Drittes Buch. Ein Ort, schlimmer als die Hölle

Die Leute sind ungeduldig; Chase hat kein Geld; der kommandierende General hat Typhus. Das Faß hat keinen Boden. Was soll ich tun?

Abraham Lincolnzu Quartiermeister General Montgomery Meigs, 1862

49

»Reiter voraus, Sir.«

Charles, der unter einem tropfenden Baum auf Sport saß, atmete scharf ein. Sie hatten hier angehalten, um den Bericht des Scouts abzuwarten. Sie waren zu sechst, auf dem Rückweg von Stuarts Hauptquartier an diesem dritten Tag im Jahre 1862: Charles; der Lieutenant, der Ambrose ersetzt hatte; der Junior Lieutenant, der farblose Julius Wanderly; zwei Unteroffiziere; und der Scout, Lieutenant Abner Woolner, der gerade aus dem weißlichen Dunst geritten gekommen war, um diese drei Worte auszustoßen, die ein brennendes Gefühl in Charles’ Magen auslösten.

Er zog das Tuch herunter, das er um seine untere Gesichtshälfte gebunden hatte. Der Winter in Virginia zeigte sich grausam – Schnee, Wind, eiskalter Regen. Obwohl die Temperaturen an diesem Morgen über dem Gefrierpunkt lagen, biß die Kälte durch sämtliche Kleidungsschichten. Es war kurz nach sieben. Die Sichtweite war auf wenige Meter beschränkt. Die Welt bestand aus schlammigem Boden, den schwarzen Säulen dreier Bäume und dem Nebel.

»Wieviele, Ab?« fragte Charles.

»Könnt’ ich in der Suppe nicht sehen, Cap, aber bestimmt ein ganzer Trupp.« Der Scout, ein schlaksiger dreißigjähriger Mann, trug schlammbespritzte Kordhosen, einen Farmerrock und einen zerknautschten Filzhut. Er wischte sich die tropfende Nase, ehe er fortfuhr: »Sind schnell und leise unterwegs, direkt auf der anderen Seite der Schienen.«

Die Orange & Alexandria. Charles’ Trupp mußte sie auf dem Rückweg von Camp Qui Vive überqueren. »In welche Richtung?«

»Richtung Potomac.«

Die Hoffnung stürzte in sich zusammen. Die Richtung ließ mit einiger Sicherheit auf Yanks schließen. Vielleicht waren sie durch die Linien geschlüpft, um während der Nacht Schienen aufzureißen. Die Möglichkeit eines Scharmützels deprimierte ihn, vielleicht weil er damit am wenigsten gerechnet hatte. Calbraith Butler hatte den Trupp aus drei Gründen in Stuarts Camp geschickt. Zwei waren militärischer, einer persönlicher Natur. Der Kavallerie ging allmählich der Mais aus, und der Major wollte eine Anleihe machen; er vermutete, daß eine direkte Bitte von einem alten Freund des Brigadiers – Stuart hatte seine Beförderung bekommen, während Hampton noch auf seine wartete – mehr Aufmerksamkeit finden würde als ein Kurierbrief.

Der Trupp war zwei Nächte geblieben, und Beauty, der in der Atmosphäre des Krieges geradezu aufzublühen schien, bewirtete Charles in seinem kleinen Haus in Warrenton, wo er seine Frau Flora und seinen Sohn und seine Tochter untergebracht hatte. Natürlich konnte er ein bißchen Mais für Kavalleriekameraden in Not erübrigen; er hatte im Herbst einen ganzen Waggonzug mit Futter von Dranesville gebracht, allerdings nicht, ohne einen Preis dafür zahlen zu müssen. Pennsylvania-Infanterie hatte ihm einen Hinterhalt gelegt und ihm eine zweistündige Schlacht geliefert, in deren Verlauf der Zug beinahe verloren gegangen wäre.

Calbraith Butlers zweiter Grund betraf den Ersatz für Ambrose Pell. Der neue Mann war zwei Tage vor Neujahr von Richmond gekommen, nachdem er sechzig Tage auf seine Frontversetzung gewartet hatte, wie er sagte. Butler wollte wissen, wie er sich im Feld benehmen würde. Am Tag nach seiner Ankunft sprach Butler privat mit Charles.

»Er ist uns angedreht worden, weil er irgendwie mit Old Pete oder dessen Familie in Verbindung steht«, Old Pete war Generalmajor Longstreet, in South Carolina geboren, »und nachdem ich Pell als vermißt gemeldet hatte, tauchte er so schnell auf, daß ich den Verdacht hege, irgendjemand hat bloß auf eine Gelegenheit gewartet, ihn loszuwerden. Ich habe mit dem Neuen keine halbe Stunde geredet, aber eines ist mir dabei klar geworden. Er ist ein Dummkopf und ein Intrigant. Eine üble Kombination, Charles. Hab ein Auge auf ihn.«

First Lieutenant Reinhard von Helm kam aus Charleston, ein Deutscher, ungefähr acht oder neun Jahre älter als Charles. Er war ein kleiner, schlanker Mann, kahl bis auf einen dunklen Haarkranz. Seine künstlichen Zähne paßten schlecht. Zweimal bereits hatte ihn Charles dabei ertappt, wie er ganz allein dastand und in irgendeine private Hölle starrte. Jedesmal hatte er sich für eine halbe Minute nicht von der Stelle gerührt, dann war er wie ein erschrecktes Kaninchen davongeschossen.

Von Helm sagte, er habe eine Anwaltspraxis aufgegeben, um dem Ruf zu den Waffen zu folgen. Das, zusammen mit den Namen bekannter Leute aus Charleston, die er gelegentlich fallenließ, beeindruckte Wanderly ungemein. Der junge Lieutenant und von Helm wurden vom ersten Tag an ein Freundespaar.

Am Neujahrstag hatte ein Offizier einer anderen Truppe, Chester Moore aus Charleston, Charles auf einen Schluck in seine Hütte eingeladen und seine Befürchtungen über Lieutenant von Helm bestätigt.

»Er war tatsächlich Anwalt, aber er machte nicht viel her. Sein Vater besaß eine florierende Kanzlei, zusammen mit drei Partnern. Er zwang sie, das Söhnchen in die Kanzlei aufzunehmen. Böser Fehler. All das geerbte Geld und das gute Leben ruinierten ihn. Wenn er einen Brief schreiben oder einen unwichtigen Fall übernehmen durfte, war er für gewöhnlich betrunken. Als sein Vater zu Grabe getragen wurde, wiesen die Partner dem Sohn die Tür. Keine andere Firma wollte ihn. Er taugt nichts, Charles. Schlimmer noch, er weiß es selber. Versagertypen sind oft bösartig. Sei vorsichtig.«

Der persönliche Grund für die Mission war Charles’ eigene Geistesverfassung; seit Weihnachten hatte ihn Schwermut befallen, und Calbraith Butler war das nicht entgangen. Doch die berühmten Festlichkeiten in Stuarts Lager hatten diese Stimmung kaum verscheuchen können, obwohl der Brigadier sich persönlich um Charles gekümmert hatte.

Das andere Geschlecht war zu jeder Stunde zahlreich im Camp vertreten; Stuarts häufige Parties und sein Ruf für Frohsinn zogen sie an. Charles wurde einer Miss Belle Arnes aus Front Royal vorgestellt. Er war ausgehungert nach einer Frau, und so arrangierte er im nahegelegenen Landgasthaus, wo Miss Arnes übernachtete, ein Rendezvous.

Sie schliefen zweimal miteinander, ungestüm, aber irgendwie blieb alles leer und unbefriedigend. Nie hätte Miss Arnes geahnt, daß ihr Geliebter sich mitten in der Hitze der Ereignisse durch eine Vision von Gus Barclay gestört fühlte.

»Sir?« sagte der Scout. »Soll ich zurückreiten und sie mir mal näher anschauen?«

»Wozu?« sagte von Helm. »Können ja bloß unsere Jungs sein.«

Charles fühlte sich müde; ihm war kälter denn je. »Sind Sie sich da ganz sicher, Lieutenant?«

Von Helms seltsam leere Augen richteten sich auf einen Punkt irgendwo hinter ihm. »Natürlich. Sie nicht?« Die Frage unterstellte Charles eine gehörige Portion Dummheit. »Am besten rufen wir sie an, damit sie nicht irrtümlich auf uns feuern. Ich mach’ das schon.«

»Einen Moment«, sagte Charles, aber von Helm galoppierte bereits in den Nebel hinein.

Wanderly strahlte voller Bewunderung. »Hat einen Schuß von dem Stuart-Mumm, was?«

Charles bekam keine Chance, eine andere, nicht ganz so wohlwollende Meinung zu vertreten. Von Helms Stimme drang durch den weißen Dunst, der die Schienen verbarg. Andere Stimmen, keine davon mit einem Südstaatenklang, antworteten.

»Wer ist da, ein Reb?«

»Aber sicher ein Reb. Hörst du das nicht?«

»He, wieviele Niggerweiber hast du?«

Und dann Gewehrfeuer. Charles riß seine Schrotflinte hoch, ohne sich den Luxus eines einzigen Fluches zu gönnen. »Trab – Marsch.«

Hinter ihm ließ Wanderly einen langen, jaulenden Schrei der Erregung los. Eine Kugel traf einen Zweig, der Charles ins Auge peitschte, was seine Sicht noch weiter beeinträchtigte. Vor ihm dröhnte von Helms Gewehr. Angesichts des Nebels und des Geländes ging Charles ein gewaltiges Risiko ein, fühlte sich aber dazu verpflichtet, um diesen Trottel von einem Lieutenant zu retten.

»Galopp – haaaa!«

Er duckte sich unter den über ihn hinwegpeitschenden Zweigen hindurch, hörte Explosionen, deren Schnelligkeit unglaublich war. Falls sie nicht auf wesentlich mehr Männer gestoßen waren, als Woolner geschätzt hatte, mußte irgendein Yank fast ohne Pause schießen.

Einen Moment hatte er nicht aufgepaßt und den gewaltigen Stamm einer gestürzten Ulme direkt vor sich übersehen. Zum Wenden war es zu spät. Der Scout galoppierte hinter ihm, Zügel zwischen den Zähnen, in jeder Hand einen Revolver.

»Woolner, nach links!« brüllte er. »Da liegt ein Baum.«

Das Hindernis war fast schon vor ihm; er mußte sich auf den Instinkt des Grauen verlassen.

Jesus, der Stamm war gute fünf Fuß hoch –

Charles lehnte sich vor, als Sport zum Sprung ansetzte. Er hob sein Hinterteil aus dem Sattel und plötzlich, weg vom Boden und hoch, segelten Mann und Tier durch den milchigen Nebel. Am höchsten Punkt des Sprunges ging ihm vor lauter Liebe fast das Herz über. Er besaß das stärkste, tapferste Pferd auf Gottes Erde.

Zwischen Sports zurückgelegten Ohren sah Charles die Yanks auftauchen. Sie waren abgesessen, drei oder vier Mann, und feuerten hinter dem Bahndamm hervor. Von Helm, ebenfalls abgestiegen, lag in Deckung und schoß abwechselnd mit Gewehr und Revolver.

Wer immer die Yankees kommandierte, gab plötzlich Befehl zum Aufsitzen und zum Rückzug. Eine Kugel pfiff an Charles’ Ohr vorbei; ein ihm folgender Unteroffizier schrie auf, umklammerte seinen Arm und wäre beinahe vom Pferd gefallen, ehe er die Zügel wieder erwischte. Der Verwundete hing auf seinem Pferd, das nach links davongaloppierte.

Charles suchte die Reihe der feindlichen Soldaten nach der Quelle der schnell aufeinanderfolgenden Schüsse ab. Er entdeckte sie; der einzelne Schütze befand sich innerhalb seiner Schußweite. Er zügelte Sport, zielte sorgfältig mit der Schrotflinte und feuerte beide Läufe ab. Der Yank wurde nach hinten geschleudert. Woolner erledigte zwei weitere Yanks und von Helm einen dritten. Der Rest, ihre Gesamtzahl immer noch ein Rätsel, verschwand im Nebel.

Als die Hufschläge verklangen, stampfte von Helm auf die Schienen zu, schwang sein Gewehr und brüllte: »Erzählt dem Gorilla, wir vergessen unsere Niggerweiber, wenn wir Yanks verprügeln können!«

»Whoo-ee!« schrie der Corporal anerkennend. Offensichtlich war er vom Mut des Deutschen beeindruckt, obwohl dessen Unbesonnenheit sie alle hätte umbringen können.

Charles glitt aus dem Sattel. Er sollte sich um seinen verwundeten Kavalleristen kümmern, aber der Gedanke an die Waffe, die mit solcher Geschwindigkeit gefeuert hatte, lenkte ihn ab; von Helm lenkte ihn ab, der ihm den Rücken zuwandte und eine kippende Bewegung machte, wie ein trinkender Vogel. Charles sah etwas Silbernes aufblitzen und wieder in einer Seitentasche verschwinden.

Charles ritt nach hinten und brüllte in den Nebel: »Was ist mit Loomis?«

»Bloß ein Kratzer, Sir. Ich verbinde ihn.«

Charles ging auf den Damm zu. Der Nebel lichtete sich, je höher die Sonne stieg. »Ein Glück, daß wir nicht wirklich einem ganzen Trupp gegenüberstanden, obwohl es sich so anhörte«, sagte er zu von Helm.

»Haben wir aber nicht.« Der Deutsche klang herausfordernd.

Sie fanden drei tote Kavalleristen der Union und einen stöhnenden Sergeant mit einer blutenden Bauchwunde. Sie würden ihn zur Behandlung mitnehmen müssen, aber er würde nicht lange durchhalten; Bauchwunden waren in der Regel tödlich.

Charles trat auf die Eisenbahnschwellen. Ein Kavallerist kniete auf der Brust eines Toten und durchsuchte emsig sämtliche Taschen. Er fand nichts bis auf etwas Tabak und eine Pfeife und sagte: »Scheiße.« Im gleichen Augenblick entdeckte Charles das, was er suchte, in dem abgestorbenen gelblichen Unkraut jenseits des Bahndamms. Von Helm sah es ebenfalls und versuchte, an seinem Captain vorbeizukommen. Charles wirbelte herum.

»Das gehört mir«, sagte er. »Und noch eins. Das nächstemal warten Sie meine Befehle ab, oder Sie sind dran.«

Von Helm preßte seine künstlichen Zähne zusammen und wandte sich ab; seine Alkoholfahne hatte Charles bereits gerochen. All die Warnungen waren berechtigt gewesen. Er hatte ein faules Ei erwischt.

»Beweist nur, was sie immer sagen«, beklagte sich der Kavallerist und beugte sich über die Füße des toten Soldaten. »Diese verdammten Yanks sind nicht mehr wert als ein Paar Schuhe.« Er zog den rechten Schuh runter und fluchte, als er die gelöste Sohle sah. Er spähte hinein. »Lashbrook von Lynn. Was heißt das?«

Niemand machte sich die Mühe, ihm zu antworten. Charles glitt den Damm hinunter und holte die Waffe aus dem Unkraut. Sie sah vollkommen neu aus, ungefähr vier Fuß lang, mit einer merkwürdigen Öffnung am Kolben. Oben war der Herstellername eingeprägt.

Spencer Repeating-Rifle Co.

Boston, Mass.

Pat’D. March 6, 1860

In Charles’ Gedächtnis klickte es; ein Absatz einer der vielen Washingtoner Zeitungen, die man hinter den Südstaaten-Linien las, tauchte vor seinem inneren Auge auf. Ein spezielles Scharfschützenregiment, geführt von irgendeinem berühmten New Yorker Scharfschützen, hatte das neue Modell eines schnell repetierenden Gewehrs empfangen. Konnte es sein, daß er ein Exemplar davon in Händen hielt – vielleicht ein gestohlenes? Soweit er wußte, befanden sich die Scharfschützen immer noch in Washington.

Charles suchte den Mann, der mit dem Gewehr geschossen hatte; ohne die dazugehörige Munition würde er hier nicht verschwinden. Woolner hatte dem Mann bereits die Taschen geleert und die Schuhe ausgezogen, aber drei merkwürdig röhrenförmige Magazine hatte er zurückgelassen. Charles öffnete eines und entdeckte sieben Randfeuerkupferpatronen, eine hinter der anderen. Jetzt begriff er die Funktion der Öffnung im Kolben.

Woolner tauchte auf. »Hat dieses Ding da so schnell geschossen? Noch nie sowas gesehen.«

»Hoffen wir, daß wir nicht mehr viele davon zu sehen bekommen. Ich habe Munition gefunden. Ich will damit schießen.«

Die Sonne brach in langen, leuchtenden Streifen durch den Nebel. Sie banden den verwundeten Yank hinter Loomis auf dessen Pferd und ritten, die Toten zurücklassend, auf das Camp zu. Der Yank blutete das ganze Pferd voll. Als sie im Lager ankamen, griff Loomis hinter sich und berührte den Mann. »He, Yank, wach auf.« Er hatte einen Toten berührt. Loomis wurde urplötzlich bleich, verlor das Bewußtsein und fiel von seinem Pferd.

Erschöpft und immer noch ein bißchen zittrig entließ Charles die Männer und kümmerte sich dann um Sport. Von Helm war mit seinem Gaul in einem Drittel der Zeit fertig.

Charles tätschelte den Grauen und ging los, um seinen knurrenden Magen zu füllen. Von Helm war zu dem Quartier gegangen, das er nun mit Charles teilte. Ihre ersten paar gemeinsamen Tage als Hüttengenossen hatten lediglich einige höfliche oder notwendige Bemerkungen hervorgebracht. Wenn es nach Charles ging, würden es jetzt noch weniger werden.

Es war schon spät am Tag, als er endlich Calbraith Butler fand, um ihm Bericht von dem Scharmützel zu erstatten. »Meiner Meinung nach eine völlig sinnlose Aktion, die wir hätten vermeiden müssen.«

Butler lehnte sich in seinem Campstuhl zurück. »Du hast mir noch nicht alles erzählt. Woolner ist vorhin vorbeigekommen. Er teilt deine Meinung, aber er hat mir auch berichtet, wie der Trupp in dieses Schlamassel geraten ist. Der Deutsche hat dich reingezogen.«

»Zum ersten und zum letzten Mal«, versprach Charles.

»Ich hab’ dich gewarnt«, sagte Butler, nicht vorwurfsvoll, sondern mitfühlend. »Vielleicht kann ich dir die kleine Ratte erneut versetzen lassen.«

»Ich werd’ mit Lieutenant von Helm schon fertig«, sagte Charles mit gekünstelter Zuversicht. »Ist vom Hauptquartier noch irgendwas über Ambrose gekommen?«

»Nein, nichts. Ich bin überzeugt davon, daß wir nie erfahren werden, was passiert ist.«

Charles nickte zustimmend und sehr ernst. Dann beschrieb er die Waffe, die er konfisziert hatte. »Ich möchte sie morgen auf den Exerzierplatz mitnehmen und testen. Später nutzt sie mir sowieso nichts – außer den drei Magazinen hab’ ich keine Munition. Einundzwanzig Schuß.«

»Ich wäre beim Test ganz gern dabei.«

»Ich geb’ dir Bescheid.«

Da er immer noch keine Lust verspürte, zu von Helm in die Hütte zu gehen, marschierte Charles zurück zu den Pferdeunterständen, um sich zu vergewissern, daß Sport ordentlich auf seinen Planken stand und nicht auf dem schlammigen Boden. Langsam ließ er seine Hand über den warmen Hals des Grauen gleiten. Er fühlte sich miserabel, besorgt und wütend zugleich.

Der Knall dröhnte über das Gelände. Die an einen Baum geheftete Papierzielscheibe zuckte im blassen Licht des Nachmittags, genau in der Mitte getroffen.

Charles zog den Hebel nach unten und warf die verbrauchte Patrone aus. Durchladen, zielen, feuern. Durchladen, zielen, feuern. Ein halbes Dutzend Männer schauten zu. Nach jedem Schuß klappten ihre Unterkiefer etwas weiter herunter. Ab Woolner zerrte an seiner Hose und murmelte: »Guter Gott.«

Dichter werdender Rauch kräuselte sich hoch. Calbraith Butler hatte im Takt mit seiner Reitpeitsche gegen sein Bein geschlagen. Als die letzte Explosion verhallte, flatterte der untere Teil der Zielscheibe zu Boden. Butler blickte Charles an.

»Ich hab’ sieben Schuß in ungefähr dreizehn Sekunden gezählt.«

Einige Zuschauer hoben die leeren Kupferpatronen als Souvenirs auf. Charles nickte düster. Der Scout sprach das aus, was sie alle dachten: »Hoffen wir, daß die Yanks nicht viele solche Gewehre haben. Sie könnten sie am Montag laden, und den Rest der Woche könnten sie uns damit abschießen.«

Charles trottete zu seiner Hütte zurück und legte das Repetiergewehr ins Regal. Von Helm war nicht da – angesichts der düsteren Stimmung nach dem Test um so besser. Charles verstaute die ihm verbliebenen beiden Magazine in der Feldtruhe, wobei ihm Cousin Coopers Warnungen über die industrielle Überlegenheit des Nordens einfielen. War dieses neue Gewehr nicht ein weiterer Beweis für diese Überlegenheit? Warum hatte niemand darauf gehört?

Oder war nur er aus dem Takt geraten, war er zum Pessimisten geworden. War er der Zyniker, der sich dem allgemeinen Glauben in der Armee nicht anschließen konnte – daß Mut und geistige Einstellung zahlenmäßige Überlegenheit und bessere Waffen überwinden konnten? Das mochte gelegentlich zutreffen. Aber jedesmal?

Ermutigende Gerüchte hatten das Lager auch aus Norfolk erreicht. Irgendein furchterregendes neues Schlachtschiff stand kurz vor der Fertigstellung. Die Virginia war ein umgebautes Schiff der Union, die Merrimack, die die Yanks versenkt hatten, als sie den Hafen aufgaben. Sie war gehoben und mit einer Panzerung ausgerüstet worden; jetzt bezeichnete man sie als Panzerschiff. Die Leute sprachen von ihr, als könnte sie den Krieg dadurch beenden, daß sie ein paar Salven abschoß. Der Skeptiker in Charles’ sah das ein bißchen anders.

Am nächsten Tag brachte die Post eine angenehme Überraschung, ein Ende November in Fredericksburg aufgegebenes Päckchen. Darin fand Charles ein schmales, ledergebundenes Buch: An Essay on Man von Alexander Pope. Auf das Deckblatt hatte die Absenderin geschrieben:

Für Captain Charles Main

= = An der Front = =

Weihnachten, 1861

Sie hatte mit A. Barclay unterschrieben und zusätzlich noch eine Karte hineingesteckt, auf der stand: Tut mir sehr leid, daß ich Deinen Besuch verpaßt habe; hoffentlich kommst Du bald wieder. In den Linien und Schlaufen ihrer graziösen Schrift sah er sie deutlich vor sich.

Viele Soldaten trugen kleine Bibeln in ihren Rocktaschen bei sich. Das brachte Charles auf eine Idee. Er suchte sich ein Stück weiches Leder und nähte daraus einen kleinen Beutel mit einem Riemen dran. Er tat den kleinen Band in den Beutel und streifte ihn über den Kopf. Er trug ihn unter dem Hemd auf seiner Brust. Es fühlte sich da gut an.

Das Geschenk munterte ihn einige Tage lang auf, trotz der Gegenwart von Lieutenant von Helm. Der Deutsche sagte kaum ein Wort, verlor aber nur selten diesen irren Glanz in seinen Augen. Eines Abends, als Charles Magenschmerzen hatte und keine Lust verspürte, einer Vorstellung von Box and Cox beizuwohnen, dargeboten von einigen Schauspielern des Camps, schaute überraschend sein Erster Sergeant bei ihm vorbei.

»Was führt Sie her, Reynolds?«

»Sir, es ist«, der Mann errötete, »ich glaube, es ist meine Pflicht, mit Ihnen zu sprechen.«

»Nur zu.«

»Es handelt sich um Lieutenant Wanderly und Private Cramm, Sir. Die beiden geben eine Menge von ihrem eigenen Geld beim Marketender aus und halten die anderen Jungs frei. Sie, äh, machen Wahlkampf.«

»Für was?«

Der Sergeant antwortete mit einem gewaltigen Würgen. »Für Lieutenant von Helm.«

Charles, von Magenschmerzen gepeinigt, war müde und gereizt. »Ich verstehe immer noch nicht. Verdammt noch mal, Mann, reden Sie offen.«

Peterkin Reynolds warf ihm einen unglücklichen Blick zu. »Sie wollen ihn zum Captain wählen, Sir.«

Eine Stunde später kehrte von Helm mit einer Bourbonfahne zurück. »Heute abend haben Sie eine feine Show verpaßt. Die Schauspieler – « Seine braunen Augen wurden leer, zeigten dann Überraschung, als er den Zustand der Hütte wahrnahm. »Was ist hier passiert? Wo sind meine Sachen?«

»Ich hab’ sie fortschaffen lassen.« Charles lag in seiner Koje und sprach mit einem Zigarrenstummel zwischen den Zähnen. »Zur Hütte Ihres Wahlhelfers.«

»Mein –?« Von Helm zwinkerte. »Oh.« Charles’ Blicke schienen ihn nicht einzuschüchtern; vielleicht war er dafür zu betrunken. Seine Mundwinkel gingen nach oben, als hätte man wie bei einer Puppe an einer Schnur gezogen. »Sehr wohl. Guten Abend, Captain.« Er ging.

Charles riß die Zigarre aus dem Mund und gab sich einer Schimpfkanonade hin, deren Inbrunst seine deprimierte Erschöpfung verbarg. Er war noch in den Zwanzigern und fühlte sich doppelt so alt. Zumindest waren jetzt die Fronten geklärt. Captain Main gegen diesen posierenden Intriganten aus Charleston.

50

Stanley klopfte und betrat mit vibrierenden Nerven das Büro des Ministers. Er war überzeugt davon, daß man ihn angeschwärzt hatte und daß er degradiert oder entlassen werden würde.

Er war erstaunt, einen gutgelaunten Boß vorzufinden, der in seinem Büro Kisten und Kästen inspizierte, die mit persönlichen Akten angefüllt waren. Camerons Wangen hatten einen rosigen Schein von frischer Rasur; er roch nach Lavendel. Sein Schreibtisch war leer, ein bis jetzt noch nie dagewesenes Ereignis.

»Stanley, mein Junge, setzen Sie sich. Ich verschwinde hier so schnell wie möglich, aber ich wollte noch ein bißchen mit Ihnen plaudern, bevor ich gehe.« Mit einer Handbewegung bot er dem Jüngeren einen Platz an, während er sich wie gewohnt hinter seinen Schreibtisch setzte.

Zitternd ließ Stanley seinen schweren Körper auf den Stuhl sinken. »Ich war erschüttert, als ich letzten Samstag von Ihrem Rücktritt hörte, Sir.«

»Von mir aus wieder Simon – oder Boß. Ich bin da nicht wählerisch. Nur Herr Minister paßt nicht mehr.«

»Ein tragischer Verlust für die Kriegsanstrengungen, Sir.«

Die letzte Bemerkung erzeugte bei Cameron ein schmales Lächeln. »Oh ja, eine ganze Menge von Kontraktpartnern wird durchaus dieser Meinung sein. Doch ein loyaler Bursche geht dorthin, wo ihn seine Vorgesetzten haben wollen. Rußland ist ein ganzes Stück von zu Hause weg, aber um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Stanley – ich werde die Unruhe und die ganze niederträchtige Bissigkeit dieser Stadt nicht vermissen.«

Eine Lüge, dachte Stanley; der Boß hatte mit am besten zugebissen. Doch all die ministeriellen Unregelmäßigkeiten hatten Lincoln schließlich zum Handeln gezwungen, auch wenn man Cameron erlaubt hatte, das Gesicht zu wahren; der Posten als Gesandter der Vereinigten Staaten in Rußland galt als Beförderung.

»Ich nehme an, Sie werden mit dem neuen Mann zurechtkommen«, fuhr Cameron entspannt fort. »So locker wie ich wird er es allerdings nicht angehen lassen. Er ist ein Favorit der Farbigen und springt ganz schön hart mit denen um, die seinen Erwartungen nicht entsprechen. Sie werden sich auf den nächsten Inhaber dieses Büros einstellen müssen.«

Stanley nagte an seiner Unterlippe. »Sir, ich tappe im dunkeln. Ich kenne nicht mal den Namen des neuen Ministers.«

»Oh, tatsächlich?« Die weißen Brauen schnellten nach oben. »Ich dachte, Senator Wade hätte es Ihnen anvertraut. Wenn nicht, dann werden Sie wohl auf die öffentliche Bekanntmachung warten müssen.«

Dabei beließ er es, und Stanley zappelte an dem Haken, den Cameron ausgeworfen hatte. Überraschenderweise lachte der ältere Herr, ehe er fortfuhr: »Ich trage Ihnen nichts nach, Stanley. An Ihrer Stelle hätte ich es genauso gemacht. Sie haben sich als gelehriger Schüler erwiesen. Sie haben gelernt, jede Lektion anzuwenden, die ich Ihnen beigebracht habe. Obwohl, wenn ich es jetzt im Nachhinein überdenke, hab’ ich Ihnen vielleicht eine Lektion zuviel beigebracht.«

Das Lächeln wurde breiter, vermischte sich mit fröhlicher Bosheit. »Nun, mein Junge, lassen Sie mich Ihnen einen letzten Rat erteilen, bevor wir uns zum Abschied die Hände schütteln. Verkaufen Sie soviele Schuhe, wie Sie können, so teuer wie möglich und so lange wie möglich. Und sparen Sie das Geld. Sie werden es brauchen, denn in dieser Stadt liegt immer jemand auf der Lauer. Jemand, der Sie verkaufen will. Jemand, der Sie verkaufen wird.«

Stanley stand kurz vor einem Herzanfall. Cameron eilte um seinen Schreibtisch, umklammerte Stanleys Hand so fest, daß es schmerzte, und sagte: »Sie müssen mich jetzt entschuldigen.« Damit wandte er ihm den Rücken zu. Als Stanley ging, wühlte er schon wieder fröhlich in den zusammengepackten Ruinen seines Reiches.

Am nächsten Abend kehrte George mit Neuigkeiten für Constance heim. »Es ist Stanton.«

»Aber er ist doch Demokrat!«

»Er ist außerdem ein Fanatiker nach dem Herzen der Radikalen. Die für ihn sind, bezeichnen ihn als Patrioten. Die Gegenseite benützt Bezeichnungen wie dogmatisch und verschlagen. Er will seine Ziele um jeden Preis erreichen. Lincoln mag ihn ernannt haben, aber er ist das Produkt von Wade und dessen Bande.« Sein amüsiertes Lächeln lockerte den Ernst auf. »Wußtest du, daß Stanton mal mit einem Fall zu tun hatte, in dem es um McCormicks Mähmaschine ging und Lincoln als Junior-Anwalt beteiligt war? Stanton nannte ihn dabei einen Tölpel. Unglaublich, wie die Leute sich ändern. Diese verrückte Welt – «

»Nicht du und ich«, sagte sie und küßte ihn sanft.

General McClellan erholte sich von seinem schweren Typhusanfall, blieb aber weiterhin das Opfer einer anderen Krankheit, wegen der ihn bis auf seine treuesten Anhänger alle heftig kritisierten. Lincoln bezeichnete die Krankheit als Schwerfälligkeit. Unter zunehmendem Druck erließ der Präsident am 31. Januar den Kriegssonderbefehl Nr. 1. Darin wurde dem Kommandierenden General befohlen, die Armee bis spätestens 22. Februar vom Potomac in Richtung Manassas in Bewegung zu setzen.

Die Februarausgabe des Atlantic druckte neue Verse für ›John Brown’s Body‹, geschrieben von Mrs. Howe; George und seine Frau und sein Sohn sangen die aufrührende ›Battle Hymn‹, während Patricia spielte. Das Lied paßte zu der neuen, aggressiveren Stimmung in der Hauptstadt. Stanton, klein und grimmig, ließ sich ständig in den Gebäuden um den President’s Park sehen. George bemerkte ihn mehrfach im Waffenamt, sah aber keinen Grund, ihn anzusprechen.

Aus dem Westen drangen so glorreiche Nachrichten, daß sich vor den Zeitungsgebäuden, wo die letzten telegraphischen Neuigkeiten aushingen, eine jubelnde, trunkene Menge versammelte. Fort Henry, eine Schlüsselbastion der Rebellen am Tennessee, knapp unterhalb der Grenze zu Kentucky, hatte sich einer kombinierten Offensive von Land und Fluß her ergeben.

Zehn Tage später fiel Fort Donelson. Theoretisch waren beide Siege das Werk des Department-Kommandeurs General Halleck. Aber der Mann, dem die Korrespondenten den Siegerkranz aufsetzten, war ein Akademie-Absolvent, der schon seit langem aus Georges Gedanken verschwunden war. Zu Beginn hatte Sam Grant in West Point Orrys Rolle übernommen, als er von Elkanah Bent schikaniert wurde.

Sam Grant. Erstaunlich. Nach dem Feldzug gegen Mexiko City hatten er und George zusammen in den Cantinas getrunken. Ein sympathischer Offizier und durchaus tapfer. Aber ihm fehlte die Brillanz, die beispielsweise Tom Jackson besaß. Das letzte, was George über ihn gehört hatte, war, daß er in der Armee im Westen versagt und aufgrund von Alkoholproblemen seinen Abschied genommen habe.

Und hier war er, frisch befördert vom Brigadier zum Generalmajor der Freiwilligen und mit dem Spitznamen ›Bedingungslose Kapitulation‹ ausgestattet, weil er auf eine Anfrage nach den Übergabebedingungen des Kommandanten von Donelson geantwortet hatte, er würde nichts anderes akzeptieren. Und dann befreite er das westliche Kentucky aus dem Griff der Konföderierten, das westliche Tennessee und den oberen Teil von Mississippi. Der Süden taumelte, der Norden jubelte, und Grants Name wurde für jeden Schuljungen, dessen Eltern eine Zeitung lasen, zu einem Begriff.

Nichtsdestoweniger drangen aus dem Regierungsgebäude schlimme Gerüchte. Der Präsident sollte an derart starken Depressionen leiden, daß es schon an Wahnsinn grenzte. Nachts streifte er schlaflos herum oder lag stundenlang bewegungslos da; dann erhob er sich und erzählte merkwürdig prophetische Träume. Die Washingtoner Klatschtanten hatten eine Menge anzubieten. Lincoln wurde wegen der Union verrückt. Mary Lincoln, die eingestandenerweise eine Menge Verwandte in Kentucky und der Konföderiertenarmee besaß, war eine Spionin. Der zwölfjährige William Lincoln hatte Typhus. Das stellte sich als wahr heraus; der Junge starb zwei Tage, bevor McClellan Manassas hätte einnehmen sollen.

McClellan nahm Manassas nicht ein; die Armee rührte sich nicht vom Fleck. Und Lincoln tauchte auf keiner der offiziellen Feierlichkeiten zu Ehren von Washingtons Geburtstag auf, obwohl die Armeen auf beiden Seiten den Tag feierten, wie es vor dem Krieg Brauch gewesen war.

Eines Abends machte Billy einen Überraschungsbesuch. Noch vor dem Essen tauschten die Brüder über einem Glas Whiskey Klagen aus.

Billy: »Was zum Teufel ist mit Mac los? Er sollte doch die Union retten – vorletzte Woche, oder?«

George: »Woher soll ich wissen, was los ist? Ich bin nichts weiterals ein besserer Angestellter. Ich höre nur den Straßentratsch. Du solltest mehr wissen als ich; er ist dein Kommandeur.«

»Er ist dein Klassenkamerad.«

»Also gut«, sagte George, »ich hab’ lediglich gehört, daß Little Mac dem Feind zahlenmäßig um das Zwei- bis Dreifache überlegen ist, aber trotzdem fordert er weiterhin Aufschub und Verstärkung. Sonst, so sagt er, könne er den Erfolg nicht garantieren – der, so fährt er mit dem nächsten Atemzug fort, garantiert sei, sobald er erst mal losmarschiere. Gott weiß, was in seinem Kopf vor sich geht. Erzähl mir von deinen neuen Männern.«

»Sie haben fast sieben Trainingswochen hinter sich, aber natürlich sind gute Trainingsleistungen kein Gradmesser für ihr Verhalten im Kampf. Letzte Woche haben wir – «

Beide blickten auf, als Constance mit blassem Gesicht hereinkam.

»An der Tür ist eine Ordonnanz von deinem Bataillon.«

Billy eilte aus dem Raum. George schritt auf und ab, versuchte etwas von den gedämpften Stimmen zu verstehen. Sein Bruder kehrte zurück, seine Mütze aufsetzend. »Wir werden ins Camp zurückbefohlen, um unsere Abreise in Waggons vorzubereiten.«

»Wohin fahrt ihr?«

»Keine Ahnung.«

Hastig umarmten sie sich. »Paß auf dich auf, Billy.«

»Das werd’ ich. Vielleicht schlägt Mac endlich los.«

Und damit ging Billy in die Dunkelheit hinaus.

51

Charles wußte, daß es nichts Gutes zu bedeuten hatte, als Calbraith Butler ihn nach dem Zapfenstreich zu sich befahl, wo ihn der Colonel und der Major erwarteten.

»Sie können sich setzen, Charles«, sagte Hampton, nachdem Charles militärisch gegrüßt hatte.

»Nein danke, Sir.«

Hampton fuhr fort: »Ich bin hergeritten, weil ich mit Ihnen persönlich sprechen wollte. Ich sehe mich einer heiklen Situation in Major Butlers Kommando gegenüber.«

Butler sagte: »Sir, ich würde das Wort übel vorziehen.«

Hampton seufzte: »Das mag durchaus zutreffen.«

Bewundernd dachte Charles, wie fit der Colonel wirkte, in einem Winter, der die Gesundheit wesentlich jüngerer Männer ruinierte. Er bemerkte den Säbel des Colonels – schmaler als der sonst bei ihm übliche. War das der Säbel, den Joe Johnston ihm als Zeichen der Freundschaft gegeben hatte – bis er tatsächlich den Rang eines Brigadiers verliehen bekam?

»Wir brauchen keine Worte zu verschwenden, Charles. Major Butler hat eine Petition von Männern Ihrer Truppe erhalten. Sie fordern eine neue Offizierswahl.«

Ganz plötzlich wurden seine Wangen taub. »Von wievielen Männern unterzeichnet, Sir?« fragte Charles.

Beunruhigt sagte Butler: »Von über der Hälfte der Truppe.«

»Herr im Himmel.« Charles brachte ein Lachen zustande. »Mir war klar, daß ich nicht gerade heiß und innig geliebt werde, aber damit lauf ich ja einem Yankee den Rang ab. Ich hatte keine Ahnung – «

»Sie sind ein ungewöhnlich guter Offizier«, begann Hampton.

»Genau meine Meinung«, sagte Butler.

