Erstes Buch. Eine Vision von Scott

Die Flagge, die jetzt noch hier in der Brise flattert, wird vor dem 1. Mai über dem Dom des alten Kapitols von Washington wehen.

Leroy P. Walker, Kriegsminister der Konföderierten, bei einer Rede in Montgomery, Alabama, April 1861

1

Die Morgensonne überflutete die Weide. Plötzlich tauchten hinter einem Hügel drei schwarze Pferde auf. Zwei weitere Pferde, mit herrlich glänzendem Fell und wehenden Mähnen und Schweifen, folgten ihnen hinunter in das windgepeitschte Gras. Dicht dahinter erschienen zwei berittene Sergeants in reichlich mit Tressen versehenen Husarenjacken. Die Sergeants, breites Grinsen auf den Gesichtern, ritten im Galopp, brüllend und ihre Mützen in Richtung der schwarzen Pferde schwenkend.

Der Anblick lenkte sofort Captain Charles Mains Truppe ab. Die jungen Freiwilligen aus South Carolina ritten auf ihren Braunen eine Straße entlang, die sich durch Wälder und Farmland des Prince William County schlängelte. Die Drei-Tage-Übung hatte sie ein ganzes Stück nordwärts zwischen Richmond und Ashland geführt, aber Charles glaubte, daß ein langer Ritt nötig war, um die Männer einzugewöhnen. Alle waren sie geborene Reiter und Jäger; andere Leute hätte Colonel Hampton für die Kavallerietruppe, die er in Columbia zusammengestellt hatte, gar nicht genommen. Aber ihre Reaktion auf die Poinsett Tactics, so der inoffizielle Name für das Handbuch, das seit 1841 die Bibel des Kavalleristen war, reichte von unterdrückter Gleichgültigkeit bis zu lauter Verachtung.

»Verschone mich vor Gentlemen-Soldaten«, murmelte Charles, als einige seiner Männer ihre Pferde dem Zaun zuwandten, der Straße und Wiese trennte. Die schwarzen Pferde schwenkten um und galoppierten neben dem Zaun her. Die schwitzenden Sergeants waren ihnen hart auf den Fersen; sie donnerten an der langen Reihe der Kavalleristen in ihren schmucken, mit glänzenden Goldknöpfen verzierten Jacken vorbei.

»Wer seid ihr, Jungs?« rief Charles’ Senior-Lieutenant, ein untersetzter, fröhlicher junger Mann mit rotem Kraushaar.

Die Junibrise trug, von Hufschlägen überdeckt, die Antwort zurück. »Black Horse. Fauquier County.«

»Zeigen wir ihnen, wie man reitet, Charlie«, schrie First-Lieutenant Ambrose Pell seinem Vorgesetzten zu. Um ein Chaos zu vermeiden, bellte Charles einen Befehl: »In Zweierreihen – Trab – Vorwärts!«

Das Manöver wurde so schlampig ausgeführt, daß es fast schon an Befehlsverweigerung grenzte. Die Truppe schaffte es, sich in der richtigen Gangart zu Zweierreihen zu formieren, und reagierte dann mit viel Geschrei auf Charles’ Befehl zum Galopp. Aber es war schon zu spät, um die Sergeants noch einholen zu können, die die fünf schwarzen Pferde nach links trieben, über eine Wiese hinweg, und dann in einem Wäldchen verschwanden.

Neid bohrte seinen Stachel in Charles. Wenn die Unteroffiziere tatsächlich zur Black-Horse-Kavallerie gehörten, von der er schon so viel gehört hatte, dann hatten sie sich ein paar edle Tiere eingefangen. Mit seinem eigenen Pferd Dasher, in Columbia gekauft, war er unzufrieden. Die Stute stammte aus guter Carolina-Zucht, scheute aber häufig. Bis jetzt hatte ›die Stürmerin‹ ihrem Namen noch keine Ehre gemacht.

Die Straße bog nach Nordosten ab, weg von der eingezäunten Weide. Charles reduzierte die Gangart auf Trab und ignorierte eine weitere frivole Frage von Ambrose, den er, beruflich gesehen, unglückseligerweise mochte. Er fragte sich, wie um alles in der Welt er aus dieser Ansammlung von Aristokraten, die einen beim Vornamen nannten, West Point verachteten und einen niederzuschlagen versuchten, wenn man ihnen einen unliebsamen Befehl gab, eine Kampfeinheit formen sollte. Seit ihrer Ankunft im Biwak unten in Hanover County hatte Charles zweimal seine Fäuste zu Hilfe nehmen müssen, um Disziplin herzustellen.

In der Hampton-Truppe hatte er so eine Art zusammengewürfelte Einheit bekommen, mit Männern, die aus allen Teilen South Carolinas stammten. Fast alle anderen unter Hamptons Kommando stehenden Einheiten, egal ob zu Fuß oder zu Pferd, waren in einem County, manche sogar in einer einzigen Stadt, zusammengestellt worden. Der Mann, der eine Kompanie formte, gewann für gewöhnlich auch die Wahl, mit der die Freiwilligen sich ihren Captain suchten. In Charles’ Truppe gab es weder derartige Bekanntschaften noch Freundschaften; in seinem Dienstverzeichnis standen Jungs aus den Bergen, vom Fuße des Gebirges, ja sogar aus seinem eigenen Flachland. Dieses bunte Gemisch forderte einen Führer, der nicht nur aus guter Familie stammte, sondern auch über ausreichende Erfahrung in militärischen Dingen verfügte. Ambrose Pell, Charles’ Gegenkandidat bei der Wahl, besaß das erstere, aber nicht das letztere. Und Wade Hampton hatte noch vor der Abstimmung klar gemacht, wer für ihn in Frage kam.

Trotzdem hatte Charles nur mit einer Mehrheit von zwei Stimmen gewonnen. Allmählich wünschte er, er hätte Ambrose gewählt.

Jetzt jedoch, wo die laue Sommerbrise sein Gesicht streichelte und Dasher auf jeden Schenkeldruck reagierte, hatte er das Gefühl, daß er zu großen Wert auf Disziplin legte. Bis jetzt war der Krieg ein einziger Jux. Ein Yankee-General, Butler, war bereits in einem heftigen Gefecht bei Bethel Church vermöbelt worden. Die Yankee-Hauptstadt, die der Politiker aus dem Westen präsidierte, den viele South Caroliner nur den ›Gorilla‹ nannten, sollte sich in ein schreckenstarres Dörfchen verwandelt haben. Das Hauptproblem der vier Truppen der Hampton-Kavallerie schien sich auf epidemische Bauchschmerzen zu beschränken, erzeugt durch zu viele Feste in Richmond.

Sämtliche Freiwilligen hatten sich für zwölf Monate verpflichtet, aber keiner von ihnen glaubte daran, daß dieser Hickhack zwischen den beiden Regierungen neunzig Tage dauern würde. Während er den Duft des sonnenwarmen Grases und des Pferdeleibes einsog, fiel auch Charles, fünfundzwanzig Jahre alt, groß und tief gebräunt und auf eine etwas rauhe Art gut aussehend, der Gedanke schwer, daß sie sich im Krieg befanden. Noch größere Schwierigkeiten bereitete ihm die Erinnerung an das mulmige Gefühl in den Eingeweiden, wenn man ernst gemeinte Kugeln pfeifen hört, obwohl ihm schon einige um die Ohren geflogen waren, bevor er zu Beginn des Jahres bei der Zweiten U.S.-Kavallerie in Texas ausgetreten und heimgekehrt war, um sich den Konföderierten anzuschließen.

