte, daß er sich zu dem Termin um fast eine halbe Stunde verspätet hatte.

Die Empfangsdame sagte ihm, daß Isabel und die Zwillinge bereits im Studio seien. »Danke«, keuchte Stanley und eilte die Stufen hoch, wegen seines zunehmenden Gewichts schnell außer Atem. Noch ehe er das oberste Stockwerk erreicht hatte, hörte er schon, wie sich seine Söhne stritten.

Das Studio war ein großzügiger, von Oberlichtern beherrschter Raum. Isabel begrüßte ihn, indem sie ihn anfauchte: »Die Verabredung war für Mittag.«

»Amtsgeschäfte haben mich aufgehalten. Wir haben Krieg, falls dir das noch nicht bekannt ist.« Er klang noch bösartiger als seine Frau, was sie überraschte.

»Mr. Brady, ich bitte um Entschuldigung. Laban, Levi – hört sofort damit auf.« Stanley versetzte erst dem einen, dann dem anderen Zwilling einen Schlag. Die Jünglinge erstarrten, von dem ungewohnten Ausbruch ihres Vaters völlig überrascht.

»Bei jemandem in Ihrer Position muß man mit Verzögerungen rechnen«, sagte Brady geschmeidig. Er war nicht dadurch erfolgreich und wohlhabend geworden, daß er wichtige Kunden beleidigte. Er war ein schlanker, bärtiger Mann nahe der Vierzig mit Brille.

»Das Licht ist heute gerade an der Grenze«, bemerkte Brady. »Ohne Sonne mach’ ich ungern Porträts. Die Belichtungszeiten sind zu lang. Aber da es für Weihnachten sein soll, werden wir es versuchen. Chad?« Er schnippte mit den Fingern. »Ein bißchen nach links.« Der Assistent sprang, um das Dreibein mit der weißen Reflektortafel etwas zu verschieben.

Die Sitzung dauerte eine dreiviertel Stunde. Wiederholt tauchte Brady unter die schwarze Haube oder flüsterte seinem Assistenten Anweisungen zu. Zum Schluß dankte ihnen Brady und schlug vor, sie sollten mit der Empfangsdame über die Lieferung des Porträts sprechen, das die ganze Familie in schöner Eintracht zeigte. Dann eilte er hinaus. »Offensichtlich sind wir nicht wichtig genug, um ihn mehr als einmal zu Gesicht zu bekommen«, beklagte sich Isabel im Hinausgehen.

»Mein Gott, kannst du dir nicht mal um was anderes Sorgen machen als um deinen Status?«

Mehr überrascht als verärgert sagte sie: »Stanley, du hast heute morgen eine furchtbare Laune. Was ist los?«

»Etwas Schreckliches ist geschehen. Schicken wir die Jungs in einer Mietkutsche heim, und ich erklär’s dir beim Essen im Willard’s.«

Die Seezunge mit Mandeln war wunderbar zubereitet, aber Stanley war nur darauf bedacht, seine Besorgnisse loszuwerden. »Ich hab’ die Kopie eines Entwurfs von Simons Jahresbericht über die Aktivitäten des Ministeriums in die Hände bekommen. Darin heißt es unter anderem – angeblich von Stanton verfaßt –, daß die Regierung das Recht und möglicherweise die Pflicht hat, Feuerwaffen an Konterbande auszugeben und sie in den Kampf gegen ihre früheren Herrn zu schicken.«

»Simon schlägt vor, geflüchtete Sklaven zu bewaffnen? Das ist bizarr. Wer soll denn glauben, daß sich der alte Gauner plötzlich in einen moralischen Kreuzfahrer verwandelt hat?«

»Er ist anscheinend davon überzeugt, daß es schon jemand glauben wird.«

»Er hat den Verstand verloren.«

Stanley warf vorsichtige Blicke auf die umliegenden Tische; niemand achtete auf sie. »Das Schreckliche kommt erst noch. Der ganze Bericht ist zum Regierungsdrucker gegangen – aber nicht zu Lincoln.«

»Liest der Präsident für gewöhnlich solche Berichte?«

»Er liest sie und gibt die Genehmigung zur Veröffentlichung.«

»Warum dann –?«

»Weil Simon weiß, daß der Präsident diesen Bericht ablehnen würde. Simon will seine Äußerungen unbedingt gedruckt sehen. Verstehst du nicht, Isabel? Er ertrinkt und glaubt, die Radikalen seien die einzigen, die ihm eine Rettungsleine zuwerfen könnten. Ich glaube aber nicht, daß sie es tun werden, Simons Taktik ist zu durchsichtig.«

»Du hast Wade geholfen – wird dir das nicht helfen, wenn Simon untergeht?«

Mit der Faust schlug er in die Handfläche. »Ich weiß es nicht!«

Sie ignorierte seinen Ausbruch und überlegte. Nach wenigen Augenblicken murmelte sie: »Was immer auch geschieht, laß dich bloß nicht einwickeln, diese widersprüchliche Passage zu unterstützen.«

»Um Himmels willen, warum denn nicht? Ganz sicher wird Wade die Sache gutheißen. Und Stephens und was weiß ich wieviele andere ebenfalls.«

»Das glaube ich nicht. Simon ist ein Opportunist, und das weiß die ganze Stadt. Im Mantel des Moralisten wirkt er lächerlich. Niemals wird man ihm erlauben, ihn zu tragen.«

Sie behielt recht. Kaum hatte der Präsident von dem Bericht erfahren, da ordnete er die Entfernung der umstrittenen Passage an. An dem Tag, an dem das geschah, brüllte Cameron nur noch im Ministerium herum. Um halb zehn schickte er einen Boten zu den Büros von Mr. Stanton. Kurz nach Mittag schickte er den Jungen noch mal los und gegen drei erneut. Man benötigte keine große Intelligenz, um zu merken, daß Camerons Anwalt, nun als Verfasser dieser Passage bekannt, seinem Klienten nicht helfen wollte.

»Der Schaden ist angerichtet«, sagte Stanley am nächsten Abend zu Isabel. Mit bleichem Gesicht reichte er ihr ein Exemplar von Mr. Wallachs Evening Star, die eindeutig demokratische – manche behaupteten pro-südstaatliche – Zeitung der Stadt. »Irgendwie haben sie von dem Bericht erfahren.«

»Du hast mir erzählt, die Passage sei entfernt worden.«

»Sie haben die Originalversion in die Hand bekommen.«

»Wie?«

»Keine Ahnung. Fehlt nur noch, daß man mir das in die Schuhe schiebt.«

Isabel ignorierte seine Befürchtungen. »Wir hätten selber den Bericht an die Zeitungen weitergeben können. Netter Einfall. Ich wollte, ich hätte daran gedacht.«

»Wie kannst du da lächeln, Isabel? Wenn der Boß untergeht, dann zieht er mich vielleicht mit. Ich weiß nicht, ob meine Informationen für Wade nützlich oder ausreichend waren. Ich hab’ ihn seit der Party hier nicht mehr gesehen. Nichts ist gesichert!« Mit der Faust schlug er auf den Eßtisch; seine Stimme wurde hoch und schrill. »Nichts!«

Ihre Fingernägel preßten sich in sein Handgelenk. »Das Schiff befindet sich in einem Sturm, Stanley. Wenn ein Schiff im Sturm ist, dann bindet sich der Kapitän ans Ruder und hält durch. Er versteckt sich nicht wimmernd unter Deck.«

Ihre Verachtung demütigte ihn. Aber sie nahm ihm nicht seine Furcht. Unruhig wälzte er sich im Bett; richtigen Schlaf fand er kaum.