»Aber das hat nichts mit Beliebtheit zu tun. Wie Sie wissen, Charles, sind die Männer erst zu Neuwahlen berechtigt, wenn ihre einjährige Verpflichtung zur Verlängerung ansteht. Ich dachte jedoch, ich sollte Sie davon in Kenntnis setzen, wie die Dinge stehen, und fragen – «

Diesmal unterbrach er Hampton. »Lassen Sie ihnen ihren Willen. Morgen – mir ist es egal.« Es war ihm nicht egal, aber er verbarg es.

Stirnrunzelnd fragte Butler: »Und wenn Sie verlieren?«

»Pardon, Major – warum drücken Sie es so aus? Sie wissen, daß ich verlieren werde. Die Anzahl der Unterschriften auf der Petition garantiert dafür. Ich sage trotzdem, sie sollen ihre Wahl haben. Ich werde eine andere Möglichkeit finden zu dienen.«

Die beiden höheren Offiziere tauschten einen Blick. Charles erkannte, daß hier schon mit einiger Sorgfalt vorausgeplant worden war.

Ruhig sagte Hampton: »Ich schätze den Geist, in dem Sie das gesagt haben, Charles. Ich schätze all die Qualitäten, die Sie zu einem guten Offizier machen. Ihre Tapferkeit steht außer Frage. Sie sorgen wie ein Vater für Ihre Männer. Ich vermute, Ihre Vorstellung von Disziplin hat diese Situation herbeigeführt, da sich viele in dieser Legion lieber für Carolina-Gentlemen halten als für Soldaten, die dem Angriff von General McClellan trotzen müssen. Außerdem hat möglicherweise Ihre Akademie-Ausbildung gegen Sie gearbeitet.«

Gegen Stuart oder Jackson oder eine ganze Menge andere hat sie nicht gearbeitet, dachte Charles voller Bitterkeit. Aber es war dumm, anderen die Schuld für die eigenen Fehler in die Schuhe zu schieben.

Hamptons Stimme wurde laut und betont. »Ich will Sie unter diesem Kommando nicht verlieren, genausowenig wie Major Butler. Wenn Sie also nicht gegen Ihren, äh, Gegner antreten wollen – «

»Ich würde keine Minute auf diesen dämlichen Deutschen verschwenden!« Charles stockte. »Tut mir leid, Sir.« Hampton wedelte die Entschuldigung beiseite.

»Wir haben einen anderen Vorschlag«, sagte Butler. »Sie sind ein Einzelgänger, Charles, aber das kann sich als wertvoll erweisen. Würden Sie es in Erwägung ziehen, Abner Woolner und einige meiner besten Männer in einer Scoutstruppe zu führen?«

Hampton beugte sich vor, sein Gesicht halb in der Dunkelheit verborgen. »Im gesamten berittenen Dienst ist das die wichtigste und gefährlichste Aufgabe. Der Scout ist ständig in Gefahr. Nur die Besten können damit fertig werden.«

Charles überlegte, aber nicht lange. »Ich akzeptiere unter einer Bedingung. Bevor ich anfange, hätte ich gern einen kurzen Urlaub.«

Ein weiteres Stirnrunzeln des Majors. »Aber die ganze Armee setzt sich bald in Bewegung.«

»Nach hinten, wie ich hörte. Zum Rapidan und Rappahannock. Die Lady lebt nahe des Rappahannock. Fredericksburg. Falls notwendig, bin ich sofort wieder bei der Legion.«

Hampton lächelte. »Die Bitte sei gewährt. Einverstanden, Major Butler?«

»Jawohl, Sir.«

»Dann«, sagte Charles, »nehme ich den Posten als Scout an. Mit Vergnügen.«

Obwohl ihn die Ablehnung seiner Truppe schmerzte, fühlte er sich gleichzeitig befreit. Empfand ein freigelassener Schwarzer ähnlich? fragte er sich, als er pfeifend zu seiner Hütte zurückging.

Während er Meile um Meile nach Spotsylvania County zurücklegte, durch Regenstürme mit anschließendem Kälteeinbruch, der die toten Felder und kahlen Bäume mit einem weißen Anstrich versah, wuchs seine Begierde, Barclays Farm zu erreichen, zusammen mit der Furcht, Augusta wieder nicht anzutreffen. Endlich sah er das wuchtige Steinhaus und die hölzernen Schuppen und Nebengebäude auftauchen.

»Und Rauch kommt aus dem Kamin«, brüllte er dem Wallach zu.

Es war eine saubere Farm, trotz des Krieges gut geführt. Ihre Felder erstreckten sich anscheinend auf beiden Seiten der Straße. Das Haupthaus vermittelte den Eindruck von Alter und Stärke, festungsgleich hinter zwei gewaltigen Roteichen verborgen, deren dicke Äste sich bis über das Holzdach reckten. Wundervolle Bäume, zum Klettern wie geschaffen, die in ihm den Wunsch wach werden ließen, wieder ein Junge zu sein.

Im Hof zog er die Zügel. Zu seiner Rechten sah er im dunklen Inneren eines Nebengebäudes etwas aufblitzen. Er stieg ab, und die Pedale des Schleifsteins hörten auf zu quietschen. Ein ungefähr zwanzigjähriger Neger tauchte aus dem Gebäude auf. Er trug schwere Ackerschuhe, alte Hosen, ein gestopftes Hemd. In beiden Händen hielt er die geschwungene Sense, die er gerade geschärft hatte.

»Können wir was für Sie tun, Sir?«

»Der Mann ist in Ordnung, Boz.«

Die neue Stimme gehörte dem anderen Schwarzen, älter, mondgesichtig, mit wenigen Zähnen; er kam hinter dem Haus hervor, einen Sack mit Hühnerfutter über der Schulter. Charles hatte ihn am Ballabend in Richmond getroffen.

»Wie geht’s Ihnen, Captain?« fragte der ältere Schwarze. »Seh’n aus, als wär’n Sie durch’n Haufen Schlamm geritten.«

»Das bin ich. Ist sie zu Hause, Washington?«

Er ließ ein keckerndes Lachen hören. »Das ist sie. Bißchen früh für Besuch, aber sie ist immer vor Tagesanbruch auf. Macht wahrscheinlich grad unseren Morgenschinken.« Washingtons Kopf ruckte nach rechts. »Hintertür ist schneller.«

Charles ging mit klingelnden Sporen an ihm vorbei, hatte nichts anderes mehr im Sinn, als an diese Tür zu klopfen; hoffentlich sah er nicht zu verdreckt aus oder roch zu unangenehm. Er konnte selbst kaum glauben, wie aufgeregt er war.

Die Tür öffnete sich. Gus schnappte nach Luft, und eine mehlweiße Hand flog zu ihrem Kinn. »Charles Main. Bist du’s wirklich?«

»So steht’s in meinem Paß.«

»Im ersten Moment hast du mich ganz verwirrt. Der neue Bart – «

»Steht er mir?«

»Ich werd’ mich dran gewöhnen.«

Er grinste. »Nun, er hält wenigstens warm.«

»Bist du irgendwohin unterwegs?«

»Mir war gar nicht klar, daß der Bart dermaßen abstoßend wirkt.«

»Antworte mir.« Seine schlagfertige Erwiderung hatte ihr gefallen.

»Ma’am, das hier ist meine Reaktion auf Ihre freundliche Einladung. Darf ich eintreten?«

»Ja, ja – natürlich. Ich bitte um Verzeihung, daß ich dich hab’ in der Kälte stehen lassen.«

Ihr altes Baumwollkleid, so oft gewaschen, daß es fast farblos wirkte, stand ihr gut. Sie sah noch ein bißchen schläfrig aus, doch gleichzeitig erfreut und aufgeregt. Über der Rundung ihrer Brüste bemerkte er einen fehlenden Knopf; in einer Falte sah er kurz nacktes Fleisch aufblitzen.

Sie hatte gerade Teig angerührt. Sie legte den Löffel beiseite und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Eine Frage, bevor wir mit dem Besuch ernst machen. Hast du vor, mich mit diesem elenden Namen anzureden?«

»Höchstwahrscheinlich. Die Kriegszeiten. Wir alle müssen uns mit einigen Unannehmlichkeiten abfinden.«

»Dann werde ich meinen patriotischen Beitrag leisten. Das Frühstück ist gleich fertig. Wenn du dich vorher waschen willst, mache ich Wasser warm.«

»War’ wohl besser, sonst sieht dein Haus wie ein Schlammloch aus.«

Sie überraschte ihn damit, daß sie ihn am linken Ärmel festhielt. »Laß dich anschauen. Geht’s dir gut? Wie ich höre, soll es bald zu schweren Kämpfen kommen. Bis jetzt hast du den Winter überlebt – eine große Anzahl anderer Männer hat das nicht, so heißt es.« Sie schüttelte verärgert den Kopf. »Lachst du über mich?«

»Nein, Ma’am. Aber eben sind ein halbes Dutzend Feststellungen und Fragen an mir vorbeigepfiffen. Worauf soll ich zuerst eingehen?«

Sie errötete, zumindest kam es ihm so vor.

»Zuerst?« wiederholte sie, die Schinkenstücke in der schwarzen Eisenpfanne wendend. »Wie’s dir geht. Ich habe nichts von dir gehört. Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Hab’ ich dir nie erzählt, daß ich ein schlechter Briefeschreiber bin? Außerdem – die Armeepost ist so langsam wie eine Schnecke. Dein Geschenk kam mit Verspätung an. Ich danke dir, daß du an mich gedacht hast.«

»Wie könnte ich nicht?« Dann hastig, mit abgewandtem Gesicht: »Zu Weihnachten.«

»Das Buch ist hübsch.«

»Aber du hast es nicht gelesen.«

»Hatte noch keine Zeit.«

»Wenn das keine Ausrede ist. Wie lange kannst du bleiben?«

»Bis morgen früh, falls ich dich damit nicht kompromittiere. Ich kann im Stall bei meinem Pferd schlafen.«

Wieder eine Hand in der Hüfte: »Vor wem sollte es mich kompromittieren? Washington? Bosworth? Sie sind beide diskrete, tolerante Männer. Ich habe ein Ersatzzimmer mit einem Bett, und kein Nachbar ist weniger als eine Meile entfernt.«

»Schon gut, aber ich muß mir trotzdem Sorgen um dich machen. Hier wird’s wahrscheinlich zu Kämpfen kommen, und du bist – «

Ein sanftes Klatschen. Ein Schlammklumpen hatte sich von seiner Hose gelöst und lag nun auf dem Boden. Ungeschickt und verlegen bückte er sich danach. Sie wedelte mit dem Löffel.

»Runter mit dem Zeug, danach essen und reden wir. Geh in mein Zimmer. Ich schicke dir einen der Männer mit Wasser für die Wanne und einem Nachthemd von Barclay. Laß die Uniform im Flur, ich bürste sie dir dann aus.«

Gus Barclays bloße Anwesenheit lockte ihn aus den dunklen Höhlen seines Inneren, wo er in letzter Zeit gehaust hatte. Er sank in das heiße Wasser der Zinkwanne und schrubbte sich mit selbstgemachter Seife ab. Dann zog er das Nachthemd an und kehrte in die Küche zurück, wo sie ihm ein schlichtes, herzhaftes Essen vorsetzte. Auch die befreiten Sklaven aßen hier. Charles erkannte schnell, daß die beiden und Gus eine Familie bildeten; eine Familie, in der er auf der Stelle willkommen geheißen wurde.

Nachdem er seine gesäuberte Kleidung wieder angezogen hatte, machten sie einen gemütlichen Spaziergang, und sie zeigte ihm ihre Felder und Gebäude. Eis und Schnee schmolzen, die Temperaturen stiegen, und ein Hauch von Frühling lag in der Luft. Sie sprachen über viele Dinge. Von Richmond, wo sie im Herbst zweimal Produkte ihrer Farm verkauft hatte. »Ich hatte den Eindruck, daß in der Stadt alle damit beschäftigt sind, sich gegenseitig in irgendeiner Form übers Ohr zu hauen.«

Über seine verlorenen Illusionen bei der Armee. »Stabsoffiziere sind ganz schön beschäftigt. Ich schätze, sie verbringen fünfzig Prozent ihrer Zeit mit politischen Machenschaften, fünfzig Prozent mit Papierkrieg und fünfzig Prozent mit Kämpfen.«

»Das sind hundertfünfzig Prozent.«

»Eben. Deshalb ist auch nicht viel gekämpft worden.«

Über ihren Onkel, Brigadier Jack Duncan. Sie hätte gern gewußt, wo er sich aufhielt, damit sie ihm schreiben konnte. Inoffizielle Kuriere – Schmuggler – konnten fast alles über die Grenzen zwischen Konföderation und Union befördern.

Dann sprach sie, übergangslos, von vergangenen Dingen. »Ich wollte ein Kind, Barclay ebenfalls. Aber ich wurde nur einmal schwanger, unter größten Schwierigkeiten.«

Sie schlenderten an einem kleinen Baumgarten entlang. Sie blickte ihn nicht an, während sie über das Kinderkriegen sprach, aber ansonsten war ihr keine Spur von Verlegenheit anzumerken, ebensowenig wie ihm.

»Während der ersten viereinhalb Monate war mir fast ständig schlecht. Eines Nachts verlor ich dann ganz plötzlich das Kind. Ich mag Pope zitieren können, aber in einfachen Dingen bin ich nicht so gut wie die alte Kuh im Stall, die uns mit Milch und Kälbern versorgt.«

Sie machte einen Witz daraus, aber ihr Kopf blieb gesenkt.

Zum Abendessen bereitete sie Roastbeef. Washington sagte, er und Boz hätten zu tun und könnten nicht am Essen teilnehmen. Gus akzeptierte das Märchen, ohne nachzufragen. Sie und Charles aßen im Scheine des Küchenherdes – eine der besten Mahlzeiten, die er je gekostet hatte.

Sie brachte einen Krug mit Rum auf den Tisch und schenkte Charles und sich einen Becher ein.

Jeder von ihnen spürte, wie einsam das Haus gelegen war, spürte die aufquellenden Emotionen des anderen. Charles schlug unter dem Tisch die Beine übereinander. Sie begann mit Tellern, Gabeln, Löffeln herumzuhantieren, machte sauber. »Du mußt müde sein – und du hast morgen einen weiten Ritt vor dir, nicht wahr?«

»Zweimal ja.« Er wollte zu ihr gehen, sie in die Arme nehmen, wollte die Nacht in ihrem Schlafzimmer verbringen. Es war nicht der Sinn für Anstand, der ihn daran hinderte, oder die Furcht, sie könnte nein sagen, obwohl das durchaus der Fall sein mochte. Es war eine innere Warnung, die er früher schon vernommen hatte; eine Warnung bezüglich der Zeit und des Ortes und der Umstände, die sie zusammengeführt hatten.

Er schob sich vom Tisch weg. »Ich leg’ mich wohl besser hin.« Er fühlte sich angenehm müde. »Es ist ein wunderbarer Tag gewesen.«

»Ja, für mich auch. Gute Nacht, Charles.«

Er beugte sich zu ihr hinunter und küßte sie zart auf die Stirn. »Gute Nacht.« Er drehte sich um und ging in das leerstehende Zimmer.

Eine Stunde lang lag er unter der Decke und beschimpfte sich: Ich hätte sie in die Arme nehmen sollen. Sie wollte es. Ich hab’ es in ihren Augen gesehen. Er schleuderte die Decke beiseite, tappte zur Tür. Lauschte auf nächtliche Geräusche im Haus. Griff nach der Tür. Hielt inne, die Fingerspitzen nur einige Zentimeter entfernt. Fluchte und ging zurück zum Bett.

Mit klopfendem Herzen erwachte er, ganz plötzlich auf der Hut. Er hörte Geräusche im Flur, untypische Geräusche. Licht drang unter der Tür herein. Barfuß, im geborgten Nachthemd, riß er die Tür auf. Augusta Barclay stand lauschend an der Treppe. Sie trug einen leichten Morgenmantel aus Baumwolle, oben offen; ihr blondes Haar hatte sie zu Zöpfen geflochten.

»Was ist los?« sagte er.

Sie eilte den Flur entlang, in einer Hand ein altes Gewehr, in der anderen eine Lampe, die schräge Schatten warf. »Ich hab’ draußen was gehört.« Dicht vor ihm blieb sie stehen. Deutlich sah er, wie ihre Brustwarzen unter dem weichen Stoff hart wurden. Jegliche Vernunft und Beherrschung ließen ihn im Stich. Er legte seine rechte Hand auf ihre Brust, beugte sich zu ihr, atmete tief die Nachtwärme ihrer Haut und ihres Haares ein.

Sie preßte sich gegen ihn, mit geschlossenen Augen und geöffneten Lippen. Ihre Zunge berührte die seine. In dem Moment klopfte es.

Sie wich zurück. »Was hast du aus mir gemacht, Charles Main?«

Das Klopfen wurde lauter, dazu kam noch Washingtons drängende Stimme. Charles holte seinen Revolver aus dem Schlafzimmer und rannte ihr nach zur Hintertür, wo die beiden aufgeregten Freigelassenen standen.

»Tut mir mächtig leid, mitten in der Nacht, Miz Barclay«, sagte Washington. »Aber da ist mächtig viel Aufruhr auf der Straße.« Jetzt hörte Charles es auch: quietschende Achsen, klappernde Hufe, fluchende Männer.

Gus winkte mit dem Gewehr. »Komm rein und schließ die Tür.« Sie stellte die Lampe ab.

Charles eilte ins Wohnzimmer, duckte sich neben das dunkle Fenster und kam bald darauf beruhigt zurück. »Ich sah die Buchstaben CSA auf zwei Wagenplanen. Sie bewegen sich in Richtung Fredericksburg. Ich glaube nicht, daß wir belästigt werden.«

Wieder im Wohnzimmer standen Charles und Gus nebeneinander am Fenster, sorgfältig darauf bedacht, einander nicht zu berühren, und beobachteten die im hellen Mondlicht vorüberziehenden Fahrzeuge. Als sie schließlich verschwanden, sah Charles das erste Aufblitzen des Tageslichts. Nun war keine Zeit mehr, ins Bett zurückzukehren, aus welchem Grund auch immer.

Gus begann Kaffee aufzubrühen. Und so endete die Nacht und der Besuch. Nach dem Frühstück brach er auf. Sie begleitete ihn bis zur Straße. Sport, gut ausgeruht, tänzelte, konnte es kaum erwarten.

Sie berührte seine behandschuhte Hand, dort, wo sie auf seinem linken Bein ruhte. »Wirst du wiederkommen?«

»Wenn ich kann. Ich möchte es.«

»Bald?«

»General McClellan wird da ein gehöriges Wörtchen mitzusprechen haben.«

»Charles, sei vorsichtig.«

»Du auch.«

Sie hob seine Hand und preßte sie gegen ihre Lippen, dann trat sie zurück. »Du mußt kommen. Ich bin seit Jahren nicht mehr so glücklich gewesen.«

»Ich auch nicht«, sagte er und trieb Sport auf die Straße, in die die Wagen tiefe Furchen gepflügt hatten.

Er winkte, starrte über die Schulter zu der kleiner werdenden Gestalt. Unmöglich, seine Gefühle länger zu verleugnen.

Du versuchst es besser. In Kriegszeiten konnte kein Mann einer Frau ein Versprechen geben und sicher sein, es auch halten zu können.

Er erinnerte sich an die Wärme ihres Busens, ihres Mundes, er dachte an ihr Haar, an die köstliche Berührung ihrer Zungen, bevor Washington geklopft hatte.

Er durfte sich in nichts verstricken.

Er hatte sich bereits verstrickt.

Er stand nicht im Begriff, sich zu verlieben.

Das war bereits geschehen.

Was zum Teufel sollte er nun tun?

52

Am ersten Samstag im April war die Stimmung in James Bullochs Liverpooler Büro so beschwingt wie die Frühlingsluft. Captain Bulloch war erst kürzlich von einer schnellen, aber ereignislosen Blitzfahrt durch die Blockade zurückgekehrt; in Savannah hatte er mit einigen von Mallorys Männern konferiert, obwohl er Cooper darüber keine Einzelheiten mitgeteilt hatte.

Das Büro sonnte sich immer noch im Erfolg des ersten Projekts. Am 22. März hatte der Schraubendampfer Oreto von den Toxteth-Docks abgelegt, ohne daß die Krone eingegriffen hätte; lediglich zwei von Konsul Dudleys Detektiven hatten vom Dock aus fluchend zugeschaut, aber das war auch schon alles gewesen.

Bulloch hatte den Namen Oreto erfunden, um die Behörden zu verwirren. Während sie bei William Miller gebaut wurde, hatte die Werft sie in ihren Büchern als Mittelmeer-Handelsschiff geführt, bestimmt für Palermo. Tatsächlich war ihr erstes Ziel Nassau. Der für die Atlantiküberquerung angeheuerte britische Kapitän würde dort das Kommando an Captain Maffitt von der Marine der Konföderierten übergeben. Die Bewaffnung, einem Kanonenboot entsprechend, folgte getrennt auf Bark Bahama.

Niemand wußte, wie lange diese Methode, die britischen Gesetze zu umgehen, funktionieren würde. Hoffentlich lange genug, daß ihr zweites Schiff noch zu Wasser gelassen werden konnte. Die Fertigstellung des zweiten Kanonenbootes mußte mit allen Mitteln vorangetrieben werden, da aus Lincolns lächerlicher, nur auf dem Papier bestehender Blockade sehr schnell eine echte, großen Schaden anrichtende wurde, je mehr Yankee-Kriegsschiffe Stellung bezogen. Die Florida – so würde die Oreto nach ihrer Indienststellung heißen – hatte eine genau definierte Mission: Sie sollte Handelsschiffe des Nordens kapern oder versenken und damit die Kosten der Schiffahrtsversicherungen in schwindelnde Höhen treiben. Als nächstes, so die Annahme der Konföderation, würden die Besitzer von Handelsschiffen Lincoln mit ihrem Gejammer in den Ohren liegen und Schutz verlangen. Lincoln wäre gezwungen, dafür Schiffe von der Blockade abzuziehen.

Ein zweites Schiff, schnell und gut bewaffnet, konnte den Druck verstärken. Dieses Schiff ging drüben bei Lairds seiner Vollendung entgegen. Bullochs Codename dafür lautete Enrica. Und die Arbeiten an der Enrica mußten beschleunigt werden; diese Botschaft hatte Cooper an diesem Frühlingssamstag weiterzugeben. Das war nicht so einfach, wie es sich anhörte, denn weder er noch Bulloch noch sonst jemand vom Büro wagte es, Laird-Gelände zu betreten. Dudley hatte überall seine Spione. Entdeckten sie Südstaatler auf der Werft oder im Gespräch mit einem der Eigentümer, dann würde der Yankee-Gesandte eine Untersuchung fordern, und die ganze Sache würde auffliegen. Aus diesem Grund war der Vertrag für die Enrica in geheimen Treffen in Number 1 Hamilton Square, Birkenhead, der Residenz von John Laird junior, ausgehandelt worden.

Cooper warf einen Blick auf seine Taschenuhr, sammelte seine Sachen zusammen und ging auf die Treppe zu. Bulloch tauchte aus der abgeteilten Ecke auf, die sein winziges Büro bildete.

»Richten Sie Judith meine besten Grüße aus.«

»Und grüßen Sie Harriott von mir.«

»Ich nehme an, Sie werden einen erholsamen Sabbat verbringen.«

»Das werde ich, nach dem Kirchgang.«

»Haben Sie unsere Spende dabei?«

»Ja.« Cooper tippte an seinen hohen Hut. Hinter Blicken und halben Lächeln hatten sie weitere Fragen, Antworten, versteckte Bedeutungen verborgen. Es gab zwei neue Angestellte im Büro; man konnte sich ihrer Loyalität noch nicht ganz sicher sein.

Im Hinabgehen grüßte er Prioleau, den Manager von Fräser & Trenholm, der gerade zum Gebäude zurückkehrte. Draußen wandte er sich nach links, gerade als die Glocken der Kirche von St. Nicholas die Viertelstunde schlugen. Die 4-Uhr-Fähre würde er leicht schaffen.

An der Ecke blickte er sich unauffällig nach allen Seiten um. konnte aber im Frühlingssonnenschein keine verdächtige Person entdecken. Er ging nach rechts auf den Mersey zu. Ein auslaufender Frachter fuhr vorbei. Er hörte das schwache Läuten der Schiffsglocke.

Cooper vermißte gelegentlich South Carolina. Er war keineswegs überzeugt davon, daß die Konföderation überleben würde. Die Anerkennung durch die beiden wichtigsten europäischen Nationen, England und Frankreich, war immer noch nichts weiter als eine Hoffnung, und militärisch schien sich auch nicht viel zu ereignen. Ein kluger Mann, ein Mann, der sich seine geistige Gesundheit bewahren wollte, tat, was er nun tat: sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren, nicht auf die bedrohlichen Hintergründe.

Der warme Sonnenschein tat ihm gut; entspannt lehnte er sich an die Reling der Fähre und dachte an seine Frau und andere erfreuliche Dinge. Die Fähre, vollgepackt mit Familien, Einkaufenden und Angestellten, deren Büros am Samstag schon frühzeitig schlossen, legte eine Minute nach vier vom City-Kai ab und hielt auf den Woodside-Kai zu, auf der anderen Seite des Merseys.

Cooper liebte den Betrieb im Hafen. Er liebte Liverpools dunkle, viereckige Gebäude, so solide wie die freundlichen Menschen, die sie bewohnten. Er liebte das bequeme Stadthaus, das er und Judith gefunden hatten, direkt gegenüber von Prioleaus Haus, nur durch den Abercromby Square getrennt. Er hatte sogar gelernt, schwarzen Pudding zu essen, eine einheimische Spezialität, die er allerdings ganz sicher niemals lieben würde.

Abends schlenderte Cooper gern an den Toxteth-Docks entlang, schaute sich die Sterne über dem Mersey und den Wirralbergen an und sagte sich, daß es eine gute Zeit, ein guter Ort war, wenn auch weit weg von zu Hause.

Während seine Gedanken wanderten und sein Blick über das Panorama der Docks am Liverpoolufer streifte, überfiel ihn plötzlich ein unangenehmes Gefühl. Er drehte sich um und sah den Mann zum erstenmal.

Ungefähr fünfzig, schätzte Cooper. Knollennase. Schnurrbart von gewaltigen Ausmaßen. Billiger Anzug, für das Wetter zu warm. Papiersack in einer Hand. Der Mann hielt hartnäckig das Ende einer Bank belegt, die bereits mit einer mageren Frau und ihren fünf Kindern überladen war. Aus dem Sack zog der Mann einen Porree. Mit großem Genuß biß er in die weiße Knolle.

Kauend warf der Mann Cooper einen Blick zu – nicht unfreundlich, bloß neugierig. Aber Cooper besaß mittlerweile Erfahrung im Aufspüren von Leuten, die zu Dudleys Rowdies gehören konnten. Gut möglich, daß es sich hier um einen neuen Mann handelte.

Er war nervös, als die alten, rußgeschwärzten Gebäude von Birkenhead vor ihm aufragten. Die Fähre schlug an, und Cooper ging als einer der ersten von Bord, schnell, aber nicht panikartig. Er drängte sich durch die Reihen der wartenden Kutscher und kletterte die gepflasterte Straße hoch, die zu einem Weg hinter dem Hamilton Square führte. Er flitzte hinein und drehte sich auf halber Strecke um. Keine Spur von dem Mann, der Porree aß.

Erleichtert betrat er das Wirtshaus Pig and Whistle, wo der Weg als Sackgasse endete.

Zu dieser Stunde hielten sich hier wie üblich nur ein paar Matrosen und Dockarbeiter auf. Cooper setzte sich an einen kleinen, runden Tisch, und die grauhaarige Frau des Besitzers brachte ihm einen Krug Bier, ohne eine Bestellung abzuwarten.

»Tag, Mr. Main. Evensong kommt zwei Stunden später.«

»So spät?« Er konnte seine Besorgnis nicht unterdrücken. »Warum?«

»Keine Ahnung, Sir.«

»Schon gut, Maggie. Danke.«

Verdammt. Zwei Stunden Zeit, die er totschlagen mußte. Der Mann auf der Fähre und jetzt das – gab es Ärger? Hatte Charles Francis Adam die Krone irgendwie überredet, die Enrica, Konstruktionsnummer 209, zu beschlagnahmen? Ein Schwarm alarmierender Phantasien wirbelte ihm im Kopf herum. Er zuckte zusammen, als die Glocke über der Tür bimmelte. Eine bullige Gestalt füllte das helle Rechteck.

Der Mann mit dem Porreesack kam schnurstracks auf seinen Tisch zu. »Mr. Cooper Main, wenn ich richtig informiert bin?« Ein schmieriges Lächeln; eine fleischige Hand wurde ausgestreckt. »Marcellus Dorking. Agent für private Nachforschungen.« Er zog seine Hand zurück. »Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«

Was zum Teufel sollte das? Matt Maguire, Broderick – keiner von Dudleys anderen Detektiven operierte derart kühn. Mit klopfendem Herzen sagte Cooper: »Ich kenne Sie nicht.«

Dorking glitt auf die lange Bank unter dem Fenster. Er legte den Sack auf den Tisch, rief nach einem Gin, holte einen Porree aus dem Sack und begann damit zu spielen, ein breites Lächeln auf dem Gesicht.

»Aber wir kennen Sie, Sir. Bullochs Bursche – richtig, eh? Kein Problem. Wir bewundern einen Mann mit Gewissen.«

»Wer ist wir?«

»Nun, wir, das sind die Parteien, die mich baten, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, Sir.« Er biß den Porree mittendurch und kaute lautstark. Mit vollem Mund sagte er: »Parteien, die sich durch Captain Bullochs Interpretation des Auslandsanwerbungsgesetzes gestört fühlen.«

Cooper spürte, daß er sich in Schwierigkeiten befand. Würde er durchsucht werden? Würde die Nachricht in seinem Hut entdeckt werden? Unklug, so was schriftlich festzuhalten, erkannte er mit einiger Verspätung, aber keiner in Bullochs Büro war ein berufsmäßiger Spion.

Würde er verhaftet werden? Eingesperrt? Wie konnte er Judith benachrichtigen?

Dorking griff nach dem nächsten Porree. »Sie steh’n auf der falschen Seite, Sir. Dieses Niggersklavenzeugs – meine Frau ist sehr dagegen. Ich übrigens auch.«

»Entspringt Ihre Überzeugung Ihrem Gewissen oder Ihrem Geldbeutel, Dorking?«

Der Mann machte ein finsteres Gesicht. »Ich würd’ keine Witze reißen, Sir. Sie sind Ausländer, in schwere Gesetzesübertretungen verwickelt. Oh, ich kenn’ den Trick, Sir – Werften dürfen für kriegführende Länder, mit denen Großbritannien sich im Frieden befindet, keine Kriegsschiffe bewaffnen und ausrüsten. Aber nichts in dem Gesetz besagt, es sei illegal, ein Schiff hier zu bauen«, er wedelte mit dem grünen Stengel vor Coopers Nase herum, »und Kanonen und Pulver und Granaten dort zu kaufen«, der Porree flog davon, als er den Arm ausstreckte, »um sie dann drei oder mehr Seemeilen von unserer Küste entfernt zusammenzubringen.«

Cooper schwieg. Dorking beugte sich drohend vor. »In Ihrem Fall könnte man jedoch darüberwegseh’n – vielleicht sogar ein kleines Sümmchen zahlen –, wenn meine Klienten einige kurze Berichte über Ziel und Zweck eines Schiffes, das als 209 oder auch Enrica identifiziert wurde, erhalten würden. Wir sind doch immer noch auf gleichem Kurs, nicht wahr, Sir?«

Trotz seiner Furcht bleich vor Wut sagte Cooper: »Sie bieten mir Bestechungsgeld an, ja, Mr. Dorking?«

»Nein, nein! Lediglich etwas mehr finanzielle Sicherheit, Sir. Nur einige hilfreiche Fakten – zum Beispiel eine Erklärung für das merkwürdige Benehmen einiger Matrosen, die kürzlich in der Canning Street gesehen wurden. Sie marschierten mit Pfeifen und Trommeln und spielten eine Melodie namens ›Dixie’s Land‹. Die gleichen Jungs waren kurz zuvor bei John Lairds gesichtet worden. Innerhalb des Tores. Hab’ ich mich klar ausgedrückt? Na, was hat das für Sie zu bedeuten, Mr. Main?«

»Für mich bedeutet das, den Jungs gefällt die Melodie von ›Dixie’s Land‹, Mr. Dorking. Und für Sie?«

»Daß Laird vielleicht eine Mannschaft anheuert, Sir. Für den Probelauf des neuen Kriegsschiffs der Konföderation, könnte das nicht sein?« Der Agent für Nachforschungen warf den halben Porree auf den Tisch und brüllte zu Maggie hinüber: »Wo bleibt mein verdammter Gin, Frau?« Er gab Cooper Gelegenheit, seine schmalen Augen und seine zusammengebissenen Zähne zu bewundern, ehe er sagte: »Ich will offen zu Ihnen sein, Sir. Wenn Sie uns helfen, dann ist mehr als nur ein kleines Honorar für Sie drin. Sie haben auch noch die Gewißheit, daß Ihre Frau und die Kleinen in Sicherheit sind.«

Maggie war am Tisch angekommen. Cooper riß ihr das Glas aus der Hand und schüttete Dorking den Gin ins Gesicht. Der Mann fluchte; mit der linken Hand packte ihn Cooper an der Kehle.

»Wenn ihr meine Frau oder Kinder anrührt, dann find’ ich dich und bring’ dich persönlich um.«

»Ich hole Percy«, sagte Maggie und ging schon los. »Meinen Mann. Der wiegt zwei Zentner.«

Als Dorking das hörte, schoß er zur Tür, hielt dort nur lange genug, um zurückzurufen: »Niggerprügelnder Bastard. Wir werden dich aufhalten.« Er schüttelte den Papiersack. »Verlaß dich drauf!« Die Glocke bimmelte noch lange, nachdem die Tür zugefallen war.

»Alles in Ordnung, Sir?« fragte Maggie.

»Ja.« Cooper schluckte; der Schock setzte ein. Er konnte es nicht fassen, daß er gegen Dudleys Mann so gewalttätig vorgegangen war. Die Drohung gegen seine Familie hatte das provoziert.

Der Vorfall hatte ihn erschüttert. Er trank sein Bier aus und anschließend noch ein zweites, blieb aber stocknüchtern; hier war keine Erleichterung zu finden. Die Schatten auf dem Weg wurden länger und länger, und schließlich war es an der Zeit, zur Kirche von St. Mary, Birkenhead, aufzubrechen. Die Kirche lag nahe am Mersey, praktisch direkt neben Lairds und dem Schiff, das er noch nie gesehen hatte.

Innerlich angespannt, aber ohne Zwischenfall erreichte er die Kirche. Ein unauffälliger Mann löste sich von der Seite des Gebäudes. Er entschuldigte sich und lieferte eine kurze Erklärung für die Verspätung. Dann, nachdem beide die Umgebung nach möglichen Beobachtern abgesucht hatten, setzte Cooper seinen Hut ab und übergab dem Mann die zusammengefaltete Botschaft, der sich damit schnell entfernte. Das war alles.

Cooper rannte den größten Teil des Weges zur Anlegestelle der Fähre, verpaßte sie aber um drei Minuten und mußte eine Stunde auf die nächste warten. Wieder lehnte Cooper an der Reling, ohne allerdings das Wasser oder die Stadt wahrzunehmen; er sah nur Augen und Schnurrbart und malmende Zähne von Marcellus Dorking vor sich.

Wir werden dich aufhalten.

In seinem Kopf formte sich eine Frage, die ihn noch vor einer Woche in schallendes Gelächter hätte ausbrechen lassen. Aber nun –

»Sir?«

»Was ist?« Er erschrak, wurde dann verlegen; der Mann, der sich von hinten angeschlichen hatte, gehörte zur Mannschaft der Fähre.

»Wir haben angelegt, Sir. Alle anderen sind schon von Bord.«

»Oh. Danke.«

Stirnrunzelnd ging er in die Abenddämmerung des Frühlingstages hinein; lautlos die Frage wiederholend, die nichts Lächerliches mehr an sich hatte: Soll ich mir eine Waffe besorgen?

53

»Übernehmen Sie das Regiment, Colonel Bent!«

Wieder und wieder hallte das Kommando in seinem Kopf nach. Er hörte es trotz des Krachens der Artillerie in der kühlen Sonntagsluft. Hörte es trotz des Knatterns der Gewehre, hörte es trotz der erschreckten Schreie der untrainierten Männer aus Ohio, mit denen er die Stellung halten sollte. Hörte es trotz des Höllenlärms dieses Aprilmorgens.

»Übernehmen Sie das Regiment, Colonel Bent!« Der Blick des Divisionskommandeurs war im Stabshauptquartier nahe des kleinen Shiloh-Versammlungshauses auf ihn gefallen, eine Stunde nach den ersten leichten Gefechten, nachdem die Spähtrupps düstere Gewißheit gebracht hatten. Da draußen im Südwesten lag Albert Sidney Johnstons Armee, und sie hatten sich von ihr überraschen lassen.

Bent war in dieser Klemme, weil ihn der Divisionskommandeur nicht leiden konnte. Der Kommandeur hätte einen Junior-Offizier mit der Führung des Ohio-Regiments beauftragen können, nachdem der Colonel, der Lieutenant Colonel und der Adjutant als gefallen gemeldet worden waren. Statt dessen schickte er einen Colonel vom Stab – einen, dem gegenüber er sich seit ihrer ersten Begegnung schroff und unfreundlich benommen hatte.

Hatte je ein Offizier unter schlimmeren Bedingungen dienen müssen? Der General war ein versoffener Narr, der Divisionskommandeur ein kleiner Leuteschinder, der aus lauter Angst vor Albert Sidney Johnston im letzten Herbst einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Bent war überzeugt davon, daß es sich bei William Tecumseh Sherman um einen Irren handelte. Und rachsüchtig war er auch noch. »Übernehmen Sie das Regiment, Colonel Bent!«

Dann sagte Sherman etwas, wofür ihn Bent mehr haßte als je einen anderen Menschen zuvor, mit Ausnahme von Orry Main und George Hazard: »Und lassen Sie sich nicht von mir erwischen, daß Sie mit ausgestreckter Hand hinter einem Baum stehen und sich freiwillig für einen Urlaub melden. Ich kenne Sie und Ihre Washingtoner Verbindungen.«

Diese Verbindungen hatten Elkanah Bent gerettet; zumindest hatte er das bis zu diesem Morgen angenommen. An dem Tag, an dem er zusammen mit Elmsdale in den Zug nach Westen gestiegen war, hatte er einen höflichen, entschuldigenden Brief – einen letzten Bittappell – an Rechtsanwalt Dills geschrieben und abgesandt. Als er in Kentucky ankam, lagen neue Befehle vor; eine Versetzung vom Frontdienst zum Stabsdienst bei Anderson.