»Oh, Jung-Lochinvar kam aus dem Westen – « Charles lächelte; Ambrose sang das Gedicht mit monotoner Stimme. Andere fielen schnell ein: »– überall entlang der weiten Grenze war sein Streitroß am besten.«

Sympathie für diese jungen Heißsporne dämpfte Charles’ professionelle Vorbehalte. Er hätte das Singen unterbinden müssen, aber er tat es nicht, sondern genoß schweigend seine persönliche Isolation. Er war lediglich ein paar Jahre älter als die meisten von ihnen, kam sich aber wie ihr Vater vor.

»So treu in der Liebe und so furchtlos im Krieg – nie gab es einen Ritter, der Jung-Lochinvar glich!«

Wie sie ihren Scott liebten, diese Südstaaten-Jungs. Die Frauen waren da nicht anders. Alle beteten sie Scotts ritterliche Visionen an und lasen unermüdlich jeden Roman und jedes Gedicht, das er geschrieben hatte. Vielleicht lag in dieser seltsamen Bewunderung des alten Sir Walter einer der Schlüssel zu diesem eindeutig seltsamen Krieg verborgen, der noch gar nicht richtig begonnen hatte. Cousin Cooper, der Ketzer der Main-Familie, sagte oft, der Süden blicke zuviel zurück, anstatt sich auf die Gegenwart zu konzentrieren – oder auf den Norden, wo Fabriken wie die Eisenwerke der Hazard-Familie die geographische und politische Landschaft dominierten. Voller Anbetung zurückzublicken zu der Ära von Scotts federgeschmückten Rittern war eine Angewohnheit, die Cooper häufig und voller Leidenschaft kritisierte.

Ganz plötzlich, voraus, zwei Schüsse. Ein Ruf von hinten. Sich im Sattel umdrehend, sah Charles, daß der Kavallerist, der aufgeschrien hatte, noch aufrecht saß – nur überrascht, nicht getroffen. Lautlos seine Unaufmerksamkeit verfluchend, wandte er sich wieder nach vorn und konzentrierte seinen Blick auf ein dichtes Nußbaumwäldchen rechts von der Straße. Blaue Rauchschlieren zwischen den Bäumen verrieten die Stelle, wo die Schüsse abgefeuert worden waren.

Ambrose und einige andere grinsten. »Knöpfen wir uns die Bande vor«, brüllte ein Kavallerist begeistert.

Du Idiot, dachte Charles, während sich seine Magengegend zusammenkrampfte. Er erspähte Pferde in dem Wäldchen und hörte das Knallen weiterer Gewehre, übertönt vom Brüllen seiner eigenen Stimme, die den Befehl zum Angriff gab.

2

Der Angriff von der Straße auf die Bäume zu war ungeordnet, aber wirkungsvoll. Eine Yankee-Patrouille von einem halben Dutzend Reiter galoppierte davon, als Charles’ Männer das Wäldchen stürmten.

Charles war der erste, sein doppelläufiges Schrotgewehr in der Armbeuge. Die Akademie und Texas hatten ihm beigebracht, daß erfolgreiche Offiziere führen; sie feuern nicht ihre Leute an. Der reiche und kräftig gebaute Pflanzer, der die Truppe zusammengestellt hatte, war das beste Beispiel dafür. Hampton war einer jener seltenen Männer, die kein West Point nötig hatten, um zu wissen, wie man Soldaten führt.

Zwischen den Walnußbäumen dröhnten Schrotgewehre, beantwortet von Gewehrfeuer; der Rauch wurde dichter, und Charles’ Truppe riß auseinander. Jeder suchte sich seinen eigenen Weg, verhöhnte den jetzt kaum noch sichtbaren flüchtenden Feind.

»Wohin rennt ihr Yankee-Jungs so schnell?«

»Na los, dreht euch um. und kämpft gegen uns!«

»Die sind unsere Zeit gar nicht wert, Jungs!« schrie Ambrose Pell. »Ich wünschte, unsere Nigger wären hier. Die könnten sie jagen.«

Ein einzelner Schuß aus einem dunklen Teil des Wäldchens unterstrich seine letzten Worte. Instinktiv duckte sich Charles auf Dashers Hals hinunter. Die Stute schien nervös, unsicher, obwohl sie wie alle anderen Truppenpferde auch im Camp von Columbia an Gewehr- und Artilleriefeuer gewöhnt worden war.

Eine Kugel zischte vorbei. Sergeant Peterkin Reynolds brüllte. Sofort feuerte Charles beide Läufe in Richtung der Bäume ab. Augenblicklich ertönte ein Schmerzensschrei.

Er riß Dashers Kopf hart zurück, drehte sich um. »Reynolds?« Bleich, aber grinsend hielt der Sergeant seinen grauen Kadettenärmel hoch, mit einem Riß unten am Aufschlag und lediglich einem kleinen Blutfleck.

Freunde von Reynolds nahmen die Verwundung weniger leicht. »Verfluchte Schneider und Schuster zu Pferd«, schrie ein Mann, als er an Charles vorbeigaloppierte, der ihn vergeblich zurückbefahl.

Durch eine Baumlücke sah Charles einen Nachzügler der Unions-Patrouille, ein plumper blonder Bursche ohne jede Kontrolle über sein Pferd, einen jener schweren Klepper, wie sie für die eilig zusammengewürfelte Nordstaaten-Kavallerie typisch waren. Der Mann gab seinem Pferd die Sporen und fluchte. Ein Deutscher.

Der Deutsche war ein derart schlechter Reiter, daß der Kavallerist, der an Charles vorbeigedonnert war, keine Mühe hatte, ihn einzuholen und seitlich aus dem Sattel zu zerren. Er schlug schwer zu Boden und kreischte, bis er seinen Stiefel aus dem linken Steigbügel befreit hatte.

Der junge Mann aus South Carolina hatte seinen langen, sechs Pfund schweren Säbel mit der zweischneidigen, geraden Klinge gezogen, der nach den Anweisungen des Colonels in Columbia geschmiedet worden war und über die den Vorschriften entsprechende Länge hinausging. Hampton hatte seine Truppe aus eigener Tasche ausgerüstet.

Ambrose ritt an Charles’ Seite. Er deutete nach vorn. »Schau dir das an. Charlie, ja? Verschreckt wie ‘n Waschbär.«

Ambrose übertrieb nicht. Der Yank kniete zitternd auf dem Boden, als der Kavallerist aus dem Sattel stieg, seinen Säbel mit beiden Händen packte und weit ausholte. Charles schrie: »Cramm! Nein!«

Kavallerist Cramm wirbelte herum und funkelte ihn an. Charles schob dem Lieutenant seine Schrotflinte in die Hand und sprang mit einem Satz vom Pferd. Er rannte auf den Kavalleristen zu und packte den noch immer erhobenen Arm.