Am nächsten Morgen schreckte er auf seinem Stuhl zusammen, als Cameron mit einer Akte – Kontrakte über Schuhe und Bekleidung, die er eben erst abgesegnet hatte – ins Büro geschossen kam. Der hagere Minister erledigte das Geschäftliche in wenigen Sätzen, dann fragte er: »Haben Sie Mr. Stanton irgendwo in der Stadt gesehen, mein Junge?«

Stanleys Herz hämmerte. Merkte man es ihm an? »Nein, Simon. Es wäre auch unwahrscheinlich. Wir bewegen uns nicht in den gleichen Kreisen.«

»Oh?« Cameron warf seinem Schüler einen merkwürdigen Blick zu. »Na ja, ich erwische ihn nirgends, und auf Botschaften antwortet er nicht. Seltsam. Der Kerl, der genau die Worte geschrieben hat, die mir zum Verhängnis geworden sind, will kein verdammtes Wort zu ihrer Verteidigung sagen. Oder zu meiner. Ich habe gezeigt, daß ich auf der Seite von Wades Bande bin, aber sie wollen mich nicht. Stanton benimmt sich, als wäre er auf Seiten des Präsidenten, aber letzte Woche hörte ich, wie er Abe als den Urgroßvater aller Gorillas bezeichnete. Little Mac hat ganz schön darüber gelacht. Ich versuche immer noch herauszufinden, wie der Bericht zum Star kommen konnte.« Wieder fixierte sein Blick Stanley. Er weiß es. Er weiß es.

Cameron schüttelte den Kopf. Irgendwie wirkte er nun traurig, weniger selbstsicher. Nur ein Sterblicher, und ein müder noch dazu. Ein bitteres Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Ich würde das alles als äußerst merkwürdige Angelegenheit bezeichnen, wenn ich nicht den richtigen Namen dafür wüßte. Politik. Übrigens – haben Sie und Isabel eine Einladung zum Präsidentenempfang für McClellan bekommen?«

»J-ja, Sir, ich glaube, Isabel sagte sowas.«

»Hmm. Meine ist nicht gekommen. Fehler bei der Postzustellung, meinen Sie nicht auch?« Mit einem Gesicht, als hätte er Alaun im Mund, schoß er einen weiteren Blick auf seinen Untergebenen ab. »Sie müssen mich entschuldigen, Stanley. Hab’ noch eine Menge zu tun, bevor ich mein Portefeuille zurückgebe. Von jetzt an ist jeden Tag damit zu rechnen, daß man meinen Rücktritt fordert.«

Flotten Schrittes marschierte er hinaus. Stanley preßte seine Handflächen gegen den Schreibtisch und schloß benommen die Augen. Hatte er es geschafft? Hatte Isabel es geschafft?

46

Ich bin ein zu verdammter Zyniker, dachte George.

Keineswegs, argumentierte eine zweite Stimme in ihm. Du bist lediglich in kürzester Zeit ein Washingtoner geworden.

Die Hinterräder der Kutsche rumpelten in ein Schlammloch. Noch ein paar Häuserblocks, und er war wieder im Willard’s, wo ein kleines Dinner zu Ehren des Besuchers aus Braintree gegeben wurde.

Es schneite leicht. George kam gerade vom Arsenal, wo Billy mit seinem Bataillon lagerte. Billy schien recht zufrieden zu sein, wenn er auch beim geringsten Anlaß in die Luft ging, aber George wußte, daß dieses Symptom bei Winterquartieren weitverbreitet war. Constance war gestern von einem Kurzausflug nach Lehigh Station zurückgekehrt; Brown war mit ihr gefahren und plante einige Tage zu bleiben, um weitere Kinder einzugewöhnen. Brett hatte Constance einige Weihnachtspakete mitgegeben. Billys Paket hatte er als Vorwand für seine Fahrt zum Arsenal benützt.

Die Brüder hatten über den Besucher aus Braintree diskutiert. Billy hatte von der Privatparty gehört, war aber nicht eingeladen worden. In dem Versuch, ihn darüber hinwegzutrösten, sagte George: »Zum Teufel, ich werd’ wahrscheinlich dort der unterste Dienstrang sein. Man hat mich gewarnt, daß die Hälfte von Little Macs Stab anwesend ist, wenn auch nicht der General persönlich.«

»Bist du je dem Ehrengast begegnet?«

»Einmal, nach der Graduierung. Könnte nicht behaupten, daß ich ihn kenne.«

Im Hotel eilte George in die Suite, küßte seine Frau, umarmte die Kinder, bürstete Haar und Schnurrbart und rannte wieder runter; mit Verspätung kam er zu dem Empfang, der dem Dinner für Superintendent Emeritus Sylvanus Thayer vorausging. Sechsundsiebzig Jahre alt und längst schon im Ruhestand, war Thayer von Massachusetts heruntergekommen, um dem Empfang für McClellan beizuwohnen.

Sechzig oder siebzig Offiziere, die meisten von ihnen Colonels oder Brigadiers, füllten den Salon. Eine große Menge drängte sich um den schlanken, ungemein gesund aussehenden Thayer. George unterhielt sich mit einem anderen Major und einem Colonel, die er beide von Mexiko her kannte. Die Hälfte der regulären Armeeoffiziere hatte dort gedient.

Zwei Brigadiers schlossen sich der Gruppe an, Männer, die George kannte, da sie einen Jahrgang vor ihm auf der Akademie gewesen waren. Baldy Smith und Fitz-John Porter führten beide Divisionen. Bourbon entspannte die Männer; bald schon schwelgten sie wie Gleichrangige in Erinnerungen. Thayer kam auf die Gruppe zu und begrüßte jeden einzelnen Offizier herzlich. Er besaß ein phänomenales Gedächtnis; ein umfangreiches Verzeichnis von Namen und Karrieren.

»Hazard – ja, natürlich«, sagte Thayer. »Wo sind Sie jetzt?« George erzählte es ihm. »Ein Jammer. Auf der Akademie besaßen Sie einen ausgezeichneten Ruf. Sie gehören ins Feld.«

George, der den Gast nicht kränken wollte, antwortete mit Vorsicht. »Ich hatte nie das Gefühl, Talent fürs Militärische zu haben, Sir.« Womit er meinte, daß es nicht nach seinem Geschmack war.

Baldy Smith schnaubte. »Was wir in Virginny tun, hat nichts mit militärischen Dingen zu tun; das ist Viehtreiberei.«

Ins Schlachthaus? dachte George; Bull Run bereitete ihm immer noch Alpträume. Er lächelte und zuckte mit den Schultern. »Ich bin dorthin gegangen, wo man mich haben wollte.«

»Das klingt nicht gerade sehr überzeugt.« Direktheit gehörte zu Thayers Eigenschaften.