Dann wechselten die Kommandos, wie es ständig der Fall war. Anderson wurde durch Sherman ersetzt, dessen Bruder ein einflußreicher Ohio-Senator war. Hatte der kleine Irre irgendwie Wind davon bekommen, daß hinter den Kulissen an den Fäden gezogen worden war? Bent wußte es nicht; er wußte lediglich, daß der Kommandeur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, ihn zu bestrafen.

Gegen den Rauch blinzelnd sah Bent jetzt seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt: eine neue Angriffswelle formierte sich dort in den Wäldern. Hardees Männer, ein dreckiger Haufen in schäbigen Uniformen. Auf der Anhöhe des sanften Hanges, den die Rebellen erstürmen wollten, lagen Bents unerfahrene Ohio-Männer hinter Bäumen und Sträuchern. Die Bundestruppen waren an ihren Frühstücksfeuern überrascht worden; sie hatten nicht geschanzt, weil General Grant das nicht für nötig befunden hatte. Halleck hatte guten Grund, Grant zu mißtrauen.

Zitternd sah Bent dem Ansturm der Rebellen entgegen. »Haltet die Stellung, Jungs«, rief er und zwang sich, hinter einer dicken Eiche hervorzutreten und sein Fernglas anzusetzen. Viel lieber hätte er sich hinter dem Baum zusammengeduckt und den Kopf eingezogen.

Die erste graue Welle begann zu feuern. Bent jaulte auf und sprang in den Schutz des Baumes zurück. Der Südstaatenabschaum stieß wilde Schreie aus, diese Schreie, die zu einem Markenzeichen bei Konföderiertenangriffen geworden waren. Für Bent hörte es sich wie das Geheul wahnsinniger Hunde an.

Überall hörte er die Kugeln pfeifen. Links von ihm zuckte ein Soldat plötzlich hoch, als wäre er angehoben worden. Ein Stück seines Gesichts flog davon, dann kippte er nach hinten weg, als die Kugel sein Gehirn traf.

Die Rebs waren bis auf fünfzig Yards herangekommen, zimtfarben und grau; Bärte und Lumpen; riesige brennende Augen und riesige aufgerissene Münder. Granateinschläge befleckten den blauen Himmel; Rauch wehte aus den Baumwipfeln; die Erde bebte, und Bent hörte einen noch viel lauteren Schrei.

»Oh nein, mein Gott – nein.«

Die ersten Rebs erreichten die Männer aus Ohio, die noch nie in einer Schlacht gestanden hatten. Ungeschickt versuchten sie die zustechenden Bajonette der Angreifer abzuwehren. Bent sah, wie Stahl in einen blauen Waffenrock drang und auf der anderen Seite rotgefärbt herauskam. Wieder ertönte der Schrei.

»Oh, Gott, nein!«

Mit seinem Säbel schlug er auf den Rücken eines Ohio-Soldaten ein. Wild rudernd stolperte er durch das hohe Gras, direkt auf den Fersen des Soldaten. Die Rebs stürmten den Hügel, die Männer aus Ohio flüchteten, gaben ihre Stellung auf. Bent schlug auf den blauen Rock vor sich ein, bis der Mann stolperte und hinfiel. Bent raste vorbei, schnell trotz seiner Massigkeit.

Er warf seinen Feldstecher und seinen Säbel fort. Hunderte rannten zwischen den Bäumen durch, auf Pittsburg Landing am Tennessee River zu. Ein Regiment nach dem anderen geriet ins Wanken und löste sich auf. Er mußte sich selbst retten, auch wenn dabei jeder andere Soldat unter seinem Kommando draufging; er war mehr wert als sie alle zusammen.

Die vor ihm Fliehenden hatten bereits einen Pfad getrampelt. Ein kleiner, hinkender Soldat, der den Rand einer Trommel umklammerte, blockierte seinen Weg. Bent packte die schmalen Schultern des Trommlers und schleuderte ihn zur Seite; der Blick des Jungen traf ihn, verängstigt und vernichtend zugleich. Dann verlor der Junge die Balance und fiel neben dem Pfad zu Boden. Bent rannte weiter.

Seine Panik wuchs noch, als er sich durch einen Bach kämpfen mußte. Er hörte das Jaulen einer Granate, warf seine Arme um einen Baum, schloß die Augen und verbarg sein Gesicht. Kurz vor dem Moment, in dem die ganze Welt in die Luft flog, erkannte er, wer »Oh Gott, nein« geschrien hatte.

Er selbst hatte geschrien.

Er erwachte im prasselnden Regen. In den ersten verständnislosen Augenblicken glaubte er, tot zu sein. Dann hörte er die Schreie in der Dunkelheit. Stöhnen. Plötzliches Aufbrüllen. Schnüffelnd tastete er sich von den Knöcheln über den Unterleib bis zur Kehle nach Verletzungen ab. Er war durchnäßt, steif, alles tat ihm fürchterlich weh. Aber er war unverletzt. Unverletzt. Herr im Himmel. Er hatte den Tag überlebt.

Ein Blitz zuckte über den Ästen auf. Als der Donner folgte, begann er zu kriechen. Er glaubte Wasser zu riechen, kroch schneller.

Wieder ein Blitz; Donner; und dazu der unaufhörliche Chor der Verwundeten. Tausende mußten in den Wiesen und Wäldern um das Shiloh-Versammlungshaus liegen. Wer hatte die Schlacht gewonnen? Er wußte es nicht und kümmerte sich auch nicht darum.

Seine Hände versanken im Schlamm. Er streckte sie aus, klatschte ins Wasser. Sein Mund war ausgedörrt. Mit beiden Händen schöpfte er, trank und hätte sich beinahe übergeben. Was war mit dem Wasser los?

Ein Blitz erhellte treibende Körper. Rote Flüssigkeit tropfte aus seinen Handschalen. Er krümmte sich zusammen und würgte. Nichts kam hoch. Er war verwirrt, hatte die Orientierung verloren. Ich bin in Mexiko. Das ist Mexiko.

Er durchquerte den Bach, taumelte gegen Bäume, stolperte über einen Felsen, stürzte keuchend zu Boden. Seine Hand berührte etwas, tastete den Gegenstand ab. Ein Bajonett. Ein grellweißer Blitz tauchte alles in blendende Helligkeit. Das Bajonett steckte im Genick eines weiteren Trommlers, hatte ihn am Boden festgespießt. Bent schrie, bis er keine Kraft mehr hatte.

Er taumelte weiter. Die rasch aufeinanderfolgenden Schocks begannen eine unerwünschte Wirkung auszuüben: Sein Verstand wurde klar, begann wieder zu funktionieren. Er wehrte sich dagegen, aber es half ihm nichts; er war gezwungen, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen.

Obwohl er sich genau so wie die anderen benommen hatte, war sein Verbrechen schlimmer, weil er das Kommando gehabt hatte. Außerdem war er als einer der ersten geflohen. Er wußte, die Männer aus Ohio würden die Geschichte verbreiten. Dieses Schandmal würde ihn ruinieren. Das durfte nicht geschehen.

Schluchzend kehrte er um, tränkte seine Hosen mit seinem eigenen Urin; es war ihm egal. Er suchte so lange, bis er den kleinen Trommler gefunden hatte.

Ich kann es nicht, dachte er.

Nur so kannst du dich retten.

Schwitzend und keuchend packte er das Bajonett und zog sanft, drehte sanft, befreite es sanft vom Fleisch des Jungen. Dann stemmte er sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm und sammelte Mut.

Noch einmal drehte er den Kopf zur Seite und schloß die Augen. Rein nach Gefühl richtete er die Spitze des Bajonetts gegen seinen linken Oberschenkel.

Dann stieß er zu.

Beide Seiten beanspruchten den Sieg bei Shiloh für sich. Doch Grant hatte am zweiten Tag die Offensive geführt, und die konföderierte Armee hatte sich nach Corinth zurückgezogen; einer ihrer großen Helden, Albert Sidney Johnston, war in der Schlacht gefallen. Diese Tatsachen drückten mehr aus als die von beiden Seiten abgegebenen Erklärungen.

Im Hospital erfuhr Elkanah Bent, daß die Ohio-Männer kein Einzelfall gewesen waren. Tausende waren geflohen. Versprengte Regimenter waren überall am Ufer des Tennessee gefunden worden, wo sie in Sicherheit dem Schlachtgetöse am Sonntag lauschten; diese Schlacht ging verloren, bis die Union am Montag den Spieß umdrehte und einen Sieg an ihre Fahnen heften konnte.

Damit war die Bedrohung, der sich Bent gegenübersah, jedoch nicht aus der Welt geschafft. Sein Verhalten war bald schon Gegenstand einer Untersuchung. Er wurde ein Experte darin, seine Geschichte wieder und wieder zu erzählen. »Ich bin tatsächlich gerannt, Sir. Um meine Männer aufzuhalten. Um die Flucht zu stoppen.«

Auf die Frage nach dem Ort, wo er bewußtlos aufgefunden worden war – am Owl Creek, fast eine Meile von der Stellung seines Regiments entfernt –, erwiderte er: »Der Reb, gegen den ich kämpfte – der mir den Bajonettstich zufügte –, erwischte mich in der Nähe unserer ursprünglichen Front. Die Lage meiner Wunde beweist das. Meine Erinnerung an das, was nach dem Stich geschah, ist sehr lückenhaft; ich weiß nur noch, daß ich den Reb niedermachte und dann losrannte, um die allgemeine Flucht zu stoppen.«

Die Untersuchung landete schließlich bei Sherman, zu dem er sagte: »Ich rannte, um meine Männer aufzuhalten. Um die Flucht zu stoppen.«

»Laut einigen Zeugen«, sagte der General kalt, »gehörten Sie zu den ersten, die flüchteten.«

»Ich bin nicht geflüchtet, Sir. Ich versuchte die Flüchtenden aufzuhalten. Das werde ich vor jedem Kriegsgericht wiederholen – und vor jedem Zeugen, der mich zu beschuldigen versucht. Das Regiment, das Sie mir zuteilten, bestand aus Männern, die noch nie in einer Schlacht gewesen waren. Wie so viele andere bei Shiloh rannten sie. Ich rannte ihnen nach, um sie zu stoppen. Um die Flucht zu stoppen.«

»Herr im Himmel, könnten Sie mir das vielleicht ersparen?« sagte Sherman und spuckte auf den Boden neben seinem Feldschreibtisch. »Ich will Sie nicht länger unter meinem Kommando haben.«

»Bedeutet das, Sie beabsichtigen – «

»Sie werden herausfinden, was es bedeutet, wenn ich es für richtig halte. Abtreten!«

Bent salutierte und hoppelte mit seiner Krücke hinaus.

Seine Nerven waren in schlimmerem Zustand als seine Wunde. Was würde dieser kleine Wahnsinnige tun, um ihn zu bestrafen?

Auf der Halbinsel südöstlich von Richmond führte McClellan ein paar folgenlose Scheingefechte mit Joe Johnston auf. Am Shenandoah schlug Stonewall Jackson die Yankees mit brillanten Manövern und tilgte damit einen Teil der Schmach von Shiloh. Unten am Mississippi dampfte Admiral Farragut an den Batterien der Konföderierten vorbei nach New Orleans. Die praktisch schutzlose Stadt ergab sich ihm am 25. April. Fast einen Monat nach seinem ungemütlichen Zusammentreffen mit Sherman bekam Bent einen neuen Posten zugewiesen.

»Stabsdienst bei der Golf-Armee?« sagte Elmsdale, als Bent ihm bei einer zufälligen Begegnung davon erzählte. »Das ist im Grunde eine Besatzungsarmee. Ein sicherer Posten, aber nicht gerade ein Gewinn für Ihre Karriere.«

»Das hier auch nicht«, grollte Bent und deutete auf sein Hosenbein. Der Stoff war von der Wundabsonderung durch den Verband hindurch feucht geworden.

Elmsdale schüttelte ihm die Hand und wünschte ihm alles Gute, aber Bent entdeckte eine gewisse Selbstzufriedenheit in den Augen des Colonels. In einem Schlachtfeldabschnitt, der auf den Namen Hornet’s Nest getauft worden war, hatte Elmsdale eine Schulterwunde empfangen; er war dafür öffentlich geehrt worden. Bent hatte sich mit Schimpf und Schande bedeckt, wofür er andere verantwortlich machte, angefangen von Sherman bis zu dem betrunkenen Baumeister des Shiloh-Sieges, Grant.

Elkanah Bent spürte, daß sein Stern im Sinken war, und er konnte wenig dagegen tun.

54

»Bringt die Wagen hoch«, brüllte Billy. »Wir brauchen Boote!«

Bis zur halben Stiefelhöhe im Schlamm stehend, stieß Lije Farmer den jüngeren Mann am Arm an. »Nicht so laut, mein Junge. Auf der anderen Seite könnten feindliche Posten stehen.«

»Die können mich nicht besser sehen, als ich sie sehen kann. Wie breit ist dieser verdammte dunkle Fluß überhaupt?«

»Das Oberkommando läßt uns derartige Informationen nicht zukommen und gibt keine topographischen Karten aus. Lediglich Befehle. Wir sollen den Black Creek überbrücken.«

»Verdammt passender Name«, sagte Billy finster.

Der Brückenzug – Pontonwagen, Balken- und Schienenwagen, Werkzeugwagen und die fahrbare Schmiede – hatte sich über schmierige Straßen gequält, nachdem es nachts zu regnen begonnen hatte. Für eine Weile hatte der Regen nachgelassen, aber jetzt goß es wieder in Strömen, und der Wind hatte aufgefrischt. Im Schein von drei Laternen, die an in den Schlamm gesteckten Stangen schwankten, betrachtete Billy die unvollendete Brücke. Es war riskant, auf diese Weise ihre Position zu verraten, aber sie brauchten unbedingt Licht; der Fluß war tief, das Wasser ging hoch, und die Strömung war schnell.

Niemand antwortete auf Billys Ruf, und er konnte keine weiteren Bootswagen in der Dunkelheit erkennen.

»Ich vermute, die sind im Schlamm steckengeblieben«, sagte Farmer. »Vielleicht schau’n Sie mal nach. Ich erledige das hier schon.« Er ließ seine alte Flinte in die Beuge seines linken Ellbogens gleiten. Die für diesen Dienst abgestellten Infanteristen hatten zwar die Aufgabe, das Baugelände abzuschirmen und zu bewachen, aber die Pioniere der Potomac-Armee hatten zu sich selbst größeres Vertrauen als zu diesen Greenhorns und arbeiteten selten ohne Waffen. Auch an Billys Hüfte lag ein Revolver.

Schlammbedeckt kämpfte er sich das Ufer zum Werkzeugwagen hoch. Er war sich nicht mal sicher, welches Datum sie schrieben; vielleicht den 10. April. General McClellans gewaltige Armee, angeblich doppelt so groß wie die kombinierten Konföderiertenstreitkräfte von Joe Johnston und Prince John Magruder, war per Schiff nach Fort Monroe gekommen, an der flachen Spitze der Halbinsel zwischen den Flüssen York und James. Die Einschiffung begann am 17. März, sieben Tage, nachdem Little Mac seiner Pflichten als Oberbefehlshaber enthoben worden war. Als Grund dafür wurde seine Weigerung, gegen Manassas zu ziehen, angesehen. Andere erwähnten lediglich den Namen Stanton; die Generale erstatteten ihm jetzt direkt Bericht.

Obwohl McClellans Kommando auf die Potomac-Armee reduziert worden war, kämpfte er weiter um das, was er wollte: mehr Artillerie, mehr Munition, McDowells Corps, das zur Verteidigung von Washington zurückgehalten wurde. Als die Regierung die meisten seiner Forderungen ablehnte, beschloß McClellan, Magruder zu belagern, anstatt ihn anzugreifen, eine Entscheidung, mit der viele, einschließlich Lije Farmer, nicht einverstanden gewesen waren.

»Was ist los mit ihm? Es heißt, er nimmt die Anzahl der Feindtruppen, die seine Pinkertonspione durchgeben, und verdoppelt sie – aber selbst dann sind unsere Streitkräfte noch überlegen. Wovor hat er solche Angst?«

»Davor, seinen Ruf zu verlieren? Oder vielleicht die nächsten Präsidentenwahlen?« Es war kein reiner Scherz, wie Billy das sagte.

Der Feldzug gegen Yorktown begann am 4. April. Die Aufgabe des Pionierbataillons bestand darin, Knüppeldämme zu bauen und Brücken über Flüsse zu schlagen, damit Männer und Artillerie gegen Magruders Linien vorrücken konnten, die sich über fast dreizehn Meilen zwischen Yorktown und dem Warwick River erstreckten. Scouts berichteten von zahlreichen großen Geschützen in den feindlichen Stellungen.

Er erreichte die Reihe der Pontonwagen, eine gute halbe Meile oberhalb der Brücke. Wie sie vermutet hatten, war es der Schlamm: Der erste Wagen steckte bis zu den Achsen drin.

Da war nichts zu machen; der Wagen blockierte die anderen. Eine Ausweichmöglichkeit bestand nicht. »Okay, Fahrer – ich schicke euch ein paar Männer, und wir tragen die Boote zum Wasserplatz. Wir sind spät dran.«

Irgendwo in der Finsternis brüllte eine Phantomstimme: »Wer hat den Mist gebaut?«

Ein anderer klagte: »Tragen? Vom letzten Wagen kommt das einer Meile verdammt nahe.«

»Mir egal, und wenn’s fünfzig sind«, sagte Billy und stürmte zurück zu Lije Farmer.

An der unvollendeten Brücke trödelten die erschöpften Infanteristen herum. Es gab nichts zu tun, bis das nächste Boot zu Wasser gelassen und an die Spitze geschoben worden war. »Ich brauche Männer, um die Boote zu tragen, Lije. Ich habe versucht, den Wagen herauszuholen, aber der hängt fest. Niemand kommt vorbei.«

Ein Gewehr blitzte in den Wäldern jenseits des Flusses auf. Auf der Brücke schrie ein Soldat und griff sich ans Bein. Langsam kippte er nach vorn, aber die anderen zerrten ihn zurück, ehe er ins Wasser fallen konnte. Gleichzeitig packte Farmer seine Flinte am Lauf und schlug die nächste Laterne vom Pfosten. Mit einem Satz war Billy bei der anderen Laterne, während Schüsse und Geschrei aus der Dunkelheit drangen. Nachdem sie sämtliche Laternen gelöscht hatten, zogen sie sich ans Ufer zurück und erwiderten das Feuer. Nach fünfzehn Minuten hörten die Hinterhaltsschüsse der Rebellen auf. Nach weiteren fünfzehn Minuten zündeten Billy und Lije die Laternen wieder an, und die Arbeit ging weiter.

Gegen halb drei hatten sie genügend Boote im Wasser und genügend Bohlen und Planken gelegt, um das andere Ufer zu erreichen. Billy schrieb eine kurze Meldung, daß die Brücke fertig sei und schickte sie mit einem Kurier zum Hauptquartier zurück. Lije ordnete eine Pause an. Die Männer schliefen im Freien, in bestmöglicher Deckung für sich selbst und ihr Schießpulver. Billy nieste zum vierten Mal, während ihm beunruhigende Gedanken durch den Kopf gingen.

»Lije? Haben Sie das von den Shiloh-Gefallenen gehört, bevor wir gestern abend loszogen?«

»Ja«, kam die Antwort von der anderen Seite des Baumes, an dem Billy lehnte. »Es heißt, jede Armee habe ein Viertel ihrer Männer verloren.«

»Es ist unglaublich. Der Krieg verändert sich, Lije.«

»Und wird das auch weiterhin tun.«

»Und wohin führt das?«

»Zum endgültigen Sieg der gerechten Sache.«

Da bin ich mir gar nicht sicher, ob wir das alle erleben werden, dachte Billy und schloß die Augen. Seine Zähne klapperten, und er fing an zu zittern. Trotzdem schlief er, im Regen sitzend, irgendwie ein.

Am frühen Morgen befestigten die Pioniere die letzten Kabel an der Brücke und suchten die Wälder auf der anderen Seite nach Rebellen ab; als sie keine finden konnten, machten sie Pause und warteten ab. Bald genug schon würden sie woandershin geschickt werden.

In einem nächtlichen Biwak in der Nähe von Yorktown sagte Charles zu Abner Woolner: »Wir reiten nun schon seit ein paar Wochen zusammen, aber ich weiß kaum was von dir.«

»Gibt nicht viel, Charlie. Ich kann nicht gut lesen, noch schlechter schreiben, und rechnen gar nicht. Bin nicht verheiratet. War mal, aber sie starb. Sie und das Baby.« Es nötigte Charles Bewunderung ab, wie er das so geradeheraus sagte, ohne jedes Selbstmitleid.

»Hab’ eine Farm in der Nähe der North Carolina Front«, fuhr der Scout fort. »Kleine Klitsche.«

»Was hältst du von diesem Krieg?«

Ab schob seine Zunge hin und her. »Könnte deine Gefühle verletzen, wenn ich’s sag’.«

Charles lachte. »Warum?«

»Weil ich euch Plantagennabobs und euer gottloses, verschwenderisches Leben da unten an der Küste nicht ausstehen kann. Ihr habt uns in dieses Schlamassel gezogen. Ein paar von euch hier sind ganz in Ordnung, aber nicht viele.«

»Besitzt du Sklaven, Ab?«

»Nein, Sir. Hab’ nie welche gehabt und würd’ nie welche haben. Könnt’ nicht sagen, daß ich besonders viel für die Schwarzen übrig hab’, aber ich würd’ schon meinen, daß niemand gegen seinen Willen Ketten tragen soll. Ich weiß, was für Leute ich mag. Dich. Major Butler. Hampton – ich hab’ gemerkt, als ich mich bei ihm meldete, daß ich für den Gentleman nicht groß genug war, um in seiner regulären Truppe zu dienen, aber er hat’s mit keinem Wort erwähnt. Ich zieh’ ihn diesem tollen Jeb Stuart jederzeit vor.«

»Ich auch. Beauty ist ein alter Klassenkamerad von mir, aus West Point, aber ich hab’ nicht mehr die Achtung vor ihm, die ich einst hatte. Ich teile deine Gefühle über Hampton. Über die meisten Plantagenbesitzer übrigens auch.«

Ab Woolner lächelte. »Ich wußte, daß es einen Grund gibt, weshalb ich dich mag, Charlie.«

In sein Journal schrieb Billy:

Der General ist ein Paradoxon. Er verlangt von uns, seine Belagerungsartillerie, alle zweiundsiebzig Geschütze, in Stellung zu bringen, um eine Feindstellung zu beschießen, die man, wie viele glauben, mit einem einzigen kompakten Angriff einnehmen könnte. Ein Laie würde glauben, hier werde eine mindestens einjährige Belagerung vorbereitet.

Fragen werden gestellt. Warum wird das alles so gehandhabt? Warum ist Richmond das Ziel und nicht die konföderierte Armee, deren Vernichtung zweifellos die vollständige Kapitulation nach sich ziehen würde? Aber solche Fragen, obwohl weit herum in der Luft, werden keineswegs in Hörweite der ultraloyalen Offiziere gestellt, die der General um sich geschart hat.

Das Paradoxon, von dem ich schrieb, besteht darin, daß der General wenig tut, jedoch ungemein geliebt wird. Die Männer, die von seiner Hand zur besten Kampftruppe, die es auf diesem Planeten gibt, geschmiedet wurden, warten müßig – und jubeln ihm zu, sobald er sich bei ihnen blicken läßt. Bejubeln sie ihn, weil er sie vor den Risiken des Kampfes bewahrt?

Brett, ich werde allmählich bitter. Aber in dieser Armee herrscht nun mal Vetternwirtschaft. Einige nennen den General ›McNapoleon‹. Es ist nicht als Lob gedacht.

Als sich die Konföderierten Anfang Mai aus Yorktown zurückzogen, gehörten die Pioniere zu den ersten, die die verlassenen Befestigungen stürmten. Billy rannte zu einer Geschützstellung, nur um bei diesem Anblick in lautes Fluchen auszubrechen. Das große, schwarze, in die Luft ragende Feldgeschütz war nichts weiter als ein angestrichener Baumstamm. Die Stellung enthielt fünf weitere Attrappen.

»Geschützattrappen«, sagte er angewidert.

Lije Farmers weißer, lang gewordener Bart wehte in der Maibrise. »Du hast mich getäuscht, und ich wurde getäuscht. Dem täglichen Spott bin ich preisgegeben – ein jeder macht sich lustig über mich.«

»Prince John ist ein Meisterartillerist. Amateurtheater liebt er auch noch. Eine tödliche Kombination. Ich frage mich, ob es noch mehr von den Dingern gibt?«

Es gab. Um die Demütigung zu vollenden, berichtete ein Deserteur, Magruder hätte in Yorktown ein paar Einheiten auf und ab marschieren lassen, um dem Feind zu suggerieren, er würde die Stellung mit wesentlich mehr als den dreizehntausend Mann halten, die er nun zurückgezogen hatte. Während Magruder den Feind mit Tricks und guten Nerven hingehalten hatte, war der Großteil der Rebellenarmee weiter oben auf der Halbinsel in Stellung gegangen, eine heimlich vorbereitete und leichter zu verteidigende Position. Little Macs Zögern hatte Johnston einen weiteren Vorteil verschafft – zusätzliche Zeit, um Verstärkungen aus dem westlichen Teil des Staates heranzuholen.

»Dieser verdammte Krieg mag sich eine ganze Weile hinzieh’n«, sagte Billy. »Unsere Seite mag mehr Fabriken haben, aber ich werde das Gefühl nicht los, die andere Seite hat mehr Hirn.«

Darauf hatte Lije keinen Bibelspruch parat.

Die Maiwälder rochen nach Regen. Charles, Ab und ein dritter Scout namens Doan saßen, zwischen den Bäumen versteckt, bewegungslos auf ihren Pferden und beobachteten den Trupp auf der Landstraße: zwölf Yankees in Zweierreihe, die von Tunstall’s Station in Richtung Bottom’s Bridge am Chickahominy ritten. Johnston hatte sich auf die andere Seite des Flusses zurückgezogen. Pessimisten stellten fest, daß diese Demarkationslinie an manchen Stellen nicht mehr als zehn Meilen von Richmond entfernt war.

Die drei Scouts waren zwei Tage lang auf der Yankeeseite des Chickahominy gewesen, ohne greifbare Ergebnisse. Sie hatten die Richmond & York-Bahnlinie auf Anzeichen von Verkehr hin kontrolliert, hatten nichts entdecken können und waren auf eigener Fährte zurückgeritten, auf das flache Flußland zu, als sie die Yanks gehört hatten. Sofort versteckten sich die Scouts im Wald.

Charles hatte seinen .44 Colt gezogen, seine Schrotflinte war griffbereit. Er war nicht scharf auf einen Kampf; viel lieber hätte er die Identität dieser Yanks gekannt und gewußt, was sie auf dieser Straße zu suchen hatten.

»Berittene Schützen?« flüsterte er, nachdem er die orangefarbenen Quasten an den Hüten der beiden Offiziere entdeckt hatte.

»Unwahrscheinlich, bis auf die zwei Schulterstreifen«, erwiderte Ab. »Wenn einer der anderen Jungs in seinem Leben mehr als zwei Stunden auf ‘nem Pferd gesessen hat, bin ich Varina Davis.«

Doan beugte sich näher heran. »Wer zum Teufel sind sie dann? Ihre Uniformen sind so verdammt dreckig, man kann ja gar nichts erkennen.«

Charles strich seinen Bart. Er brachte Schlamm mit Flußbänken in Verbindung, und Flußbänke mit seinem Freund Billy. »Möcht’ wetten, das sind Pioniere.«

»Könnte sein«, sagte Ab. »Aber was tun sie? Die Sümpfe erkunden?«

»Ja. Für Brücken. Suchen Stellen zum Überqueren. Das kann das erste Anzeichen vom Vormarsch sein.«

Sport scheute. Charles beruhigte den Grauen mit den Knien, während ein Teil seines Gehirns ein seltsam flüsterndes Geräusch am Boden registrierte. Er verfolgte das nicht weiter, weil Doan sprach.

»Können wir sie nicht ein bißchen abschießen, Cap?«

»Nichts dagegen einzuwenden, aber ich halte es für klüger, wenn wir zur nächsten Straße weiterreiten. Je eher wir mit dieser Meldung überm Fluß sind, desto besser.«

»Klapperschlange«, flüsterte Ab. Die Schlange glitt zwischen den Vorderbeinen seines Pferdes hindurch. Das Pferd tänzelte zurück und wieherte lang und laut.

»Das wär’s«, sagte Charles. Rufe auf der Straße, jemand bellte Befehle. Die erschreckte Schlange verschwand. »Los, weg von hier.«

Ab hatte Schwierigkeiten mit seinem Pferd. »Komm schon, Cyclone, verdammt noch mal!« An Gewehrfeuer, aber nicht an Reptilien gewöhnt, bäumte sich das Pferd auf und hätte beinahe seinen Reiter abgeworfen. Charles packte es vorn am Halfter, die Vorderhufe knallten auf den Boden, und Ab blieb im Sattel. Aber wertvolle Sekunden waren verloren gegangen; das scheuende Pferd war dabei in einen Lichtstreifen zwischen den Bäumen geraten. Zwei Yankees am Ende der Kolonne entdeckten Ab und brachten ihre Gewehre in Anschlag.

Charles zog seine Schrotflinte, feuerte beide Läufe ab, schoß dann noch dreimal mit dem Revolver. Die Yanks rutschten aus dem Sattel, brüllten: »Deckung.«

»Los, Jungs«, schrie Charles, sich an die Spitze setzend. Die Yanks würden wahrscheinlich in den Straßengräben Deckung suchen; die Scouts konnten so einen Vorsprung gewinnen.

Nach einem kurzen, scharfen Ritt galoppierte Charles auf die Straße zu, dicht gefolgt von Ab und Doan. Ein Blick zurück zeigte ihm zwei auf der Straße stehende Yanks. Der Rest lag in Deckung.

Beide Yanks feuerten auf die Scouts. Eine Kugel streifte die seitliche Krempe von Charles’ Hut. Nach einigen Sekunden waren sie außer Schußweite. Charles schob seinen Revolver ins Halfter und konzentrierte sich auf den Ritt. Die Straße schlängelte sich durch Wälder, in denen sumpfige Tümpel glitzerten.

Hinter ihnen brach die Straße auf, ein Ausbruch von Feuer mit einem Schrapnellschauer. Ab war so entnervt, daß er beinahe in einen der Tümpel galoppiert wäre. Charles zerrte an den Zügeln, wendete, sah einen rauchenden Krater vor sich und Doan, der sich unter seinem gestürzten Pferd hervorwühlte.

Doan gab erstickte Laute von sich. Das Pferd war erledigt. Die vergrabene Granate, ausgelöst durch eine Friktionszündvorrichtung, hatte tödliche Fragmente in Schulter und Brust des Tieres geschleudert.

Doan befreite sich aus dem linken Steigbügel. Das Pferd glitt mit dem Schwanz voran in das Loch. Wie ein verwirrtes Kind marschierte Doan im Kreis herum. Hinter den Biegungen der Straße verborgen konnte man die Yanks hören, die sich im Galopp näherten.

Charles begann zu schwitzen. Er trieb Sport an den Rand des Loches, doch der Graue scheute vor dem sterbenden Pferd zurück. »Steig auf«, sagte Charles und klatschte hinter sich auf Sports Rumpf. Doans Verwirrung hielt an. Ab feuerte einen Schuß die Straße runter, obwohl noch kein Yank in Sicht war.

Plötzlich begann Doan zu weinen. »Ich kann ihn nicht verlassen.«

»Er ist erledigt, und die Kompanie Q ist ein besserer Platz als irgendein Yankee-Lager.« Der erste blaugekleidete Reiter kam um die Biegung. Charles packte Doan am Kragen. »Steig auf, verdammt, oder wir werden alle geschnappt.«

Doan schaffte es, auf den Grauen zu klettern und sich an Charles’ Taille festzuklammern. Charles zog Sports Kopf herum, und sie galoppierten auf den Chickahominy zu. Ab drückte sein Pferd beiseite, um den Grauen vorbeizulassen, und feuerte seine Waffe auf die anstürmenden Reiter ab. Seine Chance zu treffen war gering, aber er bremste die Verfolger.

Selbst mit dem doppelten Gewicht benahm sich Sport großartig. Charles fühlte, wie Doan hinter ihm zitterte. Plötzlich brüllte der Scout: »Verfluchte Wilde.«

»Wer?«

»Die Yanks, die dieses verdammte Ding in der Straße vergraben haben.«

»Du mußt Brigadier Rains oder sonst jemandem von unserer Seite die Schuld geben. Bevor wir aus Yorktown abzogen, pflanzte Rains diese Minen überall in Straßen und Docks. Wie sieht’s aus, Ab?« rief er dem aufschließenden Scout zu.

»Wir sind diesen Krämerseelen ein gutes Stück voraus. Schaut dort drüben – die Brücke.«

Als sie auf die Bottom’s Bridge zudonnerten, wurde Charles schlagartig klar, daß es genausogut Sport hätte treffen können. Eine vergrabene Bombe wählt sich ihr Opfer nicht aus.

Eifersucht hatte dabei eine ebenso große Rolle gespielt wie Politik, entschied Billy später. Es war einfach fällig gewesen, als er an diesem Abend Ende Mai in das Marketenderzelt marschierte.

Seit Tagen waren die Armeen auf der Halbinsel von angespannter Nervosität ergriffen. Die Rebs hatten sich hinter dem Chickahominy verschanzt, bereit, für Richmond zu sterben. Auf Unionsseite herrschte Unsicherheit statt der Erwartung, mit einem gewaltigen Schlag alles beenden zu können. Gerüchte vermischten sich mit Fakten zu einem widerwärtigen Gebräu. Jackson demütigte die Union in Shenandoah. Little Mac bestand weiterhin darauf, über nicht genügend Männer zu verfügen, obwohl er mehr als hunderttausend hatte. Außerdem beharrte er darauf, daß die Hunde von Washington ihn zerfleischen wollten, angeführt von diesem tollwütigen Stanton.

An dem Abend, an dem er den Marketender besuchte, war ein Junior-Offizier anwesend, den er zwar nicht persönlich kannte, aber trotzdem nicht ausstehen konnte. Der junge Mann, ein weiterer Akademie-Absolvent, gehörte zum Stab; Billy hatte ihn zu Pferd hinter Little Mac hertraben sehen. Der Offizier war blaß wie ein Mädchen und trug die lässige Arroganz eines Clubmitglieds zur Schau. Selbst die Uniform des Burschen irritierte Billy. Mitten in der Schlammsaison war sie so makellos wie die blitzenden Schuhe. Mit den langen, hellen Locken und dem roten Halstuch ähnelte er mehr einem Zirkusartisten als einem Soldaten.

Was Billy, der mit einem dreckigen Glas am Tresen stand, am meisten ärgerte, war die Haltung des Offiziers. Er war drei oder vier Jahre jünger als Billy und hatte aufgrund seines Junior-Ranges noch keine Schulterstreifen. Aber er benahm sich wie ein Senior. Und ein sehr lautstarker noch dazu.

»Der General würde im Handumdreh’n siegen, wenn nicht diese Abolitionistenschufte in Washington wären. Ich verstehe nicht, weshalb er sie toleriert. Selbst unser verehrter Präsident demütigt ihn. Letzte Woche wagte er es, den General einen Verräter zu nennen. Ins Gesicht!«

Billy trank; es war sein zweites Glas. Der Marketender behauptete fromm, daß er lediglich Apfelwein ausschenken würde. Aber dieser Apfelwein hatte es in sich. Er tat auch nicht sonderlich gut, wenn man seit Mittag nichts mehr gegessen hatte. Irgendwie war Billy zu beschäftigt gewesen, um zu einer Mahlzeit zu kommen.

Der Offizier machte eine Pause, um einen doppelten Apfelwein zu kippen. Seine kleine Gefolgschaft, fünf Captains und Lieutenants, warteten mit gespannter Aufmerksamkeit darauf, daß er fortfuhr.

»Habt ihr die letzte Schändlichkeit gehört? Der ehrenwerte Stanton greift die Ehre des Generals an und stellt seinen Mut in Frage – selbstverständlich hinter seinem Rücken –, während er gleichzeitig den Original-Gorilla beeinflußt, die Männer zurückzuhalten, die wir so verzweifelt benötigen.«

»Hört sich wie eine Verschwörung an«, murmelte ein anderer Lieutenant.

»Genau. Sie kennen den Grund dafür, nicht wahr? Der General mag und respektiert die Leute aus dem Süden. Das tun viele in dieser Armee. Ich ebenfalls. Der ehrenwerte Stanton bevorzugt jedoch nur eine gewisse Klasse von Südstaatlern – solche mit dunkler Hautfarbe. Er ist wie alle anderen Republikaner.«

Billy knallte sein Glas auf den Tresen. »Aber er ist ein Demokrat.«

Der langhaarige Lieutenant teilte seine Gruppe, wie Moses die See teilte. »Haben Sie eine Bemerkung an mich gerichtet, Sir?«

Halt die Klappe, sagte Billy zu sich. Aber aus irgendeinem Grund konnte er es nicht. »Das tat ich. Ich sagte, Mr. Stanton ist Demokrat, kein Republikaner.«

Ein kaltes Lächeln von dem Junior-Offizier. »Da hier kein öffentlicher Versammlungsort ist, dürfte ich das Vergnügen haben zu erfahren, wer diese wertvolle Information anbietet?«

»Erster Lieutenant Hazard. Gegenwärtig bei der B-Kompanie, Pionierbataillon.«

»Zweiter Lieutenant Custer, Stabshauptquartier, zu Ihren Diensten.« Davon war seiner Stimme allerdings nichts anzumerken, nur eitle Selbstüberschätzung und Verachtung. »Dann müssen Sie von der Akademie sein. Allerdings einige Jahre vor meiner Zeit. Ich war bei der Bande, die vergangenen Juni graduierte. Der Letzte unter den Letzten sechsunddreißigster unter sechsunddreißig.« Er schien es zu genießen. Seine Kumpel kicherten pflichtschuldig. »Was Ihre Aussage anbelangt, so ist sie nur bedingt korrekt. Soll ich Ihnen sagen, was Stanton wirklich ist?«

Der junge Offizier kam auf Billy zu. Sein Haar roch nach Zimtöl. Ein Dutzend Offiziere an den wackeligen Tischen hielten in ihrer Unterhaltung inne, um Custer zu lauschen.

»Stanton ist ein derartig bösartiger Mann, ein so verkommener Heuchler, daß – hätte er zur Zeit des Erlösers gelebt – im Vergleich zu ihm Judas ein anständiger Mann gewesen wäre.«

Einige der zuhörenden Offiziere reagierten ärgerlich. Einer wollte sich erheben, aber sein Gefährte hielt ihn zurück. Lediglich Billy, in dessen leerem Magen der Alkohol brodelte, war genügend gereizt, um zu antworten.

»Diese Art von Gerede gehört nicht in die Armee. Es wird schon viel zuviel politisiert.«

»Zuviel? Nicht genug!« Seine Clique reagierte mit Nicken und Klopfen.