»Ich sagte nein.«

Trotzig wehrte sich der Kavallerist gegen Charles’ Griff. »Laß mich los, du verdammtes Schoßhündchen, du verfluchter West-Point-Hundesohn, du verdammter …«

Charles ließ los, donnerte dann seine rechte Faust in Cramms Gesicht. Aus der Nase blutend, knallte der junge Mann rücklings gegen einen Baumstumpf. Charles entwand ihm den Kavalleristensäbel und drehte sich um, schaute die finster blickenden Männer zu Pferd an.

»Wir sind Soldaten, keine Metzger, und ihr tut besser daran, das nicht zu vergessen. Der nächste Mann, der sich meinem Befehl widersetzt oder mich verflucht oder mich mit dem Vornamen anredet, marschiert vors Kriegsgericht. Nachdem ich persönlich mit ihm fertig bin.«

Er ließ seine Blicke über einige feindselige Gesichter gleiten, warf dann den Säbel zu Boden und ließ sich seine Schrotflinte zurückgeben. »Lassen Sie antreten, Lieutenant Pell.«

Ambrose wich seinem Blick aus, kam aber dem Befehl nach. Charles hörte Gemurre. Die freudige Stimmung des Morgens war verschwunden; es war ohnehin dumm von ihm gewesen, daran zu glauben.

Entmutigt fragte er sich, wie seine Männer im echten Kampf überleben sollten, wenn sie ein Scharmützel weniger ernst nahmen als eine Fuchsjagd. Wie konnten sie siegen, wenn sie sich weigerten, als Einheit kämpfen zu lernen – was in allererster Linie hieß, Gehorsam zu lernen?

Sein langjähriger Freund aus West-Point-Tagen, Billy Hazard von den Bundes-Pionieren, wußte, wie wichtig es war, den Krieg ernst zu nehmen. Cousin Orry Main und dessen engster Freund, Billys älterer Bruder George, wußten es ebenfalls. Alle Männer von der Akademie wußten es. Vielleicht erklärte das die Kluft, die zwischen den Berufsoffizieren der alten, regulären Armee und den Amateur-Heißspornen klaffte. Selbst Wade Hampton machte sich manchmal über die Männer von West Point lustig.

»Nicht schlimmer als Bienengesumm, nicht wahr?« hörte Charles einen Kavalleristen sagen, während Ambrose die Truppe auf der Straße wieder zu Zweierreihen formte.

Charles enthielt sich jeglichen Kommentars und ritt zu dem sich windenden, dreckverschmierten Gefangenen. »Du wirst einen weiten Weg mit uns zurückmarschieren müssen. Aber dir wird nichts geschehen. Verstehst du?«

»Ja, versteh.« Der Deutsche sprach ein mühsames Englisch.

Die Kavalleristen hielten alle Yankees für Pöbel oder Arbeiter; unwürdige Gegner. Als Charles den armseligen, dickbäuchigen Gefangenen musterte, konnte er diesen Standpunkt verstehen. Der Jammer dabei war lediglich der, daß es im Norden hunderttausendmal mehr armseliges Volk gab als im Süden. Das machten sich die Jungs aus Carolina nie klar.

Sein Freund Billy kam ihm in den Sinn. Wo war er? Würde Charles ihn jemals wiedersehen? Würden sich die Hazards und Mains je wieder nahestehen? Trotz der Ehe von Cousine Brett mit Billy?

Zu viele Fragen. Zu viele Probleme. Auf einmal war die Sonne für diese Sommerzeit viel zu kalt. Eine halbe Meile vom Schauplatz des Scharmützels entfernt hörte Charles sein Pferd Dasher husten. Ihre Nüstern waren übermäßig feucht, als er ihren Kopf herumzog.

Beginnender Ausfluß? Ja. Der Husten hielt an. Gott, nicht die Druse, dachte er. Das war eine Winterkrankheit.

Aber sie war ein junges Pferd, sehr empfindlich. Ihm wurde klar, daß er ein weiteres Problem hatte, mit möglicherweise katastrophalen Folgen.

3

Jeder Schulterstreifen des jungen Mannes wurde von einer einzelnen Silbertresse geziert. Sein Revers zeigte das Schloß mit den Türmen innerhalb eines Lorbeerkranzes, das Ganze goldgeschmückt auf einem kleinen schwarzen Samtoval. Sehr elegant, diese Uniform aus dunkelblauem Waffenrock und Röhrenhosen.

Der junge Mann wischte sich den Mund mit einer Serviette. Er hatte ein köstliches Mahl aus Beefsteak, Röstzwiebeln und Austern verspeist, dem er eine Mandelsüßspeise folgen ließ morgens um zehn nach zehn. Frühstück konnte man hier bis elf Uhr bestellen. Washington war eine bizarre Stadt. Aber auch eine erschreckende Stadt. Jenseits des Potomac auf Arlington Heights entwarf Brigadegeneral McDowell Kriegspläne in dem Herrschaftshaus, das die Lees verlassen hatten. Während er auf neue Befehle wartete, hatte der junge Mann vorgestern ein Pferd gemietet und war hinübergeritten. Es hatte ihn nicht gerade aufgemuntert, als Armee-Hauptquartier einen überfüllten, lärmenden Ort mit deutlichen Anzeichen von allgemeiner Verwirrung vorzufinden. Hier schien man sich ziemlich bewußt zu sein, daß die Konföderierten-Posten nicht allzu viele Meilen entfernt standen.

Bundestruppen hatten den Potomac überquert und Ende Mai die Virginiaseite besetzt. Regimenter aus New England drängten sich nun in die Stadt. Ihre Anwesenheit schwächte das Entsetzen ab, das in der ersten Woche nach Fort Sumters Fall über Washington gelegen hatte; zu jener Zeit waren Telegraphen- und Eisenbahnverbindungen nach Norden für eine Weile unterbrochen gewesen. Jeden Moment hatte man mit einem Angriff gerechnet. Das Kapitol war eiligst befestigt worden. Einige der Ersatztruppen wurden vorübergehend dort untergebracht. Die Anspannung hatte sich etwas gelegt, aber der junge Mann spürte auch hier noch die gleiche Verwirrung, die er in McDowells Hauptquartier entdeckt hatte. Zu viele neue und alarmierende Dinge ereigneten sich zu schnell.

Gestern abend hatte er im Büro des alten Generals Totten, des Befehlshabers der Pioniere, seine Befehle entgegengenommen. First Lieutenant William Hazard wurde dem Department von Washington zugeteilt und hatte sich bei einem Captain Melanchton Elijah Farmer zum einstweiligen Dienst zu melden, bis seine reguläre Einheit, die Kompanie A – und aus mehr bestand das Pionier-Corps der Armee der Vereinigten Staaten nicht – von einem anderen Auftrag zurückkehrte. Billy hatte den Aufbruch der A-Kompanie verpaßt, da er sich zu der Zeit zu Hause in Lehigh Station, Pennsylvania, erholte, wohin er seine junge Braut Brett gebracht hatte. Er hatte sie auf der Main-Plantage in South Carolina geheiratet und wäre anschließend um ein Haar von einem ihrer früheren Verehrer ermordet worden.