»Ich glaube nicht, daß ich dazu einen Kommentar abgeben sollte, Sir.«

»Diese Antwort zeigt, daß Sie das Zeug zum General haben«, sagte ein weiterer Brigadier, ein jovialer Pennsylvanier namens Winfield Hancock. Bald saßen sie alle um einen großen Tisch und verzehrten ein gewaltiges Mahl; Whiskey und Port und verschiedene Tafelweine flossen in Strömen. Thayers Stimme klang dünn, aber er sprach voller Leidenschaft. Er bat jeden Mann, persönlich für West Point einzutreten, da der Kongreß, wie er befürchtete, die Schule zu zerstören versuchte, indem er ihr die Zulassung entzog.

»Ich bin erfreut«, sagte Thayer, »daß so viele von Ihnen der Nation dienen, die sie ausgebildet und Ihnen einen stolzen Beruf gegeben hat. Ich weiß, daß Sie das nötige Durchhaltevermögen besitzen. Es dauert drei Jahre, um eine schlagkräftige Armee aufzubauen. Und selbst dann muß eine solche Armee zu großen Opfern bereit sein, um zu siegen. Der Krieg ist kein Sommerpicknick. Diejenigen unter Ihnen, die in Mexiko oder im Westen gekämpft haben, werden sich daran erinnern. Krieg fordert einen gewaltigen Zoll an menschlichem Leben und menschlichem Kummer. Vergeßt das nie. Seid stark. Seid geduldig. Aber seid euch eurer Sache auch gewiß. Ihr werdet euch durchsetzen.«

Als er sich wieder setzte, ertönte ohrenbetäubendes Stampfen und Brüllen. Sie sangen ›Benny Haven’s, Oh!‹ und selbst George, der Zyniker, bekam beim letzten Vers feuchte Augen.

Während das Jahr in einer konstanten Atmosphäre von Zweifeln und verborgenen Kämpfen seinem Ende entgegenging, fand der große Empfang für Generalmajor George Brinton McClellan statt. Das Regierungsgebäude erstrahlte im hellen Lichterglanz; ein Streicherensemble spielte, als die hohen Gäste ankamen. George versprach, Constance seinem alten Klassenkameraden vorzustellen, allerdings erst, nachdem er die Lage aus der Ferne abgeschätzt hatte.

McClellan sah kaum älter aus als zu der Zeit, als er und George zusammen für das Examen gebüffelt hatten. Er hatte sich einen mächtigen, kastanienbraunen Schnurrbart wachsen lassen, war aber ansonsten immer noch der gleiche untersetzte, selbstsichere Bursche, an den sich George aus der Klasse von 1846 erinnerte. Alles an ihm, von der kühnen Nase bis zu den breiten Schultern, schien nur eines ausdrücken zu wollen: hier ist Stärke, hier ist Kompetenz. Er war aus dem Eisenbahngeschäft in Illinois wieder zur Armee zurückgekehrt, und sein brillanter Aufstieg erzeugte bei George mehr als nur ein leichtes Unterlegenheitsgefühl.

Brillant war das einzig passende Wort. Eine Aura der Berühmtheit umgab die McClellans, als sie sich durch die Menge bewegten. Dicht hinter dem General trotteten zwei seiner zahlreichen europäischen Adjutanten, die fröhlichen jungen Franzosen, der Comte de Paris und der Duc de Chartres, beide im Exil. Alberne Gastgeberinnen hatten sie in Captain Parry und Captain Chatters umgetauft.

Alle lauschten angespannt, als McClellan und seine Frau den Präsidenten und Mrs. Lincoln in ein Gespräch verwickelten. McClellan hatte noch nie den geringsten Zweifel daran gelassen, wer wichtiger war, der Präsident oder der kommandierende General. Ein Vorfall im November war immer noch Stadtgespräch. Eines Abends waren Lincoln und einer seiner Sekretäre, der junge John Hay, in Regierungsgeschäften zur H Street gegangen – McClellans Wohnsitz, den er dem Leben im Camp vorzog. Der General war noch nicht zu Hause. Eine Stunde später kam er heim. Er ging, ohne seine Besucher zu sehen, schnurstracks nach oben, wurde informiert, daß der Präsident wartete, und ging zu Bett. Es hieß, Lincoln sei wütend gewesen, aber er neigte dazu, solche Emotionen mit einem gewissen Humor zu überspielen. Anders als bei McClellan gehörte Arroganz nicht zu seinen Eigenschaften.

»Massenhaft Politiker hier«, raunte George. »Da ist Wade – er soll das neue Komitee leiten. Dort ist Thad Stevens.«

»Seine Perücke ist verrutscht. Sie ist immer verrutscht.«

»Spielst du heute abend Isabel?«

Sie gab seinem tressenbesetzten Ärmel einen Schlag mit ihrem Fächer. »Du bist schrecklich.«

»Weil wir gerade bei schrecklich sind – ich sehe die Lady höchstpersönlich. Und meinen Bruder.«

Stanley und Isabel hatten George und Constance noch nicht bemerkt. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Wade gerichtet, dann auf Cameron, der alleine gekommen war und sich nun mit einer Miene durch die Menge schob, die Stanley nur als verschwörerisch bezeichnen konnte. Wie war er zu einer Einladung gekommen? Cameron sah sie, ging ihnen aber aus dem Wege. Was hatte das zu bedeuten?

Stanton sprach vertraulich mit Wade, ohne die Anwesenheit seines Klienten überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Stanley kam sich weniger wie ein Judas vor; wie es schien, hatten auch andere verkauft. Aber was? An wen? Zu welchem Zweck?

»Ich möchte wetten, Stanton will Simons Job«, sagte Isabel hinter ihrem Fächer hervor. »Das würde erklären, weshalb du ihn um Wades Büro hast herumschleichen sehen und weshalb er den ursprünglichen Bericht weder verteidigt noch die Verantwortung dafür übernommen hat.«

Diese völlig neue Perspektive machte Stanley sprachlos.

»Mach den Mund zu. Du schaust wie ein Kretin aus.«

Er gehorchte und sagte: »Meine Liebe, du verblüffst mich immer wieder. Ich glaube, du könntest recht haben.«

Sie zog ihn in eine Ecke, wo sie ungestörter waren. »Angenommen, ich habe recht. Was für eine Art Mann ist Stanton?«

»Er stammt ebenfalls aus Ohio. Brillanter Anwalt. Entschiedener Abolitionist.« Stanleys Augen huschten hin und her. Er beugte sich noch näher. »Eigensinnig, heißt es. Auch verschlagen. Man muß sehr auf der Hut vor ihm sein.«

Sie griff nach seinem Arm. »Ihre Unterhaltung ist zu Ende. Du mußt mit Wade sprechen. Versuch herauszufinden, wo du stehst.«

»Isabel, ich kann nicht einfach auf ihn zugehen und ihn fragen – «

»Wir werden ihn begrüßen. Wir beide. Jetzt.«

Es gab keine Widerrede. Ihre Hand umklammerte seine, und sie zerrte ihn mit. Als sie Ben Wade erreichten, fürchtete Stanley, seine Blase nicht mehr kontrollieren zu können. Isabel lächelte in ihrer besten Imitation einer Bühnenkokette. »Ich bin entzückt über das Wiedersehen, Senator. Wo ist Ihre charmante Gattin?«