Billy blieb hartnäckig. »Nein, Lieutenant Custer, wir sollten uns um den Sieg Sorgen machen, nicht ob – «, ein Beispiel blitzte in seinem Kopf auf, »– eine Singgruppe in einem unserer Lager auftreten kann oder nicht.«

»Oh, Sie meinen diese verdammte Hutchinsonfamilie?«

»Richtig. Mein Bruder ist im Kriegsministerium; er schrieb mir, daß es eine schlechte Entscheidung war. Erstens war es trivial, und zweitens verärgerte es einige wichtige Kabinettsmitglieder und Kongreßabgeordnete.«

Über Custers Schulter hinweg prahlte ein Captain: »Ihr Bruder sitzt hinter einem Schreibtisch, was? Tapferer Bursche.«

Billys Selbstbeherrschung schwand. »Er ist Major im Waffenamt. Seine Arbeit ist verdammt wichtig.«

»Was für eine Arbeit?« fragte Custer feixend. »Stantons Stiefel putzen? Stantons schwarzen Besuchern Erfrischungen servieren?«

Der Captain sagte: »Auf Befehl das Hinterteil des Ministers küssen?«

»Zum Teufel mit dir«, sagte Billy und ging auf ihn los.

Selbst Custer reagierte angewidert. »Captain Rawlins, das geht ein bißchen zu weit.« Billy stieß Custer beiseite und schlug mit der Faust nach dem einen Kopf größeren Captain. Die Faust rutschte am Kinn des Mannes ab. Andere im Zelt sprangen auf und brüllten wie die Zuschauer bei einem Hahnenkampf.

»Macht dem Gentlemen Platz!«

»Nicht hier«, protestierte der Marketender. Niemand beachtete ihn. Der Captain löste seinen Kragen, während ein breites Grinsen seine Backen aufplusterte. Dumm von mir, sagte sich Billy, während seine Hände sich zu Fäusten ballten. Schlicht und einfach dämlich.

Jemand betrat das Zelt und rief seinen Namen. Aber seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den Captain, der sich näher schob.

»Dir zeig ich’s, du kleines republikanisches Dreckstück.« Seine Faust schoß vor und landete mitten in Billys Gesicht, während dieser noch die Hände hob.

Er taumelte zurück und fiel über den Tresen; aus jedem Nasenloch tröpfelten Blutfäden. Der größere Mann holte zum nächsten Schlag aus. Billy kämpfte sich hoch und schlug mit verschränkten Händen den Unterarm seines Gegners zur Seite, so dem Schlag ausweichend. Der Captain stieß ein Knie in Billys Leiste, und Billy fiel nach hinten auf den Rücken. Grinsend hob der Captain seinen Stiefel über Billys Gesicht.

»Da bist du«, sagte die vertraute Stimme hinter den sich drängelnden Männern.

Custer rief: »Das reicht, Rawlins. Er mag ein Niggerrepublikaner sein, aber er verdient faire Behandlung.«

»Zum Teufel damit.« Runter kam der Stiefel. Billy versuchte sich wegzurollen, wußte aber, daß er zu langsam war.

Plötzlich, unerklärlich, kippte Rawlins nach hinten. Der Stiefel, der auf Billys Gesicht abzielte, beschrieb eine komische, ruckartige Bewegung mitten in der Luft. Billy stemmte sich mit den Ellbogen aus dem Dreck, zwinkerte und sah den Grund dafür. Lije Farmer hielt den Captain an den Schultern fest, das Gesicht voller Zorn. Er schleuderte Billys Gegner zurück. Captain Rawlins knallte so hart zu Boden, daß er aufschrie.

Lije zog Billy auf die Beine. »Mach dich fort aus dieser frevelhaften Gesellschaft.« Niemand lächelte. In Anbetracht von Lijes Größe und der Art und Weise, wie seine Blicke über den Kreis der McClellan-Anhänger schweiften, hatte keiner den Mut dazu. Zu Rawlins sagte er: »Es wäre albern, in dieser Angelegenheit den Dienstgrad ins Spiel zu bringen. Wenn Sie es versuchen, werde ich gegen Sie aussagen.«

Billy nahm seine Mütze vom Tresen und ging hinaus. Sein verschrammtes, blutiges Gesicht fühlte sich heiß an. Lije berührte seinen Ärmel. »Wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem wende die linke zu.«

»Tut mir leid, Lije, ich konnte es nicht. Er hat einen Tiefschlag gelandet und versuchte dann, mir das Gesicht zu zertreten. Na ja, vielleicht hätte sich mein Aussehen dadurch verbessert – was meinst du?«

Farmer blieb ernst und stumm. Ernüchtert sagte Billy: »Ich weiß, ich war ein Narr, so in die Luft zu gehen. Aber sie machten Bemerkungen über meinen Bruder George, die ich nicht hinnehmen konnte. Danke, daß du mir den Captain vom Hals gehalten hast. Etwas später und von meinem Gesicht wäre nicht viel übrig geblieben. Dein Zeitgefühl ist beachtlich.«

»Kein reiner Zufall. Ich habe dich gesucht. Wir haben Befehl, vor Tagesanbruch aufzubrechen. Sollen die anderen die politischen Kriege ausfechten. Wir haben mit unserem mehr als genug zu tun.«

»Ja. Trotzdem danke ich dir, Lije«, sagte Billy von ganzem Herzen. Er empfand für Farmer den gleichen liebevollen Respekt, den er für seinen verstorbenen Vater empfunden hatte. Der ältere Mann gab ihm einen Klaps auf den Rücken und begann dann, ›Amazing Grace‹ zu summen.

Kein Wunder, daß die Atmosphäre auf der Halbinsel so vergiftet war, dachte Billy bei sich. Sie standen praktisch vor der Tür der Hauptstadt der Konföderierten, die von unterlegenen Kräften verteidigt wurde, doch der Feldzug zog sich hin, unentschlossen und kostspielig. Billy fürchtete, noch viele Männer würden, bevor der Feldzug zu Ende war, dem Ehrgeiz und Verfolgungswahn des Generals sinnlos geopfert werden. Er legte keinen großen Wert darauf, einer von ihnen zu sein.

55

In der letzten Maiwoche schien das Ende nah. Jeden Morgen, wenn Orry aufstand und das üble Gebräu trank, das in der Pension statt Kaffee serviert wurde, sah er sich mit dieser Tatsache konfrontiert. Seit dem Fall von New Orleans gab es nicht einmal Zucker zum Süßen.

Wie jedermann in Richmond lauschte Orry, während er seiner täglichen Arbeit nachging, dem schweren Artilleriefeuer, das die Fensterscheiben in der ganzen Stadt erzittern ließ. Er war froh, daß es Madeline noch nicht möglich gewesen war, zu ihm zu kommen; die Genesung seiner Mutter machte nur langsame Fortschritte. Die Nachricht von ihrem Schlaganfall hatte ihn hart getroffen.

Nach dem Fall der Forts Henry und Donelson war Orrys Freund und Vorgesetzter, Benjamin, ins Außenministerium abgeschoben worden, weil man irgend jemandem schließlich die Schuld in die Schuhe schieben mußte. Benjamin war nur ganz knapp davongekommen.

George Randolph ersetzte ihn: ein ernster Mann, ein Virginier von untadeliger Herkunft, hervorragendem Ruf und mit erst kürzlich erworbener Militärerfahrung – unter Magruder hatte er die Artillerie kommandiert. Er trug die Würde des Kriegsministers, konnte aber wenig damit anfangen. Mittlerweile wußte jeder, daß der wahre Kriegsminister im Präsidentenhaus saß.

Insel Nr. 10 war letzten Monat verlorengegangen und damit die Kontrolle über den unteren Mississippi. Und Norfolk hatten die Yankees auch; in ihrer Verzweiflung hatte die Marine die bereits legendäre Virginia versenkt, um sie nicht in die Hände des Feindes fallen zu lassen.

Der April machte die Zwangslage der Konföderation noch deutlicher. Davis billigte ein Gesetz, mit dem alle Männer weißer Rasse im Alter zwischen achtzehn und fünfunddreißig für drei Jahre einberufen wurden. Orry wußte, daß es sich um eine notwendige Maßnahme handelte und wurde ärgerlich, als der Präsident von Landstreichern ebenso wie von Staatsgouverneuren verflucht wurde. Zwei Gouverneure sagten, sie würden so viele Männer zur Eigenverteidigung zurückbehalten, wie sie für richtig hielten, Gesetz hin oder her.

McClellan stand nun dicht vor der Stadt. Obwohl sein strategischer Plan unklar blieb, stürzte seine bloße Anwesenheit Richmond in eine Zeit der Prüfung. Davis hatte seine Familie bereits nach Raleigh fortgeschafft. Flüchtlinge strömten in die Stadt, zu Fuß und in jedem nur denkbaren Transportmittel. Sie schliefen auf dem Capitol Square oder brachen in die Heime jener ein, die bereits geflüchtet waren. Orry hörte, daß Ashton zu denen gehörte, die sich weigerten, die Stadt zu verlassen. Das dämpfte seine Abneigung gegen sie ein bißchen, aber nicht sehr.

Auch Soldaten ließen die Bevölkerungszahl anwachsen. Verwundete, zurückgeschickt von den Chickahominy-Linien; Deserteure, die sich selbst eine Schuß- oder Stichwunde beigebracht hatten – wer sollte sie auseinanderhalten? Tag und Nacht rumpelten die Wagen und Karren hinein und hinaus, die Fensterscheiben klirrten und knallten, und jeder Schlaf wurde unmöglich.

Orry machte weitere schlechte Erfahrungen in dem Gebäude, in dem General Winder mit seinen Männern residierte. Diesmal kam er auf Bitte von Minister Randolph, der eine große Familienfarm in der Nähe von Richmond betrieb. Randolph hatte einen Freund, ebenfalls Farmer, der sich geweigert hatte, seine Produkte zu dem niedrigen, vom Kommandeur der Militärpolizei festgesetzten Preis zu verkaufen. In einem polemischen Brief an den Richmond Whig nannte der Farmer Winder eine schlimmere Bedrohung für die Bevölkerung als McClellan. Nachdem er diese Meinung zum Ausdruck gebracht hatte, wurde er eines Abends direkt aus einer Bar geschleift. Und ab ging’s in die üble Fabrik in der Cary Street, wo Winder jene einsperrte, deren Äußerungen ihm aufrührerisch erschienen.

Orry ging in das Holzgebäude, um die Freilassung des Gefangenen zu fordern. Er nannte seinen Namen, aber der General wollte ihn nicht empfangen. Statt dessen mußte er mit einem der Zivilangestellten sprechen, einem großen, schlaksigen, vollkommen schwarz gekleideten Mann.

Der Name des Mannes war Israel Quincy. Er sah eher aus wie ein Geistlicher aus Massachusetts denn wie ein Eisenbahndetektiv aus Maryland; offensichtlich genoß er es, in seinem schäbigen kleinen Kasten einen Bittsteller von Orrys Rang zu haben. Seine Antwort kam schnell.

»Von hier aus wird keine Entlassungsanweisung ergehen. Dieser Mann hat General Winder verärgert.«

»Der General hat Minister Randolph verärgert, Mr. Quincy, so wie er die meisten Leute von Richmond mit seinen absurden Tarifen verärgert hat. Die Stadt benötigt verzweifelt Nahrungsmittel von den umliegenden Farmen, aber niemand wird zu den von diesem Büro festgesetzten Preisen verkaufen.« Orry atmete tief durch. »Ihre Antwort ist nein?«

Quincy lächelte seinem Besucher freundlich zu. Dann schien das Lächeln zu zersplittern, und das darunterliegende Gift kam zum Vorschein. »Eindeutig nein, Colonel. Der Freund des Ministers wird in Castle Thunder bleiben.«

Orry erhob sich. »Nein, das wird er nicht. Der Minister besitzt die Autorität, über den Kopf des Generals hinweg zu handeln, und genau das wird er auch tun. Er zog es vor, dem Protokoll zu folgen, aber Sie haben das unmöglich gemacht. Innerhalb einer Stunde hab’ ich den Gefangenen aus diesem Pestloch heraus.«

Im Hinausgehen wurde er von Quincys scharfer, harter Stimme gestoppt. »Colonel. Überlegen Sie es sich noch mal, bevor Sie das tun.«

Ungläubig drehte sich Orry um und sah die Arroganz im Gesicht des Mannes. Er kochte über. »Wer glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid, freie Bürger zu terrorisieren und jede Meinung zu unterdrücken, die von eurer abweicht? Bei Gott, wir lassen keine verdammten Pinkertons in der Konföderation herumschnüffeln.«

Mit leiser Stimme sagte Quincy: »Ich warne Sie noch mal, Colonel. Mißachten Sie die Autorität dieses Amtes nicht. Irgendwann brauchen Sie vielleicht mal eine Gefälligkeit von uns.«

»Drohen Sie mir, Mr. Quincy, und ich schlage Sie mit dieser einen Hand in den Boden.«

Fünfundvierzig Minuten später verlor Castle Thunder einen Insassen. Aber da gab es noch viele andere, für die er nichts tun konnte. An die Warnung dieser machttrunkenen Dreckschleuder im schwarzen Anzug verschwendete er keinen zweiten Gedanken.

Im Kriegsministerium überwachte Orry, wie Bücher, Akten und Aufzeichnungen in Kisten verpackt wurden, als der Mai sich mit der Schlacht von Fair Oaks, praktisch an der Hausschwelle der Stadt, seinem schrecklichen Ende zuneigte. McClellan wehrte den Angriff der Konföderierten ungeschickt ab, wobei Joe Johnston schwer verwundet wurde und innerhalb von vierundzwanzig Stunden durch den früheren militärischen Berater des Präsidenten, aus dem Exil zurückgekehrt, ersetzt wurde.

Granny Lee übernahm zum ersten Mal das Kommando über die Armee von Nordvirginia. Das Vertrauen in ihn war nicht groß. Kisten wurden in noch größerer Hast gepackt, und ein Sonderzug blieb rund um die Uhr unter Dampf, um sofort das Gold des Schatzamtes abzutransportieren, falls Lees Linien durchbrochen wurden. Orry schwitzte und packte weitere Kisten und lauschte einem Gerücht, daß in Winders Amt ein Plan gegen ihn ausgebrütet wurde. Quincys vergessene Drohung kam ihm in den Sinn und verstärkte die Anspannung, unter der er stand. Er dankte dem Allmächtigen, daß Madeline nicht hier war und nicht unter diesem ganzen Wahnsinn zu leiden hatte.

Wieder donnerte es. An diesem schwülen Abend waren im oberen Stock sämtliche Fenster geöffnet. Powell ruhte auf seinen Ellbogen; Ashton bemühte sich, ihm eine gewaltige Erektion zu verschaffen, auf die Art und Weise, wie er es gern hatte. Dann drang er wie ein Bulle in sie ein. Sie rissen das Bettzeug los, verstreuten es in dem heftigen Getümmel in der ganzen Gegend. Er war großartig, er riß sie mit, wie er es immer tat, ließ eine Ekstase in ihr aufsteigen, die sie nur durch Schreie abreagieren konnte.

Von Erfüllung und Erschöpfung überwältigt schlief sie ein. Nachdem sie wieder erwacht war, sprach Powell nachdenklich, mehr zu sich, wie er es gern tat, nachdem sie sich geliebt hatten.

»Gestern hab’ ich das allgemeine Wehrpflichtgesetz mit einigen anderen Gentlemen diskutiert. Wir waren uns alle darüber einig, daß es einfach empörend ist. Sind wir Affen im Käfig, die auf Jeffs Befehl jederzeit zu springen haben? Wenigstens gibt es Möglichkeiten, das Gesetz zu umgehen.«

Ashton legte ihre Wange auf sein krauses Brusthaar und fuhr mit dem Fingernagel um eine seiner Brustwarzen. »Was für Möglichkeiten?«

»Zum Beispiel die Befreiung, wenn man hundertzwanzig Sklaven besitzt. Ich bezweifle, daß King Jeff sich Richtung Valdosta in Bewegung setzt, um festzustellen, daß von meinen Sklaven hundertachtzehn reine Phantasie sind.« Er lachte leise.

»Ich liebe dich«, flüsterte Ashton, »aber manchmal versteh’ ich dich wirklich nicht.«

»Wieso?«

»Du schimpfst auf die Wehrpflicht und King Jeff, wie du ihn nennst, aber du bist in Richmond geblieben, während die meisten ständigen Bewohner längst um ihr Leben gerannt sind.«

»Ich möchte das schützen, was mir gehört. Was dich einschließt, liebste Partnerin.«

»Und erfolgreiche Partnerin, möchte ich hinzufügen.«

»Sehr erfolgreich.«

»Du bist der Grund, weshalb ich geblieben bin, Lamar.« Das stimmte, wenn auch nur teilweise. Manchmal ängstigte sie das Artilleriefeuer zu Tode, und am liebsten wäre sie auf den nächsten Zug gesprungen, der die Stadt verließ. Sie tat es nicht, weil sie glaubte, Powell würde sie beim geringsten Anzeichen von Schwäche fallenlassen.

Dazu brauchte sie ihn zu sehr. In Lamar Powell hatte sie endlich einen Mann gefunden, der es in der Welt zu etwas bringen würde. Sie weigerte sich, das Risiko einer Trennung einzugehen.

Sie drückte einen zarten Kuß auf seine Brust. »Du haßt Davis wirklich, nicht wahr, Lamar?«

»Sei so nett und tu nicht so, als wäre das was Merkwürdiges. Ja, ich hasse ihn – und es gibt genügend Männer, die meine Meinung teilen. Wenn er stark wäre, sogar ein Diktator, ich würde ihn unterstützen. Aber er ist schwach. Ein Versager. Ist die Gegenwart von General McClellan, weniger als ein Dutzend Meilen von diesem Bett entfernt, nicht Beweis genug dafür? King Jeff wird sich beim Begräbnis des Südens hervortun, wenn man ihn nicht stoppt.«

»Stoppt?«

»Genau das sagte ich.« Eine schwüle Dunkelheit hatte sich ins Schlafzimmer geschlichen, eine Dunkelheit, die nach Garten roch. Trotz seiner leidenschaftlichen Gefühle blieb Powells Stimme kontrolliert. »Und mit Beredsamkeit wird niemand die Konföderation retten und der stümperhaften Karriere von Mr. Davis ein Ende bereiten. Dazu wird schon etwas Entschiedeneres notwendig sein. Endgültigeres.«

Ashton drängte ihren nackten Leib gegen den seinen; wie eine plötzliche Vision tauchte der Revolver vor ihrem geistigen Auge auf, mit dem er häufig hantierte. Sicherlich meinte er nichts in dieser Art.

Sicherlich nicht.

James Huntoon haßte den Mann, von dessen Existenz er etwas ahnte, dessen Namen er aber nicht kannte, und genauso haßte er den Präsidenten der konföderierten Staaten von Amerika. Er hätte ihn gern seines Amtes enthoben, am liebsten aber tot gesehen. Nach den Ereignissen dieses Junis zu urteilen, mochten die Yankees bald beides erreicht haben.

Auch im Finanzministerium waren die Kisten gepackt. Huntoon mußte wie ein Sklave schuften, was ihn ärgerte. Die Spekulationen über Ashtons häufige Abwesenheit machten sein Unglück voll. Diese Abwesenheiten wurden jetzt immer häufiger, dauerten immer länger und blieben ohne jede Erklärung.

Huntoon wünschte verzweifelt, dieser Stadt zu entrinnen. Er hatte zwei Eisenbahnfahrkarten gekauft – nach langen Bemühungen hatte er einen Mann sogar für das Privileg bestechen müssen, den dreifachen Preis bezahlen zu dürfen –, aber Ashton weigerte sich glatt, die Stadt zu verlassen. Allein weil er die Fahrkarten besaß, unterstellte sie ihm, er sei ein Feigling. Glaubte sie das wirklich, oder war das nur eine Ausflucht? Woher stammte dieser neue Mut, dieser Patriotismus, den er nie zuvor an ihr bemerkt hatte? Von ihrem Liebhaber?

Eines frühen Abends, als sie noch nicht zu Hause war, ging er ganz unschuldig an ihren Schreibtisch. Auf der Suche nach einem Ersatz für seine abgebrochene Feder fand er einen Packen Kontoauszüge und Briefe.

»Was ist das für ein Bankkonto in Nassau?« In Hemdsärmeln, mit nassen Ringen unter den Achseln, hielt er ihr das Päckchen eine Stunde später unter die Nase. »Wir haben kein Bankkonto in Nassau.«

Sie entriß ihm das Päckchen. »Wie kannst du es wagen, in meinem Schreibtisch herumzuschnüffeln?«

Er zuckte zusammen. »Ich – ich hab’ nicht herumgeschnüffelt. Ich brauchte eine Feder – verdammt noch mal, habe ich dir eine Erklärung abzugeben oder du mir?« schrie er mit ungewohntem Mut. »Du betrügst mich doch. Was haben diese Papiere zu bedeuten? Ich verlange eine Erklärung.«

»James, beruhige dich.« Sie merkte, daß sie zu weit gegangen war. Das mußte geschickt gehandhabt werden, sonst würde es ihre Liaison mit Powell bedrohen. »Bitte setz dich. Ich werde es dir erklären.«

Er fiel in einen Stuhl, der protestierend aufquietschte. Draußen an den offenen Fenstern strich Homers Schatten vorbei. Der Sklave machte sie mit seiner Flinte nervös.

»Hast du die Kontoauszüge durchgelesen? Die Summen studiert?« Von Hitze und Anspannung gerötet, entnahm sie dem Päckchen ein Blatt Papier und reichte es ihm. »Das ist unser Kontostand vom letzten Monat.«

Die zierliche Handschrift verschwamm vor seinen Augen. Unser Konto, hatte sie gesagt. Trotzdem war er verwirrt. »Das sind Pfund Sterling – «

»Ganz richtig. Beim momentanen Umtauschkurs besitzen wir eine Viertelmillion Dollars – gesunde Yankeedollars, kein bedrucktes Konföderiertenpapier.« Mit raschelnden Röcken eilte sie auf ihn zu und kniete nieder – demütigend, aber vielleicht lenkte es ihn ab, wenn sie zur heikelsten Stelle kam. »Wir haben einen Profit von annähernd siebenhundert Prozent gemacht, bei nur zwei Fahrten zwischen Nassau und Wilmington.«

»Fahrten?« Er glotzte. »Wovon in Gottes Namen redest du?«

»Von dem Schiff, Liebling. Mr. Lamar Powell wollte doch, daß du in den schnellen, kleinen Dampfer investierst, erinnerst du dich nicht? Du hast dich geweigert, aber ich bin das Risiko eingegangen. Er wurde letzten Herbst in Liverpool umgebaut und hat uns bereits ein Vermögen eingebracht. Wenn er morgen auf den Grund des Meeres geschickt wird, dann haben wir unsere Investition schon mehrfach hereingeholt.«

»Powell – dieser nichtswürdige Abenteurer?«

»Ein kluger Geschäftsmann, Liebster.«

Hinter der Drahtbrille blinzelten seine winzigen Augen. »Siehst du ihn?«

»Oh nein. Die Profitauszahlung erfolgt in Nassau, und wir erhalten diese Berichte mit der Post, die von Blockadebrechern gebracht wird. Die Water Witch hat sich so gut gehalten, weil sie kein Kriegsgut befördert. Sie bringt Kaffee, Spitzen, hübsche Sachen, die selten und wahnsinnig teuer sind, und beim Auslaufen ist sie mit Baumwolle beladen. Jetzt habe ich dir alles erklärt, nicht wahr? Du kannst nun beruhigt schlafen und von deinem neuen Vermögen – «

»Du hast mich hintergangen, Ashton«, unterbrach er sie und fuchtelte mit dem Papier vor ihr herum. »Ich sagte nein zu Powell, und heimlich, hinter meinem Rücken, nahmst du unseren Spargroschen – «

Ihr süßes Lächeln verschwand; es hatte nicht funktioniert. »Das Geld, vergiß das nicht, hat mir gehört.«

»Juristisch war es meins. Ich bin dein Ehemann.«

»James«, sagte sie, »was ist los mit dir? Ich habe unser Vermögen vermehrt – «

»Illegal«, schrie er. »Unpatriotisch. Was hast du sonst noch Unmoralisches getan?«

Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie schnell zum Angriff übergehen mußte, sonst würde er Verdacht schöpfen. »Was meinst du mit dieser beleidigenden Bemerkung?«

»Ni…« Er schob sich das Haar aus der fettigen Stirn. »Nichts.« Er wandte sich ab.

Ashton riß ihn herum. »Ich verlange eine bessere Antwort.«

»Ich«, er wich ihrem Blick aus, »ich habe mich bloß gefragt – ist Powell in Richmond?«

»Ich glaube schon. Beschwören könnte ich’s nicht. Ich sagte dir doch, ich sehe ihn nicht. Ich habe die ursprüngliche Investitionssumme einem Anwalt übergeben, der das alles erledigt. Powell war ebenfalls dort, aber seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

Ihre Brust schmerzte, so heftig schlug ihr Herz. Aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß man, um erfolgreich betrügen zu können, starke Nerven, einen kontrollierten Gesichtsausdruck und einen durchdringenden Blick brauchte. Sie wußte, daß sie gewonnen hatte, als Huntoons Schultern wie gewohnt nach vorn sackten. Sein Anfall von Männlichkeit war kurz und erfolglos gewesen.

»Ich glaube dir«, sagte Huntoon. »Aber ist dir auch klar, in was für einen Ruf du dich gebracht hast? Du bist jetzt eine Spekulantin. Eine verachtete Spezies. Einige sagen, man sollte sie alle einsperren, verurteilen und aufhängen.«

»Zu spät, sich darüber Sorgen zu machen, mein Lieber. Ich würde deshalb vorschlagen, du bewahrst ebenfalls Diskretion über das Thema Water Witch. Außerdem könntest du froh sein, daß ich die Voraussicht aufbrachte, die dir fehlte.«

Das rutschte ihr sehr scharf heraus, aber sie hatte es satt, sich mit einem Kind abgeben zu müssen. Dieses Kind brauchte Schläge, keine Zärtlichkeit.

»Aber Ashton – ich weiß nicht, ob ich Geld annehmen kann, das von – «

»Du kannst. Und du wirst.« Sie deutete auf das Päckchen. »Du hast es bereits.«

Plötzlich preßte er die Augenlider zusammen und umklammerte den Sims des hohen Fensters, als draußen die letzte Ambulanz wegrollte. Selbstvergessen flüsterte Huntoon: »Jesus, du bist so hart.« Tränen sickerten aus seinen Augenwinkeln. »So hart – du läßt mir nichts. Ich fühle mich wie ein Mann, der diesen Namen nicht verdient.«

Wie kurzsichtig und pathetisch er war. Erneut wurde sie wütend, hatte den Wunsch, ihn zu verletzen.

»Kastriert, ist das das Wort, das du suchst, Liebling?«

Zitternd beobachtete er, wie sie sich ihre eigene Frage mit einem kleinen Nicken bestätigte. Geschäftsmäßig fuhr sie fort: »In dieser Sache und in einigen anderen, die wir beide kennen, bist du genau das. Wir wissen das ja schon seit Jahren, nicht wahr?«

Rote Blitze; feuernde Kanonen. »Du Hündin.«

Ashton lachte ihn aus.

Huntoons Gesicht wechselte von rot zu annähernd purpurfarben. Er zwinkerte unaufhörlich, als er auf sie zueilte, ihre Hand packte und sie streichelte. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid, mein Schatz. Kannst du mir verzeihen? Ich bin sicher, daß du eine intelligente Entscheidung getroffen hast. Was immer du tust, es ist mir recht. Gott, ich liebe dich. Bitte, sag, daß du mir verzeihst, ja?«

Sie tat es, nachdem sie ihn noch einige Augenblicke hatte zappeln lassen. Sie duldete es sogar, daß er mit ihr zu schlafen versuchte, als sie zu Bett gingen. Sie war erleichtert, als er nicht in der Lage war, es zu Ende zu bringen, und sich schlaff zurückzog, wobei er ihr versicherte, wie glücklich er war, daß sie ihm verziehen hatte.

Dummkopf, dachte sie, in die Dunkelheit hineinlächelnd.

56

»Noch nie habe ich so einen seltsamen Unabhängigkeitstag erlebt«, sagte George zu Constance.

William ragte aus dem Wohnzimmerfenster und holte Flaggen ein, die er und Patricia am Abend zuvor hinausgehängt hatten. »Warum, Pa?«

»Weil«, sagte George, während er den dreifarbigen Stoff zusammenlegte und in einer Kiste verstaute, »die Reden so tapfer und voller Hoffnung waren«, am Nachmittag hatten sie an einer endlosen öffentlichen Feier teilgenommen, »und unten auf der Halbinsel werden wir geschlagen.«

»Ist es wirklich vorbei?« fragte Constance.

»Fast. Der telegraphischen Meldung zufolge zieht sich die Armee an den James zurück. McClellan hatte Richmond fast schon in der Hand und konnte es nicht nehmen.«

»Weil Lee es schaffte, Stonewall zu Hilfe zu holen«, sagte William. George nickte düster. Sein Sohn klang wie ein Bewunderer von Old Jack.

Im Winder-Gebäude gab es davon keine. Wie oft hatte George anhören müssen, wie sich die Trottel im Ministerium über Jackson lustig machten. Aber Tom Jackson war klug und gnadenlos wie Josua. Seine Infanteristen waren in Eilmärschen den ganzen Weg aus dem Tal hochgekommen und hatten Richmond gerettet.

Trotz Fehlern und kleineren Erfolgen auf beiden Seiten stand nach sieben Tagen der Verteidigungsring um Richmond immer noch, den Bob Lee in einem Monat errichtet und verstärkt hatte. Old Bob hatte Little Mac und seine Kommandeure mit jedem Zug überlistet. In den ersten Kriegsmonaten hatte er Fehler gemacht und dafür gebüßt, doch diese sieben Tage löschten das alles aus. George fürchtete um das Schicksal der Union, wenn Lee das Kommando übernahm.

Ein Hindernis stellte sich dem Aufbau der Bank von Lehigh Station in den Weg. Rechtsanwalt Jupiter Smith eilte nach Washington, um zu berichten, daß die Legislative respektvoll vorgeschlagen habe, der Staat solle doch an den Bankprofiten, falls vorhanden, partizipieren. »Sie schlagen vor, George, daß wir dem Staat Aktien im Wert von vierzigtausend Dollar geben und eine zehnjährige Option, die gleiche Menge noch mal zum Nennwert zu kaufen.«

George bellte: »Oh, ist das alles?«

»Nein, noch nicht. Eine Spende in Höhe von zwanzigtausend Dollar für den Straßen- und Brückenfonds würde begrüßt werden. Aber ich wiederhole – die Vorschläge wurden äußerst respektvoll gemacht, George. Die Legislatoren erkennen, daß du ein bedeutender Mann bist.«

»Ich bin ein Mann, der einen großen Knüppel über den Schädel kriegt. Verdammt, Jupe, es ist Bestechung.«

Der Anwalt zuckte die Achseln. »Ich bezeichne es lieber als Gefälligkeit. Oder die übliche Praxis. Die Banken in Philadelphia und Pittsburgh mußten ähnliche Vereinbarungen treffen, um ihre Zulassungen zu bekommen. Mich stört es nicht, wenn du nein sagst. Ich kann dann einen gewaltigen Papierberg zu den Akten legen.«

»Und ein gewaltiges Honorar.«

Smith schaute gekränkt drein.

George kaute an seiner Zigarre. »Ich bezeichne es trotzdem als Bestechung.« Er kaute heftiger. »Sag ihnen zu.«

George erwies sich als schlechter Prophet in Militärangelegenheiten. McClellan blieb auf seinem Posten, da für ihn anscheinend kein kompetenter Ersatz zu finden war. Die einzigen erfolgreichen West-Point-Offiziere hatten sich auf die Seite des Südens geschlagen, was den Angriffen gegen die Akademie wieder Auftrieb gab. Mitte Juli erhielt George einen Brief mit der Bitte, dem Aufsichtskomitee von West Point als Ersatz für ein plötzlich verstorbenes Mitglied beizutreten. Die immer heftiger werdenden Angriffe bewogen ihn, anzunehmen, allerdings erst nach einer Unterredung mit Stanton. Der Minister erteilte ihm die Erlaubnis dazu, solange es nicht mit seinen momentanen Pflichten kollidierte.

George steckte bis zum Hals in Arbeit, aber er versicherte Stanton, daß es keine Probleme geben würde. Dem kurzen Gespräch konnte er nicht den leisesten Hinweis auf die Einstellung des Ministers zur Akademie entnehmen. Stanton war wie eine kreisförmige Festung konstruiert – sicher vor Angriffen aus jeder Richtung.

Obwohl die Berufung ins Aufsichtskomitee mehr Druck bedeutete, war George dankbar dafür. Sein Job war dermaßen frustrierend geworden, daß er morgens nur noch äußerst ungern die Augen aufschlug. Seine Arbeit an den Artilleriekontrakten wurde ständig durch zahllose andere Termine unterbrochen. Sollte das Ministerium die Einführung von Gewehrkugeln empfehlen – Patronen mit Zeitzündern, die erst nach dem Abschuß explodierten? Sollte das Amt Chlorgranaten testen, die beim Aufschlag ein schweres, tödliches Gas verströmten? George hatte außerdem weiterhin mit den Erfindern schwachsinniger Waffen zu tun.

Nur eines half ihm, im Winder-Gebäude zu überleben. Für Ripley war es unmöglich, sich in alles einzumischen, und mittlerweile schien er bereit zu sein, sich aus dem Artillerieprogramm herauszuhalten. Trotzdem fühlte sich George wie ein Mann, der an einer Klippe baumelte. Wie lange seine Hände sich noch festklammern konnten, wußte er nicht.

Von Billy kamen keine Briefe – ein weiterer Grund zur Sorge. Oft genug lag George, nachdem er sich lange den Kopf über Ripley und die Armee zerbrochen hatte, nachts wach und sorgte sich um seinen jüngeren Bruder oder seinen alten Freund Orry.

Bis auf Brett, die weiterhin in Lehigh Station wohnte, waren die Bande zwischen den Hazards und den Mains zerschnitten. Wo war Orry? Wo Charles? Ein Briefschmuggler würde es nicht leicht haben, einen von ihnen zu finden, obwohl es, falls unbedingt notwendig, wahrscheinlich zu schaffen war. Doch wichtiger noch als Briefe war, daß sie alle diese dunklen Zeiten unverletzt überstanden.

Wegen Stanley machte er sich niemals Sorgen. Sein älterer Bruder kleidete sich gut und lebte üppig. Er und Isabel standen mit den mächtigsten Männern Washingtons auf vertrautem Fuße und wurden bei den wichtigsten gesellschaftlichen Veranstaltungen der Stadt gesehen. George begriff nicht, wie ein derart unfähiger Mann es so weit bringen konnte.

»Es gibt wechselnde Zeiten, George«, sagte Constance. »Zyklen für alle Dinge – das steht in der Bibel. Stanley stand lange Zeit in deinem Schatten.«

»Und jetzt steh ich in seinem?«

»Nein, damit wollte ich nicht sagen – «

»Es ist die Wahrheit. Und es macht mich wütend.«

»Ich bin selbst ein bißchen eifersüchtig, wenn du es unbedingt wissen willst. Andererseits bin ich überzeugt davon, daß hauptsächlich Isabel für den Erfolg verantwortlich ist, und ich würde mich lieber aufhängen, als mit ihr zu tauschen.«

George paffte seine Zigarre. »Weißt du, ich kann nicht vergessen, daß ich Stanley geschlagen habe. Vielleicht ist das nur die ausgleichende Gerechtigkeit. Vielleicht ist das meine Strafe.«

»Hast du bemerkt, wie freundlich der Minister war?« sagte Stanley eines späten Abends im Juli. Nach einer Shakespeare-Aufführung in Leonard Grovers neuem Theater fuhren sie in ihrer Kutsche nach Hause. »Hast du das bemerkt, Isabel?«

»Warum sollte Stanton nicht freundlich sein? Du bist einer seiner besten Angestellten. Er weiß, daß er dir vertrauen kann.«

Stanley strahlte. Konnte es wahr sein? Lediglich einige wenige Aspekte in seiner Rolle als überzeugter Republikaner behagten ihm nicht so ganz. Einen davon erwähnte er Isabel gegenüber, als sie zu Bett gingen.

»Das Konfiszierungsgesetz soll diese Woche verabschiedet werden. Die Sklaven der eroberten Gebiete werden befreit, und der Einsatz farbiger Truppen wird gebilligt. Aber das ist noch nicht alles. Stanton hat es mir in der zweiten Pause erzählt, als du auf der Toilette warst.«

»Ich wäre dir dankbar, wenn du dieses Wort in meiner Gegenwart nicht benützen würdest. Sag mir, was du von Stanton erfahren hast.«

»Der Präsident arbeitet an einem Regierungserlaß.« Stanley legte eine Kunstpause ein, um die Wirkung zu steigern. »Er will alle Sklaven freisetzen.«

»Mein Gott. Bist du sicher?«

»Nun, zumindest alle Sklaven der Konföderation. Ich glaube nicht, daß er sich an die Sklaverei in Kentucky oder den beiden anderen Grenzstaaten wagt.«

»Ah. Für so einen großen Idealisten hätte ich ihn nicht gehalten. Es wird sich dabei nicht um eine humanitäre Maßnahme, sondern um eine Strafmaßnahme handeln.« Widerstrebend fuhr sie fort: »Lincoln hat den Charme eines Schweines, aber eins muß man ihm lassen: Er ist ein schlauer Politiker.«

»Wie kannst du sowas sagen, Isabel? Willst du, daß ganze Horden befreiter Nigger in den Norden schwärmen? Denk an die Unruhe, an all die Jobs, die anständige weiße Männer verlieren werden. Die ganze Idee ist ein einziger Skandal.«

»Du behältst diese Meinung besser für dich, wenn du dir die Freundschaft von Stanton und Ben Wade bewahren willst.«

»Aber – «

»Stop, Stanley. Wenn du im Hause des Teufels speist, dann kannst du nicht das Menü bestimmen. Spiel deine Rolle. Den loyalen Republikaner.«

Er tat es, obwohl ihm häufig bei all dem plötzlichen Gerede über Emanzipation, das durch die Büros und Flure, durch die Salons und Kneipen des offiziellen und inoffiziellen Washingtons schwirrte, die Galle überlief. Lincolns radikaler Vorschlag stieß viele Weiße vor den Kopf, die davon Wind bekamen; ganz sicher würde bei Inkrafttreten eines solchen Gesetzes ein sozialer Aufruhr die Folge sein. Stanley gehorchte jedoch seiner Frau und behielt seine Ansichten für sich.

Mit einer Ausnahme. Er lud seinen Bruder zu Willard’s zum Essen ein, damit er seinen Triumph auskosten konnte.