Charles Main hatte ihm das Leben gerettet. Billys linker Arm schmerzte noch gelegentlich von der Derringer-Kugel, die ihn genausogut hätte umbringen können. Der Schmerz diente einem guten Zweck. Er erinnerte ihn daran, daß er auf ewig in Charles Mains Schuld stehen würde.

Das Frühstück hatte seinen Hunger gestillt, ihn aber nicht von seinen Vorahnungen erlöst. Billy war ein guter Ingenieur. Er war ausgezeichnet in Mathematik und liebte die Berechenbarkeit von Gleichungen und ähnlichen Dingen als Standardverfahren für Konstruktionen. Jetzt sah er sich einer Zukunft gegenüber, die weder geordnet noch berechenbar war.

Mehr noch, er fühlte sich isoliert. Er war von seinen Berufskollegen getrennt; von seiner Frau, die er von ganzem Herzen liebte; und, aus eigenem Entschluß, von einem seiner älteren Brüder. Stanley Hazard lebte mit seiner unangenehmen Frau und ihren beiden Zwillingssöhnen in dieser Stadt. Stanley war von seinem politischen Mentor, Simon Cameron, mit ins Kriegsministerium genommen worden.

Billy liebte seinen älteren Bruder George, aber für Stanley hegte er namenlose, zwiespältige Gefühle, die sich aus fehlendem Respekt, Schuldgefühlen und fehlender Zuneigung zusammensetzten. Er kannte keinen Menschen in Washington, aber das brachte ihn nicht dazu, Stanley zu besuchen. Tatsächlich hatte er deswegen im National Hotel sein Frühstück eingenommen, weil ein Großteil der Gäste hier immer noch für den Süden war; Stanley würde daher mit ziemlicher Sicherheit hier nicht anzutreffen sein.

Er hatte die Rechnung bezahlt und gab dem Kellner ein Trinkgeld. »Danke Sir – ich danke Ihnen. Das ist viel mehr, als ich von diesen billigen Westerntypen bekomme, die hier in der Stadt auftauchen, um sich von ihrem niggerliebenden Präsidenten einen Job vermitteln zu lassen. Zum Glück haben wir hier nicht so viele von dem Westernpack. Sie trinken kaum, vögeln werden sie vermutlich auch nicht, und alle schleppen sie ihr Gepäck selber. Einige meiner Freunde in anderen Hotels verdienen nicht mal – «

Billy ließ ihn mit seinem Gejammer stehen; der Akzent des Mannes deutete darauf hin, daß er aus dem Süden oder aus einem der Grenzstaaten stammte. Es schien massenhaft solche Leute in der Hauptstadt zu geben. Yankees, aber nur dem Namen nach. Fiel die Stadt, was durchaus der Fall sein mochte, dann würden sie in den Straßen die Stars-and-Bars-Fahne zur Begrüßung von Jeff Davis schwenken.

Draußen stellte er fest, daß es mittlerweile aus schlammig grauem Himmel zu nieseln begonnen hatte. Er stülpte seinen schwarzen Filzhut auf; eine Seite der tressenbesetzten Krempe war hochgebogen und wurde von einem glänzenden Messingadler gehalten.

Billy, ein Jahr älter als sein Freund Charles, war ein sehr kräftig gebauter junger Mann mit dunklen Haaren und den farblosen, eisigen Augen, wie sie in der Hazard-Familie üblich waren. Das derbe Kinn verlieh ihm einen Ausdruck von Zuverlässigkeit und Stärke. Kürzlich hatte er der neuen Schnurrbart-Mode nachgegeben; seiner, aus dem er jetzt gerade ein Frühstücksbrösel klaubte, war dicht und noch dunkler als sein Haar.

Da Billy vermutete, daß es sich bei Captain Farmer um einen politischen Günstling handelte, hatte er es mit seiner Meldung nicht eilig. Er beschloß, sich noch einige Stunden zu gönnen, um die Stadt zu erforschen – die Viertel, die weitab vom respektablen, modernen Teil lagen.

Bald schon bereute er seinen Entschluß. Der Krieg hatte die Stadtbevölkerung auf das Dreifache der ursprünglichen Vierzigtausend anschwellen lassen. Man konnte nicht über die Straße gehen, ohne Kutschen ausweichen zu müssen, betrunken schwankenden Soldaten, Fuhrleuten, die auf ihre Maultiere eindroschen und sie verfluchten, eleganten Gentlemen, die einem die Adresse eines Quacksalbers zuflüsterten, der die Französische Krankheit in vierundzwanzig Stunden kurierte – sogar Schweine und schnatternde Gänse waren unterwegs.

Schlimmer noch, die Stadt stank. Die schlimmsten Düfte stammten von den Abwässern, die voll schleimiger Klumpen im Stadtkanal trieben. Billy stoppte auf einer der Fußgängerbrücken, die zum Südwestteil führten, bekannt als ›die Insel‹. Er schaute hinunter, wo ein toter Hund zwischen Salatblättern und Exkrementen dahintrieb.

Er schluckte Reste seines Frühstücks hinunter und ging schnell davon, in Richtung Osten auf das Kapitol zu, dessen Dom immer noch fehlte. Überall schwärmten Soldaten und Politiker herum. Arbeiter flitzten um große Stapel von Holz, Eisenplatten und Marmorblöcken. Billy bog um einen solchen Block und kollidierte mit einer alten, übergewichtigen Hure in federgeschmücktem, schmutzigem Samt. Sie ließ ihm die Wahl zwischen sich und ihrer graugesichtigen Tochter, nicht älter als vierzehn, die sich an ihre Seite drückte.

Billy bemühte sich um Höflichkeit. »Ma’am, ich habe eine Frau in Pennsylvania.«

Die Hure hatte für seine Höflichkeit nicht viel übrig. »Leck mich am Arsch«, sagte sie, als er weiterging. Er lachte, aber nicht aus vollem Herzen. Ein paar Minuten später strebte er nach Norden in das überfüllte Gebiet, wo er ein Zimmer in einer Pension genommen hatte. Unterwegs kaufte er sich noch ein Schreibheft.

Später, in der zunehmenden Dämmerung, spitzte er eine Feder an. In Hemdsärmeln beugte er sich über die erste leere Seite seines Heftes, das von einer Lampe erhellt wurde. Er trug das Datum ein und schrieb:

Meine geliebte Frau – ich beginne dieses Tagebuch und werde es weiterführen, damit Du weißt, was ich, außer Dich ständig zu vermissen, heute getan habe und an den kommenden Tagen tun werde. Heute habe ich die Hauptstadt erkundet – kein angenehmes oder herzerwärmendes Erlebnis, aus Gründen, die der Anstand mir verbietet, dieser Seite anzuvertrauen –

Bei dem Gedanken an Brett – an ihr Gesicht, ihre Hände, ihren Duft in der Intimität ihres Bettes – spürte er ein körperliches Bedürfnis nach ihr. Für einen Moment schloß er die Augen. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, kritzelte er weiter.