»Irgendwo hier in der Gegend. Ich muß sie suchen.«

»Ich nehme an, mit dem neuen Komitee, von dem wir so viel hören, steht alles zum besten?«

Isabels Frage war eine unwiderstehliche Versuchung. »Ja, das kann man sagen. Bald schon werden wir die Kriegsbemühungen auf eine solidere Grundlage stellen. Einen klareren Kurs steuern.«

Der Seitenhieb auf Lincoln war offensichtlich, und so sagte sie schnell: »Eine Absicht, die ich und mein Mann voll unterstützen.«

»Oh, ja.« Wade lächelte; Stanley spürte, daß darin Verachtung lag, gegen ihn gerichtete Verachtung. »Die Loyalität Ihres Mannes und seine hingebungsvollen Dienste sind vielen Komiteemitgliedern bekannt. Wir hoffen, Ihr kooperativer Geist wird weiterhin anhalten, Stanley.«

»Mit absoluter Sicherheit, Senator.«

»Freut mich zu hören. Guten Abend.«

Wade ging davon, und Stanley fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Er hatte die Säuberungsaktion überlebt. »Isabel, ich glaube, ich werde mich heute abend betrinken. Mit oder ohne deine Erlaubnis.«

Das unvermeidliche Aufeinandertreffen der beiden Brüder und ihrer Frauen fand wenige Minuten später in der Nähe der glitzernden Punschschalen statt. Auf beiden Seiten war die Begrüßung höflich, aber nichts weiter.

»Unseren jungen Napoleon schon getroffen?« Stanleys Frage kam undeutlich; er konsumierte reichlich Rumpunsch, wie George feststellte.

»Bis jetzt hab ich noch nicht mit ihm gesprochen, aber ich werd’s noch tun. Ich kenne ihn von Mexiko und West Point.«

»Oh, tatsächlich?« Isabels Gesicht ließ flüchtig erkennen, daß sie in irgendeinem Spiel einen Punkt verloren hatte.

»Wie ist er? Persönlich, meine ich«, fragte Stanley. »Soviel ich weiß, stammt er aus erstklassiger Familie. Aber er ist ein Demokrat. Komische Wahl, die der Präsident da getroffen hat, findest du nicht?«

»Weshalb? Sollen politische Differenzen in Krisenzeiten nicht an zweiter Stelle kommen?«

Isabel rümpfte die Nase. »Wenn du das wirklich glaubst, dann bist du naiv, George.«

Er sah, daß sich die Wangen seiner Frau rosa färbten. Er nahm ihre Hand und drückte sie, bis er spürte, daß sie sich wieder entkrampfte. »Um deine Frage zu beantworten – McClellan ist ungemein intelligent. Hat unsere Klasse als zweitbester absolviert. In Mexiko ist er dreimal wegen Tapferkeit befördert worden. Billy erzählte mir, die Truppen liebten ihn. Wir brauchen einen Mann, dem das Fußvolk vertraut, und ich würde sagen, wir haben einen gefunden. Meiner Meinung nach hat der Präsident eine intelligente Wahl getroffen, keine politische.«

»Der Präsident selbst hätte es nicht besser ausdrücken können.«

Isabel sah aus, als wäre sie beim Anblick des Sprechers hinter George am liebsten in den Boden versunken. Lincolns langer Arm hob sich; seine Hand legte sich auf Georges Schulter. »Wie geht’s Ihnen, Major Hazard? Ist diese attraktive Lady Ihre Frau? Sie müssen mich vorstellen.«

»Mit Vergnügen, Herr Präsident.« George stellte Constance vor und erkundigte sich dann, ob der Präsident seinen Bruder und Isabel kenne. Der große Mann mit dem Aussehen einer Vogelscheuche bejahte das höflich, aber ohne jede Begeisterung.

Constance benahm sich dem Regierungschef gegenüber angemessen ehrerbietig, blieb aber ruhig und entspannt. »Mein Mann erzählte mir, er habe Sie eines Abends beim Arsenal getroffen, Herr Präsident.«

»Das stimmt. Der Major und ich haben über Gewehre gesprochen.«

George sagte: »Ich hoffe, ich verhalte mich meinem Amt gegenüber nicht illoyal, wenn ich Ihnen sage, daß es mich gefreut hat, vom Kauf einiger Spencers und Sharps-Repetierer zu hören.«

»Ihr Chef wollte sie nicht kaufen, da mußte es halt jemand anders tun. Aber wir dürfen die Damen heute abend nicht mit blutrünstigem Gerede langweilen. Erzählen Sie mir ein bißchen was von sich, Mrs. Hazard.« Das tat sie; eine Weile plauderten sie über Texas. Dann kam eine aufgetakelte, dickliche Frau angestürmt und riß ihn mit sich fort. Das war für Isabel die Chance, ebenfalls zu gehen. Stanley folgte ohne Anweisung.

»George, das war eines meiner aufregendsten Erlebnisse«, sagte Constance. »Aber es ist schrecklich – ich habe zuviel zugenommen. Es macht mich häßlich.«

Er tätschelte ihre Hand. »Ein oder zwei Pfund mögen es tatsächlich sein, aber der Rest existiert lediglich in deinem Kopf. Hast du gesehen, wie aufmerksam Lincoln jedem deiner Worte folgte? Er hat einen Blick für hübsche Damen – deshalb ist seine Frau auch so über uns hereingebrochen. Ah, dort ist Thayer. Gehen wir zu ihm.«

Constance bezauberte auch den pensionierten Direktor. Das Trio näherte sich McClellan, der im Augenblick gerade von keiner Menschenmenge umringt war. »Ein alter Klassenkamerad von – « fing Thayer an.

»Stumpf Hazard! Vorhin hab’ ich dich aus einiger Entfernung gesehen – hab’ dich sofort erkannt.« McClellans Begrüßung war herzlich, aber George glaubte eine gewisse Künstlichkeit zu entdecken. Es konnte aber auch nur an ihm und seiner Phantasie liegen. McClellan war eine nationale Persönlichkeit geworden; die Leute betrachteten ihn jetzt mit anderen Augen, das wußte George. Seine eigene Reaktion zeigte das nur zu deutlich.

»Guten Abend, General.«

»Nicht doch, nicht doch – immer noch Mac. Sag mal, was ist aus diesem Burschen geworden, mit dem wir durch dick und dünn gegangen sind? Südstaatler, nicht wahr?«

»Ja. Orry Main. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Das letzte Mal sah ich ihn im April.«

McClellans Frau Neil schloß sich ihnen an, und sie unterhielten sich über Washington und den Krieg. McClellan wurde ernst. »Die Union ist in Nöten, und der Präsident scheint machtlos. Die Rolle des Erretters ist mir zugefallen. Ich werde sie nach bestem Wissen und Gewissen ausfüllen.«

Nicht einmal die Andeutung eines leichten Untertones schwang in dieser Aussage mit. George spürte, wie sich die Hand seiner Frau um seinen Ärmel krampfte; reagierte sie ähnlich wie er? Kurz darauf entschuldigten sich die McClellans und gesellten sich zu General und Mrs. Meade. Constance wartete, bis sie außer Hörweite waren.