»Ich würde diesem Aufsichtskomitee nicht zuviel Zeit widmen, George. Wenn es nach Ben Wade und einigen anderen geht, dann besteht West Point nächstes Jahr um diese Zeit aus ein paar verlassenen Gebäuden und Erinnerungen.«

»Wovon zum Teufel sprichst du?«

»Es werden keine Mittel mehr für diese Institution bereitgestellt. Man hat dort für kostenlose Ausbildung von Verrätern gesorgt, aber was hat unsere Seite davon? Ein General, bei Shiloh erwiesenermaßen stockbesoffen, ein anderer so unfähig, daß er nicht mal gegen eine halb so große Armee wie seine eigene siegen kann. Ich könnte außerdem – noch – anführen – «

Der Satz verlor sich in Gemurmel; George hatte seine Gabel niedergelegt und funkelte ihn an.

»Du sagtest was von einem freundschaftlichen Treffen. Keine Politik. Ich hätte es besser wissen müssen.«

Er ging hinaus, ließ Stanley mit der Rechnung sitzen.

Stanley störte es nicht. Er fühlte sich großartig an diesem Tag. Gerade eben hatte er einen hübschen kleinen Triumph errungen. Die kostbare Institution seines hochmütigen Bruders war dem Untergang geweiht, und er hatte nicht den Hauch einer Chance, etwas dagegen zu unternehmen.

Sie war schwarz und wunderschön. Kupferbeschlagene Eiche, Länge von Bugspriet bis Heck über zweihundert Fuß. Ein einziger flacher Schornstein mittschiffs betonte noch ihr schnittiges Aussehen.

Cooper kannte sie in- und auswendig und liebte sie ohne jede Einschränkung. Sie war eine Schonerbark, tausendundfünfzig Tonnen, mit zwei Maschinen von dreihundertfünfzig Pferdestärken, die eine einzige Schraube antrieben. Diese konnte aus dem Wasser gehoben werden, um den Widerstand zu verringern. Ihre drei Masten faßten eine Menge Segeltuch. An diesem 29. Juli lag sie ausgerüstet und vollbemannt im Mersey.

Aus zahlreichen Kutschen stiegen die Fahrgäste auf das Pierpflaster. Bulloch begrüßte jeden örtlichen Geschäftsmann und Amtsinhaber mit Namen; alle waren sie überstürzt zu einer Nachmittagsfahrt auf Nummer 209 eingeladen worden.

Captain Butcher, ehemaliger Zweiter Offizier auf dem Postschiff Ihrer Majestät, der Arabia, hatte die Kessel unter Dampf und wartete auf die letzten Gäste. Vielleicht kamen sie noch vor dem Befehl an Bord, der laut Bullochs Spionen von Whitehall unterwegs war: Das Schiff sollte am Auslaufen gehindert werden, da seine endgültige Bestimmung gegen britisches Gesetz verstieß.

Ein neben Bulloch stehender Angestellter zeigte ihm eine Liste. »Bis auf diese beiden Gentlemen sind alle da, Sir.«

»Wir fahren ohne sie.«

Damit ging er die Gangway hoch, vorbei an den für die erste Fahrt von Cunard und anderen Linien angeheuerten Seeleuten. Plötzlich sah Cooper hinter den Dockarbeitern eine Kutsche durch die Canning Street auf das Schiff zugerast kommen. Vom Fuße der Gangway aus rief er: »Vielleicht kommen da unsere letzten Gäste, James.«

Schnell trat Bulloch ans Ruder und sprach zu dem jungen Captain Butcher, dessen heller Schnurrbart in der Merseybrise wehte. Die Kutsche ratterte den Pier entlang. Noch bevor sie hielt, sprang ein Mann heraus. Coopers Magen verkrampfte sich, als er Maguire erkannte. Hinter ihm tauchte Marcellus Dorking auf.

Der Anblick des Mannes machte Cooper wütend. Seit jenem Nachmittag waren ihm häufig Spione gefolgt, die alle zweifellos für Tom Dudley arbeiteten. Von Dorking hatte er jedoch nichts mehr gesehen. Die Drohung gegen Coopers Familie war nichts als heiße Luft gewesen. Damit sank Dorking noch tiefer in Coopers Achtung.

Maguire und Dorking kamen auf Cooper zugestürzt, der die Gangway versperrte. Dorkings rechte Hand verschwand in seiner Jackentasche. »Kleine Vergnügungsfahrt, Sir?« fragte er mit seinem gewohnten, schmierigen Lächeln.

»Richtig. Wie Sie sehen können, haben wir lokale Würdenträger an Bord.«

»Das mag sein, aber wir müssen Sie trotzdem auffordern, Ihre Abfahrt hinauszuschieben. Gerade jetzt müßte ein Zug in der Lime Street einfahren, mit einem Gentleman, der mit dem Captain über gewisse Unregelmäßigkeiten zu sprechen wünscht.«

»Sie müssen mich entschuldigen«, unterbrach Cooper. Er begann die Gangway hochzugehen.

»Einen Moment.« Dorking packte Cooper an der Schulter und drehte ihn grob herum. Ein paar Matrosen riefen Butcher Warnungen zu. Unter den geladenen Gästen erhob sich Gemurmel.

Bulloch wollte Cooper zu Hilfe kommen, aber es war bereits zu spät. Marcellus Dorking holte eine kleine, silberbeschlagene Pistole hervor und rammte sie Cooper in den Magen.

»Beiseite, während wir mit dem Herrn dieses Schiffes sprechen.«

Cooper war noch nie so direkt mit dem Tode bedroht worden. Noch nie hatte er soviel Angst gehabt, doch irgendwie schien das nicht so wichtig zu sein; die Nummer 209 ihrer Bestimmung zu übergeben war viel wichtiger. Dorking merkte, daß seine Pistole von den an Deck Stehenden gesehen werden konnte, und versuchte sie zu verbergen. Als sich die Mündung senkte, stampfte Cooper auf Dorkings Schuh.

»Oh, verdammt«, schrie Dorking auf und taumelte. Maguire schlug nach Cooper, der ihm einen Stoß gab, dann Dorking ein Knie in die Leiste rammte. Konsul Dudleys Agenten purzelten auf die Pflastersteine wie schlecht trainierte Akrobaten.

Cooper sprang die Gangway hoch, brüllte zu Dorking und Maguire hinunter: »Bei dieser Fahrt sind nur geladene Gäste zugelassen, Gentlemen.«

Captain Butcher bellte Befehle. Die Dockarbeiter, die dem Streit mit verblüffter Erheiterung gefolgt waren, machten die Leinen los. Unter den Gästen herrschte Bestürzung.

Braunes Wasser tauchte zwischen Schiffsrumpf und Pier auf. Der Fluß glänzte wie Gold; die Luft war salzig und nicht zu heiß; ein perfekter Nachmittag. Bulloch versprach, sofort alle Fragen zu beantworten, aber zuerst sollten sich die Gäste mit dem französischen Champagner und den Delikatessen bedienen, die er bereitgestellt hatte, um die Illusion eines unschuldigen Vergnügungsausflugs zu stützen. Als wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt war, bat er höflich um Aufmerksamkeit.

»Wir hoffen, daß Sie alle die kleine Kreuzfahrt auf diesem Schiff, das bis jetzt in Liverpool und Birkenhead unter dem Namen Enrica oder Laird’s 209 bekannt war, genießen werden. Bald schon wird sie ihren richtigen Namen tragen. Machen Sie sich einen angenehmen Nachmittag. Essen und trinken Sie, soviel Sie wollen, und lassen Sie sich von diesem kleinen Zwischenfall am Pier nicht beunruhigen. Ich will ehrlich sein und Ihnen gestehen, daß Sie an Bord eines Schleppers zurückkehren werden, der unten an der Küste bei Anglesey auf uns wartet.«

»Was soll das?«

»Verdammt, Bulloch, was für Ausflüchte haben Sie –?«

»Ein verfluchter Trick, das ist es, was – «

»Eine bedauerliche Notwendigkeit, Gentlemen«, sagte Bulloch, mit seiner tiefen Stimme die Proteste übertönend. »Sonntags wurden wir gewarnt, daß dieses Schiff beschlagnahmt werden würde, wenn es noch weitere achtundvierzig Stunden auf dem Mersey bliebe. Für uns und unsere Sache verloren. Sie werden keine Schwierigkeiten mit den Behörden bekommen, wenn Sie einfach die Wahrheit sagen.«

»Die Gerüchte entsprechen also der Wahrheit? Dieses Schiff wurde illegal gebaut?«

»Sie wurde unter peinlichster Einhaltung der britischen Gesetze gebaut, Sir.«

»Das ist keine Antwort«, sagte ein anderer. »Was ist ihr Bestimmungsort?«

»Sie fährt durch den irischen Kanal und steuert dann einen Hafen an, dessen Namen zu nennen ich nicht befugt bin. Schließlich wird sie mit anderer Mannschaft in amerikanischen Gewässern kreuzen.«

Cooper fühlte eine merkwürdige Erregung sein Rückgrat hochkriechen. Welch erstaunliche, kaum bemerkte Veränderung war doch seit jenen Tagen mit ihm vorgegangen, als er mit jedem über die Dummheit der Sezession und des Krieges debattiert hatte. Er war stolz auf dieses Schiff und auf seinen Anteil daran. Er war stolz auf ihren Namen, den Bulloch ihm anvertraut hatte. Sie würde Alabama heißen. Er war stolz darauf, auf dem brandneuen Deck zu stehen, während sie ihrer Bestimmung entgegenfuhr, die Bulloch den verblüfften Gästen verkündete.

»Sie zieht in den Krieg.«

Während das Konföderiertenschiff die Isle of Anglesey ansteuerte, war George nach Massachusetts unterwegs, nach einem anderthalbtägigen Zwischenaufenthalt in Lehigh Station. Er hatte mit Jupe Smith konferiert, der ihn davon in Kenntnis setzte, daß die Legislative ihrem Antrag auf Bankzulassung nun sehr positiv gegenüberstand. »Welch eine Überraschung«, murmelte George. Anschließend war er mit Wotherspoon sieben Stunden lang die Bücher durchgegangen, hatte den Betrieb inspiziert und Hazards gegenwärtige Produktion überprüft. Bevor er abreiste, besuchte er das ungarische Paar und ihre schwarzen Zöglinge – mittlerweile fünfzehn. Um ihrer Einsamkeit zu entgehen, sagte Brett, helfe sie manchmal Mr. und Mrs. Ozorna und kümmere sich um die Kinder. Das war das einzige Mal, daß George bei seinem Besuch eine Spur von Lebhaftigkeit bei seiner Schwägerin entdecken konnte.

Nachdem er im Zug keinen Schlaf hatte finden können, kam George erschöpft in Braintree an. Old Sylvanus Thayer gestand ihm drei Stunden in einem bequemen Bett zu, weckte ihn dann und servierte ihm ein üppiges Frühstück. George, für gewöhnlich ein spartanischer Esser, verdrückte an diesem heißen Sommernachmittag sechs Spiegeleier, vier Scheiben Schinken und sechs Biskuits. Während er aß, redete Thayer.

»Sündenböcke, George. Man braucht sie am nötigsten, wenn die Dinge außer Kontrolle geraten. Im Krieg gab man der Armee die ganze Schuld, und zwar gerechterweise.« Für Thayer existierte stets nur ein Krieg: der letzte, der Kampf gegen England. »Jetzt jedoch fließt die Strömung in die andere Richtung. Ich nehme die Warnung Ihres Bruders ernst.«

George trank seinen Kaffee aus und zündete sich eine Zigarre an.

»Die ständige Behauptung, wir hätten den Feind ausgebildet, hängt mir langsam zum Halse raus.«

»Ich weiß, ich weiß.« Thayers Hände, so weiß wie das feine Tischtuch, ballten sich. Dunkelblaue Adern traten am Handrücken hervor. »Wir haben auch viele Offiziere ausgebildet, die loyal geblieben sind. Trotz all seiner ernsthaften Bemühungen kann der Präsident sie anscheinend nicht nutzbar einsetzen. Vielleicht mischt er sich zu sehr ein, was auch von Davis behauptet wird. Das ist eine Beobachtung, keine Entschuldigung für mangelnde Aktion. Wir können dem Unvermeidlichen nicht entgehen, George. West Point befindet sich im Krieg.«

Er nahm die Zigarre aus dem Mund. »Was soll das heißen, Sir?«

»Im Krieg. Diejenigen unter uns, die diese Institution lieben, müssen kämpfen, als würden wir einem übermächtigen Feind gegenüberstehen – was auch der Fall ist.« Eine Hand fuhr klatschend auf einen Stapel Zeitungen. »Wir müssen mit Intelligenz, Energie, mit unserer ganzen Seele kämpfen – und dürfen uns niemals auch nur die leiseste Möglichkeit einer Niederlage eingestehen. Wir dürfen nicht passiv darauf warten, bis unsere Stellungen überrannt werden. Wir werden zur Offensive übergehen.«

»Ich stimme dieser Strategie zu, Colonel. Aber mit welcher Taktik?«

Die Augen des alten Mannes funkelten. »Wir stellen unser Licht nicht unter den Scheffel. Wir machen mit unserer Vergangenheit Reklame – unseren Leistungen für die Republik in Mexiko und an der Grenze. Mit Trompetenstößen verkünden wir unseren Fall. Wir flüstern in einflußreiche Ohren. Wir brechen die Arme, die sich gegen uns erheben, wir schlagen ihnen die widerspenstigen Schädel ein. Wir greifen an, George – «

Donnernd krachte die Faust auf den Tisch.

»Angriff! Angriff! Angriff!«

Sie redeten bis in die Nacht. Absolventen und Freunde mußten dazu gebracht werden, für West Point einzutreten. Spontan entschloß sich George, auf dem Heimweg die Akademie zu besuchen. Erst gegen halb vier sank er ins Bett, doch Thayer war bereits eine Stunde vor ihm wieder auf, um halb sieben, und begleitete ihn zum Bahnhof. Selbst auf dem lärmerfüllten Bahnsteig arbeitete Thayers Verstand auf Hochtouren.

»Was für einflußreiche Verbündete haben wir im Kongreß? Haben wir überhaupt welche?«

»In erster Linie fällt mir da nur Wades Senatorkollege aus Ohio ein – Sherman’s Bruder John. Er und Wade mögen sich nicht besonders.«

»Kümmern Sie sich um Senator Sherman«, drängte Thayer, während er George die Hand schüttelte. George kam es vor, als hätte er seine Marschbefehle erhalten.

Nach einem kurzen Halt in Cold Spring und gemeinsamen Klagen mit Benent überquerte George den Hudson und begann anschließend seinen Feldzug. Professor Mahan versprach, seine Schriften über die Institution rasch herauszubringen. Captain Edward Boynton, ein Klassenkamerad von George und Orry, der als Adjutant zurückgekehrt war, sagte, er werde sein Manuskript über die Geschichte West Points so schnell wie möglich vollenden und dabei die lau gewordenen Kritiken im endgültigen Text widerlegen. Als George dann in dem überfüllten, rauchigen Zug nach Washington saß, fühlte er sich ein bißchen besser; die Offensive war gestartet.

Er hoffte, sie sei nicht zu spät in Gang gebracht worden. Anfang nächsten Jahres würde der Bewilligungsantrag dem Kongreß vorliegen. Ihnen blieben weniger als sechs Monate, um ihren kleinen Krieg zu gewinnen, während der große Krieg eine düstere Straße entlangrumpelte, deren Ende niemand absehen konnte.

Zu seinem Dienst zurückgekehrt, mußte George feststellen, daß die Kritik an der Armee heftiger denn je geworden war. Old Brains Halleck war aus dem Westen geholt worden, um den Oberbefehl zu übernehmen. McClellan führte immer noch die Potomac-Armee, die mittlerweile in erster Linie zur Verteidigung von Washington diente, und John Pope hatte die Armee von Northern Virginia nach seinem Erfolg bei Insel Nr. 10 übernommen. Pope stieß gleich zu Beginn die meisten seiner Männer mit der Bemerkung vor den Kopf, daß die Soldaten des westlichen Kriegsschauplatzes zäher waren und härter kämpften.

Lincolns Negerpolitik verursachte Schlägereien in Saloons und Armeelagern. Lediglich der Abschnitt des Konfiszierungsgesetzes, in dem die freigesetzten Sklaven zur Emigration in ein nicht näher bestimmtes tropisches Land ermutigt wurden, fand allgemeinen Beifall. »All dieses Gerede von Emanzipation, auf die wir noch gar nicht vorbereitet sind«, sagte George zu seiner Frau. »Niemand glaubt daran.«

»Das sollte man aber.«

»Ja, natürlich. Aber du kennst die Realitäten, Constance. Die meisten Nordstaatler scheren sich den Teufel um den Neger, und ganz sicher glauben sie nicht, daß er die gleichen Rechte haben sollte wie ein Weißer. Wenn die Emanzipation kommt, dann hab’ ich Angst vor den Konsequenzen.«

Ende August wurde die zweite große Schlacht in der Nähe von Bull Run geschlagen, mit ähnlichem Ausgang wie die erste. Geschlagene Einheiten der Union zogen sich nach Washington zurück, wo sich die Furcht vor einem direkten Angriff wie ein Präriebrand ausbreitete. Kriegsgegner forderten sofortige Friedensverhandlungen.

An einem stürmischen Tag Anfang September rief der Minister Stanley in sein Büro. Stanton hatte die Kontrolle über die Armee an Halleck übergeben, aber still und heimlich sammelte er die Fäden der Macht auf anderen Gebieten in seinen Händen. Einst hatte er Lincoln mit Verachtung betrachtet, aber mittlerweile hatte er sich beim Präsidenten eingeschmeichelt und war zu einem vertrauenswürdigen Ratgeber und erklärten Freund geworden. Edwin McMasters Stanton, noch keine fünfzig, mit runder Brille, parfümiertem Bart und Buddhagesicht, hatte sich, wie es hieß, zum zweitmächtigsten Mann im Lande entwickelt.

Er hatte sehr entschiedene Ansichten über die wachsende Unzufriedenheit:

»Wir müssen das ausrotten. Wir müssen diese Friedensdemokraten hart an die Kandare nehmen und ihnen klar machen, daß sie ins Gefängnis wandern, ja selbst Hochverratsprozesse zu fürchten haben, wenn sie weiterhin die Regierung und die Regierungsmaßnahmen angreifen.«

Regen klatschte gegen die Bürofenster; zu Mittag schien es bereits zu dämmern. An die emsige Produktion bei Lashbrooks denkend, nickte Stanley heftig. »Ich stimme voll mit Ihnen überein, Sir.«

»Minister Seward war früher für die Sicherheit der Regierung verantwortlich.« Es war Legende, wie Seward diesen Pflichten nachgekommen war; er prahlte damit, daß er nur mit der kleinen Handglocke auf seinem Schreibtisch zu läuten brauchte, um jeden Mann jederzeit für beliebig lange hinter Gittern verschwinden zu lassen. »Aber ich führe nun das Kommando.«

Stanley überlegte, weshalb der Minister derartige Selbstverständlichkeiten von sich gab. Stanley verschränkte seine plumpen Hände auf dem Schreibtisch. »Ich brauche einen Stellvertreter, dem ich vertrauen kann. Einer, der mit ganzer Kraft meine Politik vertritt und meine speziellen Befehle schnell und ohne zu zögern ausführt.«

Stanley umklammerte den Besucherstuhl, um sich zu beruhigen. Die Machtmöglichkeiten, die Stanton da mit einem Satz vor ihm ausgebreitet hatte, waren überwältigend.

»Wir müssen den Sicherheitsbereich vollkommen umorganisieren und streng gegen die Feinde in unserem eigenen Lager vorgehen.«

»Zweifellos, Sir. Aber ich frage mich, wie leicht dieses Ziel erreicht werden kann. Die Habeas-Corpus-Sache hat einen Sturm der Entrüstung wegen Verletzung der Verfassungsrechte erzeugt.«

Stantons Mundwinkel schnellten nach oben, ein Hohnlächeln. Stanleys Knie zitterten. Er hatte den Minister verärgert anstatt wie erhofft bewiesen, daß er die Situation erfaßt hatte.

»Ist das Land für die Verfassung erschaffen worden, Stanley? Ich glaube nicht. Eher wohl das Gegenteil. Ich kenne jedoch die verdrehten Ansichten unserer Feinde. Wenn das Land in Schutt und Asche sinkt, dann werden sie es sicherlich ungemein tröstlich finden, daß die Verfassung unangetastet geblieben ist.«

Schnell beugte sich Stanley vor. »Solche Leute sind nicht nur fehlgeleitet, sie sind gefährlich. Mehr wollte ich damit nicht zum Ausdruck bringen, Sir.«

Stanton lehnte sich, seinen Bart streichend, zurück. »Gut. Einen Moment lang glaubte ich, ich hätte sie falsch eingeschätzt. Sie haben mir loyal gedient, und absolute Loyalität ist eine Voraussetzung für den Job, den ich anzubieten habe. Ich benötige einen Mann, der diskret, aber unerbittlich unsere Feinde zum Schweigen bringt – und dafür sorgt, daß dieses Amt nicht damit belastet wird.«

»Das kann ich einrichten, Sir. Ich kann alles tun, was Sie verlangen, und ich werde es auch tun.«

»Ausgezeichnet«, murmelte Stanton. Dann blinzelte er verschlagen über seine runde Brille. »Ich würde meinen, Sie verfügen immer noch über genügend Zeit, Fußbekleidung an die Armee zu verkaufen, wenn Sie Ihren neuen Pflichten wirkungsvoll nachgehen.«

Stanley saß still, wagte nicht zu antworten.

Das Gemurmel des Ministers dauerte noch weitere fünfzehn Minuten, dann übergab er Stanley eine Mappe mit seinem vertraulichen Plan, wie der Polizeiarm des Kriegsministeriums zu stärken sei. Auf Stantons Anregung hin blätterte Stanley das halbe Dutzend Seiten durch, wobei er der philosophischen Einleitung besondere Aufmerksamkeit widmete.

»Diese Aussage zu Beginn ist genau richtig, Sir. Wir müssen die Zügel straffen. Das wird sogar noch bedeutsamer werden, wenn der Präsident seinen Plan durchführt, die Nig… die Schwarzen in den Rebellenstaaten zu befreien.«

Stanleys Hand schloß sich um die Mappe – sein Schlüssel zu erweiterter Autorität und Macht. Der Minister hatte es sehr deutlich gemacht. Er wünschte keinen brillanten Denker, sondern einen gehorsamen Soldaten.

Nachdem sie die Gegend um Frederick, Maryland, ausgekundschaftet hatten, kehrten Charles und Ab zurück nach White’s Ford am Potomac. Es war der 4. September; der Herbst stand vor der Tür.

Die Scouts, beide wie Farmer gekleidet, trabten langsam eine von Fahrrillen durchzogene Straße zwischen steilen, baumbestandenen Hügeln entlang. Die Blätter waren noch grün, aber Charles war bereits von der Melancholie der kommenden Jahreszeit angesteckt. Trotz seiner Aversion gegen das Schreiben hatte er in den letzten Monaten drei Briefe nach Barclays Farm geschickt und keine Antwort erhalten. Er hoffte, daß dies nur ein weiteres Beispiel für die Unzuverlässigkeit der Armeepost war und kein Anzeichen dafür, daß Gus ihn vergessen hatte.

Gestern hatten sie sich direkt nach Frederick hineingewagt – zwei unangenehme Stunden für Charles, da er wegen seines Akzentes stumm bleiben und Ab das Reden überlassen mußte. Eine Weile trieb er sich auf eigene Faust in der Stadt herum; er sprach mit niemandem und erregte so auch keinen Verdacht. Ab besuchte einen Saloon und kam mit beunruhigenden Nachrichten zurück.

»Charlie, sie sind verflucht noch mal kein bißchen daran interessiert, befreit zu werden. Glaubst du, Bob Lee hat falsche Informationen bekommen? Mir hat man gesagt, wir könnten mit einem großen Aufstand der Einheimischen rechnen, die uns zu Hilfe kommen würden, wenn wir in diesen Staat einmarschieren.«

»Mir hat man das gleiche gesagt.«

»Na ja, die meisten Kerle in dieser Kneipe taten so, als wär’s ihnen vollkommen egal, ob ich aus der Hölle oder aus Huntsville komme. Ich wurde ein bißchen angestarrt, bekam eine Einladung zum Kartenspiel, kaufte mir selber ein Glas Whiskey und konnte ‘ne Menge Rücken betrachten. Die Leute hier, die werden sich einen Furz um uns scheren.«

Charles runzelte die Stirn. Hatte sich die Armee wieder mal verschätzt? Wenn ja, dann war es bereits zu spät; der Vormarsch war schon im Gang. Mr. Davis und die Generale schienen sich über den Status von Maryland nicht einig zu sein. Der Präsident beharrte darauf, daß der Staat zum Süden gehöre und sie als Befreier kommen würden – eine Beurteilung, der Abs Report widersprach.

Wie immer auch die richtige Antwort lauten mochte, sie hatten jedenfalls ihre Mission beendet. Sie hatten hinter Frederick in einem abgelegenen Wäldchen übernachtet, mit ihren Schrotflinten überm Bauch und um die Handgelenke gewickelten Leinen.

Jetzt sagte Ab: »Kann ich dich was fragen, Charlie?«

»Nur zu.«

»Hast du ein Mädchen? Bin neugierig, weil du nie was sagst.«

Er dachte an Private Gervais und Miss Sally Mills. »Das ist die falsche Zeit und der falsche Ort, um ein Mädchen zu haben.«

Der andere Scout lachte. »Das stimmt weiß Gott, aber es beantwortet meine Frage nicht. Hast du eins?«

Charles schob seinen dreckigen Filzhut in die Stirn und beobachtete die Straße. »Nein.«

Es war eine ehrliche Antwort. Er hatte kein Mädchen, außer in seiner Phantasie. Wenn man ein Mädchen hat, dann schreibt sie einem auch. Gus hatte ihn geküßt, aber was bedeutete das? Eine Menge Frauen verschenkten ihre Küsse wie selbstgebackenen Kuchen.

Die Gegend veränderte sich schnell. Die Hügel wurden höher, steiler. In den wenigen Lichtungen tauchten keine Hütten mehr auf. Charles vermutete, daß sie nahe am Fluß waren, und hörte kurz darauf zur Bestätigung die fernen Geräusche – der Lärm einer Armee von fünfundfünfzigtausend Männern, die Virginia auf dem Weg durch die Furt verließen. Wenn Little Mac von der Invasion Wind bekam, dann würden die Yanks sich aus Washington herauswagen und kämpfen.

Sie erreichten den Fluß rechtzeitig, um die sich nähernde Kavallerie beobachten zu können – fünftausend Pferde, behauptete Ab, einschließlich neuer Brigaden mit alten Kameraden. Sein alter Freund Beauty Stuart war Generalmajor der Division – und noch keine dreißig. Hampton war sein Senior-Brigadier, Fitz Lee sein Junior. Charles’ alter Freund hatte schnell Karriere gemacht; in fünfzehn Monaten vom Lieutenant zum General.

Ab stieß einen Schrei aus, als er Hamptons Männer auf der Virginiaseite erspähte. Zu der Brigade gehörte die neu aufgestellte Second South Carolina Kavallerie, die mit den vier ursprünglichen Truppen der Legion als Kern gebildet worden war. Calbraith Butler war Colonel des Regiments. Er sah die beiden Scouts auf ihren im Flachwasser stehenden Pferden hocken und grüßte sie mit einem Winken seiner silberbeschlagenen Peitsche. Neben Butler ritt sein Stellvertreter, Hamptons jüngerer Bruder Frank.

Charles kam sich wie der Klassentrottel vor. Er war immer noch Captain, und dies war einer der Momente, wo es schmerzte. Andererseits konnte er nicht leugnen, daß er das gefährliche, aber unabhängigere Leben eines Scouts vorzog.

Er machte Ab darauf aufmerksam, daß sie sich auf die Suche nach Stuarts Hauptquartier machen und Bericht erstatten sollten. Ganz plötzlich trieb Hampton sein Pferd vom Virginiaufer aus in den Potomac. Er erspähte die Scouts und kam auf sie zugeritten. Er beantwortete ihren Gruß mit einem herzlichen Lächeln und schüttelte beiden die Hand.

»Ich habe gehört, Ihnen macht das Spaß, was Sie gerade tun, Captain Main.«

»Ich bin dafür besser geeignet als zum Führen einer Truppe, General. Es gefällt mir ausgezeichnet.«

»Freut mich zu hören.«

»Sie sehen gesund aus, Sir. Es ist schön, daß Sie sich so schnell erholt haben.« Hampton war zu Pferd, während er die Infanterie bei Seven Pines kommandierte, von einer Feindeskugel am Fuß getroffen worden.

»Gut, daß Sie mir zufällig über den Weg laufen«, sagte der General. »Da kann ich Ihnen gleich zwei kleine Neuigkeiten überbringen, die Sie als nachträgliche Rechtfertigung betrachten können.« Verständnislos wartete Charles, daß er fortfuhr. »Bei dem Versuch, seine Männer zu drillen, fiel Captain von Helm vor kurzem vom Pferd und brach sich das Genick. Er war betrunken. Weiterhin ist Ihr spezieller Liebling, Private Cramm, ohne Erlaubnis verschwunden.«

»Wahrscheinlich hängt er mit einigen Hundert anderen zwanzig Meilen zurück.«

»Cramm ist kein Nachzügler. Er ist desertiert. Er ließ uns eine Nachricht zurück, daß er sich gemeldet habe, um Grund und Boden des Südens zu verteidigen, nicht um einen Feldzug gegen den Norden zu unternehmen.«

»Herr im Himmel. Ich bin überrascht, daß er zur Abfassung dieser Erklärung keinen Anwalt angeheuert hat.« Charles hatte ebenso wie Ab Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.

»Ich dachte, die Nachrichten sind ein kleiner Trost für Sie.«

»Ich sollte es nicht zugeben, General, aber das sind sie.«

»Das ist keine Schande. Die Schande bestand darin, daß ein guter Führer wie Sie diese Wahl verlor. Hätten wir nur Cramms und von Helms, dann wären wir erledigt. Viel Erfolg, Captain. Ich bin sicher, ich werde bald schon Ihre und Lieutenant Woolners Dienste in Anspruch nehmen.« Er galoppierte los, um sich wieder seinem Stab anzuschließen.

Nachdem sie Bericht erstattet hatten, verbrachten Charles und Ab den Abend damit, auf neue Befehle zu warten. Es kamen keine. Sie aßen, versorgten ihre Pferde, versuchten zu schlafen und schauten Borgens zu, wie Old Jack seine Männer nach Maryland führte.

Abner schenkte Jackson eine gewisse Aufmerksamkeit, interessierte sich aber mehr für die lange Infanteriekolonne, die ihm folgte. Jacksons Männer sahen aus, als hätten sie jahrelang in ihren Kleidern geschlafen und gekämpft, ohne sie je zu waschen. Bis auf ihre Waffen hatten sie fast nichts dabei. Verschwunden waren die prallen Tornister und Rucksäcke von 1861.

Das waren die legendären Soldaten, bekannt als Jacksons Fußkavallerie, weil sie innerhalb von zwei Tagen sechzig Meilen marschieren konnten. Charles starrte verblüfft auf die Reihen der wilden Bärte, irre glitzernden Augen und von der Sonne furchtbar verbrannten Wangen und Stirnen.

»Mein Gott, Ab, eine ganze Menge von ihnen hat nicht mal Schuhe.«

Es stimmte. Die Überbleibsel des Schuhwerks waren zerrissen oder in Fetzen zusammengebunden. Charles beobachtete, wie die Kolonne vorbeimarschierte; schätzungsweise fünfzig Prozent von Jacksons Männern marschierten mit nackten, zerschnittenen, blutverschmierten Füßen. Bei warmem Wetter mochte das noch erträglich sein, aber wenn der Winter kam?

Charles studierte einen Soldaten mit zerknittertem Gesicht, der durch das Flachwasser schlurfte; er schätzte ihn auf vierzig, erkannte dann, daß er sich getäuscht hatte. »Sie sehen wie alte Männer aus.«

»Wir auch«, sagte Ab, über Cyclones Nacken hängend. »Hast du in letzter Zeit das Grau in deinem Bart bemerkt? Es heißt, Bob Lee sei fast weiß. Eine Menge Sachen haben sich in einem Jahr geändert, Charlie. Und es ist noch nicht das Ende.«

Plötzlich und unerwartet lief Charles ein Schauder über den Rücken. Er beobachtete die dreckigen Füße, die hinüber nach Maryland marschierten, und fragte sich, wieviele davon zurückkehren würden.

57

9. September. Der heiße Dunst des Spätsommers hing über dem hügeligen Land. Das Grün wurde nun gelb, vertrocknete und verdorrte; Zeit, die Ernte einzubringen.

Die Kavallerie zog sich über eine Länge von fast zwanzig Meilen hin. Dahinter kamen Lees Divisionen, bereit, in Pennsylvania einzufallen, wie manche behaupteten. Hinter der Linie, jenseits der dunstigen Hügel – McClellan, der mit seiner gesamten Streitmacht aus Washington anmarschierte. Langsam wie immer, aber er kam.

Hampton lagerte bei Hyattstown, einige Meilen südlich von Urbana. Charles packte nur das Notwendigste in seine Feldkiste, aus der er seinen grauen Waffenrock im Range eines Captains herausholte. Man brauchte nicht viel Phantasie, um zu ahnen, daß die Invasion zu schweren Kämpfen führen würde, und er wollte sichergehen, daß seine eigene Seite ihn identifizieren konnte. Er beobachtete, wie seine Kiste in einen der Gepäckwagen gehoben wurde, als sähe er sie zum letztenmal.

Am Abend beschwerte sich Ab. »Hier gibt’s wohl niemanden, der uns was zu futtern besorgt. Für die Zweibeiner wie für die Vierbeiner das gleiche Futter, Charlie, mein Junge.«

Charles sagte nichts, kontrollierte lediglich seine Patronen, damit er noch ein bißchen schlafen konnte. Bald schon würden sie sich vielleicht nach einem bißchen Schlaf sehnen, würden sie darum beten.

10. September. Nach Anbruch der Nacht gingen Charles und acht andere Scouts auf Kundschaft. Um ein Haar wären sie mitten in die Blauröcke geritten. Auf der Straße griffen sie an und hörten keine Schreie: Black Horse, Black Horse!

Gewehrfeuer. Ein Scout aus dem Sattel geschossen – und der glücklose Doan verlor einen weiteren Gaul. Mit zwei Verwundeten galoppierten die Scouts los. Charles hatte Doan bei sich. Waren sie auf Pleasontons Männer gestoßen? Diese Kavalleristen hatten genauer geschossen und waren besser geritten als alle Yankees, die er bis jetzt gesehen hatte. Vielleicht lernten die Schuhverkäufer und die Maschinisten allmählich, wie man zu Pferd kämpfte.

In Urbana begab sich eine ganze Schar Hampton-Reiter in der Akademie oben auf dem Hügel in Behandlung, wo General Stuart ein Fest gab. Einen gottverdammten Ball, wovon der prahlerische Virginier anscheinend nicht genug bekommen konnte. Der Anblick der blutenden Männer verdarb die Festlichkeit ein bißchen. Die meisten der Mädchen gingen heim; einige wenige blieben, um zu helfen. Aber auch ihre hübschen, runden Augen glänzten im Kerzenschein, voller Angst vor dem Dreck und dem Geruch der fremden, wilden Männer, die hier angeritten gekommen waren und gemeldet hatten, jenseits des nächtlichen Horizonts marschiere eine große Streitmacht.

Neunzigtausend waren es, obwohl sie schnell einen hohen Blutzoll zahlen mußten. Bob Lee kannte die Stärke seines Gegners noch nicht. Und diese Armee bewegte sich zur Abwechslung mal nicht mit der bei McClellan üblichen Langsamkeit. Sie stürmte nicht gerade voran, aber sie schlief auch nicht unterwegs ein. Auch das wußte Old Bob nicht.

12. September. Auf dem Weg nach Westen teilte Lee, kühn, ja geradezu verrückt, seine Armee – soviel erfuhr Charles; den Rest mußte er erraten. Old Bob wollte seine Nachschublinien runter nach Winchester gesichert sehen, bevor er gegen Hagerstown losschlug; Teufel auch, vielleicht sogar gegen Philadelphia. Das hieß Neutralisierung der Garnison in Harpers Ferry. Das hieß Teilung seiner Kräfte. Der Befehl war am 9. September erlassen worden, aber das wußte Charles nicht.

Old Bob war allgemein als höflicher Mensch bekannt, der nur schwer zu ärgern war – und wer hatte ihn je fluchen hören oder hätte ihn einer Tat bezichtigen können, die eines Gentlemans nicht würdig war? Aber der Klang der Kanonen brachte sein Blut in Wallung, und wenn er militärische Risiken einging, dann setzte er manchmal alle Chips, die er besaß, wie ein Spieler auf einem Mississippiboot. Charles und Ab kamen zu dem Schluß, daß er es erneut getan hatte.

An diesem Morgen marschierte Stuart in westlicher Richtung aus Frederick, hinter Lee her. Charles und Ab und Hamptons Kavalleristen hingen zurück, sicherten nach hinten ab und hielten Ausschau nach den Männern in Blau – und bei Gott, da kamen sie, in unglaublichem Tempo marschierend. Was war mit Macs Langsamkeit passiert?

Für eine Antwort blieb jetzt keine Zeit. Die Nachhut wich über die Catoctin Ridge aus; Charles litt bereits unter der Müdigkeit, die, wie er wußte, in den kommenden Tagen, möglicherweise Wochen, immer schlimmer werden würde.

Die Bedrohung, das Gefühl sich sammelnder Mächte, stieg wie die Temperatur. Irgend etwas stimmte nicht, aber was?

Die Befreier wurden keineswegs übermäßig freudig begrüßt. In der Nähe von Burkittsville, während deutlich sichtbare blaue Reiter hinter ihnen herjagten, fegte Charles an einem winzig kleinen Mädchen mit blonden Zöpfen vorbei, das von einem Farmzaun aus mit einer kleinen Konföderiertenfahne winkte, aber das war auch schon der einzige Ausbruch patriotischer Begeisterung, den er miterlebte. Doan, der sich das Pferd eines Toten angeeignet hatte, brüllte dem Mädchen zu, es solle bloß diesen verfluchten Blaubäuchen aus dem Weg gehen, die da über den nächsten Hügel kamen. Das Kind schwenkte weiterhin sein winziges Fähnchen.

13. September. Old Bobs Männer bewegten sich schnell durch die Schluchten der herrlichen Berge der nördlichen Blue Ridge, die die einheimischen South Mountains nannten. Jetzt war die Armee wirklich geteilt; Jackson ging über den Potomac und schlug dann einen Haken, und seine Dämonen marschierten mit verschorften Füßen, um Harpers Ferry von Südwesten her zu belagern, während McLaws Division direkt auf die Anhöhen von Maryland abzielte und Walkers auf Loudoun Heights, einen Dreizack, der sich auf das Land am Zusammenfluß von Potomac und Shenandoah richtete.

Charles und die Scouts hatten ein kleines Gefecht mit marschierenden Männern, die sie für Jacob Cox’s Ohio-Soldaten hielten, aber natürlich ließ sich das kaum mit Sicherheit feststellen. Die Hitze nahm ebenso zu wie die Müdigkeit.