Die Stadt ist bereits schwer befestigt, was ich als Anzeichen eines langen Krieges deuten würde, wäre es nicht allgemeine Überzeugung, daß er nur kurz sein wird. Ein kurzer Krieg ist aus vielerlei Gründen wünschenswert – nicht zuletzt aus dem offensichtlichsten Grund, daß wir als Mann und Frau zusammenleben können, wo immer auch mein Dienst mich in Friedenszeiten hinführen wird. Aber abgesehen von persönlichen Dingen läßt uns ein kurzer Krieg mehr Hoffnung, die Dinge wieder in die alte Ordnung zu bringen. Heute begegnete ich auf einem öffentlichen Weg einem Neger – entweder ein Freigelassener oder Konterbande, wie General Butler Südstaaten-Flüchtlinge bezeichnet. Der schwarze Mann gab den Gehsteig nicht frei, um mich passieren zu lassen. Die Erinnerung an diesen Vorfall hat mich den ganzen Tag beunruhigt. Ich bin ebenso sehr wie jeder andere Bürger darauf bedacht, die Schande der Sklaverei zu beenden, aber die Freiheit des schwarzen Mannes darf nicht zum Freibrief werden. Und ich glaube, ich stehe mit dieser Ansicht nicht allein. Für die Armee, das weiß ich, trifft es mit absoluter Sicherheit zu. Es heißt sogar, selbst unser Präsident spreche immer noch von der Notwendigkeit, die befreiten Schwarzen wieder in Liberia anzusiedeln. Deshalb meine Furcht vor einem sich länger hinziehenden Krieg, der sehr wohl das Chaos zu vieler schneller Veränderungen in der sozialen Ordnung mit sich bringen könnte.

Er hielt inne, die Feder auf gleicher Höhe wie die stetige Flamme. Wie feucht, wie schwer die Luft auf ihm lastete; jeder tiefe Atemzug kostete Anstrengung.

Die Worte erzeugten unerwartete Schuldgefühle. Jetzt schon verdammte er beinahe die ideologische Konfusion des Krieges. Vielleicht würden sich klarere Antworten abzeichnen, wenn er und Brett erst wieder vereint waren und sie dieses Tagebuch las.

Verzeih die merkwürdige Philosophiererei. Die Atmosphäre hier erzeugt eigenartige Zweifel und Reaktionen, und ich habe niemanden, mit dem ich das teilen könnte, mit Ausnahme desjenigen Menschen, mit dem ich alles teile – mit Dir, meine geliebte Frau. Gute Nacht, und möge Gott Dich segnen – – –

Mit einem langen Federstrich beendete er den Absatz und schlug das Heft zu. Kurz darauf zog er sich aus und löschte die Lampe. Der Schlaf wollte nicht kommen. Das Bett war hart, und vor lauter Sehnsucht nach Brett wälzte er sich ruhelos herum, während draußen in den Straßen Rowdies Scheiben zerbrachen und Pistolenschüsse abfeuerten.

»Lije Farmer? Gleich dort, Kamerad.«

Der Corporal deutete auf ein Sibley-Zelt, weiß und kegelförmig, eines von vielen. Er gab Billy einen aufmunternden Klaps und schlenderte pfeifend davon. Bei den Freiwilligen war eine solche Disziplinlosigkeit derart weit verbreitet, daß Billy gar nicht darauf achtete. Vor dem Eingang zum Zelt räusperte er sich. Er faltete seine Handschuhe über der Schärpe und trat ein, den Marschbefehl in der linken Hand.

»Lieutenant Hazard meldet sich zur Stelle, Captain – Farmer…«

Die Verblüffung zog das letzte Wort in die Länge. Der Mann mochte fünfzig oder mehr sein. Schlohweißes Haar; patriarchalischer Ausdruck. Er stand im Unterhemd da, die Hosenträger über den Hüften, und hielt eine Bibel in der rechten Hand. Auf einem gebrechlichen Tisch entdeckte Billy einige technische Texte von Mahan. Er war zu verwirrt, um irgend etwas anderes wahrzunehmen.

»Ein herzliches Willkommen, Lieutenant. Ich habe Ihrer Ankunft mit großer Freude, nein, Erregung entgegengesehen. Sie überraschen mich gerade dabei, wie ich dem Allmächtigen im Morgengebet Dank sagen möchte. Wollen Sie sich mir nicht anschließen, Sir?«

Er kniete nieder. Bestürzung verdrängte sein Erstaunen, als Billy erkannte, daß es sich bei Captain Farmers Frage um einen Befehl handelte.

4

Während Billy sich in Alexandria zum Dienst meldete, fand eine der routinemäßigen Regierungsversammlungen im Gebäude des Kriegsministeriums an der Westseite des President’s Park statt. Simon Cameron, der frühere politische Boß von Pennsylvania, führte von seinem unglaublich überhäuften Schreibtisch aus den Vorsitz, obwohl der Minister selbst die Versammlung nicht einberufen hatte; das hatte der ältliche, selbstgefällige Luftballon veranlaßt, der vorgab, die Armee zu kommandieren. Von einem Stuhl in einer Ecke aus, in die Cameron zwei Assistenten als Beobachter befohlen hatte, beobachtete Stanley Hazard General Winfield Scott mit einer Verachtung, die zu verbergen ihm Mühe bereitete.

Stanley, der auf die Vierzig zuging, war ein blasser Mensch. Zwar mit Bauch, aber beinahe zierlich im Vergleich zu dem General, der schon vor langer Zeit den Spitznamen ›Alter Schaumschläger‹ bekommen hatte. Fünfundsiebzig Jahre alt, mit einem Rumpf, der einem aufgequollenen Klumpen Brotteig glich, so ließ Winfield Scott den oberen Teil des größten Stuhles, der im Gebäude aufzutreiben gewesen war, unter seiner Körpermasse verschwinden. Tressen überzogen seine Uniform.

Außerdem nahmen noch an der Versammlung der gutaussehende, pompöse Finanzminister, Mr. Salmon Chase, teil und ein Mann in einem schlicht geschnittenen grauen Anzug, der in der Stanley gegenüberliegenden Ecke saß. Seit Beginn der Versammlung hatte der Mann kaum ein Wort gesprochen. Mit höflicher, aufmerksamer Miene lauschte er Scotts Geschwafel. Als Stanley den Präsidenten das erstemal auf einem Empfang getroffen hatte, entschied er, daß es nur ein passendes Wort für ihn gab: abstoßend. Es war mehr eine Sache des persönlichen Stils als der äußeren Erscheinung, obwohl letztere sicherlich schon schlimm genug war. Stanley hatte eine Liste weiterer, gleicherweise treffender Beschreibungen zusammengestellt. Dazu gehörten albern, tölpelhaft und tierisch.

Unter Druck hätte Stanley zugegeben, daß er für die Teilnehmer an dieser Versammlung, allenfalls mit Ausnahme seines Vorgesetzten, nichts übrig hatte. Natürlich verlangte sein Job, daß er Cameron bewunderte, der ihn als Belohnung für viele freigiebige Beiträge zu dessen politischen Kampagnen nach Washington gebracht hatte.

Obwohl loyal eingestellt, hatte Stanley schnell die gröbsten Schwächen des Ministers erkannt. Beweis dafür sah er vor sich in den Aktentürmen und den Stapeln von Zeitungen aus Richmond und Charleston – wichtige Quellen für Kriegsinformationen –, die von jedem verfügbaren Plätzchen des Schreibtischs in die Höhe ragten. Vom Teppich ragten ähnliche Säulen empor. Chaos hieß der Gott, der Simon Camerons Kriegsministerium regierte.