»Sowas hab’ ich noch nie gehört. Mit einem Mann, der sich selbst als Retter bezeichnet, stimmt irgendwas nicht.«

»Nun ja, Mac war noch nie ein Durchschnittstyp. Wir sollten mit unserem Urteil nicht zu voreilig sein. Die Aufgabe, die sie ihm übertragen haben, ist weiß Gott schrecklich.«

»Ich behaupte trotzdem, daß mit ihm was nicht stimmt.«

Insgeheim mußte George zugeben, daß McClellan bei ihm den gleichen Eindruck hinterlassen hatte.

Die Party ging weiter, und George und Constance fanden sich in einem Kreis mit Thad Stevens, dem Anwalt aus Pennsylvania, der das mächtigste Mitglied in Wades Aufsichtskomitee sein würde.

»Ich stimme mit dem Präsidenten nicht in allen Punkten überein, aber in einem schon. Wie er sagt, ist die Union kein auf freier Liebe basierender Zusammenschluß, den jeder Staat nach eigenem Gutdünken aufkündigen kann. Die Rebellen sind keine fehlgeleiteten Schwestern, sondern Feinde, bösartige Feinde des Tempels der Freiheit, der unser Land ist. Für bösartige Feinde darf es nur eine Bestrafung geben: Wir sollten jeden Sklaven befreien, jeden Verräter niedermetzeln, jedes Rebellenhaus niederbrennen. Wenn den Leuten in der Regierung der Mumm für diesen Job fehlt, unserem Komitee fehlt er nicht.« Seine Augen blitzten fanatisch. »Ich gebe Ihnen das feierliche Versprechen, meine Damen und Herren – dem Komitee fehlt er nicht.« Mit seinem Klumpfuß hinkte er davon.

»Constance«, sagte George, »laß uns heimgehen.«

Madeline und Hettie, das Hausmädchen, wischten eine vom Mehltau befallene große Truhe aus, als Schritte die Mansardentreppe hochgepoltert kamen. »Miss Madeline? Sie kommen besser schnell.«

Augenblicklich ließ sie den feuchten Lappen fallen. »Was gibt’s, Aristotle?«

»Miss Clarissa. Sie machte nach dem Frühstück ihren Spaziergang. Haben sie im Garten gefunden.«

Furcht krallte sich in ihr fest, so scharf wie die Luft des Wintermorgens. Sie rannten hinunter zum Garten, wo Clarissa zwischen zwei Azaleenbüschen auf dem Rücken lag. Clarissa starrte Madeline und den Sklaven mit glitzernden Augen an.

Ihre linke Hand streckte sich ihnen entgegen. Die rechte Hand lag unnatürlich schlaff da.

»Es ist ein Schlaganfall«, sagte Madeline zu dem erschrockenen Schwarzen. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen; vor Neujahr würde sie jetzt doch nicht wegkommen. Sie konnte nicht fort, ehe sich Clarissa erholt hatte.

Um halb zwölf kam der Doktor aus Clarissas Schlafzimmer. Äußerlich ruhig und gefaßt nahm Madeline die Nachricht entgegen, daß die rechte Seite fast vollständig gelähmt war; die Genesung würde möglicherweise das ganze nächste Jahr dauern.

47

Der Heilige Abend fiel auf einen Dienstag. George konnte die düstere Stimmung nicht abschütteln, die ihn seit dem Empfang für McClellan gefangenhielt. Der Krieg, die Stadt, selbst die Jahreszeit deprimierten ihn, er wußte selbst eigentlich nicht, warum.

Ein Feuer im Herd wärmte das Wohnzimmer nach dem Abendessen. Patricia schlug ein Buch mit Chorälen auf, setzte sich an das Harmonium, das George gekauft hatte, und begann zu spielen. Constance kam mit drei großen Geschenken aus dem Schlafzimmer.

»Sing mit mir, Papa«, sagte seine Tochter. Er schüttelte den Kopf und blieb auf seinem Stuhl sitzen. Constance ging zum Harmonium und sang zusammen mit ihrer Tochter. Gelegentlich warf sie einen Blick auf ihren Mann. Seine Mutlosigkeit beunruhigte sie. »Willst du nicht, George?« fragte sie schließlich.

»Nein.«

William kam herein und sang mit; die Pubertät ließ seine Stimme umkippen, und Patricia kicherte so heftig, daß Constance sie ermahnen mußte. Nach dem Choral sagte William: »Pa, kann nicht heute abend jeder von uns ein Geschenk aufmachen?«

»Nein. Du bist mir damit schon den ganzen Abend auf die Nerven gegangen, und ich hab’s satt.«

»Entschuldige, George«, sagte Constance. »Er hat lediglich einmal davon gesprochen.«

»Einmal oder hundertmal, die Antwort ist nein.« Er wandte sich an seinen Sohn. »Morgen früh werden wir in die Kirche gehen, und danach gibt’s die Geschenke.«

»Nach der Kirche?« rief William. »So lange warten, das ist nicht fair. Warum nicht nach dem Frühstück?«

»Die Entscheidung liegt bei deinem Vater«, sagte Constance sanft. Ihr leichtes Stirnrunzeln beachtete George nicht.

William wollte sich nicht besänftigen lassen. »Das ist nicht fair!«

»Ich werde dir schon zeigen, was fair ist, du impertinenter – «

»George!« Er war schon fast bei seinem Sohn, als Constance dazwischentrat. »Denk dran, es ist Heiligabend. Wir sind deine Familie, und du tust, als wären wir deine Feinde. Was ist los mit Dir?«

»Nichts – ich weiß nicht – wo sind meine Zigarren?« Er lehnte sich an den Kaminsims, mit dem Rücken zu den anderen. Sein Blick fiel auf den Lorbeerzweig, den er von Lehigh Station mitgebracht hatte. Der Zweig war verdorrt und braun. Er packte ihn und schleuderte ihn ins Feuer.

»Ich geh’ zu Bett.«

Der Lorbeer rauchte, rollte sich zusammen und war verschwunden.

Er hatte keine Ahnung, wann Constance ins Schlafzimmer kam, so tief war er in seinen Alpträumen gefangen. Sie strich ihm das Haar aus der schweißfeuchten Stirn, küßte ihn. Wie warm sie sich anfühlte. Seine Hände umfaßten sie und hielten sie fest; er schämte sich seiner Schwäche, war aber dankbar für ihren Trost. »Was hast du geträumt? Es muß ja schrecklich gewesen sein.«

»Mexiko – nein, Bull Run. Tut mir leid, daß ich mich heute abend so scheußlich benommen habe. Ich werde gleich morgen früh mit den Kindern sprechen. Wir machen die Geschenke auf. Sie sollen wissen, daß es mir leid tut.«

»Sie wissen, daß du ein guter Vater bist. Sie lieben dich und wollen dich glücklich sehen, vor allem an Weihnachten.«

»Der Krieg macht Weihnachten zu einem schlechten Witz.« Er preßte sein Gesicht gegen das ihre.