Und es war der Tag der Zigarren, der alles änderte. Aber das erfuhr Charles erst später.

Drei Zigarren – von einem Yankee durch Zufall auf dem Grund und Boden gefunden, wo Daniel Harvey Hills Männer bei Frederick gelagert hatten. Interessanter als die Zigarren war das Papier, in das sie gewickelt waren: eine wunderschön geschriebene, offensichtlich authentische Kopie des Befehls 191. Wer das Papier zurückgelassen hatte, wußte niemand. Klar war, wer es bald schon zu lesen bekam. McClellan las es und erfuhr so, daß Lee seine Armee geteilt hatte. Angefeuert von dieser Information, begann Little Mac wie ein Blizzard vorzustürmen. Der Überraschungseffekt, die Initiative, der Zeitvorteil, all das zerrann wie Wasser zwischen Old Bobs Fingern.

14. September. Im Verlauf des Morgens leerte Charles seinen Revolver viermal innerhalb von fünfundvierzig Minuten beim Kampf um Crampton’s Gap, den südlichsten der drei Bergpässe, die die Konföderierten zu halten versuchten. Nachdem ihm die Munition für den Colt ausgegangen war und er sich ernsthafte Sorgen zu machen begann, daß Sport getroffen werden könnte, zog er seine Schrotflinte. Auch dafür ging ihm langsam die Munition aus.

Stuart kommandierte Hampton eiligst zur Unterstützung von McLaws ab, da Lee verzweifelt Zeit zu gewinnen suchte, um die geteilte Armee wieder zu vereinigen, da Little Mac ansonsten die einzelnen Einheiten fast mühelos hätte vernichten können. Der Befehl: Grabt euch ein, haltet die Pässe um jeden Preis.

Aber die Pässe gaben langsam nach, die Granaten schlugen Löcher in die Hänge und die grauen Linien, und Lee hatte nicht mehr als einen Tag gewonnen.

Die Pässe waren mit Sicherheit verloren; auch der Vorteil, den sie gehabt hatten. Konnte Lee jetzt noch etwas retten, seine Armee eingeschlossen?

15. September. Keine Gefahr lauerte bei Harpers Ferry. Statt dessen fanden sie singende, feiernde Männer vor. Old Jack hatte die bedingungslose Kapitulation erreicht.

Die Sieger brachen die Türen der Magazine und Kornspeicher auf. Sie fanden dreizehntausend Faustfeuerwaffen und Futter für die halb verhungerten Pferde. Elftausend Mann gingen in Gefangenschaft, zweihundert einsatzfähige Wagen und siebzig oder mehr Kanonen wurden erbeutet. Und massenhaft Munition; auch für Charles’ Colt war was dabei.

Als die Nacht hereinbrach, band Charles Sport an seinem Handgelenk fest, kauerte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Arsenals und schlief. Nach einer halben Stunde weckte ihn Ab.

»Ich glaube, sie wollen zu irgendeinem Ort nördlich von hier aufbrechen. Old Jack läßt Rationen für zwei Tage kochen.«

Mit der Dunkelheit senkte sich Ruhe herab; der eigenartige Frieden dieser Stunden, wenn die Schlacht zur Gewißheit wird. Gegen elf – so spät wie möglich, um das Pulver trocken zu halten – begann die Munitionsausgabe. Hundert Schuß pro Mann, wurde Charles erzählt, obwohl er keine Ahnung hatte, ob es tatsächlich zutraf. Bald schon würden die Trommeln zum Aufbruch geschlagen, das wußte er; jetzt schlief Ab, beide Pferde an sein Handgelenk gebunden.

Neben den gurgelnden Flüssen waren gewaltige Feuer entfacht worden; hier richteten die Colonels ihre Ansprache an die Männer.

»Denkt dran, Männer, es ist besser zu verwunden als zu töten, da es Zeit und oftmals gleich zwei feindliche Soldaten braucht, um den Verwundeten nach hinten zu tragen.«

In der Dunkelheit ging Charles weiter.

»Und wenn wir auf dem Kriegsschauplatz aufmarschieren, dann werden wir den entscheidenden Sieg an unsere Fahnen heften und die Söldner vernichten, die unsere Freiheiten, unseren Besitz und unsere Ehre zerstören wollen. Vergeßt keinen Moment, daß die Blicke und die Hoffnungen von mehr als acht Millionen auf euch ruhen. Alle Frauen der Südstaaten sind auf euren Schutz angewiesen. Mit festem, unerschütterlichem Vertrauen in eure Führer und in Gott werdet ihr Erfolg haben. Ein Fehlschlag ist nicht möglich.«

16. September. Jackson ließ die Trommeln schlagen und marschierte um ein Uhr morgens los.

Charles und die anderen stiegen in den Sattel. Brigadier Hampton wirkte frisch und energiegeladen, als er seine Regimenter hinter der Hauptkolonne zum Aufmarsch zusammenstellte. Wie macht er das in seinem Alter, fragte sich Charles. Ich wollte, ich wäre so munter.

»Wohin geht’s, Charlie?«

»Hinter Old Jack her. Wir schützen wieder mal seinen Rücken.«

»Ich weiß. Wohin ist er unterwegs?«

»Frank Hampton hat mir was von Sharpsburg erzählt. Kleine Stadt, fünfzehn, vielleicht sechzehn Meilen die Straße hoch. Ich glaub’, nach Old Jacks Sieg hat sich Old Bob entschlossen, in Stellung zu gehen und zu kämpfen.«

»So, wie wir aufgeteilt waren, ist ihm wohl nichts anderes übriggeblieben«, stimmte Charles zu. Nach einer Pause sagte Ab: »Die Fußkavallerie schaut erschöpft aus.«

»Die Fußkavallerie hat da ‘ne Menge Gesellschaft.«

Sharpsburg erwies sich als kleines, grünes Dorf, eingebettet in eine freundliche Hügellandschaft. Lees Hauptquartier war Oak Grove, ein Stückchen südwestlich der Stadt. Seine Hauptlinie erstreckte sich von Sharpsburg aus über fast drei Meilen nach Norden, in groben Zügen der Straße nach Hagerstown folgend. Stuarts Kavallerie deckte die äußerste linke Seite ab, dicht bei einer Flußschleife. John Hood grub sich mit seinen zwei und Harvey Hill mit seinen fünf Brigaden ein. Little Mac würde von Osten her mit seinen fünfundsiebzigtausend Mann anmarschiert kommen. Auch Little Mac hatte Nachzügler, aber er war der Spieler mit den meisten Chips; er konnte sie mit vollen Händen hinauswerfen und immer noch das Spiel beherrschen.

Während Old Jack mit seinen Truppen den Nordsektor der Front besetzte, war Charles voll damit beschäftigt, Stuart und den anderen Außenposten Befehle zu überbringen. Als er später vor dem Hauptquartier Ab begegnete, erklärte ihm der andere Scout: »Es heißt, die Linien steh’n sich so dicht gegenüber, daß die eine Seite es riechen kann, wenn auf der anderen Seite einer furzt.«

Es hatte gelegentliche Scharmützel gegeben und während der Dämmerung ein schweres Bombardement. In der Dunkelheit ertönte dann nur noch ab und zu ein Ruf oder ein Schuß. Vor Tagesanbruch begann es zu nieseln; als der Morgen aufdämmerte, brach die Hölle los.

17. September. Die blauen Wellen stürmten frühzeitig aus den Wäldern. Zuerst eine Doppelreihe, dann die Hauptstreitmacht, feuernd und ladend, feuernd und ladend – so kamen sie näher und näher. Ein Südstaatensoldat schrie: »Joe Hooker!«

Joe Hooker, ein gutaussehender Teufelskerl, setzte zwei Corps der Union wie einen Hammer gegen die linke Flanke der Konföderierten ein. Die Yankee-Fußtruppen stießen durch die Kornfelder vor, die Köpfe gesenkt, als wollten sie einem Regenguß ausweichen.

Die Kämpfe begannen um sechs; die Fronten wechselten so schnell, und die Schlacht war derart gewaltig, daß Charles nur einzelne Fäden davon mitbekam, niemals das ganze Muster.

Vom Nicodemus Hill zurückreitend, den Kopf gesenkt, den Revolver in der Hand, geriet er in einen wütenden Angriff der Bundestruppen gegen Old Jacks Männer, die sich zwischen den Bäumen auf den Felskämmen verschanzt hatten. Ein Colonel, der mehrere Offiziere verloren hatte, beorderte Charles mit gezogenem Revolver vom Pferd und brüllte: »Halten Sie diese Position um jeden Preis.«

Also kämpfte er fünfzehn unglaubliche Minuten lang mit den Fußtruppen, schoß auf Yankees, die über die Straße gestürmt kamen, mit immer heller glänzenden Bajonetten, als die Sonne den Dunst auflöste und warmes, heiteres Licht über das Schlachtfeld warf.

Inmitten von Old Jacks Männern feuerte Charles, lud nach, brüllte, trieb die Männer an – half mit, den Angriff zurückzuwerfen, der die Yankees in weniger als einer halben Stunde fast fünftausend Mann kostete. Als die triumphierenden Fußtruppen brüllend zum Gegenangriff auf das Kornfeld ansetzten, rannte Charles, in dem Gefühl, dem unbekannten Colonel gegenüber seine Pflicht erfüllt zu haben, zurück, band Sport los und machte sich, immer noch vor Erregung zitternd, wieder auf den Weg.

Gegen elf hatte sich das Zentrum der Schlacht auf eine verfallene Straße etwas südöstlich von dem Kornfeld verlagert, durch das Charles zu der Zeit gerade ritt. In den letzten drei Stunden waren mindestens ein Dutzend Angriffe hin und her gewogt; von den gestern noch so stolz erhobenen Halmen war nichts mehr zu sehen.

Er hatte das Gefühl, in irgendein dämonisches Kaleidoskop zu starren: jede gräßliche Szene eine neue Variation des Horrors. Bei dem Anblick spürte Charles, wie ihm seine Selbstkontrolle entglitt. Immer heftiger umklammerten seine Hände die Zügel. Während der Himmel explodierte und er instinktiv den Kopf einzog, dachte er an ein Gesicht. An einen Namen. Hielt sich an beiden wie an einem Rettungsanker fest.

Der Impuls, abzusteigen und sich zu verstecken, war stark. Es ging vorüber, und er hielt weiterhin auf die verfallene Straße zu, wo Old Bobs Offiziere und Männer nicht nur um die Rettung der Armee, sondern vielleicht auch der ganzen Konföderation kämpften.

Charles spornte Sport an. Er war ein Mann, der in einem endlosen, zerstörerischen Meer trieb. Keine gerechte Sache konnte sein Leben retten; kein Slogan. Nur Erinnerungsfetzen.

Name.

Gesicht –

Sie.

Nahe der umgepflügten Straße war er unter lauter Wahnsinnigen – graue Soldaten in ihrer ersten Schlacht, die vor Angst Amok liefen. Er beobachtete, wie einer seine Feldflasche wegwarf; ein anderer stopfte zwei, drei, vier Kugeln in seine Gewehrmündung, ohne zu zählen, ohne es zu bemerken; ein Dritter stand mit geballten Fäusten da und schrie wie ein verlassenes Kind. Ein Granatsplitter schnitt sein linkes Bein und seinen Schrei mit einem sauberen Schlag ab. Blut spritzte wie der vorangegangene Regen auf den Boden.

»Steh auf, steh auf, verdammt!«

Der da brüllte, war ein rotgesichtiger, rotbärtiger Lieutenant, der nach einem gestürzten Pferd trat. Die Männer des Lieutenants duckten sich um eine Blakely-Kanone, die in einer Wagenspur festhing. Charles glitt aus dem Sattel, schlang den Zügel um einen Stein, rannte vor und stieß den hysterischen Offizier mit beiden Händen weg.

»Schluß. Das Pferd kann nichts mehr ziehen. Das Bein ist gebrochen.«

»Aber – aber – die Kanone wird oben an der Straße gebraucht. Ich habe Befehl, sie zur Straße zu bringen.« Der Lieutenant weinte jetzt.

»Beiseite, ihr Männer«, Charles hob die Hand, »schneidet die Stränge durch. Wir ziehen vorn an der Deichsel. Ein paar von euch schieben an jedem Rad. Einer paßt auf mein Pferd auf.«

Die Kugeln summten so dicht wie Bienenschwärme, Granatexplosionen schleuderten Schrapnelle durch die Gegend, aber sie zerrten fluchend und schwitzend die kleine Feldkanone voran, bis sie auf einen Major trafen, der sie mit gezogenem Säbel grüßte. »Gut, Jungs. Rollt sie dorthin.«

»Der Captain hat das geschafft«, sagte einer der Artilleristen. »Unser Lieutenant hat sich die Hosen voll gemacht.«

»Wer sind Sie, Captain?« fragte der Major.

»Charles Main, Sir. Scout bei Hamptons Brigade.«

»Ich werde Sie lobend erwähnen, falls einer von uns den Tag überleben sollte.«

Charles rannte geduckt über das Feld zurück zu dem Soldaten, der Sport bewachte. Der bärtige Lieutenant saß auf dem Boden neben dem lahmen Pferd. Charles erlöste das Tier mit einer Kugel. Der Lieutenant starrte ihn mit nassen Augen an, als wünschte er sich dieselbe Gnade.

»Los, Sport«, flüsterte Charles mit rauher Stimme. Er mußte zurück zum Hauptquartier.

Es war ein hartes Stück Arbeit. Hinter einer Rauchwand verborgen kanonierte die Bundes-Artillerie von den Anhöhen jenseits des Flusses. Charles bekam den Mann nie zu Gesicht, der auf ihn schoß. Etwas schlug gegen seine Brust, es riß ihn seitlich herum, und er wäre beinahe aus dem Sattel gestürzt.

Verwirrt schaute er an sich herunter und entdeckte ein rundes Loch links neben seinem Hemdknopf. Er öffnete das Hemd und holte den Lederbeutel hervor. Auch darin war ein Loch, wenn auch nicht durchgehend. Eine tödliche Kugel hatte ihn getroffen und war von dem Buch aufgehalten worden.

Er geriet in Andersons Brigade, die in dem Versuch, die Stellung zu halten, an die Straße geworfen wurde. Gegen den Strom der Männer kam er nur langsam voran. Was allmählich eine dauerhafte Veränderung in ihm auslöste, war nicht der einzelne Tod, den er oft genug gesehen hatte, sondern die überwältigende Multiplikation des Todes. Leichen türmten sich aufeinander. Ein Mann hatte keinen Kopf mehr; Fliegen krochen auf dem fleischigen Stumpf herum. Körper hingen mit dem Bauch nach unten über Farmzäunen.

Rauch hüllte ihn ein. Sport bäumte sich auf, wieherte zum erstenmal an diesem Morgen. Plötzlich erspähte Charles in dem geröteten Gras zu seiner Rechten einen gefallenen Mann, der ihm bekannt erschien. Der Mann lag still da, das Gesicht in seinem breitkrempigen Hut verborgen.

Zitternd stieg Charles ab. »Doan?«

Der Scout rührte sich nicht. Auf beiden Seiten der Straße lagen verstreute Körper, aber Doans Pferd war nirgendwo zu sehen. »Doan?« Diesmal sagte er es sanft, als wüßte er bereits, was er vorfinden würde, wenn er den Scout umdrehte.

Es war schlimmer als erwartet. Eine Kugel hatte Doans linke Gesichtshälfte weggerissen; sein ganzes Gesicht tropfte, als Charles den Kopf anhob. Blut lief aus den Augen und den Nasenlöchern über Zunge und Zähne. Der ganze Hut war voll davon. Doan war in seinem eigenen Blut ertrunken.

18. September. Im Dunkel der Nacht zog sich Bob Lees Armee über den Potomac nach Virginia zurück.

Dreiundzwanzigtausend Mann waren in der Schlacht gefallen, die den ganzen Tag gedauert hatte. Die verzweifelten Verteidigungsbemühungen hatten gewaltige Opfer gefordert; ein massierter Frontalangriff auf die Unionsstellungen hätte kaum blutiger verlaufen können.

Es hatte Augenblicke gegeben, wo alles verloren schien. Am Nachmittag hatten die Yankees eine halbe Meile vor Sharpsburg gestanden; noch eine halbe Meile, dann hätten sie einschwenken und Lee den Fluchtweg abschneiden können. Der Kampftag hatte beide Seiten erschöpft zurückgelassen, doch noch hatten sie die lange, schreckliche Nacht mit Schreien und Stöhnen und der Suche nach Überlebenden vor sich. Kerzen flackerten über den Feldern und durch die Wälder, wie die Leuchtkäfer des vergangenen Sommers. Die Feldwachen schossen nicht; beide Seiten suchten.

In dieser Nacht sah Charles die Ambulanzen mit ihrer stöhnenden Fracht rollen. Er sah improvisierte Operationszelte, wo die Chirurgen die Ärmel aufkrempelten, ihre Sägen rausholten und verstümmelte Arme und Beine zu Hunderten amputierten. Er sah Leichen, die anschwollen, die sich mit den Gasen des Todes aufblähten. Kurz vor der Morgendämmerung sah er, wie ein Toter explodierte.

Am nächsten Tag begann sich die allgemeine Lage abzuzeichnen.

McClellan hatte eine Verteidigungsposition bezogen, sonst hätte er die Konföderation für immer auslöschen können. Angesichts der Gelegenheit, Lees Armee zu vernichten, hatte er lediglich die Invasion gestoppt. Lee war nicht geschlagen worden, aber er hatte auch nicht gesiegt. Er hatte einfach seine Verteidigungseinheiten von einem Ort zum anderen gehetzt und zwischen Tagesanbruch und Dunkelheit fünf aufeinanderfolgende apokalyptische Angriffe zurückgeworfen.

In den frühen Morgenstunden des 18. September erhielt McClellan Verstärkung und beschloß, die Stellung zu halten. Das Oberkommando der Konföderierten beschloß den Rückzug. Mittlerweile besaß Charles nur noch bruchstückhafte Erinnerungen an den vorangegangenen Tag. Er konnte sich nicht mehr an all die Orte erinnern, an die man ihn geschickt hatte, oder an all die Männer, auf die er geschossen hatte. Er wußte, daß er die Erinnerung an seine ständige Furcht um Sport für immer bei sich tragen würde; nie würde er das Gefühl vergessen, daß dieser Septembernachmittag ewig dauern würde, daß die Sonne an den Himmel genagelt war und nie versinken und allem ein Ende machen würde.

Die Erinnerungen pflanzten eine neue Überzeugung in Charles’ Herz und Geist: Der Krieg würde länger dauern, als je irgendeiner von ihnen sich hätte träumen lassen.

Wer hatte gesiegt, wer hatte eine Niederlage erlitten? Wen kümmerte das schon, dachte er in jener merkwürdig leichtfertigen, benommenen Stimmung, die ihn überkam, als er und Ab, wieder zusammen, auf den Potomac zu ritten. Sie befanden sich ungefähr eine Meile hinter der Kavallerie der Second South Carolina, die relativ frisch war, da sie während der gesamten Schlacht auf der äußersten linken Seite in Reserve gehalten worden war.

Im Mondschein, nahe am Fluß, kamen sie an einigen rastenden Infanteristen vorbei. Einer rief ihnen in bitterem Schmerz zu: »Möcht’ wetten, ihr Jungs von der Kavallerie habt von dem ganzen Theater nichts mitgekriegt.«

»Ganz richtig«, sagte ein anderer, »bei der Kavallerie, das ist so, als hätt’ man ‘ne Lebensversicherung, die keiner einkassiert.«

Ab sah düster und fiebrig aus. Er zog seine Waffe, spannte den Hahn und zielte auf den letzten Sprecher, der entsetzt aufsprang und rannte. Charles packte Abs Arm und zog ihn langsam nach unten. Er fühlte, wie Ab zitterte.

Am nächsten Tag verhielt sich Charles so wie viele andere auch, die einer großen Schlacht lebend entronnen waren. Er lächelte nicht; er sprach kaum ein Wort. Eine immer drückender werdende Depression preßte seine Seele zusammen. Er funktionierte, führte Befehle aus, aber das war auch schon alles. Und wenn jemand Ab Woolner fragte, weshalb sein Freund solch einen fernen, verlorenen Ausdruck in den Augen hatte, erklärte Ab: »Wir waren bei Sharpsburg dabei. Charlie ist immer noch dort.«

58

Über die Schlacht schrieb Billy nur eine Zeile in sein Tagebuch:

Horror jenseits aller Vorstellungskraft.

Eine erste Ahnung überfiel ihn, als sie sich dem Schlachtfeld näherten. Die Pioniere kamen in Maryland nur schwer voran, weil die Straßen mit Ambulanzen verstopft waren. Von den Ambulanzen drangen Geräusche herüber, die Billy zwar auch schon gehört hatte, an die er sich aber nie gewöhnen würde.

Er sah den Rauch und hörte den Gefechtslärm von South Mountain, erreichte aber an diesem 15. September den Gipfel von Turner’s Gap nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Reveille weckte das Bataillon um vier, und als es dämmerte, entdeckten sie, daß sie zwischen Toten von beiden Seiten biwakiert hatten. Selbst Männer mit eisernen Mägen konnten ihr Frühstück nicht bei sich behalten.

Am späten Nachmittag wurde das Bataillon von Keedysville aus an die Front gejagt. Um fünf organisierten Billy und Lije Suchtrupps, die auf dem umliegenden Farmland jeden verfügbaren Stein einsammeln sollten. Andere Männer schleppten die Steine zum Antietam Creek. In Hemdsärmeln schuftete Billy bis Sonnenuntergang, um eine Furt zu schaffen, wo die Artillerie den Fluß überqueren konnte. Eine ähnliche Furt wurde für die Infanterie vorbereitet.

Um halb elf war die Arbeit beendet. Obwohl Billy zum Umfallen müde war, hielt ihn die innere Unruhe den größten Teil der Nacht wach. Morgen würde es eine Schlacht geben. Würde Bison dabei sein? In den letzten Tagen hatte er häufig an Charles gedacht. War er noch am Leben?

Es war üblich, daß an die Pioniere Munition ausgegeben wurde – vierzig Schuß für die Patronentasche, zwanzig als Reserve – sowie Rationen, aber aus den eigentlichen Kämpfen wurden sie herausgehalten. Billy und Lije und die anderen saßen an diesem blutigen Tag auf einem Kamm, mit Blick über die in der vergangenen Nacht konstruierten Furten. Angesichts dessen, was er zu sehen bekam, wünschte sich Billy weit weg. Der Anblick der Toten und Verwundeten löste eine illoyale Reaktion bei ihm aus: Wie konnte irgendeine Sache so viele Menschenleben wert sein?

Am nächsten Tag wurden die Pioniere nach vorn geworfen und dienten als Infanterieunterstützung für eine Batterie nahe dem Zentrum der Front. Am Tag danach zog sich das Bataillon über die untere Flußbrücke nach Sharpsburg zurück.

Die Pontonbrücke der Bundestruppen bei Harpers Ferry war von den Rebellen zerstört worden; die Pioniere marschierten dorthin und machten sich am 21. September zu bereits fortgeschrittener Tageszeit an den Wiederaufbau.

Billy empfand die Arbeit wie ein stärkendes Mittel: Mit Hirn, Herz, Verstand und einer Menge Schweiß schuf das Bataillon Dinge, anstatt sie zu zerstören. Er baute sich eine geistige Sperre auf und versteckte dahinter den Zweck dieser Schöpfungen.

Er sehnte sich nach Brett. Die lange Trennung von seiner Frau brachte ihm nächtliche Träume, deren Folgen peinlich und beunruhigend waren. Nach vier Stunden erwachte er, aß etwas und fühlte sich besser. Einige der Pioniere gaben Lose ab; jeder Mann zog einen Zettel mit einem Datum darauf. Das Datum sollte den Zeitpunkt bezeichnen, an dem McClellan abgelöst werden würde.

Zwei Tage später erfuhren sie, was Lincoln öffentlich am vierundzwanzigsten verkündet hatte. An den abendlichen Feuern diskutierten die Männer darüber und verfälschten, wie bei jeder Armee zu jeder Zeit üblich, die Einzelheiten.

»Mit der Unterschrift unter diesen Fetzen Papier befreit er jeden gottverdammten Nigger in diesem gottverdammten Land.«

»Stimmt nicht. Nur in den Staaten, die am 1. Januar noch rebellieren. Kentucky oder so hat er nicht angerührt.«

»Jedenfalls«, sagte einer der New Yorker Freiwilligen, »ist die ganze Sache eine Beleidigung des weißen Mannes. Keiner wird ihn unterstützen. Nicht in dieser Armee.« Viel Zustimmung.

»Ich denke, es wird eine verteufelte Menge Ärger mit sich bringen – innerhalb und außerhalb der Armee«, sagte Billy.

Er hatte seine Meinung nicht geändert, als er in der Dämmerung am Potomac entlangschlenderte. Er versuchte seine innere Verwirrung über den neuesten Kriegskurs abzuschütteln und konzentrierte seine Gedanken auf Brett.

Ein melancholisches Signalhorn ertönte unten am Steilufer – ein neuer Klang, in Virginia zum erstenmal im Juni oder Juli gespielt. Er wußte nicht, wer es komponiert hatte. Ein letzter Gruß an einen Soldaten. Für wen war dieser Gruß bestimmt, wer war gestorben, fragte er sich. Und was war mit dem Schwung von Lincolns Feder gestorben? Was war neu geboren worden? All diese Fragen paßten zu der einfallenden Herbstdunkelheit.

Bewegungslos blieb er stehen, lauschte dem Murmeln des Flusses, den vertrauten Lagergeräuschen und den schwindenden letzten Tönen von ›Taps‹.

Charles zeigte Ab in Virginia das Buch An Essay on Man. Ab berührte die in der Mitte eingebettete Bleikugel, dann das Buch selbst und fragte: »Wer hat dir das gegeben?«

»Augusta Barclay.«

»Du hast mir doch gesagt, du habest kein Mädchen.«

»Ich hab’ eine Freundin, die mir ein Weihnachtsgeschenk geschickt hat.«

»Wirklich?« Ab befingerte erneut die platte Kugel. »Die Religion hat dich gerettet, Charlie. Du hast keine Bibelwunde abgekriegt«, dauernd hörte man, daß eine Taschenbibel eine Kugel aufgefangen und damit einem Soldaten das Leben gerettet hatte, »aber das hier ist fast genauso heilig.«

Schweigen.

»Du hast eine Pope-Wunde abgekriegt. Direkt vom Papst. Hier steht’s.«

Charles lächelte nicht, schüttelte bloß den Kopf. Ab schaute unglücklich drein. Charles steckte das Buch wieder hinein, zog den Riemen zu und verbarg den Beutel unter seinem Hemd.

Cooper verließ mit seiner Frau das Haus, um ihr die Geschichte zu erzählen.

Es war die Stunde der sanften, grauen Dämmerung, mit den ersten funkelnden Sternen am Himmel. Eine Herbstbrise wehte über den Abercromby Square und schickte die Schwäne zu ihren Schlafplätzen unter den Trauerweiden am Rande des Teiches. Ein paar Blätter, vertrocknet und rot, wirbelten um die Straßenlaternen.

»Sie wollen, daß wir nach Hause zurückkehren. Die Nachricht kam mit dem heutigen Postsack aus Richmond.«

Judith antwortete nicht gleich. Hand in Hand schlenderten sie über den Platz zu der Bank, auf der er so gern die Ereignisse des Tages diskutierte. Der Wind war scharf. Der Mersey roch nach Salz und einem gerade eingelaufenen Gewürzschiff. »Das ist eine Überraschung«, sagte Judith schließlich. »Wurde ein Grund angegeben?«

»Der Krieg läuft nicht gut für die Yankees, aber für unsere Seite ebensowenig. Der Blutzoll in Maryland war fürchterlich.«

Und Menschenleben waren dabei nicht der einzige Verlust. Als die Schlachtberichte Europa erreichten, wurde der Ausgang als Niederlage der Konföderierten hingestellt. Trotz falschen Jubels begriffen die Leute in Bullochs Abteilung die tiefere Wahrheit von Sharpsburg. Der Süden würde niemals die diplomatische Anerkennung erreichen.

»Man will mich im Marineministerium haben«, berichtete er ihr. »Mallory braucht Hilfe und glaubt anscheinend, daß ich sie ihm geben kann. James hat hier alles gut in der Hand, und ich weiß, daß er in seinem Bericht meinen Einsatz beim Stapellauf der Alabama hervorgehoben hat.«

Nach Beendigung der geheimen Mission war Cooper damals mit einem Passagierdampfer nach Liverpool zurückgekehrt. Judith erkundigte sich sanft: »Was hältst du von Mallorys Aufforderung?«

Er preßte seine Schulter gegen die ihre. Der Wind war kalt; die Sterne leuchteten. »Ich werde diese alte Stadt vermissen, aber ich habe keine Wahl. Ich muß gehen.«

»Wie bald?«

»Sobald ich mit einigen laufenden Projekten fertig bin. Ich schätze gegen Ende des Jahres sind wir auf dem Weg.«

Sie hob seinen Arm und legte ihn sich um die Schultern; wegen der Wärme und weil sie die Berührung liebte. »Eine Atlantiküberquerung im Winter macht mir Sorgen.«

Mehr Sorgen bereitete ihm der letzte Teil der Reise, die Fahrt von Hamilton oder Nassau durch die Blockade. Aber er sprach es nicht aus, um sie nicht aufzuregen.

»Solange wir vier zusammen sind, ist alles in bester Ordnung. Gemeinsam können wir allem trotzen.«

Sie stimmte ihm zu, überlegte dann einen Moment. »Ich frage mich, was dein Vater sagen würde, wenn er dich so ergeben dem Süden dienen sähe.«

Er hoffte, sie würden sich wegen dieses Themas nicht wieder in die Haare kriegen wie auch schon. Vorsichtig erwiderte er: »Er würde sagen, das sei nicht der Sohn, den er aufgezogen habe. Er würde sagen, ich hätte mich verändert, aber das haben wir ja alle.«

»Nur in gewissen Punkten. Ich verabscheue die Sklaverei so stark wie eh und je.«

»Du weißt, daß ich ebenso empfinde. Wenn wir unsere Unabhängigkeit gewinnen, dann wird die Sklaverei eingehen und eines natürlichen Todes sterben.«

»Unabhängigkeit? Cooper, die Sache ist verloren.«

»Sag sowas nicht.«

»Aber es stimmt. In deinem Herzen weißt du es. Du hast von den Hilfsmitteln des Nordens gesprochen und wie sehr es dem Süden daran fehlt, lange bevor dieser schreckliche Krieg begann.«

»Ich weiß, aber – ich kann die Niederlage nicht eingestehen. Wenn ich es täte, weshalb sollten wir heim? Weshalb sollte ich überhaupt ein Risiko eingehen? Und doch muß ich es – der Süden ist mein Heimatland. Deins auch.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es verlassen, Cooper. Es ist mein Land, weil es deins ist, das ist alles. Der Krieg ist falsch, auch die Sache, um die es geht – weshalb sollten du oder Bulloch oder sonst jemand weiterkämpfen?«

»Wir müssen für einen noch auszuhandelnden Frieden kämpfen.«

»Und du glaubst, es lohnt sich, dafür heimzukehren?«

Er nickte.

»Gut, Liebster. Küß mich, und wir werden es tun.«

Sie gingen zurück. Im gaslichterhellten Flur wurde Cooper bleich und deutete auf einen Tropfen Blut auf dem gekachelten Boden. »Guter Gott, schau doch.«

Ihre Augen wurden groß. »Judah?«

Marie-Louise steckte den blonden Kopf aus dem Wohnzimmer. »Er ist verletzt, Mama.«

Cooper stürzte die Treppe hoch; sein Magen zog sich zusammen wie ein Seemannsknoten, sein Kopf dröhnte, seine Handflächen wurden feucht. War sein Sohn einem Unhold in die Hände gefallen? Er rannte auf die halb offene Zimmertür des Jungen zu. »Judah!«

Er stieß die Tür auf. Judah lag auf dem Bett; seine Jacke war zerrissen, seine Wange aufgeschlagen, seine Nase blutig.

Cooper rannte zum Bett, wollte seinen Sohn in die Arme nehmen, hielt sich dann aber zurück. Judah war elf und erachtete solche Kontakte als weibisch. »Sohn – was ist passiert?«

»Ich bin in ein paar Toxteth-Dockjungen gelaufen. Sie wollten mein Geld, und als ich sagte, ich hätte keins, fielen sie über mich her. Mir fehlt nichts.« Er gab die Erklärung mit offensichtlichem Stolz ab.

»Du hast dich verteidigt?«

»So gut ich konnte, Pa. Sie waren zu fünft.«

Er konnte sich nicht länger beherrschen, berührte Judahs Stirn, strich eine Haarsträhne zurück, kämpfte gegen das eigene Zittern an. Judiths Schatten fiel über seinen Arm. »Ihm fehlt nichts«, sagte Cooper; wie Ebbe wich die Furcht aus ihm.

59

Das Wetter war warm an diesem Morgen in der besetzten Stadt New Orleans. Colonel Elkanah Bents emotionale Temperatur war ebenfalls gestiegen und hatte sich dem Stimmungsbarometer der Einheimischen angepaßt, die mit ihm an der Ecke Chartres und Canal Street standen und den greifbaren Beweis für General Ben Butlers Radikalismus betrachteten.

Bent, fetter denn je, eine Zigarre paffend, war ebenso wütend wie die Zivilisten, obwohl er es nicht zu zeigen wagte. Dröhnende Trommeln, schrille Querpfeifen, vornweg schlaffe Fahnen, so paradierten die First Louisiana Native Guards am Kanal entlang. Generalmajor Butler hatte das Regiment im Spätsommer aufgestellt, im Kielwasser anderer Abscheulichkeiten, wozu die Hinrichtung Mumfords durch den Strang zählte, des Mannes, der es gewagt hatte, eine amerikanische Flagge von der Münzstätte zu reißen, sowie eines Befehls vom 15. Mai, der die Verhaftung von Frauen, die Unionssoldaten beleidigt hatten, und ihre Behandlung als Prostituierte anordnete.

Im Vergleich zu dem hier waren das Schuljungenstreiche, dachte Bent. Die bloße Existenz der Niggertruppe, offiziell am 27. September angemustert, erschien ihm unglaublich und abstoßend. Er bedauerte die Offiziere dieses Regiments, die ehemalige Baumwollpflücker und Hafenarbeiter zu kommandieren hatten.

Das Negerregiment war kein Gerücht mehr, er hatte es direkt vor Augen – gelbe Gesichter, braune Gesichter, ebenholzschwarze Gesichter. Wie sie grinsten und mit den Augen rollten, während sie an ihren alten Unterdrückern vorbeistolzierten, die vor lauter Unglauben und Abscheu wie zu Statuen erstarrt dastanden.

Bents Hände begannen zu zucken, als er an ein Glas Schnaps dachte. Zu früh. Viel zu früh. Aber er konnte den Wunsch nicht unterdrücken, dem er in letzter Zeit immer häufiger nachgab. Seit Pittsburg Landing war es mit ihm abwärts gegangen. Nach einer mühsamen Reise an die Ostküste und einer Dampferfahrt um die Spitze Floridas hatte er Butlers Hauptquartier in New Orleans erreicht. Nach einer zweiminütigen Unterredung mit dem schieläugigen kleinen Politiker aus Massachusetts fand sich Bent bei der Militärpolizei wieder. Für ihn der ideale Dienst, weil er dadurch sowohl Zivilisten als auch Soldaten Befehle erteilen konnte.

Bent hatte New Orleans bereits gekannt. Er genoß die gepflegte Atmosphäre der Stadt und die Freuden, die sie einem Gentleman mit Geld zu bieten hatte. In den Bordellen hatte er eine gewisse Leidenschaft für Gleichberechtigung entwickelt; er war bereit, einen hohen Preis zu zahlen, um mit einem Niggermädchen, vor allem einem sehr jungen, schlafen zu können. Letzte Nacht hatte er ein solches Erlebnis genossen.

Bent spähte hinter dem Regiment her – dem Corps d’Afrique, wie sich die überheblichen Nigger selbst bezeichneten. Bent marschierte los, auf den alten Platz zu; auf den Gehsteigen überall unfreundliche Gesichter. Ah, aber die Zivilisten traten beiseite. Jawohl, das taten sie.

Seine Gedanken wandten sich wieder den Bordellen zu. Es gab da ein Haus, das er bei passender Gelegenheit besonders gern besucht hätte. Vor dem Krieg war er zufällig dort gewesen, auf dem Rückweg von dem höllischen Dienst in Texas. In den Räumen der Hausherrin hingen viele wunderschöne Gemälde, einschließlich eines Frauenporträts, das in irgendeinem Zusammenhang, den er noch nicht ganz durchschaut hatte, mit der Main-Familie stand. Der Zusammenhang allerdings war klar. In Charles Mains Quartier in Texas hatte er das Foto einer Frau mit praktisch identischen Gesichtszügen gesehen.

Was Bents Phantasie auf Touren brachte, waren die Fakten, die ihm die Besitzerin des Bordells, Madame Conti, mitgeteilt hatte. Das Bild stellte eine Terzeronin dar, eine Viertelnegerin, die einst in diesem Etablissement gearbeitet hatte. Anders ausgedrückt: eine Niggerhure.

Das Gemälde bildete einen der wenigen positiven Aspekte in Bents gegenwärtigem Exil. Er glaubte es möglicherweise als Waffe gegen die Mains einsetzen zu können. Er wußte, daß das Bordell immer noch unter Madame Contis Leitung stand, und nahm an, daß sich das Gemälde noch dort befinden würde.

Als er Bienville erreichte, wußte er, daß er so schnell wie möglich einen Drink haben mußte. In dem Moment bemerkte er eine gutgekleidete weiße Frau, die hinter der Kreuzung der schmalen Straßen aus einer Kutsche stieg. Sie entließ den Fahrer und ging, genau wie Bent, auf die Kathedrale zu. Aus der anderen Richtung näherten sich, lachend und einander rempelnd, zwei schwarze Soldaten. Gelbe Streifen an den hellblauen Hosen zeigten, daß sie zu der von Ben Butler aufgestellten Kavallerie gehörten.

Die Frau blieb stehen. Die Soldaten, den Gehsteig blockierend, ebenfalls. Bent sah den Hut der Frau wippen, als sie etwas sagte. Die Soldaten reagierten mit Gelächter. Bent zog seinen Paradesäbel und wälzte sich über die Straße.

»Aus dem Weg, Männer.«

Sie blieben stehen.

»Das war ein Befehl. Runter vom Gehsteig, laßt die Lady vorbei.«

Sie blockierten weiterhin den Gehsteig. Es war eine Art von Ungehorsam, die ihm nicht unbekannt war, aber wegen der Hautfarbe der Männer ärgerte er sich mehr darüber. Wären Butler und Old Abe nicht gewesen, sie hätten es nicht gewagt, ihm zu trotzen.