Hinter dem großen Schreibtisch saß der Meister von all dem, den Mund zusammengepreßt, das graue Haar lang, die grauen Augen ein Rätsel. In Pennsylvania hatte man ihm den Spitznamen ›Boß‹ gegeben, aber niemand benützte ihn mehr, zumindest nicht in seiner Gegenwart. Seine Finger waren ständig mit den wichtigsten Büroutensilien beschäftigt, einem schmutzigen Papierfetzen und einem Bleistiftstummel.

»– zu wenig Waffen, Herr Minister«, schnaufte Scott. »Mehr höre ich nicht von unseren Ausbildungslagern. Uns fehlt das Material, um Tausende von Männern auszubilden und auszurüsten, die so tapfer dem Aufruf unseres Präsidenten gefolgt sind.«

Chase beugte sich vor. »Und der Ruf, voranzustürmen, Richmond zu stürmen, wird mit jeder Stunde drängender. Sie verstehen sicherlich den Grund dafür.«

Cameron sagte trocken, aber mit diskreter Zurechtweisung: »Der Kongreß der Konföderierten tagt bald dort.« Er konsultierte einen weiteren winzigen Papierfetzen, den er in seiner Jacke entdeckt hatte. »Um genau zu sein – am 20. Juli. Der gleiche Monat, in dem die meisten unserer Neunzig-Tage-Verpflichtungen auslaufen.«

»Also muß McDowell was unternehmen«, schnappte Chase. »Auch er ist unzulänglich ausgerüstet.«

Heimlich notierte Stanley eine kurze Botschaft. Wahres Problem sind die Leute. Er erhob sich und reichte die Notiz über den Schreibtisch. Cameron packte sie, las sie, knüllte sie zusammen und deutete ein sparsames Nicken in Stanleys Richtung an. Er verstand McDowells Hauptsorge, bei der es nicht um die Ausrüstung ging, sondern um die Notwendigkeit, sich auf Freiwillige verlassen zu müssen, deren Verhalten er nicht voraussagen und deren Mut er nicht trauen konnte.

Cameron zog es jedoch vor, diesen Punkt unerwähnt zu lassen. Er erwiderte dem kommandierenden General mit schlammiger Nachgiebigkeit: »General, ich vertrete weiterhin die Meinung, daß unser Hauptproblem nicht in zu wenig Waffen, sondern in zu vielen Männern besteht. Wir haben bereits dreihunderttausend unter Waffen. Das sind weitaus mehr, als wir für die gegenwärtige Krise benötigen.«

»Nun, ich hoffe, Sie haben recht damit«, sagte der Präsident aus seiner Ecke. Niemand beachtete ihn. Wie gewöhnlich war Lincolns Stimme hoch und schrill, ein Quell zahlreicher Witze hinter seinem Rücken.

Chase entschied sich gegen eine klare Antwort und für Rhetorik. »Wir müssen mehr tun als nur hoffen, Herr Präsident, und unsere Einkäufe in Europa massiver vorantreiben. Wir haben zu wenig Artillerie im Norden, jetzt, wo wir unter dem Verlust von Harpers Fer…«

»Europäische Einkäufe werden geprüft«, sagte Cameron. »Aber meiner Meinung nach ist sowas unnötig extravagant.«

Scott stampfte auf den Boden. »Verdammt, Cameron, Sie reden von Extravaganz angesichts der Rebellion von Verrätern?«

»Vergessen Sie nicht den Zwanzigsten des nächsten Monats«, ergänzte Chase.

»Mr. Greeley und gewisse andere Leute lassen kaum zu, daß ich es vergesse.«

Aber die gereizten Worte gingen unter, als Chase weiter dröhnte: »Wir müssen Davis und sein Pack zerquetschen, bevor sie von Frankreich und England anerkannt werden. Wir müssen sie vollkommen zerquetschen. Ich stimme mit dem Kongreßabgeordneten Stevens aus Ihrem Staat überein. Wenn die Rebellen nicht aufgeben und zurückkehren – «

»Das werden sie nicht.« Scott sprach von oben herab. »Ich kenne die Virginier. Ich kenne die Südstaatler.«

Chase fuhr ungerührt fort: »– dann sollten wir Thad Stevens Rat wortgetreu befolgen. Verwandeln wir den Süden in ein Schlammloch.«

Nach diesen Worten räusperte sich der Präsident.

Es war ein dezenter Laut, aber zufällig fiel er in eine Pause, und niemand konnte ihn ignorieren, ohne unhöflich zu sein. Lincoln erhob sich und schob seine Hände in die Taschen, was seine Magerkeit betonte. Er sah ausgemergelt und erschöpft aus. Und doch war er erst Anfang Fünfzig. Von Ward Lamon, einem Vertrauten des Präsidenten, hatte Stanley gehört, Lincoln glaube nicht daran, daß er je wieder nach Springfield zurückkehren würde. Jeden Tag trafen anonyme Morddrohungen in seinem Büro ein.

»Nun«, sagte Lincoln. Dann sprach er schnell weiter, nicht laut, aber mit eindeutiger Autorität. »Ich möchte nicht sagen, daß ich mit Stevens Reaktion auf den Aufstand übereinstimme. Ich war stets sorgfältig darauf bedacht, daß die Politik dieser Regierung nicht in einen gewalttätigen, erbarmungslosen Kampf ausartet. Eine soziale Revolution, die eine auf Dauer zerrissene Union mit sich bringen würde. Ich will wieder eine geeinte Nation, und aus diesem und keinem anderen Grund hoffe ich auf eine schnelle Kapitulation der gegenwärtigen Regierung in Richmond. Nicht um Mr. Greeley zufriedenzustellen, vergessen Sie das nicht. Wir wollen diese Sache hinter uns bringen und irgendeine Lösung für die Beendigung der Sklaverei finden.«

Mit Ausnahme der nördlichen Grenzstaaten, dachte Stanley zynisch. Dort ließ der Präsident die Institution unangefochten, aus Furcht, diese Staaten würden sich sonst auf die Seite des Südens schlagen.

Zu Cameron sagte er: »Ich überlasse Ihnen die Einkäufe, Herr Minister. Aber ich wünsche genügend Waffen, um General McDowells Armee auszurüsten und die Ausbildungslager und die Streitkräfte, die unsere Grenzen schützen.«

Sie alle verstanden den letzten Hinweis: Kentucky und den Westen. Lincoln wollte jedes zufällige Mißverständnis ausschließen. »Treiben Sie die europäischen Einkäufe etwas energischer voran. Um die Dollars soll sich Mr. Chase kümmern.«

Rote Flecken tauchten auf Camerons runzligen Wangen auf. »Sehr wohl, Herr Präsident.« Er schrieb einige Worte auf das schmuddelige Papier und stopfte den Fetzen in eine Seitentasche.

Das Treffen endete mit Camerons Versprechen, einen Assistenten zu bestimmen, der augenblicklich mit Vertretern ausländischer Waffenhersteller Kontakt aufnehmen würde.