»Ist es der Krieg, der dir solche Sorgen bereitet?«

»Wahrscheinlich. So ein kleines Wort, Krieg, und wieviel Elend verbirgt sich dahinter. Ich ertrage die Unehrlichkeit in dieser Stadt nicht mehr. Die Gier hinter den fahnenschwenkenden Sprüchen. Weißt du was? In dem Tempo, in dem Stanley Stiefel an die Infanterie verkauft, wird er innerhalb eines Jahres einen gewaltigen Profit gemacht haben. Praktisch ein kleines Vermögen. Und weißt du auch, daß die Schuhe, die er liefert, nach einer Woche auseinanderfallen?«

»Von solchen Dingen weiß ich lieber nichts.«

»Was mich am meisten beunruhigt, ist etwas, was Thayer während des Essens sagte. Man baut keine schlagkräftige Armee in neunzig Tagen auf. Dazu braucht man zwei oder drei Jahre.«

»Du meinst, er hält es für möglich, daß der Krieg so lange dauert?«

»Ja. Der Frühlingskrieg – kurz und sauber – war eine grausame Illusion. Krieg ist nicht so, niemals. Jetzt ändert sich alles. Andere Männer übernehmen das Kommando, Männer wie Stevens, die auf Gemetzel aus sind. Kann Billy das überleben? Was ist mit Orry und Charles? Wenn ich Orry je wiedersehe, wird er dann noch mit mir sprechen? Lange Kriege erzeugen endlosen Haß. Ein langer Krieg wird die Menschen verändern, Constance. Die Verzweiflung wird sie umbringen, wenn sie nicht schon vorher sterben. All dem hab’ ich schließlich ins Auge gesehen – und schau dir an, was es bei mir bewirkt hat.«

Sie drückte ihn an ihre Brust. Ihr Schweigen besagte, daß sie seine Ängste verstand und teilte und keine Antworten auf seine Fragen hatte. Schließlich erhob er sich und schloß das Fenster. Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen.

48

Während des Herbstes hatte Charles seine Schrotflinte nur dreimal gegen den Feind abgefeuert. Jedesmal hatte er dabei einen Spähtrupp angeführt; jedesmal hatte er auf fliehende Yanks zu Pferd geschossen. Einen hatte er verwundet, die anderen hatte er verfehlt.

Das war typisch für die Monate nach Manassas: ereignislos, mit Ausnahme des aufmunternden Sieges bei Ball’s Bluff Ende Oktober. Shanks Evans aus South Carolina, der in Texas bei Pferderennen gegen Charles geritten war, hatte sich bei Ball’s Bluff ausgezeichnet, so wie er es bereits bei Manassas getan hatte. Seine Beförderung war allerdings zweifelhaft; er trank zuviel und war zu unbeherrscht.

Die Ernennung des Colonels andererseits zum Brigadier schien sicher zu sein. Er verstand sich gut mit Johnston, dem man nach Ball’s Bluff das ganze Department Virginia zur Umorganisation gegeben hatte. Old Bory war weiterhin in Ungnade und kommandierte nun den Potomac-Distrikt, der zu dem Department gehörte. In der Praxis trug Hampton seit November die Verantwortung eines Brigadiers, nachdem ihm drei weitere Infanterieregimenter unterstellt worden waren. Calbraith Butler kommandierte die Kavallerie.

Während des Herbstes hatte Charles lediglich zwei freie Tage gefunden, in denen er das Spotsylvania County besuchen konnte. Nach einem schnellen, ermüdenden Ritt hatte er Barclays Farm problemlos gefunden, um feststellen zu müssen, daß die Besitzerin abwesend war. Der ältere ihrer beiden freigelassenen Sklaven, Washington, sagte, sie sei mit dem jüngeren, Boz, nach Richmond gefahren, um den Rest ihrer Maisernte und einige Kürbisse, Eier und Käse zu verkaufen. Charles ritt in bitterer Stimmung zurück, die durch den heftigen Regen auch nicht besser wurde.

Die Legion hatte ihr Winterquartier in der Nähe von Dumfries gemacht. Heute, am Heiligen Abend, befand sich Charles allein in der Hütte, die er und Ambrose mit Äxten, Schweiß und ohne Negerhilfe zusammengezimmert hatten. Bis auf einige Unentwegte hatten die meisten Kavalleristen ihre Sklaven nach Hause geschickt.

Vor einer halben Stunde war zum Zapfenstreich geblasen worden. Ambrose hatte Patrouillendienst gezogen, routinemäßige Beobachtung der Unionstruppen in Richtung Fairfax Courthouse. Ein kleines Feuer brannte in der Feuerstelle der Hütte und verbreitete Gemütlichkeit, aber trotzdem war Charles’ Laune nicht die beste. Das Abendessen war ungenießbar gewesen. Für Weihnachten war ihnen Truthahn, süße Kartoffeln und frisches Maisbrot versprochen worden. Charles glaubte erst an ein Festmahl, wenn er es vor sich stehen hatte. Seine Männer haßten das Verpflegungsamt. Sie verfluchten den Leiter, Northrop, ebenso blumig wie Old Abe – manchmal sogar noch heftiger. Das Rindfleisch, wie Colonel Hampton letzte Woche bemerkt hatte, wurde allmählich so zäh, daß er daran dachte, einige Feilen zum Schärfen der Zähne anzufordern.

Päckchen von zu Hause trösteten ein bißchen über die in letzter Zeit deutlich schlechter gewordene Qualität der Rationen hinweg. Charles hatte solch ein Päckchen, oder besser die Reste davon, vor sich auf dem Tisch liegen. Es war heute nachmittag aus Richmond gekommen, mit einem Begleitbrief von Orry, der berichtete, daß er es mittlerweile im Kriegsministerium zum Lieutenant Colonel gebracht und einen Job bekommen hatte, den er verabscheute.

Charles zog seine Taschenuhr hervor. Halb neun. Er hatte heute abend Pflichten zu erfüllen, einige offizieller Natur, andere nicht; er konnte genausogut jetzt schon damit beginnen. Er kratzte seinen Bart, den er sich wachsen lassen durfte, da er das Gesicht warm hielt. Er war schon ein paar Zentimeter lang, die ideale Heimstatt für Ungeziefer aller Art, aber bis jetzt hatte er eine ernsthafte Verseuchung vermeiden können. Anders als seine Kavalleristen wusch er sich so häufig wie möglich. Er haßte es, sich schmutzig zu fühlen, und abgesehen davon wollte er, falls er je das Glück haben sollte, mit Gus Barclay allein zu sein und sie für einen Annäherungsversuch empfänglich war, keine Läuse in seinen intimen Körpersphären nisten haben. Das würde jeder Romanze den Todesstoß versetzen.

Zur Zeit sah er ihr Gesicht oft vor sich. Heute abend wirkte es besonders lebendig. Er fühlte sich einsam und wünschte, er wäre auf Barclays Farm. Energisch schüttelte er den Kopf. Er durfte sich seinen Zustand nicht anmerken lassen; anderen, die ihm anvertraut waren, erging es sicherlich ebenso oder noch schlimmer. Es war seine Pflicht, sich um sie zu kümmern.