Bent hörte einen der Kavalleristen etwas Abfälliges über weiße Offiziere murmeln. Wie dumm von ihm, sich mit solchen Rowdies einzulassen. Wenn sie ihn nun attackierten?

Die Rettung nahte in Gestalt von drei weißen Soldaten. Der Sergeant trug einen Revolver. Bent winkte mit seinem Säbel. »Sergeant! Sofort hierher.«

Das Trio kam angerannt. Bent stellte sich vor. »Bringen Sie diese beiden Befehlsverweigerer zur Militärpolizei. Ich komme nach, um Anklage zu erheben.« Sein Atem ging nun langsamer; nun konnte er die Nigger mit Verachtung überschütten. »Wenn ihr zur Armee der Union gehören wollt, Gentlemen, dann müßt ihr euch wie menschliche Wesen und nicht wie Affen aufführen. Abtreten, Sergeant.«

Der Unteroffizier zog seinen Revolver. Er und seine Männer begannen den Auftrag zu genießen. Sie stießen die beiden Schwarzen herum und traten ihnen gegen die Schienbeine.

»Colonel?«

Er zog seinen Hut; die attraktive Frau war in ihren mittleren Jahren. »Ma’am? Ich bitte um Entschuldigung wegen der Art und Weise, wie Sie von diesen – Soldaten belästigt wurden.«

»Ich bin sehr dankbar für Ihr Eingreifen.« Ihr Akzent klang städtisch, ihre Stimme melodisch und warm. »Hoffentlich nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich sage, daß Sie kein typisches Mitglied der Besatzungsarmee sind. Für einen Mann mit Ihrer Sensibilität wäre es natürlicher, Grau zu tragen. Ich danke Ihnen nochmals. Guten Tag.«

Überwältigt murmelte er: »Guten Tag«, während sie in dem Eingang verschwand, der ihr Ziel gewesen war.

Vielleicht hatte die Frau recht. Die Seiten zu wechseln war natürlich unmöglich, aber möglicherweise war es ein Irrtum gewesen, daß er sein Leben lang die Südstaatler verflucht hatte. In gewisser Weise mochte er mehr Reb als Yank sein. Ein Jammer, daß er das erst so spät merkte.

Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit von zwei Männern auf dem Platz gefangengenommen. Einer war der Bruder des Kommandierenden Generals, ein Armeeoffizier, den man überall in New Orleans sah. Der andere –

Er wühlte in seinem Gedächtnis, dann hatte er es. Stanley Hazard. Bent hatte ihn vor über einem Jahr bei Willard’s gesehen. Was tat er hier?

Der überraschende Anblick von Stanley erinnerte ihn an George und Orry. Er durfte keine der beiden Familien vergessen und was er ihnen alles heimzuzahlen hatte. Bevor er New Orleans verließ, mußte er das Gemälde in dem Bordell an sich bringen.

Der höfliche, zurückhaltende Gentleman, der den Tisch mit Stanley teilte, trug die Abzeichen eines Colonels, obwohl der Ursprung dieses Dienstgrades ein Geheimnis blieb. Stanley hatte einige Nachforschungen angestellt, bevor er Washington verlassen hatte. In einer Gruppe von Berichten wurde der Offizier ständig als Captain Butler bezeichnet. Andere im Kriegsministerium archivierte Berichte führten ihn als Colonel Butler, obwohl diese Berichte meist von seinem Bruder stammten. Anders ausgedrückt: Wenn ein Gentleman einen Posten im Stab seines Bruders bekam, dann war sein Aufstieg unaufhaltsam. Ob das legal zustande kam, spielte keine Rolle; nur Macht und Einfluß des Mannes zählten. Er verfügte reichlich über beides, und so übersah Stanley gern die Unkorrektheiten.

Stanley achtete darauf, nicht zuviel Champagner zu trinken, den die livrierten Kellner nachschenkten; schwierige Verhandlungen lagen vor ihm. Während des Essens behandelten sie harmlose Themen. Butler erkundigte sich nach seiner Reise.

»Oh, bestens. Seeluft soll ja sehr gesund sein.« Er hatte nicht viel davon mitbekommen. Er war nur aus seiner Koje aufgestanden, um sich in einen Eimer zu übergeben.

»Nun, Sir«, Stanleys Gast lehnte sich zurück, »ich danke Ihnen für das herrliche Mahl. Aber da Sie nur kurz hier sind, kommen wir vielleicht besser gleich zum Anlaß Ihres Besuches.«

»Mit Freuden, Colonel. Damit Sie sich ein allgemeines Bild machen können, möchte ich Ihnen sagen, daß ich der Eigentümer der Fabrik Lashbrooks in Lynn, Massachusetts, bin.«

»Armeeschuhwerk«, bemerkte Colonel Andrew Butler mit einem Nicken. Über Stanleys Rücken lief ein kleiner Schauder. Der Mann wußte alles über ihn.

Mit der Serviette betupfte sich Stanley nervös die Lippen. »Dies hier ist ein ziemlich öffentlicher Ort. Sollten wir nicht?«

»Nein, hier sind wir bestens aufgehoben.« Butler führte ein Streichholz an eine große Havanna. »An der Hälfte der Tische in diesem Restaurant werden, äh, ähnliche Arrangements abgeschlossen. Wenn auch nicht in der Größenordnung, die Sie vorschlagen. Bitte fahren Sie fort.«

Stanley sammelte all seinen Mut und stürzte sich ins kalte Wasser. »Soviel ich weiß, werden Schuhe verzweifelt benötigt.«

»Verzweifelt«, murmelte Butler und stieß eine Rauchwolke aus.

»Im Norden wird dringend Baumwolle benötigt.«

»Ist zu haben. Man muß nur kooperative Quellen kennen und wissen, wie man sie in die Stadt und auf die Docks bekommt.« Butler lächelte. »Ihnen ist klar, daß ich bei jeder Transaktion sowohl vom Käufer als auch vom Verkäufer eine Provision erhalte?«

»Ja, ja – das spielt keine Rolle, wenn Sie mir beim Transport von Schuhen zu den Kon…, äh, zu denen, die sie benötigen, helfen können und gleichzeitig Baumwolle in ausreichender Menge liefern, so daß der Wiederverkauf das nicht unbeträchtliche Risiko lohnt. Es gibt Gesetze gegen den Handel mit dem Feind.«

»Tatsächlich? Ich bin zu beschäftigt gewesen, um das zu bemerken.« Er lachte herzlich, und Stanley stimmte ein.

Sie begaben sich auf einen Spaziergang und arbeiteten die Einzelheiten aus. Stanley fühlte sich großartig in dem milden Sonnenschein des Frühwinters. Unglaublich, daß an irgendwelchen fernen Orten Männer ihre Leben für Slogans hingaben.

Bei seiner dritten Zigarre begann Andrew Butler über seinen Bruder zu philosophieren. »Sie haben ihm den Spitznamen ›Beast‹ gegeben, weil er gedroht hat, die Frauen der Stadt wie Huren zu behandeln, wenn Sie abfällige Bemerkungen über unsere Jungs machen sollten. Außerdem gaben sie ihm den Spitznamen ›Löffel‹, weil sie meinen, er plündere Privathäuser aus. Glauben Sie mir, Stanley, wenn Ben stehlen möchte, dann würde er sich nicht mit Löffeln abgeben. Schließlich kommt er aus der Massachusetts-Politik – und ist zusätzlich Anwalt.« Sie gingen Richtung Fluß, wo ein Raddampfer angelegt hatte. Butler fuhr fort: »Die Leute in dieser Stadt haben ja keine Ahnung. Zum Glück werden wir es bei unserem kleinen geschäftlichen Abenteuer mit Gentlemen zu tun haben, die persönlichen Profit über alberne Slogans stellen.«

»Sie meinen die Baumwollpflanzer?«

»Ja. Ihr Wunsch, sich als umgänglich zu erweisen, wurde durch die Erfahrung einiger weniger verstärkt, die mir ursprünglich ihre Kooperation verweigert hatten – und ihre Baumwolle. Die Sklaven dieser Gentlemen waren ganz plötzlich abwesend. Als sie sich schließlich bereit erklärten, ihre Ernte auf dem allgemeinen Markt anzubieten, tauchten die Sklaven selbstverständlich wieder auf, um die schwere Arbeit zu tun.«

Arbeit unter den Bajonetten der Soldaten der Vereinigten Staaten, dachte Stanley. Die skandalösen Geschichten waren bis nach Washington gedrungen. Doch das erwähnte er nicht.

»Selbst in Kriegszeiten«, schloß Butler, »ist eine praktische Einstellung häufig klüger als Patriotismus.«

»Ja, eindeutig«, stimmte Stanley zu. Champagner und Sonnenschein und Erfolg erzeugten ein Selbstwertgefühl, wie er es noch nie im Leben empfunden hatte. Isabel sollte stolz auf das sein, was er heute vollbracht hatte. Verdammt stolz sogar. Er jedenfalls war es.

Ende November wußten die meisten Offiziere der Golf-Armee, daß sie gegen Jahresende einen neuen Kommandeur haben würden. Die Proteste gegen Butlers Stil waren zu zahlreich geworden. Ein neuer Kommandeur hatte für gewöhnlich viele Versetzungen zur Folge. Elkanah Bent erkannte, daß er das Gemälde sofort an sich bringen mußte.

An drei Abenden beobachtete er Madame Contis Eingang. Das Bordell war sowohl bei Offizieren als auch bei Unteroffizieren beliebt, obwohl es gegen die Vorschriften verstieß, daß sie erstens gemeinsam und zweitens überhaupt einen solchen Ort besuchten. Die Männer gingen still und heimlich hinein und kamen stockbesoffen wieder hinaus. Innerhalb einer halben Stunde beobachtete Bent zwei Schlägereien, was ihn zusätzlich aufheiterte.

In seinem Zimmer setzte er sich hin und entwickelte einen Plan. Die Frau, die das Bordell leitete, würde ihm niemals das Porträt verkaufen. Er war nicht gewillt, einen Einbruch spät nachts zu riskieren; sehr lebhaft erinnerte er sich an Madame Contis schwarze Helfer. Er mußte das Bild stehlen, während andere mit dem beschäftigt waren, was in Militärkreisen als Ablenkungsmanöver bekannt war. Bei dem angeheiterten Zustand der Bordellbesucher sollte das nicht schwierig zu erreichen sein.

Am nächsten Samstagabend stieg Bent in voller Ausgehuniform die wunderschöne schwarze Eisentreppe hoch. Im Wohnzimmer fand er eine große, lärmende Menge Soldaten vor, von denen er keinen kannte. Glück.

Er bestellte sich einen Bourbon, nahm gelegentlich einen Schluck und hörte zu. Wenn die Männer nicht vor den Huren angaben, dann faselten sie von zu Hause oder beschimpften den Süden. Ideal.

Er bestellte einen zweiten Drink. Plötzlich begann es in seinem Nacken zu kribbeln. Beobachtete ihn jemand?

»Guten Abend, Colonel. Ich dachte, ich hätte einen alten Kunden erkannt.« Sie war gute sechzig; die Masse ihres weißen Haares war zu einer verblüffenden Frisur getürmt.

Er fing an zu schwitzen; sein Lächeln war unaufrichtig. »Sie haben ein gutes Gedächtnis, Madame Conti.«

»Ich erinnere mich lediglich an Ihr Gesicht, nicht an Ihren Namen.« Klugerweise erwähnte sie ihren Streit über den Preis für gewisse Spezialleistungen nicht, die ihm die Hure, mit der er zu Bett gegangen war, erwiesen hatte.

»Bent.« Bei seinem ersten Besuch hatte er seinen wirklichen Namen noch schützen wollen und sich Benton genannt, weil er da noch an eine Armeekarriere geglaubt hatte. Zu der Zeit war ihm noch nicht klar gewesen, daß die Generäle niemals Talent, sondern nur Einfluß anerkannten.

Und du verfügst über keinerlei Einfluß. Du weißt, wer dafür verantwortlich ist: dein Vater, der dich im Tode noch verraten hat. Die Mains und die Hazards, General Billy Sherman und Unmengen unbekannter Feinde, die sich verschworen haben –

»Colonel? Geht es Ihnen nicht gut?«

Eine pochende Ader an seiner Stirn glättete sich. Sein Atem beruhigte sich. »Nur eine kleine Benommenheit. Nichts Ernstes.«

Sie entspannte sich. »Colonel Bent. Richtig.« Vergeblich suchte er den Schatten eines Zweifels in ihren Augen.

»Ich erinnere mich an einen Neger, der für Sie gearbeitet hat – ein riesiger, wilder Bursche.« Bereit, auf Befehl zu töten. »Ich hab’ ihn heute abend noch gar nicht gesehen. Ist er immer noch bei Ihnen?«

Voller Bitterkeit: »Nein. Pomp wollte zur Armee. Er war ein freier Mann, und ich konnte ihn nicht davon abbringen. Zum Geschäft, Colonel. Was können wir Ihnen heute abend bieten? Sie kennen unsere speziellen Angebote, wenn ich mich recht entsinne.«

Er hätte gern einen ihrer jungen Boys gehabt, wagte aber inmitten all der Soldaten nicht, danach zu fragen. »Ein weißes Mädchen, denke ich. Mit Fleisch auf den Knochen.«

»Kommen Sie, lernen Sie Marthe kennen. Eine Deutsche, aber sie lernt englisch. Eine Bitte: Marthes jüngerer Bruder dient in einem Louisiana-Regiment. Wir sind zwar unparteiisch, aber Sie erwähnen besser den Krieg nicht.«

»Natürlich, natürlich.« Besorgnis beschleunigte seine Antwort. Würde er es durchstehen? Er mußte.

Er bestellte eine Magnumflasche französischen Champagners und watschelte dann mit, um sich der Hure vorstellen zu lassen.

»Sehr schön, Liebling«, sagte Marthe zwanzig Minuten später. »Sehr befriedigend.« Sie hatte einen schweren Akzent und porzellanblaue Augen, die sie während der ganzen Zeit auf die Decke gerichtet hatte. Rundlich und rosig angehaucht von der kurzen Anstrengung lag sie da und spielte mit ihren Korkenzieherlöckchen.

Bent hatte ihr den Rücken zugewandt und kämpfte sich in seine Hosen. Jetzt, sagte er zu sich. Jetzt. Er nahm die Flasche und leerte den letzten Tropfen des abgestandenen Champagners.

Die mollige Hure erhob sich und griff nach ihrem blauseidenen Kimono. »Zeit zu zahlen, Liebling. Der Junge unten an der Bar nimmt dein Geld un…«

Bent wirbelte herum. Sie sah seine erhobene Faust, aber vor lauter Verwirrung brachte sie keinen Schrei heraus. Er traf sie hart. Ihr Kopf ruckte zurück. Sie fiel, vor Wut und Schmerz aufkreischend, aufs Bett zurück.

Er wandte sich ab, damit sie ihn nicht beobachten konnte, und fuhr sich mit den Fingernägeln über die linke Backe, bis er Blut spürte. Dann packte er seinen Uniformrock und schwankte zur Tür.

Die Hure fiel von hinten über ihn her, hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein und bellte deutsche Flüche. Bent schlug zweimal zurück, dann stürzte er auf den schwach erhellten Flur hinaus. Überall gingen Türen auf, verschwommene Gesichter tauchten auf. Was hatte der Aufruhr zu bedeuten?

Sein Säbel fiel ihm ein, den er zurückgelassen hatte.

Er taumelte die Treppe hinunter; Blut tropfte von seinem Kinn. »Die verfluchte Rebellenhure hat mich angegriffen! Sie hat mich angegriffen!«

Er stürzte durch den Torbogen in den Salon. »Schaut her, was die Hure mir angetan hat!« Bent deutete auf seine blutige Backe. »Sie nannte General Butler einen verpißten Straßenköter, spuckte auf meine Uniform, dann ist sie mit Fingernägeln auf mich losgegangen. In diesem Verräternest zahl’ ich keinen Penny.«

»Recht haben Sie, Colonel«, sagte ein Captain mit dunklem Bart. Mehrere Männer standen auf. Marthe kam die Treppe heruntergerannt; ihre hinausgeheulten deutschen Flüche erhöhten noch die Wirkung von Bents Geschichte. Durch den dichten Rauch hindurch sah er die Hand des Barmannes unter dem Tresen verschwinden. Hinter ihm öffnete sich die Tür, und Madame Conti kam herausgeeilt; das Büro – genau so, wie er es in Erinnerung gehabt hatte.

»Ich bitte um Ruhe. Ich erlaube keinen derartigen – «

»Und das machen wir mit Leuten, die die Armee der Vereinigten Staaten beleidigen.« Bent packte den nächsten Stuhl und knallte ihn auf die Marmorbar.

»Aufhören, aufhören«, rief Madame Conti mit einem Unterton von Verzweiflung. Einige Mädchen flohen quietschend. Er nahm einen weiteren Stuhl und schleuderte ihn zur Seite, in einen dekorativen Spiegel hinein. Begeistert wie kleine Jungs machten die betrunkenen Soldaten mit. Tische stürzten um. Stühle zerbrachen. Madame Conti versuchte die Zerstörung ihres Salons zu verhindern, gab dann auf und stürzte davon, als das Zerstörungswerk auf die anderen Räume übergriff. Ein Offizier erwischte sie, hob sie hoch und schleppte sie auf seiner Schulter außer Sicht.

Vor Aufregung und Angst keuchend, rannte Bent ins Büro. Da war die rotgetönte Tapete, die genaue Anordnung der Gemälde – und da war das Porträt der Terzeronin. Bent holte ein Klappmesser hervor und begann die Leinwand aus dem Rahmen zu schneiden. Nach anderthalb Minuten hatte er das Porträt fast herausgelöst.

»Was tun Sie da?«

Ein Schnitt, ein Ruck – das Bild gehörte ihm. Er begann es zusammenzurollen. »Sie haben es ruiniert«, rief Madame und kam auf ihn zugeeilt. Bent ließ das Gemälde fallen und schlug ihr die Faust an den Kopf. Sie wäre gestürzt, hätte sie sich nicht an der Schreibtischkante angeklammert.

Ihre Frisur war dahin; durch wirre graue Strähnen hindurch starrte sie ihn an. »Beim erstenmal war Ihr Name nicht Bent; er war – «

Wieder schlug er sie. Wimmernd blieb sie am Boden liegen, während er das zusammengerollte Bild nahm und hinauseilte; sollten seine Armeekameraden das Werk vollenden. Dem Geschrei und Getöse nach zu urteilen, das hinter ihm langsam in der Dunkelheit verklang, machte ihnen ihre Arbeit offensichtlich Spaß.

Für alle war es ein netter Abend gewesen.

60

Burnside brachte die Potomac-Armee Mitte November zum Rappahannock. Die Pioniere kamen in dem riesigen Lager von Falmouth in Hütten unter und warteten. Selten hatte Billy so viele Klagen gehört.

»Wir zögern so lange, bis sie ihre besten Einheiten gegen uns aufgestellt haben.«

»Schlechtes Terrain, Fredericksburg. Was sollen wir tun, die Anhöhen hochstürmen wie die Rotröcke bei Breed’s Hill, bloß um genauso niedergemäht zu werden?«

»Der General ist ein Hosenscheißer, der kann gerade seinen Bart kämmen, sonst nichts. In diesem Land ist kein Offizier in der Lage, diese Armee zum Sieg zu führen.«

Trotz Lije Farmers Drängen, er solle Vertrauen haben und die Unzufriedenen ignorieren, begann Billy den Unzufriedenen zu glauben. Das Vertrauen in Burnside wurde nicht gerade größer, als die Geschichte die Runde machte, er bitte seinen Koch um strategische Ratschläge.

Das Wetter, naß und scheußlich, verstärkte Billys Elend und griff ihn schließlich physisch an. Am 9. Dezember begann er zu niesen, dann folgten Übelkeit und Kopfschmerzen. Am nächsten Abend, als der Ponton-Zug sich zu einem vor kurzem erkundeten Feld am Fluß in Bewegung setzte, glühte seine Stirn, und er konnte nur mit Mühe ein heftiges Zittern unterdrücken. Er sagte nichts davon.

Sie bewegten sich so leise wie möglich. Der einsetzende Nebel dämpfte jeden Laut. Um drei Uhr morgens wurden die Boote abgeladen. Jeder wußte, was die farbigen Flecken im Nebel zu bedeuten hatten: Zwischen den Bäumen und großen Häusern am anderen Ufer brannten die Wachfeuer der Konföderierten.

»Leise«, sagte Billy alle paar Minuten. Das Fieber wirbelte seine Gedanken durcheinander und verschleierte sein Blickfeld, aber Billy machte weiter. Es fing an zu nieseln. Dann setzten bei ihm die Schmerzen ein.

Während einer Arbeitspause schlang er die Arme um seinen Leib, in dem vergeblichen Versuch, sich etwas aufzuwärmen. Lije tauchte auf, berührte ihn an der Schulter.

»Es sind genügend Männer hier. Geh zum Arzt, wo du hingehörst.«

Billy schüttelte die Hand seines Freundes ab. »Ich bin in Ordnung.«

Lije stand still, sagte nichts, aber Billy wußte, daß er ihn verletzt hatte. Er wollte sich entschuldigen, aber Lije wandte sich ab und ging zurück zu seinen Männern.

Kurz vor Tagesanbruch wurden die ersten Boote zu Wasser gelassen. Die Männer ließen ein Boot fallen, und es klatschte laut wie ein Schuß ins Flachwasser.

Über den Warnschrei des Wachpostens hinweg rief Lije: »Vorwärts, Jungs. Jetzt braucht ihr nicht mehr leise zu sein.«

Mit Balken und Pfosten rannten sie vor, als drüben eine kleine Signalkanone losging. Vor den Wachfeuern zeichneten sich laufende Gestalten ab. Eine Abteilung Infanterie tauchte hinter den Pionieren auf. Artillerie wurde oben am Steilhang in Stellung gebracht. Billy vermutete, all das zusammen würde lediglich einen dürftigen Schutz abgeben.

Sie hatten fünf Boote verankert und zwei überplankt, als der Feind das Feuer eröffnete. Billy arbeitete am Ende der Brücke, die bald schon bis in die Mitte des Flusses ragte. Er hörte das Gewehrfeuer.

Eine Kugel klatschte rechts von ihm ins Wasser; eine andere traf das Pontonboot, über dem er kniete.

»Wenn ich nur mein verfluchtes Gewehr hätte«, sagte jemand.

»Spar dir den Atem«, sagte Billy. »Arbeite.«

Männer rannten mit Bohlen nach vorn. Ein Mann zuckte zusammen und kippte seitlich in den Rappahannock. Hände griffen nach ihm, zerrten den Verwundeten heraus. Nie war Billy Wasser so eisig erschienen. Lije rannte vor zur Brücke. »Mut, Jungs. Unsere Seele wartet auf den Herrn. Er ist unsere Hilfe und unser Schutz.«

Den Mann in Sicherheit bringend – Blut und Wasser strömten aus seinem Gesicht – drehte sich Billy herum und sagte: »Halt die Klappe, Lije. Der Herr, unser Schutz, hat dem Mann nicht geholfen, und Er wird auch uns nicht helfen, also halt die Klappe, ja?«

Der weißbärtige Mann schien zu schrumpfen. Ärger blitzte in seinen Augen auf, wurde schnell von Trauer verdrängt. Billy hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Über die schlüpfrige Brücke rannte er auf Lije zu und packte ihn am Arm.

»Ich hab’s nicht so gemeint. Tut mir unendlich leid, daß ich sowas gesagt – «

»Deckung«, brüllte Lije, als die Rebellen drüben eine Salve abfeuerten. Er gab Billy einen Stoß und warf sich über ihn.

Billys Kopf knallte gegen die Brücke. Er versuchte aufzustehen, aber zuviel drückte ihn nieder. Zuviel Krankheit, Müdigkeit, Verzweiflung. Beschämt, wie er war, ließ er sich in die tröstende Finsternis sinken.

Am gleichen Tag noch – dem 11. Dezember – lag Billy im Feldhospital in Falmouth. Dort erfuhr er, daß die Pioniere den ganzen Morgen unter ständigem Beschuß gearbeitet und gegen Mittag zwei von fünf geplanten Brücken über den Rappahannock beendet hatten.

Zu schwach, um den Dienst wieder aufzunehmen, verbrachte er den Samstag damit, der Kanonade zu lauschen. Am Sonntag besuchte ihn Lije und erkundigte sich nach seinem Befinden.

»Ich schäme mich, Lije. Ich schäme mich für das, was ich gesagt hab’ und wie ich’s gesagt hab’.«

»Nun, Sir«, erwiderte der Ältere etwas formell, »ich habe es mir eine Weile zu Herzen genommen.«

»Du hast mich vor einer Kugel gerettet.«

»Niemand ist vollkommen. Du warst krank, wir waren alle erschöpft, und die Situation war gefährlich. Wem kann man unter solchen Umständen ein grobes Wort übelnehmen?«

Sein Prophetengesicht wurde sanft. »Du wirst zweifellos die letzten Neuigkeiten hören wollen. Ich fürchte, deine düsteren Vorahnungen haben sich voll bestätigt. Selbst mein Vertrauen und mein Glaube werden durch die gestrigen Ereignisse aufs Äußerste beansprucht.«

Zwischen den Reihen der Kranken, Verwundeten und Sterbenden erzählte Lije seinem Freund, wie die Bundestruppen den Fluß überquert hatten und was ihnen dort zugestoßen war.

61

Am gleichen Samstagabend hielten drei Männer in Minister Stantons Büro eine Nachtwache ab.

Draußen trieb der Potomacnebel an den Fenstern vorbei. Stanley wünschte, die Nachtwache würde bald enden, damit er heimgehen, damit er die letzten Berichte von Lashbrooks durchsehen konnte; die gewaltigen Geschäfte hatten sich dank des geheimen, von Butler arrangierten Vertrages verdoppelt.

Major Albert Johnson, der arrogante junge Mann, der früher Stantons Kanzleiangestellter gewesen und nun zu dessen vertrauenswürdigstem Gehilfen geworden war, marschierte im Büro auf und ab. Der Präsident lag auf der Couch, wo er den größten Teil des Tages zugebracht hatte. Sein altmodischer Anzug war zerknittert. Seine Augen, auf irgendeinen Punkt auf dem Teppich gerichtet, paßten zu einem Trauernden. Seine Gesichtsfarbe ließ auf Gelbsucht schließen.

Lincoln hatte ihnen verärgert mitgeteilt, daß ein Mr. Villard, Korrespondent von Greeleys Tribüne, am Samstag von der Front zurückgekehrt und um zehn Uhr abends ins Regierungsgebäude gebracht worden war. Dort hatte er berichtet, was er wußte, und gegen die Weigerung des Militärzensors protestiert, seine Meldung über den vergeblichen Angriff von Burnside auf Fredericksburg durchzugeben. »Ich bot ihm eine Entschuldigung an und sagte, die Nachrichten würden hoffentlich nicht so schlimm sein, wie es ihm erschienen war.«

Keiner von ihnen wußte etwas Genaues. Der Minister kontrollierte, was veröffentlicht wurde – die Militärzensoren waren ihm unterstellt und außerdem kontrollierte er den Telegraphen von der Front. Nichts gelangte nach Washington, ohne daß Stanton zuerst davon erfuhr. Er behandelte Lincoln nun als guten Freund, obwohl er die Beziehung so manipuliert hatte, daß der Präsident der abhängige und nicht der dominierende Partner war.

Die Tür zum Chiffre-Raum öffnete sich. Johnson hielt inne. Stanley sprang auf. Stanton tauchte mit ein paar dünnen gelben Blättern auf – dechiffrierten Kopien von Frontmeldungen. Der Minister roch nach Kölnischwasser und kräftiger Seife, was bedeutete, daß er heute einen öffentlichen Auftritt gehabt hatte. Stanton pflegte sich nach jedem Kontakt mit der Öffentlichkeit zu schrubben und zu salben.

»Wie sind die Nachrichten?« fragte Lincoln.

Das Gaslicht verwandelte die Gläser von Stantons Brille in schimmernde Spiegel. »Nicht gut.«

»Ich wollte die Nachrichten haben, keine Beschreibung von ihnen.« Die Stimme des Präsidenten war rauh vor Müdigkeit.

Stanton bog die Ecken der ersten beiden Blätter um. »Bedauerlicherweise scheint der junge Villard recht zu haben. Es hat wiederholte Angriffe in der Stadt gegeben.«

»Was war das Ziel?«

»Marye’s Heights. Eine so gut wie uneinnehmbare Stellung.«

Lincoln starrte ihn mit diesem hoffnungslosen Gesicht an. »Sind wir geschlagen?«

Stanton wich dem Blick nicht aus. »Jawohl, Herr Präsident.«

Langsam, als würde er unter Arthritis leiden, setzte sich Lincoln auf. Stanley hörte ein Kniegelenk knirschen. Stanton reichte ihm die Kopien und fuhr ruhig fort: »Eine Meldung, die gerade kopiert wird, deutet darauf hin, daß General Burnside heute morgen erneut die Rebellenstellungen angreifen wollte. Seine Offiziere haben ihn von diesem unbesonnenen Vorgehen abgebracht.«

Lincoln blätterte die Kopien durch und warf sie dann auf die Couch. »Zuerst hatte ich einen General, der die Potomac-Armee als seine Leibwache beschäftigte. Jetzt habe ich einen, der eine Niederlage damit feiert, daß er die nächste anstrebt.« Kopfschüttelnd ging er zum Fenster und spähte hinaus in den Nebel, als wären dort alle Antworten zu finden.

Stanton räusperte sich. Nach einem angespannten Schweigen drehte sich Lincoln um. Sein Gesicht war voll gekränkter Wut. »Ich nehme an, die Dampfer werden uns bald noch mehr Verwundete bringen?«

»Das haben sie bereits, Herr Präsident. Das erste Schiff vom Aquia Creek hat letzte Nacht angelegt.«

»Vermutlich sind die Zahlen hoch und die Verluste schwer?«

»Jawohl, Sir, die ersten Berichte deuten daraufhin.«

Bleicher denn je wandte sich der Präsident erneut dem Fenster zu und starrte in die Nacht hinaus. »Stanton, ich habe es zuvor schon gesagt. Wenn es einen schlimmeren Ort als die Hölle gibt, dann bin ich dort.«

»Wir teilen dieses Gefühl, Herr Präsident.«

Stanley achtete darauf, ein entsprechend sorgenvolles Gesicht zu machen.

Ferne Schreie weckten Virgilia am Dienstagmorgen. Sie wandte den Kopf dem kleinen Fenster zu. Schwarz. Noch kein Tageslicht.

Die Scheibe war nicht zerbrochen, eine Seltenheit in dem alten Union-Hotel. Neue Hospitäler – Pavillons nach dem Nightingale-Plan befanden sich im Bau, in einer Größenordnung von fünfzehntausend Betten. Das Geld dafür war im Juli letzten Jahres bewilligt worden. Bis zur Beendigung der Bauarbeiten mußten jedoch alle möglichen ungeeigneten Gebäude als Ersatz herhalten, angefangen von öffentlichen Bauten und Kirchen bis zu Lager- und Privathäusern – vor allem in diesem trostlosen Dezember, der durch Burnsides stümperhaftes Verhalten über zwölftausend Opfer gebracht hatte.

Die Schreie hielten an. Schnell setzte sich Virgilia auf und griff nach der Lampe auf dem Boden. Sie war in ihrem schlichten, grauen Kleid und der langen, weißen Schürze zu Bett gegangen. Sie hatte nicht gewußt, wann sie gebraucht werden würde, da niemand gesagt hatte, ob die für das Union-Hotel-Hospital bestimmten Verwundeten mit der Bahn oder mit dem Dampfschiff in Washington ankommen würden.

Die flimmernde Lampe enthüllte die billige Möblierung des Zimmers und die zerfetzte Tapete. Das ganze Hotel war so, eine einzige Ruine. Ironischerweise befand sie sich weniger als eine halbe Meile vom Haus von George und Constance entfernt. Sie hatte keine Ahnung, ob ihr Bruder wußte, daß sie als Krankenschwester in Washington arbeitete, hatte aber auch nicht die Absicht, ihn davon in Kenntnis zu setzen.

Sie empfand eine widerwillige Dankbarkeit Constance gegenüber, ja sogar gegenüber Billys Frau, die ihr geholfen hatte, ihr äußeres Erscheinungsbild zu verbessern. Abgesehen davon würde es sie nicht besonders stören, wenn sie keine von beiden je wiedersah.

Virgilia glättete ihr Haarnetz und verließ das Zimmer, eine ordentliche, vollbusige Frau mit einer Aura von Autorität, die nachSeife roch. Station eins war ihr bereits unterstellt worden. Virgilia nahm das übliche Gehalt von zwölf Dollars pro Monat an, was nicht alle Freiwilligen taten. Für sie war es eine Notwendigkeit, ein Schutz vor zukünftigem Unglück.

Im Hotel wurde es lebendig. Aus der Küche drang der Duft von Kaffee und Suppe. Soldaten, die während ihrer Genesungszeit als Krankenpfleger arbeiteten, erhoben sich in Hallen und Fluren von ihren nicht allzu sauberen Strohsäcken. Ihr Stationsgehilfe, ein jugendlicher Artillerist aus Illinois namens Bob Pip, gähnte und blinzelte, als sie sich ihm näherte.

»Morgen, Oberin.«

»Auf, Bob, auf – sie sind da.«

Virgilia hatte den Nerv für die Krankenschwesterarbeit. Viele der Freiwilligen waren nicht geeignet und kehrten schnell nach Hause zurück. In ihrer Station hatte sie gerade so eine Person. Die junge Frau, erst drei Tage in Washington, fühlte sich offensichtlich von ihren Pflichten abgestoßen. Trotzdem mochte Virgilia sie.

Sie klopfte laut an die Tür eines Salons, der in einen Schlafsaal für Krankenschwestern umgewandelt worden war; die Oberschwestern hatten kleine, getrennte Räume.

»Meine Damen? Aufstehen, bitte. Sie sind da. Beeilt euch, ihr werdet auf der Stelle gebraucht.«

Virgilia schritt in den Krankensaal, inspizierte die Betten rechts und links. Als sie fertig war, trat ihre Assistentin ein. Sie war eine kräftige, einfache Frau von ungefähr dreißig Jahren, mit freundlichem Gesicht und dichtem, braunem zu Zöpfen geflochtenem Haar, das mit einem Netz zusammengehalten wurde. Sie hatte Virgilia erzählt, daß sie Schriftstellerin werden wollte und bereits einige Artikel und Verse publiziert hatte.

»Guten Morgen, Miss Alcott. Kommen Sie, helfen Sie mir bitte, die Verwundeten hereinzubringen.«

»Natürlich, Miss Hazard.«

Virgilia erteilte ihre Kommandos und rief: »Bob – Lloyd – Casey – bitte in die Halle.«

Sie setzte sich an die Spitze ihrer Gruppe. Louisa Alcotts Gesichtsausdruck veränderte sich. Die Halle war noch nicht in Sicht, aber schon konnten sie die kräftigen Gerüche wahrnehmen – vertraute Gerüche, von denen Virgilia beim erstenmal schlecht geworden war.

Sie hoffte, Miss Alcott würde durchhalten; irgend etwas sagte ihr, daß diese Frau alle Voraussetzungen für eine gute Krankenschwester hatte. Sie stammte aus einer berühmten Familie, aber das half ihr nicht viel. Virgilia war bestürzt, als Miss Alcott würgte und »Lieber Himmel« stammelte, als die Gruppe von Station eins die Halle betrat.

Und da waren sie, mit und ohne Krücken oder auf Bahren, die tapferen Jungs von Fredericksburg, manche so verkrustet von Schlamm und blutigen Verbänden, daß man ihre Uniformen kaum noch erkennen konnte. Sie hörte Louisa Alcott würgen und sagte schnell: »Tragen Sie von nun an immer ein mit Salmiak oder Kölnischwasser getränktes Taschentuch bei sich. Sie werden feststellen, daß Sie es bald nicht mehr benötigen.«

»Sie meinen, Sie haben sich daran gewöhnt?«

Aber Virgilia befand sich schon mitten unter den Bahrenträgern. »Bringen Sie vierzig da lang, zum Ballsaal.«

Das Herz brach ihr bei dem Anblick. Ein Junge, die rechte Hand abgesägt, der Stumpf bandagiert. Ein Mann in ihrem Alter, am Fuß verwundet, der mit seiner Krücke kämpfte und mit Augen wie Fensterglas um sich starrte. Ein Soldat auf einer Bahre, um sich schlagend, dem die Tränen in den schlammverkrusteten Bart tropften, während er ständig wiederholte: »Mutter. Mutter.« Virgilia nahm seine Hand und ging neben der Bahre her. Er wurde ruhiger; sie hielt seine Hand bis zum Eingang des Ballsaals.

Gestank von Dreck, eiternden Wunden, Kot und Kotze breitete sich aus. Der tüchtige Bob Pip legte Handtücher, Schwämme, braune Seife bereit.

»Wo zum Teufel sind wir hier?« Die dröhnende Stimme hatte einen irischen Akzent. Hinter dem Ofen sah Virgilia einen breitschultrigen Soldaten, Mitte Zwanzig, mit roten Haaren und rotem Bart, der auf seinem Feldbett um sich schlug.

»Schaut nicht aus wie Erie, Pennsylvania – «

Pip erklärte dem Soldaten, daß er im Union-Hotel-Hospital sei. Der Mann begann aus dem Bett zu klettern. Pip hielt ihn zurück. Der Soldat fluchte und unternahm einen zweiten Versuch. Fangen wir mit ihm an, dachte Virgilia. Andere sahen zu, und es war wichtig, in der Station Autorität zu etablieren.

Sie ging auf das Feldbett des Iren zu. »Hören Sie mit diesem schmutzigen Gerede auf. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«

Der bärtige Soldat starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Sparen Sie sich die Hilfe, Frau, und geben Sie mir was zu essen. Hatte nichts mehr zu beißen, seit Burny mich den verdammten Hügel zum Sterben hochgejagt hat.« Er wackelte mit dem linken, in fleckige Bandagen gewickelten Fuß.

Die Bewegung hatte geschmerzt; er reagierte ärgerlich. »Jesus, Frau, steh’n Sie nicht rum. Ich will was zu essen.«

»Sie werden nichts bekommen, bevor wir nicht diese dreckigen Kleider entfernt und Sie gewaschen haben. Das ist die übliche Krankenhauspraxis.«

»Und wer zum Teu… – wer soll mich waschen, wenn ich fragen darf?«

»Eine meiner Schwestern wird das tun. Miss Alcott.«

»Eine Frau? Mich baden? Bei Gott, niemals!«

Über seinem Bart wurden seine Backen rot. Pip stellte eine Schüssel mit Wasser neben das Feldbett, gab dann Miss Alcott zwei Handtücher, Schwamm und braune Seife. Der Soldat versuchte sich von den Frauen fortzurollen. Virgilia machte eine Geste.