»Und beraten Sie sich, wenn es angebracht erscheint, mit Colonel Ripley«, sagte der Präsident im Hinausgehen. Er bezog sich damit auf den Leiter des Waffenamtes der Armee mit Hauptquartier im Winder Building; wie Scott, so war auch Ripley ein Relikt des Krieges von 1812.

Auch Chase und Scott gingen, jeder von ihnen in besserer Stimmung wegen Camerons scheinbarer Nachgiebigkeit. Außerdem waren die Nachrichten aus dem westlichen Virginia in letzter Zeit recht gut. George McClellan hatte Robert Lee dort draußen Anfang Juni geschlagen.

Die Männer, die heute konferiert hatten, repräsentierten zwei unterschiedliche Strategien. Scott hatte vor einigen Wochen vorgeschlagen, eine Blockade über die gesamte Küstenlinie der Konföderierten zu verhängen und dann Kanonenboote und eine große Armee schnurstracks den Mississippi hinunterzuschicken, um New Orleans zu erobern und damit den Golf zu kontrollieren. Scotts Absicht war, den Süden vom Rest der Welt zu isolieren: Schneide sie von allen lebenswichtigen Gütern ab, die sie nicht selbst produzieren können, und die Kapitulation wird schnell und unvermeidlich folgen. Scott verstärkte seinen Standpunkt mit dem Versprechen, daß der Sieg mit einem Minimum an Blutvergießen gesichert werden könnte.

Einige Teile des Planes gefielen Lincoln; die Blockade war im April verwirklicht worden. Doch der Gesamtplan, von dem die Presse Wind bekommen und den sie ›Scotts Anaconda‹ getauft hatte, stieß auf scharfe Kritik von Radikalen wie Chase – in der republikanischen Partei zahlreich vertreten –, die einen schnellen Triumph auf einen Streich bevorzugten. Diese Haltung kam am besten zum Ausdruck in dem ›Auf nach Richmond!‹ – dem Slogan, der überall zu hören war, von den Kirchenkanzeln bis in die Bordelle; zumindest hatte man das Stanley erzählt. Obwohl er sich ständig nach Sex sehnte und seine Frau es ihm selten gewährte, war er zu schüchtern für Bordellbesuche.

Würde die Union weiter auf die Hauptstadt der Konföderierten drängen? Stanley blieb kaum Zeit, darüber Spekulationen anzustellen, weil Cameron schnell zurückkehrte, nachdem er seine Besucher hinausbegleitet hatte. Er sammelte Stanley und vier weitere Assistenten um sich, zerrte merkwürdig geformte, kleine Papierchen aus jeder Tasche und rasselte Befehle herunter. Der Fetzen, auf den der Minister den eindeutigen Befehl des Präsidenten niedergekritzelt hatte, flatterte unbeachtet zu Boden.

»Und Sie, Stanley«, Cameron fixierte ihn mit Augen, so grau wie die winterlichen Hügel seiner schottischen Vorfahren, »wir haben heute noch dieses Treffen. Wegen der Uniformen.«

»Jawohl, Herr Minister.«

»Wir treffen diesen Burschen bei – warten Sie mal…« Er klopfte seine Jacke auf der Suche nach einem weiteren Informationsschnipsel ab.

»Willard’s, Sir. Die Saloon-Bar. Sie haben es für sechs Uhr abends angesetzt.«

»Ja, sechs. So viele Einzelheiten kann ich nicht im Kopf behalten.« Sein säuerliches Lächeln besagte, daß ihm das keine übertriebenen Sorgen bereitete.

Kurz vor sechs verließen Stanley und der Minister das Kriegsministerium und wechselten hinüber zur gepflegteren Seite der Avenue. Der gestrige Regen hatte die Straße wieder in einen Schlammtümpel verwandelt. Obwohl Stanley sehr vorsichtig ging, bekam er einige Spritzer auf seine Hosen. Ärgerlich. In Washington zählte der Schein mehr als die Realität. Das hatte ihm seine Frau beigebracht, wie so viele andere wertvolle Dinge in ihrem Eheleben. Ohne Isabel, das wußte Stanley sehr wohl, wäre er nichts weiter als ein Fußabtreter für seinen jüngeren Bruder George.

»– schickte ich eine telegraphische Botschaft nach unserer Versammlung heute morgen«, hörte er Cameron sagen.

»Oh, tatsächlich, Sir? An wen?«

»An Ihren Bruder George. Wir könnten einen Mann mit seinen Erfahrungen im Rüstungsministerium brauchen. Wenn er einverstanden ist, dann hätte ich ihn gern hier in Washington.«

5

Stanley hatte das Gefühl, einen Fußtritt bekommen zu haben. »Sie telegraphierten –? Sie möchten –? Meinen Bruder George –?«

»Ich möchte, daß er für das Kriegsministerium arbeitet«, sagte der Minister mit der Andeutung eines Grinsens. »Geht mir seit Wochen im Kopf herum. Der Anpfiff heute morgen hat die Sache entschieden. Ihr Bruder ist einer der Männer von Gewicht in unserem Staat, Stanley. Spitze auf seinem Gebiet – vergessen Sie nicht, ich kenne die Stahlbranche. Ihr Bruder bringt die Dinge in Schwung. Er steht neuen Ideen aufgeschlossen gegenüber. Er ist der Mann, der frischen Wind in die Rüstung bringen kann. Ripley kann das nicht; er ist eine Mumie. Und sein Assistent, dieser andere Offizier – «

»Maynadier«, flüsterte Stanley mit unglaublicher Anstrengung.

»Ja – nun, ihretwegen bekomme ich vom Präsidenten schlechte Noten verpaßt. Die beiden sagen zu allem nein. Lincoln ist an Gewehren mit gezogenem Lauf interessiert, aber Ripley meint, die taugen nichts. Wissen Sie warum? Weil er in seinen Lagerhäusern nichts weiter hat als eine Menge alter Gewehre mit glattem Lauf.«

Obwohl sich Cameron oft genug ebenso heftig gegen neue Ideen sträubte wie Colonel Ripley, war Stanley daran gewöhnt, daß sein Mentor die Schuld kunstvoll weiterschob. Die Politik in Pennsylvania hatte ihn darin zum Meister werden lassen. Stanley raffte schnell seinen Mut zusammen, um Cameron aus anderer Richtung anzugreifen. »Herr Minister, ich gebe zu, es ist notwendig, neue Leute zu holen. Aber warum haben Sie telegraphiert? Ich meine, wir haben nie darüber gesprochen…«

Ein scharfer Blick stoppte ihn. »Kommen Sie, mein Junge. Ich brauche nicht Ihre Erlaubnis, um irgendwas zu tun. Und Ihre Reaktion kannte ich bereits im voraus. Ihr Bruder hat die Führung der Hazard-Eisenwerke an sich gerissen, hat sie Ihnen einfach weggenommen, und das frißt seitdem an Ihnen.«

Ja, bei Gott, das stimmte. Seit sie kleine Kinder waren, hatte er in Georges Schatten gelebt. Jetzt stand er endlich auf eigenen Beinen, und schon kam dieser Kerl wieder an. Er würde das nicht zulassen.

Nichts davon sagte Stanley laut. Noch einige Schritte, und die Männer bogen in den Haupteingang von Willard’s. Cameron sah fröhlich, Stanley elend aus.