Er erhob sich und stülpte sich seinen Hut auf den Kopf, als ganz in der Nähe eine Tenorstimme ›Sweet Hour of Prayer‹ zu singen begann. Er mochte die Melodie und summte sie mit, während er den Revolver umschnallte und nach seinen Handschuhen griff. Sein Atem wurde sichtbar, als er geduckt aus der Tür trat; es hatte leicht zu schneien begonnen. Ambrose wollte gegen Mitternacht zurückkehren; anschließend hatten sie vor, eine Flasche zu öffnen. Vielleicht sollten sie zuvor eine Schneeballschlacht organisieren; vor lauter Inaktivität wurden die Männer streitsüchtig.

Charles ging die Reihe der winterfesten Zelte entlang. Aus einem schmalen Weg zwischen den Zelten drang ein vertrauter, blubbernder Laut. Ärgerlich folgte er ihm. Und natürlich saß da der Übeltäter, Hose und Unterhose um die Knöchel und das Hinterteil hinausgereckt.

»Verdammt noch mal, Pickens, ich hab’s Ihnen oft genug gesagt – benützen Sie die Latrinen. Männer wie Sie bringen die Krankheiten ins Lager.«

Der erschrockene Junge sagte: »Ich weiß, Cap’n, aber ich hab’n schrecklich’n Durchfall.«

»Die Latrinen«, sagte Charles mitleidlos. »Ab mit Ihnen.«

Der Kavallerist zerrte ungeschickt seine Kleidung hoch und hinkte in einer Art seitlichem Krebsgang davon. Charles kehrte zur Straße zurück und marschierte auf den Lagereingang zu, zwei kunstvolle Säulen und ein Bogen aus ineinander verflochtenen, geschälten jungen Bäumchen. Direkt ein Kunstwerk, dieses Tor. Bis zum Frühling würde es stehenbleiben; dann würden sie bestimmt gegen McClellan ins Feld ziehen.

Charles kam an Wache stehenden Männern vorbei und erwiderte ihren Gruß, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Gus Barclays Gesicht verdeckte alles andere. Vor einer Hütte, doppelt so groß wie seine eigene, sagte er zu dem diensttuenden Corporal: »Was ist mit dem Arrestanten?«

»Hat eine halbe Stunde lang geflucht, Captain. Hielt dann die Klappe, als ich ihn nicht beachtete.«

»Lassen wir ihn frei. Niemand sollte am Heiligen Abend unter Strafe stehen.«

Der Corporal nickte, wischte sich die Schneeflocken aus den Augenbrauen und duckte sich in die Hütte. Charles folgte ihm. Ein gewisses Widerstreben regte sich jedoch gegen seine menschenfreundlichen Impulse; bei dem Mann, der kurz vor dem Abendappell hier eingesperrt wor den war, handelte es sich um den ewig renitenten Kavalleristen Cramm. First Sergeant Reynolds hatte wieder mal einen Befehl gegeben, der Cramm nicht paßte, und als der Sergeant davonging, spuckte Cramm lautstark aus. Charles hatte angeordnet, ihn für die Nacht zu fesseln und zu knebeln. Manchmal wünschte er, Cramm wäre ein Yankee; dann könnte er ihn wenigstens erschießen.

Cramm saß auf dem Erdboden der Wachhütte, einem kahlen, von einer Lampe schwach erhellten Raum. Mürrische Augen über dem zugebundenen Mund starrten Charles an. Cramms Handgelenke waren vor den hochgezogenen Knien zusammengebunden worden; ein kräftiger Pinienstock war zwischen Knie und Unterarme gesteckt worden.

»Verdient haben Sie es nicht, Cramm, aber ich lasse Sie raus, weil Weihnachten ist.« Der Wachposten kniete nieder und löste den Knebel. »Bringen Sie ihn zu seinem Zelt, Corporal. Sie bleiben dort bis zur Reveille, Cramm. Verstanden?«

»Jawohl, Sir.« Cramm schnitt übertriebene Grimassen und verdrehte den Kopf, als wäre er schlimm verletzt. Sein Gesicht zeigte keine Spur von Dankbarkeit, lediglich seine ständige Verachtung. Charles spürte, wie der Ärger in ihm hochstieg, und ging schnell hinaus.

Vor einem der winterlichen Zelte stoppte er; aus dem Inneren drang eine jugendliche Stimme: »Oh Gott. Oh Gott. Oh, oh.«

Charles erkannte die Stimme; sie gehörte Reuven Sapp, dem neunzehnjährigen Neffen des Arztes, der Madeline LaMotte so lange mit Laudanum betäubt hatte. Der Junge hatte das Zeug zu einem guten Kavalleristen, wenn er aufhörte, sich von seinen lauteren, aber weniger kompetenten Kameraden einschüchtern zu lassen.

»Oh Gott – oh.« Charles klopfte an die Tür und trat ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Der Kopf des strohhaarigen Jungen, der auf einer der vier Schlafkojen saß, fuhr nach oben. Ein Brief flatterte zu Boden. »Captain! Ich wußte nicht, daß jemand in der Nähe – «

»Ich wäre nicht reingekommen, aber ich hörte eine Stimme, die ziemlich angeknackst klang.« Charles nahm seinen Hut ab, schüttelte den Schnee herunter und stieg die drei aus Bohlen gebauten Stufen nach unten. Der Herd war dunkel, im Zelt war es eiskalt. »Wo sind Ihre Kameraden?«

»Die schauen draußen, ob sie vielleicht ein paar Hasen erschlagen können.« Sapp bemühte sich, ganz normal zu klingen, aber seine Augen verrieten ihn. »Das Essen heute abend war ganz schön mies.«

»Beschissen. Darf ich mich setzen?«

»Oh, selbstverständlich, Captain. Tut mir leid – « Er sprang auf, als Charles sich einen Stuhl nahm. Er winkte Sapp wieder auf seine Koje und wartete, in der Annahme, daß der Junge ihm schon erzählen würde, weshalb er sich so elend fühlte. Er hatte recht. Sapp hob den Brief auf und begann zögernd zu sprechen.

»Letzten August hab ich allen Mut zusammengenommen und einem Mädchen geschrieben, das ich wirklich gern mag. Ich fragte sie, ob ich um sie werben dürfe. Sie hat mir einen Weihnachtsgruß geschickt.« Er deutete auf den Brief. »Sie schreibt, es tue ihr leid, aber das gehe nicht, weil ich nicht ehrbar sei. Ich gehe nicht in die Kirche.«

»Da wären wir schon zu zweit. Es ist ein Jammer, daß Sie die Nachricht ausgerechnet zu Weihnachten bekommen haben. Ich wünschte, ich könnte was tun.«

Hervorschießende Tränen unterbrachen ihn. »Oh, Captain, ich hab’ solches Heimweh, ich schäme mich so, aber ich kann’s nicht ändern. Ich hasse diesen verdammten Krieg.« Er knickte nach vorn ab, verbarg sein Gesicht in den Händen. Charles atmete tief durch, ging zu der Koje und faßte die Schulter des weinenden Jungen.