»Bob, helfen Sie mir.«

Sie packte den Iren bei den Schultern und drückte ihn mit einiger Anstrengung ins Bett. »Wir wollen Ihnen nicht noch mehr Schmerzen zufügen, Corporal. Wir wollen Ihnen lediglich alles bis auf die Unterhosen ausziehen und Sie gründlich abschrubben.«

»Überall?«

»Ja. Jeden Zentimeter.«

»Heilige Mutter Gottes.«

»Schluß damit. Wir müssen uns auch noch um die anderen Männer kümmern. Wir können keine Zeit mit der falschen Scham von Narren verschwenden.«

Und damit riß sie ihm den Kragen auf. Knöpfe sprangen ab.

Der Ire leistete kaum noch Widerstand; er war zu schwach, zu verletzt. Virgilia zeigte der sprachlosen Miss Alcott, wie man mit einem seifigen Schwamm und einem Handtuch umgeht. Das Handtuch war dunkelgrau, nachdem sie damit zweimal über die Haut des Corporals gefahren war.

Der Körper des Iren blieb stocksteif. Virgilia hob seinen rechten Arm und wusch seine Achselhöhle. Er wand sich und kicherte.

»Jesus, wer hätt’ das gedacht? Eine fremde Frau, die mich wie meine Mutter behandelt.« Etwas einfältig dann: »Ich fühl’ mich gar nicht mal so übel, nach allem, was ich hinter mir hab’. Gar nicht übel.«

»Ihre neue Einstellung ist sehr hilfreich. Ich weiß das zu schätzen. Miss Alcott, übernehmen Sie, ich mache mit dem nächsten Mann weiter.«

»Aber Miss Hazard«, sie schluckte, das Gesicht so rot wie das des Iren, »kann ich mit Ihnen allein sprechen?«

»Gewiß. Kommen Sie, dort hinüber.«

Sie wußte, was kommen würde, hörte sich aber pflichtbewußt die geflüsterte Frage an. Ähnlich leise antwortete sie, um Miss Alcott nicht in Verlegenheit zu bringen: »Bob Pip oder einer der anderen Soldaten wäscht dann jeden Mann fertig.«

Miss Alcott war ungemein erleichtert. Sie preßte eine Faust gegen ihre Brust und atmete tief durch. »Oh, das freut mich zu hören. Ich glaube, mit der anderen Arbeit komme ich schon zurecht. Ich gewöhne mich langsam an den Geruch. Aber ich glaube nicht, ich könnte mich überwinden, die – die – « Sie brachte es nicht einmal fertig, es auszusprechen.

»Sie machen Ihre Sache großartig«, sagte Virgilia und gab ihr einen aufmunternden Klaps auf die Schulter.

Louisa Alcott hielt sich wirklich gut. Innerhalb von zwei Stunden hatten sie mit Hilfe einer dritten freiwilligen Krankenschwester die gesamte Belegschaft der Station gesäubert. Die Krankenpfleger brachten Kaffee, Rindfleisch und Suppe.

Während die Männer aßen, tauchten die Ärzte auf. Zwei betraten den Ballsaal; einer davon war ein älterer Mann, den Virgilia noch nicht kannte. Er stellte sich vor und sagte, er werde alle Fälle übernehmen, die keinen chirurgischen Eingriff benötigten.

Es gab, so hatte Virgilia festgestellt, Armeeärzte unterschiedlichster Art. Einige waren hingebungsvolle, talentierte Männer; andere Quacksalber ohne professionelle Schulung, die lediglich einige Wochen in einer Arztpraxis assistiert hatten. Gerade die letztere Gruppe kam sich ungemein bedeutend und erfahren vor und ging brutal mit den Patienten um.

Der Neue war kein Quacksalber, sondern ein praktischer Arzt aus Washington mit solidem Ruf. Dr. Erasmus Foyle reichte Virgilia kaum bis zur Schulter, aber er hielt sich sehr aufrecht. Bis auf einen öligen, schwarzen Haarkranz war er kahl wie ein Ei, hatte einen gepflegten Schnurrbart und würzte seinen Atem mit Nelken. Schon bei ihrer ersten Begegnung ließ er durchblicken, daß Virgilia ihn nicht allein aus beruflichen Gründen interessierte.

Nach einer einleitenden Verbeugung sagte er: »Guten Morgen, Miss Hazard. Könnte ich Sie mal draußen sprechen?«

Der letzte Soldat, den Foyle untersucht hatte und dessen beide Beine von den Knien bis zu den Lenden bandagiert waren, begann sich hin und her zu rollen und zu stöhnen. Das Stöhnen ging in schrilles Schreien über. Miss Alcott ließ ihre Schüssel fallen, die Pip gerade noch auffangen konnte.

Virgilia rief: »Opium für den Mann, Bob!«

»Und zwar reichlich«, sagte Foyle und nickte heftig. Er legte seine rechte Hand um ihren linken Arm; seine Fingerknöchel versuchten die Rundung ihrer Brust zu streifen. Sie wollte ihn gerade zur Ordnung rufen, als etwas mit ihr geschah.

Die Männer sahen sie jetzt anders an als in der Vergangenheit. Wie nützlich konnte das sein? Vielleicht sollte sie das herausfinden. Sie ließ Doyles Hand an Ort und Stelle. Er errötete vor Freude.

»Gleich hier lang.« Er führte sie durch einen Eingang, dann nach links in einen schäbigen Flur; von der Station aus konnte sie jetzt niemand mehr sehen. Er stand dicht vor ihr, seine kleinen, hellen Augen auf gleicher Höhe mit ihren Brüsten. Auch Grady hatte ihre Brüste geliebt.

»Miss Hazard, in welchem Zustand befindet sich Ihrer Meinung nach der arme Kerl, der gerade geschrien hat?«

»Dr. Foyle, ich bin keine Ärztin.«

»Bitte, bitte – ich respektiere Ihre Sachkenntnis.« Er hüpfte dabei praktisch von einem Fuß auf den anderen. »Seit unserer ersten Begegnung habe ich Sie respektiert und, wenn ich das sagen darf, bewundert. Sagen Sie mir bitte Ihre Meinung.«

Der kleine Mann griff dabei nach ihrem rechten Arm. Jetzt weiß er, wie sich die andere anfühlt. Sie amüsierte sich, war aber auch leicht verblüfft über diese unerwartete Macht.

»Also gut. Ich glaube nicht, daß das linke Bein zu retten ist.« Es fiel ihr schwer, das auszusprechen; sie hatte es miterlebt, wie Männer das Bewußtsein wiedererlangt hatten, nachdem sie unter die Säge gekommen waren.

»Amputation – ja, das war auch meine Schlußfolgerung. Und das rechte Bein?«

»Nicht ganz so schlimm, aber der Unterschied ist minimal. Wirklich, Doktor, sollten Sie nicht lieber mit Ihrem Kollegen anstatt mit mir darüber sprechen?«

»Bah! Der ist nicht besser als ein Apotheker. Sie aber, Miss Hazard, besitzen ein wirkliches, intuitives Verständnis für medizinische Dinge.«

Wieder preßten sich seine Knöchel in ihren Busen. »Der Mann muß so bald wie möglich operiert werden. Könnten wir vielleicht die anderen Fälle heute abend beim Essen besprechen?«

Dieses Machtgefühl berauschte sie. Foyle war physisch gesehen nicht gerade der Größte, aber er war ein respektierter Mann, und er begehrte sie. Ein weißer Mann wollte sie haben. Es konnte nicht klarer sein. Sie hatte sich verändert; ihr Leben hatte sich verändert. Sie war Dr. Erasmus Foyle dankbar.

Allerdings nicht so dankbar, wie er es gern gesehen hätte.

»Liebend gern, aber was wird Ihre Frau dazu sagen?«

»Meine –? Meine Liebe, ich erwähnte mit keinem Wort…«

»Nein, Sie nicht. Eine andere Krankenschwester tat das.«

Seine Gesichtsfarbe wechselte von Rosa zu Rot. »Zum Teufel mit ihr. Welche?«

»Um genau zu sein, es waren mehrere. In diesem Hospital und im vorhergehenden. Ihr Ruf, den guten Namen Ihrer Frau zu schützen, ist weitverbreitet. Es heißt, sie würden ihn so eifrig schützen, daß kaum jemand etwas von ihrer Existenz weiß.«

Mit boshaftem Vergnügen betrachtete sie seine Reaktion. Sie nahm seine Hand und ließ sie fallen, als wäre sie schmutzig.

»Ich fühle mich durch Ihre Aufmerksamkeiten geschmeichelt, Dr. Foyle, aber ich glaube, wir sollten zu unserer Arbeit zurückkehren.«

»Aufmerksamkeiten? Was für Aufmerksamkeiten?« schnarrte er. »Ich wollte eine private Diskussion über medizinische Angelegenheiten, weiter nichts.« Er zog seinen Uniformrock zurecht, richtete seine Schärpe und marschierte eiligst in den Ballsaal zurück. Unter anderen Umständen hätte Virgilia gelacht.

»Nun, Miss Alcott?« fragte Virgilia, als die erschöpften Schwestern um acht Uhr abends ihre erste volle Mahlzeit zu sich nahmen. »Was halten Sie von der Arbeit einer Krankenschwester?«

Louisa Alcott, völlig erledigt und mit den Nerven am Ende, sagte: »Wie offen darf ich sein?«

»So offen, wie Sie wollen. Wir sind alle Freiwillige – alle gleich.«

»Also dann – gleich zu Anfang – dieser Ort hier ist ein Pestloch. Die Matratzen sind hart wie Stein, das Bettzeug ist verdreckt, die Luft faulig, und das Essen – haben Sie das Rindfleisch gekostet? Das muß noch für die Jungs von 1776 gedacht gewesen sein. Beim Schweinefleisch fürs Abendessen muß es sich um eine Geheimwaffe des Feindes gehandelt haben.«

Sie sagte es so nachdrücklich, daß die Frauen an beiden Seiten des Tisches in Gelächter ausbrachen. Sie schien den Tränen nahe, lachte dann aber ebenfalls.

Virgilia sagte: »Das wissen wir alle, Miss Alcott. Die Frage ist – werden Sie bleiben?«

»Oh ja, Miss Hazard. Ich mag nicht über viel Erfahrung im Baden nackter Männer verfügen – zumindest nicht bis heute –, aber ich werde auf jeden Fall bleiben.«

Als wollte sie das nachdrücklich unter Beweis stellen, stopfte sie sich ein Stück Rindfleisch in den Mund und begann zu kauen.

62

Am Dienstag, an dem in New Orleans General Butler durch General Banks abgelöst werden sollte, wurde Elkanah Bent um elf Uhr zum alten Kommandeur befohlen. Er hatte sich auf eine Untersuchung wegen des Aufruhrs bei Madame Conti vorbereitet, hätte aber nie gedacht, daß es sich bei dem untersuchenden Offizier um den General persönlich handeln würde.

»Eine schöne Schweinerei, um die ich mich da an meinem letzten Tag kümmern muß.« Mürrisch klatschte Butler auf eine vor ihm liegende Akte. Bent war wie betäubt; er hatte noch kein Wort gesagt, und schon herrschte dicke Luft.

»Vermutlich ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, daß die Besitzerin des Etablissements sowohl bei den Zivilbehörden als auch bei mir Klage erheben könnte?« Ben Butler war ein kompakter, rundlicher Mann, bei dem jedes Auge in eine andere Richtung blickte.

»General, ich – « Bent versuchte seiner Stimme Kraft zu geben, schaffte es aber nicht. »Sir, ich bekenne mich schuldig, der Gerechtigkeit auf etwas grobe Weise zum Sieg verholfen zu haben. Doch diese Frau ist eine Prostituierte, ganz gleich, wie großartig sie tut. Ihre Angestellten beleidigten mich und griffen mich dann an.« Er betastete die Nagelspuren in seinem Gesicht. »Als ich und andere protestierten, hat sie uns mit weiteren Beleidigungen provoziert. Ich gebe zu, daß die Dinge etwas außer Kontrolle gerieten.«

»Das ist wohl mehr als untertrieben«, unterbrach Butler und schielte mehr denn je. Seine Stimme besaß diesen nasalen Klang, den Bent mit New England in Verbindung brachte. »Sie haben den Platz vollkommen zerstört. Den Vorschriften entsprechend müßte ich verlangen, daß General Banks ein Kriegsgericht einsetzt.«

Beinahe wäre Bent in Ohnmacht gefallen. Sekunden verstrichen. Dann sagte Butler: »Ich persönlich würde es vorziehen, Sie vollkommen zu entlasten.« Bents Freude wurde schnell gedämpft. »Kann ich aber nicht machen. Sie sind der eine Grund, sie ist der andere.«

Verwirrt murmelte Bent: »Sir?«

»Einfach genug, oder? Wegen Ihrer Personalakte kann ich keine Nachsicht walten lassen.« Er schlug die Akte auf und entnahm ihr mehrere Blätter. »Makel und Schande, weiter nichts, und jetzt kommt noch ein weiterer Punkt hinzu. Was die Frau anbelangt, haben Sie natürlich recht; sie ist eine Prostituierte, und ich weiß, daß sie mich mehr als einmal verunglimpft hat. Aber wenn ich jeden hängen würde, der das getan hat, würde es in der nördlichen Hemisphäre keinen Hanfstrick mehr geben.«

Bents Stirn begann zu glänzen. Mit einem Grunzen stemmte sich Butler aus seinem Stuhl und marschierte in kleinen Kreisen herum.

»Unglücklicherweise gehen Madame Contis Anschuldigungen über Vandalismus hinaus, was schon schlimm genug ist. Sie beschuldigt Sie des Diebstahls eines wertvollen Gemäldes. Dazu kommt noch Angriff auf ihre Person, um diesen Diebstahl ausführen zu können.«

»Beides – gottverdammte Lügen.« Er würgte.

»Sie bestreiten die Anschuldigungen?«

»Bei meiner Ehre, General. Mit meinem heiligen Eid als Offizier der Armee der Vereinigten Staaten.«

Butler kaute an seiner Lippe. »Das wird ihr gar nicht gefallen. Sie deutete an, sie würde möglicherweise die Anklage fallen lassen, wenn sie ihr Eigentum zurückbekäme.«

Ein Gefühl warnte Bent, daß sie am kritischen Punkt angelangt waren; er mußte zum Angriff übergehen, sonst war er erledigt. »General – falls ich mir die Bemerkung erlauben darf –, weshalb ist es notwendig, einer Frau in irgendeiner Form entgegenzukommen, die sowohl eine Verräterin als auch äußerst verrufen ist?«

»Genau darum geht’s!« rief Butler gereizt. »Sie ist gar nicht so verrufen, wie man erwarten müßte. Ihre Familie läßt sich in dieser Stadt über Generationen zurückverfolgen. Haben Sie nie die Straße im alten Viertel bemerkt, die ihren Nachnamen trägt?« Natürlich war sie ihm aufgefallen; allerdings hatte er keine Schlußfolgerungen daraus gezogen. »Was ich Ihnen klarzumachen versuche, Colonel, Madame Conti besitzt hochgestellte Freunde in der Stadtverwaltung. Ich muß ihr also einen Knochen zuwerfen, verstehen Sie?«

Butler sank auf seinen Stuhl zurück, ein kleiner Mann aus einer komischen Oper. Aber er verfügte über gefährliche Macht.

»Ich denke, ich könnte Ihnen das Kommando über ein schwarzes Regiment geben«, Bent war einer zweiten Ohnmacht nahe, »aber ich bezweifle, ob Madame Conti den tieferen Sinn dieser Strafe erkennen würde. Bedauerlicherweise muß ich eine deutlichere Alternative finden.«

Unter der Akte holte Butler ein neues, mit schwarzer Tinte beschriebenes Blatt hervor. Er drehte den Erlaß herum, damit Bent ihn lesen konnte, der dafür allerdings zu benommen und zu verwirrt war.

»Mit Wirkung ab heute wird Ihr Brevet aufgehoben. Das wird die Hündin vom Bellen abhalten, bis ich aus der Stadt verschwunden bin. Jemand von General Banks Stab wird sich mit Ihnen über die finanzielle Wiedergutmachung unterhalten. Ich fürchte, Sie werden den Rest Ihrer Armeekarriere damit zubringen, für diese kleine Eskapade zu zahlen, Lieutenant Bent. Abtreten.«

Lieutenant Bent? Nach sechzehn Jahren hatte er wieder den Rang, den er nach Beendigung der Akademie eingenommen hatte? »Nein, bei Gott!« rief er in dem unordentlichen Zimmer nahe der Münzstätte. Er zerrte seine Reisekiste hervor und trat den Deckel auf. Er packte ein paar Bücher, eine Miniatur von Starkwether und zum Schluß das sorgfältig zusammengerollte, in Ölpapier gewickelte Gemälde ein. In die Kiste stopfte er anschließend seine sämtlichen Besitztümer, bis auf einen Zivilanzug, einen breitkrempigen Hut, den er eine Stunde nach dem Auftritt bei Butler gekauft hatte; alle seine Uniformen ließ er in einem Haufen auf dem Fußboden zurück.

Regenschauer peitschten den Uferdamm, der Sturm ließ den Boden erbeben, verdunkelte die gelb leuchtenden Fenster der Stadt.

»Paß auf die Kiste auf, Boy«, schrie Bent einem alten Neger zu, der sie vor ihm die Gangway hochzerrte. Regen tropfte von seiner Hutkrempe, als er an Bord der Galena schwankte, in dem schwindligen Zustand, der ihn seit dem gestrigen Gespräch nicht mehr losgelassen hatte. Seine militärischen Träume lagen in Scherben, ruiniert von eifersüchtigen, rachsüchtigen Feinden. Er hatte sich entschlossen, lieber zu desertieren, als in einer Armee zu dienen, die jahrelange Loyalität und harte Arbeit mit Degradierung belohnte.

Eine erschreckende Gestalt versperrte ihm oben an der Gangway den Weg. Beruhige dich, sonst werden sie mißtrauisch, man wird dich erwischen, und Banks wird dich hängen.

»Sir?« grollte eine Stimme. Erleichtert erkannte Bent, daß er lediglich den Zahlmeister des Dampfers vor sich hatte. »Ihr Name?«

»Benton. Edward Benton.«

»Freut mich, Mr. Benton. Sie sind der letzte Passagier. Kabine drei, am Oberdeck.«

Der Wind pfiff. Bent schrie: »Wann legen wir ab?«

»In der nächsten halben Stunde.«

Eine halbe Stunde. Jesus. Würde er das durchhalten?

»Der Sturm wird uns nicht aufhalten?«

»Wir sind fahrplangemäß im Golf, Sir.«

»Gut. Ausgezeichnet.« Er brauchte beide Hände an dem schlüpfrigen Geländer, um seinen müden Körper die Treppe hochzuziehen, in die Sicherheit seiner Kabine. Was war ihm noch geblieben? Nichts als das Gemälde, Haß und die Entschlossenheit, sich von seinen Feinden nicht vernichten zu lassen.

Nein – Blitz; seine Augen glänzten wie nasse Steine, als er sich gegen den Regen hochzerrte – oh nein! Er würde überleben und sie zuerst vernichten. Irgendwie.

Von seiner Krankheit immer noch geschwächt, begab sich Billy wieder zum Fluß hinunter. Unter dem Schutz von Gewehren und Artillerie half er bei der Demontage der Brücke, die er mitgebaut hatte. Er hatte das Gefühl, einen Akt der Entweihung zu begehen.

Die Pontonwagen verschwanden in der winterlichen Dunkelheit. Erneut im Lager von Falmouth untergebracht, hätte er Brett gern einen Brief geschrieben, fürchtete sich aber davor. Statt dessen schrieb er in sein Journal.

Heute abend wieder bittere Kälte. Jemand singt ›Home, Sweet Home‹, ein merkwürdiger, trauriger Refrain angesichts unserer Lage. Allein in dieser Woche haben unsere Regimenter eine ganze Menge Männer durch Desertion verloren. Überall das gleiche in der gesamten Armee. Entmutigt stehlen sie sich nach Hause. Selbst Lije F. betet für sich allein und zitiert nur noch selten die Bibel. Burnside ist erledigt, so heißt es. Es gibt viele Spekulationen über seinen Nachfolger. Die Verbittertsten sagen Sachen wie: »Oh, werdet nicht schwankend in eurem Glauben, Jungs, in Washington warten noch Dutzende von genauso dämlichen Generälen.« Meine Männer haben seit sechs Monaten keinen Lohn mehr erhalten. Wenn man den Zeitungen aus Richmond Glauben schenken darf, dann sind General Butler und sein Bruder unten in New Orleans eifrig damit beschäftigt, Baumwolle aus persönlicher Gewinnsucht zu stehlen. General Grant ist damit beschäftigt, alle Juden aus seinem Militärbezirk zu werfen – unter der allgemeinen Beschuldigung, sie spekulierten und brächen die Gesetze. Wer in Gottes Namen kümmert sich auch nur die Spur um diese geschändete Armee?

Wenn du je dieses Gekritzel liest, geliebte Frau, dann wirst du wissen, wie sehr ich dich in diesem Augenblick liebe und brauche. Aber ich wage es nicht, das alles in einem Brief auszudrücken, weil sich dann bestimmt noch andere Dinge einschleichen würden und du gezwungen wärst, einen Teil der Last zu tragen, die mir zusteht – die Bürde von Männern, die sich im Stich gelassen fühlen, die es nicht laut auszusprechen wagen, daß sie keine Hoffnung mehr haben.

63

Zwei Nächte vor Weihnachten ritt Charles in der Dämmerung zu Barclays Farm. Von seinem Sattel hing ein großes, grobes Netz. Darin befand sich ein feiner Schinken, bei einem der letzten nächtlichen Überfälle nördlich vom Fluß in einem Yankee-Laden erbeutet.

Der Abend hatte etwas Unheimliches an sich. Die kahlen Zweige, Büsche und die Zäune am Straßenrand glitzerten wie Glas. Letzte Nacht hatte es geregnet, während die Temperaturen gefallen waren.

Sport ging im Schritt; die Straße war tückisch. Dies war Charles’ erste Gelegenheit seit Monaten, die Farm zu besuchen, obwohl die Kavallerie mehrere Wochen lang nicht weit entfernt, in Stevensburg drüben, gelagert hatte. Doch Hampton war mit seinen Scouts und einem ausgewählten Kavallerietrupp fast ständig im Sattel gewesen.

Wie Nachtgespenster hatten sie sich hinter den feindlichen Linien herumgetrieben und bei Hartwood Church hundert Pferde und fast ebensoviele Männer gefangengenommen; hatten die feindliche Telegraphenleitung nach Washington zerstört und die Wagen einer Versorgungsbasis bei Dumfries entführt; waren von einem ganzen Kavallerieregiment der Yankees gehetzt worden. Mit zwanzig Wagen, voll von Marketenderdelikatessen, waren sie entkommen: Austern, Zucker und Zitronen, Nüsse, Brandy und die Schinken, von denen er einen als Geschenk für Gus abgezweigt hatte.

Mitten auf der Straße überrollte ihn eine Woge der Erleichterung. Sie war da. Durchsichtiger Rauch stieg zu den Sternen empor. Lampen erhellten den hinteren Teil des Hauses; Lichtschein drang aus der halb offenen Tür der kleinen Scheune.

»Sport«, knurrte er und zügelte den Wallach auf einer Eiskruste scharf durch. Vornübergebeugt atmete er die beißende Luft ein. Lichtschein im Stall zu dieser Stunde?

An der Wasserpumpe, die ein glitzernder Eiszapfen zierte, waren zwei Pferde angebunden. Höchstwahrscheinlich gab es eine ganz unschuldige Erklärung dafür, doch die Nähe der feindlichen Linien auf der anderen Seite des Flusses machte ihn vorsichtig. Auf der Straße stieg er ab, führte Sport beiseite und band ihn an einem Zaunpfahl fest.

Zu Fuß ging Charles auf das Farmhaus zu. In der Stille klingelten seine Sporen wie winzige Glöckchen. Er bückte sich und entfernte sie mit einiger Mühe. All das erschien ihm leicht albern; mit keinem Wort würde er das Gus gegenüber erwähnen, wenn sich die Besucher als Nachbarn herausstellten.

Trotzdem – weshalb stand die Scheunentür offen? Und warum waren Washington und Boz nirgendwo zu sehen?

Charles schlich auf das Haus zu; er achtete auf jedes Knirschen und Knacken unter seinen Füßen, aber trotz aller Vorsicht ließen sich Geräusche nicht vermeiden.

Die Pferde wurden auf ihn aufmerksam, schoben sich herum und stampften leise. In der Nähe des Hauses blieb er lauschend stehen.

Er hörte Gelächter. Das kam nicht von ihr. Das stammte von den Besitzern der Pferde.

Eines der Tiere trat zur Seite und wieherte. Charles hielt den Atem an. Das Gelächter brach ab. Das mußte in keiner Verbindung zueinander stehen. Vielleicht bildete er sich das Ganze nur ein.

Die Pferde änderten ihre Stellung und gaben ihm den Blick in den Stall frei. Ausgestreckte Beine ragten in sein Blickfeld. Die Knöchel waren mit einem Seil zusammengeschnürt. Bei einem Nachbarschaftsbesuch fesselte man niemand, oder?

Er lehnte sich gegen das Haus; sein Herz hämmerte wie verrückt. Gus war in Gefahr. Die Frau, die ihm am Herzen lag – in Gefahr.

Jetzt erst wurde ihm klar, wie sehr er sie liebte. Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Angenommen, er handelte unbesonnen und sie wurde getötet?

Eine weitere Minute verstrich. Tu was, verdammt noch mal. Tu was!

Er schlich zum Baum, reckte sich, warf ein Bein über den untersten Ast und zog sich hoch. Jetzt wurde es schwieriger. Er klammerte sich nicht an Baumrinde, sondern an eine glitschige, vereiste Oberfläche. Dreimal wäre er ums Haar abgestürzt. Endlich erreichte er einen großen, über das Dach ragenden Ast.

Er griff nach einem darüberliegenden dünneren Ast, richtete sich auf und schob sich Fuß um Fuß den eisigen Ast hinaus, auf das Haus zu. Nahe einem der Dachfenster studierte er die Situation. Er mußte sich vorbeugen, den Giebel packen und sich festklammern. Auf dem Dach selbst konnte er wegen der Neigung und der Vereisung unmöglich Fuß lassen.

Er schluckte. Streckte die Hand aus. Reckte sich –

Seine Finger verfehlten den Giebel um ein paar Zentimeter.

Immer noch den Zweig über sich festhaltend, schob er sich weiter auf das Haus zu. Der Ast, auf dem er stand, sackte und knackte. »Oh, verflucht«, flüsterte er, setzte alles auf eine Karte und warf sich mit ausgestreckten Armen vor. Er fiel, erwischte gerade noch den Giebel. Das plötzliche Gewicht riß schmerzhaft an seinen Armen. Seine Knie knallten gegen das Dachfenster; bis Florida mußte das zu hören sein. Mit beiden Händen hing er am Giebel, griff dann mit einer Hand hinunter ans Fenster. Er zerrte. Nichts. Noch einmal. Wieder nichts.

Abgesperrt, verdammt noch mal. Wütend stöhnte er auf und zog ein drittesmal; wahrscheinlich würde er mit der Faust die Scheibe einschlagen –

Das Fenster hob sich ein Stückchen.

Seine linke Hand begann abzugleiten, aber keuchend klammerte er sich fest. Mit der anderen Hand griff er unter das Fenster und zog es langsam, so furchtbar langsam weit genug hoch, daß er sich in die spinnwebenhafte Dunkelheit dahinter schwingen konnte. Mit geschlossenen Augen blieb er auf den Knien liegen; sein linker Arm zitterte unkontrolliert.

Wieder hörte er das Gelächter, dann undeutliche Worte von Gus. Sie klang ärgerlich. Dann kam ein klatschendes Geräusch. Sie gab eine scharfe, wütende Erwiderung. Ein zweiter Schlag brachte sie zum Schweigen. Fast glaubte er den Schlag selbst zu spüren.

Er beherrschte seinen Zorn und richtete sich vorsichtig auf. Er zog seine Handschuhe aus, bewegte seine Finger, bis sie wieder geschmeidig waren. Er knöpfte seine alte Farmerjacke auf und holte seinen geladenen Colt hervor.

Lautlos schlich er die Treppe hinunter. Wut und Haß steigerten sich. Unten drückte er vorsichtig die Tür auf – kein Quietschen, Gott sei Dank – und glitt durch den warmen Flur.

Rechts von ihm lag der Kücheneingang. Die Stimmen waren deutlich zu hören.

»Was ich dich fragen wollte, Bud. Hast du’s schon mal mit ‘ner Frau gemacht?«

»Nein, Sarge.« Die Stimme klang hell; der Sprecher mußte jünger sein.

»Okay, Junge, das werden wir schnell ändern.«

Mit dem Rücken zur Wand schob sich Charles auf die Küche zu.

»Hast je ein schöneres Paar Titten gesehn, Bud?«

»Nein, Sir.«

»Willst einen Blick draufwerfen, bevor wir uns an die richtigen Sachen machen?«

»Wenn du willst, Sarge.«

»Oh, und ob ich will. Sitz still, Missy!«

»Laß die Finger von mir.« Charles war einen Meter von der Tür entfernt, als Gus das sagte.

»Du bist ruhig, Missy. Ich will so’n hübsches kleines Ding wie dich nicht verprügeln, aber ich werd’ jetzt das Kleid aufmachen und mir diese hübschen runden Dinger – «

Charles stürzte durch die Tür, den Revolver im Anschlag. Von den beiden Yanks trug keiner Uniform – Scouts also, wie er selbst auch. Der Junge, mit blauen Augen und dürftigem blondem Schnurrbart, sah ihn zuerst. »Sarge!«

Der ältere Yankee versperrte ihm die Sicht auf Gus, die offensichtlich auf einem Stuhl saß. Charles trat in das Zimmer und machte einen Fehler; er sprang nach rechts, um zu sehen, ob sie verletzt war.

»Gus, bist du –?«

Fast zu spät sah er, was ihm zuvor entgangen war – die große Sattelpistole im Gürtel des jüngeren Yanks. Riesig groß schwang sie hoch. Charles ließ sich auf die Knie fallen und feuerte im gleichen Moment auf den jüngeren Mann.

Die Yankeekugel pfiff über seinen Kopf. Seine eigene Kugel traf den aufgerissenen Mund des Jungen und riß ihm den hinteren Teil des Schädels weg. Gus schrie auf. Mit hervorquellenden Augen starrte der Sergeant auf den Jungen, den der Schuß gegen den Ofen geschleudert hatte. Dann starrte er Charles und dessen rauchenden Colt an.

Der Sergeant, nun voller Angst, griff nach seinem Revolver, merkte aber, daß er zu langsam war. Er taumelte zur Hintertür.

Charles sprang vor, stand neben dem Stuhl, zielte auf den Rücken des Mannes. »Du Stück Yankeescheiße.« Er drückte ab, und gleichzeitig zog Gus an seinem Arm.

Die Kugel traf das linke Bein des Sergeants. Mit einem Schrei fiel er durch die Tür, die er eben geöffnet hatte, und rutschte auf dem Bauch über die Veranda.

»Ich bring’ das Schwein um.«

»Charles!«

Mit bleichem Gesicht packte sie ihn am Arm, starrte ihn an, konnte nicht fassen, was sie sah; das Fieber in seinen Augen, den Totenkopfausdruck –

»Charles, mir ist nichts passiert. Laß ihn laufen.«

»Aber vielleicht – «

Sie hörten ein Pferd wiehern, dann klapperten Hufe in Richtung Straße davon. Boz und Washington riefen aus dem Stall. Langsam legte Charles den Colt auf den Tisch. Er zitterte.

Er packte sie bei den Schultern und beugte sich zu ihr hinunter. »Noch nie hab’ ich einen Mann in den Rücken geschossen, aber bei dem hätt’ ich’s getan. Bist du wirklich in Ordnung?«

Ein kleines Nicken. »Und du?«

»Auch.« Das wahnsinnige Glitzern verschwand aus seinen Augen. Ja, sagte sie, es seien Scouts gewesen, die einem warmen Plätzchen nicht hatten widerstehen können.

»Ich dachte, ich sei nicht mehr bei Sinnen, als du durch die Tür gestürmt kamst.« Sie brachte ein brüchiges Lachen zustande, erhob sich, streckte sich. »Ich hielt es für eine Vision. Es ist so lange her, seit ich dich das letztemal gesehen hab.«

»Ich hab dir Briefe geschickt.«

»Ich hab’ sie bekommen. Ich hab’ auch welche geschrieben. Ein halbes Dutzend.«

»Wirklich?« Der Beginn eines Lächelns.

»Du hast sie doch bekommen, oder?«

»Keinen einzigen. Aber das ist schon in Ordnung. Ich gehe besser in den Stall und binde deine Männer los.«

Eine Stunde später lag er in seiner Unterwäsche, eingehüllt in drei Decken, am großen Herd. Der Schinken thronte auf dem Hackklotz. Gus hatte die Wand geschrubbt, die Leiche des Jungen war verschwunden; Washington und Boz hatten sich darum gekümmert, nachdem sie wiederholt Charles die Hand geschüttelt und ihm gedankt hatten, daß er ihre Herrin und sie gerettet hatte.

Zitternd starrte Charles in das Feuer, immer noch von seinem eigenen Verhalten verblüfft und verwirrt. Ohne Zögern hatte er töten, hatte einen Mann in den Rücken schießen wollen. Alarmierende Anzeichen. Was passierte in diesem verdammten Krieg? Was passierte mit ihm?

Gus kehrte in die Küche zurück und kam auf ihn zu. »Was ist los?«

»Nichts.«

»Du sahst erschreckend aus, als ich hereinkam.«

»Mir ist kalt, das ist alles.«

»Kannst du Weihnachten da bleiben?«

»Wenn es dir recht ist.«

»Mir recht ist – oh, Charles«, rief sie. »Ich hatte solche Angst während der Kämpfe in der Stadt. Ich lag wach, lauschte den Kanonen und fragte mich, wo du wohl bist.« Sie kniete vor ihm nieder, ihr Gesicht weich, ohne jeden Schutz. »Was hast du mit mir getan, Charles Main? Ich liebe dich – oh mein Gott, ich kann nicht fassen, wie sehr ich dich liebe«, rief sie, zog ihn an sich, küßte ihn.

Den Arm um sie gelegt, führte er sie den Flur entlang, machte sich Gedanken wegen seiner schmutzigen Unterwäsche. Ihr Zimmer war kalt. Sie fielen aufs Bett, umklammerten sich.

»Gus, ich brauch’ erst ein Bad, bevor – «

»Später. Halt mich fest, Charles. Ich will vergessen, wie dieser arme Junge gestorben ist.«

»Er war ein verdammt übler Bursche.«

»Er glaubte, den Feind zu bestrafen.«

»Das, was sie dir antun wollten, steht in keinem Handbuch.«

»Es war schrecklich, aber es ist vorbei. Sprich nicht mehr drüber, und liebe mich so sehr – was ist das?«

Ihre Finger hatten den Lederbeutel ertastet. Sie bestand darauf, eine Kerze anzuzünden, während er seine Unterwäsche aufknöpfte, den Lederriemen über den Kopf zog und ihr den Beutel reichte.

Freude breitete sich über ihrem Gesicht aus, als sie ihn öffnete. »Du hast das Buch die ganze Zeit bei dir gehabt?« Das Lächeln erlosch. »Das Buch ist getroffen worden. Du bist getroffen worden. Das ist eine Kugel.«

»Der Rest davon. Mr. Pope rettete mir bei Sharpsburg das Leben.«

Sie brach in Tränen aus, griff nach ihm, überschüttete ihn mit Küssen. Sie zogen einander aus. Ihre Vereinigung war schnell, fast verzweifelt, weil der Schock der vorangegangenen Ereignisse noch über ihnen lag. In weniger als fünf Minuten rollte er von ihr weg und schlief ein.

Eine Stunde später erwachte er, als sie an seiner Schulter rüttelte. »In der Wanne ist heißes Wasser.« Ihr offenes Haar reichte ihr fast bis zur Taille. »Ich wasch’ dir den Rücken, dann gehen wir wieder ins Bett.«

Dann lag Charles, diesmal weniger benommen, mit ihr in der warmen Höhle unter der Decke. Sie küßte seine Augen und seinen Bart. Seine Hand spielte mit ihren vollen Brüsten, glitt dann tiefer.

Beide atmeten sie schneller. Und doch ertönten Warnsignale in seinem Kopf.

»Bist du sicher, daß wir weitermachen sollen? Ich bin ein Soldat – vielleicht dauert es Monate, bis ich wiederkommen kann.«

»Ich weiß, was du bist«, sagte sie, ihn zärtlich streichelnd in der Dunkelheit.

»Wirklich? Ich könnte wegreiten und nie zurückkommen.«

»Sag nicht solche Sachen.«

»Ich muß, Gus. Wenn du es für besser hältst, dann springe ich noch in dieser Minute aus dem Bett.«

»Möchtest du?«

»Bei Gott, nein.«

»Ich auch nicht.« Sie küßte ihn, berührte ihn, erregte ihn so, daß es fast schmerzte. »Liebe mich, Charles!«

Er tat es, und kurz vor dem Höhepunkt warf sie den Kopf zurück und hauchte: »Ich will dich. Für immer. Immer, immer.«

»Ich liebe dich, Gus.«

»Ich liebe dich, Charles.«

»– liebe dich – «

»– liebe dich – «

»– liebe – «

Das Wort stieg empor wie menschliche Musik, als er in ihren Mittelpunkt vordrang, und sie bäumte sich auf und schrie ihre Freude hinaus, mit einer Stimme, die den Raum erbeben ließ.

Spät nachts schlief sie an seiner Schulter, gab gelegentliche kleine Laute von sich. Sie hatten sich ein drittesmal vereinigt, und danach hatte sie die Augen geschlossen. Er konnte nicht schlafen; was er heute abend getan, gelernt hatte, hielt seine Augen offen und ließ sein Herz viel zu schnell schlagen.

Er steckte voller Ängste, weil seine Gefühle nicht länger verborgen waren. Du solltest nicht hier sein. Aber wie könnte er anderswo sein? Bei ihrer ersten Begegnung hatte er sich in sie verliebt.

Wie war es möglich, so erfüllt und gleichzeitig so zerrissen zu sein? Er liebte Gus. Sie bedeutete Leidenschaft, Frieden, Freude, Nachdenklichkeit, Gesellschaft. Er bewunderte ihre Art, er begehrte sie körperlich, sie war all das, was er sich von einer Frau erträumt hatte – ohne jede Hoffnung, es je zu finden.

Aber da war Hampton; und die Yankees.

Das Problem bestand darin, daß er weder Gus noch seinen Dienst aufgeben konnte. Liebe und Krieg waren feindliche Mächte, und er war unentrinnbar zwischen beiden gefangen. Ihm blieb keine andere Wahl, als sich von diesen ungleichen Kräften vorantreiben zu lassen, wohin immer sie ihn auch tragen mochten – ihn und sie.

Voll dunkler Vorahnungen schob er seinen Arm unter ihre warmen Schultern und drückte sie an sich.

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