»Hör zu, mir geht’s oft genug ebenso. In der Beziehung unterscheidest du dich in nichts von anderen Soldaten, Reuven. Also geh nicht so hart mit dir ins Gericht.« Würgend und schluckend hob der Junge sein nasses, rotes Gesicht. »Ich würde sagen, wir vergessen das Ganze und vergessen auch die Vorschrift, daß Mannschaftsdienstgrade nicht mit Offizieren trinken dürfen. Komm nachher bei meiner Hütte vorbei, und ich schenke dir was ein, um dich aufzumuntern.«

»Ich trinke keinen Alkohol, aber – trotzdem vielen Dank, Sir. Danke.«

Charles nickte und ging hinaus, in der Hoffnung, ein bißchen geholfen zu haben.

Er ging weiter auf die Unterstände zu, die die Pferde vor dem schlimmsten Wetter schützen sollten. Er hörte die Tiere, bevor er sie sah. Sie benahmen sich nervös. Sein Magen verkrampfte sich, als er einen Mann erspähte, der sich dicht neben Sport zusammenduckte. Der Mann griff nach etwas.

Mit drei langen Schritten war Charles über ihm. Er erwischte den Mann am Kragen, erkannte ihn; ein Adjutant von Calbraith Butler.

»Das ist mein Eigentum, das Sie hier zu stehlen versuchen, Sergeant. Ich habe diese Bretter besorgt, damit mein Pferd nicht den ganzen Winter durch auf feuchtem Untergrund stehen muß. Suchen Sie anderswo nach Brennholz für Major Butler – und danken Sie Gott, daß ich Sie bei ihm nicht zur Meldung bringe.«

Charles packte den Dieb mit beiden Händen am Kragen, riß ihn von den nervösen Pferden weg und gab ihm dann noch einen gezielten Tritt ins Hinterteil mit auf den Weg. Der Unteroffizier verschwand im Schneegestöber, ohne sich umzublicken.

Sport erkannte ihn. Charles zog seine Handschuhe aus, glättete die schwere, graue Decke und kniete sich in den Dreck, um sich zu vergewissern, daß die Hufe des Wallachs auch sicher auf den Brettern standen. Liebevoll rieb Charles über Sports Fell. Er nahm eine Laterne vom Nagel, entzündete sie und ging langsam an den Pferden vorbei. Jetzt, wo der Störenfried verschwunden war, wurden sie allmählich wieder ruhig. Er hielt nach Anzeichen von Krankheiten Ausschau, konnte aber nichts Beunruhigendes entdecken. Ein kleines Wunder.

Was für eine Ansammlung von Kleppern die Truppe doch jetzt ritt. Noch vor dem Sommer war die gute Absicht, die Farben aufeinander abzustimmen, zusammengebrochen. Die meisten der Braunen von jenem ersten Frühlingsscharmützel waren dahin; Krankheiten, mangelnde Pflege und, in vier Fällen, feindliches Feuer waren die Ursachen dafür. Sie waren durch alle möglichen Tiere ersetzt worden, aber die Yanks lebten immer noch in ständiger Furcht vor der satanischen, größtenteils nicht mehr existierenden schwarzen Kavallerie. Komisch.

Er inspizierte die restlichen Unterstände; in die Lücken gehörten die Pferde der Männer, die mit Ambrose auf Patrouille waren. Die Pferde hatten alle Farben, ein Beweis für das, was in letzter Zeit so häufig behauptet wurde: In Virginia war ein Kavalleriepferd gut für sechs Monate.

»Wir werden ihnen das Gegenteil beweisen, was?« sagte er auf dem Rückweg zu Sport. Er streichelte den Kopf des Wallachs. »Bei Gott, das werden wir. Ich würde meinen großartigen Säbel und alles andere wegwerfen, bevor ich dich aufgebe, mein Freund.«

Eine vorbeikommende Wache hielt an. »Wer da?«

»Captain Main.«

»Sehr wohl, Sir. Entschuldigung.« Die Schritte entfernten sich. Der Schnee fiel, lautlos und wunderschön gegen die Lichter des Lagers.

Charles trottete zurück zu seiner Hütte und holte die Flasche Schnaps hervor. Elf Uhr. Er wickelte sich, immer noch angekleidet, in Decken, überzeugt davon, daß Ambrose bald zurück sein würde. Für ein kurzes Nickerchen legte er sich in seine Koje und träumte von Gus. Er erwachte, fuhr ruckartig hoch, rieb sich die Augen und zog seine Uhr hervor.

Viertel nach drei.

»Ambrose?«

Schweigen.

Steif vor Kälte rollte er sich hinaus. Er wußte, daß die andere Koje leer war, noch bevor er einen Blick hingeworfen hatte. Der Schnaps stand dort, wo er ihn hingestellt hatte.

Er konnte nicht mehr schlafen, und so machte er eine Runde, um die Wachen zu kontrollieren. Er fand einen Jungen schlafend, ein Vergehen, das mit Erschießen geahndet werden konnte. Aber es war der Weihnachtsmorgen. Er stieß den Jungen an, ermahnte ihn und ging weiter. Wie eine Krankheit fraß sich die Sorge in ihn.

Vorn am Torbogen fragte er einen Wachposten, ob was von Leutnant Pells Trupp zu sehen gewesen sei.

»Nichts, Sir. Sie sind spät dran, nicht wahr?«

»Ich bin sicher, sie werden bald da sein.« Ein tiefsitzender Instinkt in ihm sagte, daß dies nicht stimmte.

Er überprüfte die Pferdeunterstände, machte eine zweite Wachrunde. Es hatte aufgehört zu schneien; eine dichte Schneedecke lag über der Landschaft. Er wartete und schaute sich die Augen aus, bis er einen ersten Schimmer des eisig orangen Tageslichts sah. Der Weg vom Tor, der sich in blassen Fernen verlor, blieb leer, nichts rührte sich. Ambrose würde nicht zurückkommen. Keiner von ihnen würde zurückkommen.

Wer sollte zur Beförderung empfohlen werden? Ihm fiel ein, daß Nelson Gervais bei Ambrose gewesen war. Zusammen mit den Briefen an die Familien der Männer mußte noch ein weiterer Brief geschrieben werden, an Miss Sally Mills.

Die Dinge veränderten sich so unvermeidlich wie die Jahreszeiten. Old Scott war beiseitegeschoben worden. McClellan wartete. Bevor er sich umsah, würde einer seiner Kavalleristen zur Q-Kompanie gehen und mit einem Maultier zurückkommen. Ihm war elend zumute.

In seiner Hütte, vor Beobachtern geschützt, senkte er den Kopf, schluckte ein paarmal, richtete sich dann wieder auf. Er ging zum Sims, starrte eine Weile auf das Foto, das ihn und seinen fröhlichen Lieutenant zeigte; beide schauten sie vor der großartigen, stolzen Fahne sehr zuversichtlich drein. Er legte das Foto mit dem Gesicht nach unten hin.

Ohne den Handschuh auszuziehen, griff er nach der Flasche Schnaps, zog den Korken mit den Zähnen heraus. Noch vor Reveille leerte er die Flasche.

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