Die Hotelhalle und die Aufenthaltsräume waren mit Leuten vollgestopft. Nahe bei einer mit Seilen abgesperrten Wand stritt sich einer der Willard-Brüder mit einem Maler herum. Das ganze Hotel roch nach Farbe, Mörtel – und nach schweren Parfüms. Unter den Lüstern plauderten Männer und Frauen mit Augen wie Glas und Gesichtern so steif wie Partymasken.

Stanley hatte sich genügend erholt, um hervorzubringen: »Natürlich ist es Ihre Entscheidung, Sir.«

»Richtig, das ist es.«

»Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß mein Bruder keiner unserer stärksten Anhänger ist.«

»Er ist Republikaner, genau wie ich.«

»Ich bin sicher, er hat die Zeit noch nicht vergessen, als Sie auf Seiten der Demokraten waren.« Stanley wußte, daß George ganz besonders erbost über die Ereignisse beim Konvent in Chicago gewesen war, der den Präsidenten nominiert hatte. Lincolns Wahlhelfer hatten die Stimmen benötigt, die Cameron kontrollierte. Der Boß hatte sie nur für einen Kabinettposten verschachern wollen. Deshalb sagte Stanley mit Bestimmtheit: »Wahrscheinlich wird er gegen Sie arbeiten.«

»Er wird für mich arbeiten, wenn ich ihn richtig anpacke. Ich weiß, daß er mich nicht mag, aber wir befinden uns im Krieg, und er hat in Mexiko gekämpft – ein Mann wie er kann der alten Flagge nicht den Rücken zuwenden. Außerdem«, die grauen Augen nahmen einen verschlagenen Ausdruck an, »kann man einen Mann wesentlich leichter kontrollieren, wenn man ihn direkt unterm Daumen hat.«

Cameron beschleunigte seinen Schritt, um das Ende der Diskussion zu markieren.

Stanley blieb hartnäckig. »Er wird nicht kommen.«

»Doch, wird er. Ripley ist ein dämlicher alter Ziegenbock. Ich brauche George Hazard. Und ich kriege, was ich will.«

Mit seinem Stock stieß der Minister eine der Schwingtüren zur Saloon-Bar auf. Kochend vor Wut folgte ihm Stanley.

Der Geschäftsmann, der um die Unterredung ersucht hatte, irgendein Freund eines Freundes von Cameron, war ein gedrungener Bursche namens Huffsteder. Er bestellte und bezahlte die erwartete Runde Drinks – Lager für Stanley, Whisky für Cameron –, und das Trio ließ sich an einem Tisch nieder, der eben von einigen Offizieren verlassen worden war.

»Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen«, begann Huffsteder.

Cameron ließ ihm keine Chance. »Sie wollen einen Kontrakt. Da sind Sie nicht der einzige, das kann ich Ihnen sagen. Aber ich wäre nicht hier, wenn Sie nicht – oh, nennen wir es einen kleinen Bonus verdient hätten.« Ihre Blicke trafen sich. »Wegen früherer Gefälligkeiten. Wollen das nicht weiter ausführen. Also, was haben Sie anzubieten?«

»Uniformen. Schnelle Lieferung zum richtigen Preis.«

»Wo hergestellt?«

»In meiner Fabrik in Albany.«

»Oh, das ist gut. New York. Ich erinnere mich.«

Der Geschäftsmann holte ein Stück groben Stoffes aus seiner Jackentasche, dunkelblau gefärbt, und legte das Muster auf den Tisch. Stanley griff mit beiden Händen danach und riß es leicht mittendurch. »Schund«, sagte er. Huffsteder sagte nichts. Cameron befingerte eines der Stücke. Genau wie Stanley wußte er, daß keine Uniform aus diesem Material länger als zwei oder drei Monate halten würde. Aber schließlich war Krieg; die Aktionen der Rebellen erforderten gewisse Kompromisse.

Cameron machte das sehr schnell deutlich. »Was die Beschaffung anbelangt, Mr. Hoffsteder«, der Mann murmelte seinen korrekten Namen, aber Cameron ignorierte ihn, »so ist das Gesetz klar wie Kristall. Mein Ministerium hält sich an dieses Gesetz. Es werden versiegelte Gebote abgegeben, wenn der Kontrakt öffentlich ausgeschrieben wird. Andererseits habe ich gewisse Summen zu meiner persönlichen Verfügung, und ich kann dieses Geld weiterleiten an autorisierte Agenten des Kriegsministeriums für geheime Käufe, die nicht öffentlich ausgeschrieben werden. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?« Huffsteder nickte. »Wenn unsere tapferen Jungs Mäntel oder Pulver brauchen, dann können wir nicht zu pingelig sein, was das Gesetz betrifft. Mit den Rebellen drüben in Virginia, die möglicherweise jeden Moment hier einfallen, können wir nicht auf versiegelte Gebote warten, oder? Also«, Cameron hob beredt eine Hand. »Spezialverträge, bezahlt aus einem Spezialfonds.«

Und nur für ganz spezielle Freunde. Schon nach diesen wenigen Monaten verstand Stanley das System recht gut.

Cameron ließ die redselige Pose fallen. »Stanley, schreiben Sie Namen und Adressen unserer Agenten im Staat New York für diesen Gentleman auf. Nehmen Sie Kontakt mit irgendeinem von ihnen auf, und ich bin sicher, Sie werden ins Geschäft kommen.«

»Sir, ich kann Ihnen gar nicht genug danken.«

»Aber das haben Sie doch bereits getan.« Wieder fixierten die grauen Augen den aufgeregten Mann. »Ich erinnere mich an den genauen Betrag der Spende. Reichlich, tatsächlich reichlich. Genau die Art von Spende, die ich von jemandem erwarte, der die Kriegsanstrengungen unterstützen will.«

»Ich schreibe besser unseren Agenten«, warf Stanley ein.

»Ja, kümmern Sie sich darum.« Cameron brauchte seinen Schüler nicht darauf aufmerksam zu machen, daß er sich auch vage genug ausdrückte; Stanley hatte über ein Dutzend Briefe dieser Art geschrieben. »Nun, Sir, wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich esse mit meinem Bruder zu Abend. Auch er dient unserer Sache. Kommandeur der Seventy-Ninth, New York. Hauptsächlich Schotten. Aber mich werden Sie nicht in einem Kilt erwischen. Nicht mit diesen Knien.«

In der Hotelhalle unternahm Stanley einen letzten Versuch. »Sir, ehe Sie gehen – denken Sie bitte noch einmal über George nach. Vergessen Sie nicht, er ist einer dieser West-Point-Pfauen.«

»Ich mag ihn oder die Institution kein bißchen besser als Sie, mein Junge. Ich schätze, wenn ich das Baby will, dann werd’ ich schon die Wehen durchstehen müssen.«

»Herr Minister, ich bitte Sie!«

»Das reicht! Haben Sie mich nicht verstanden?«

Einige Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Errötend packte Cameron Stanleys Ärmel und zerrte ihn zu einem leeren Sofa. »Kommen Sie her. James wird verärgert sein, wenn ich mich verspäte, aber ich möchte eines klarstellen.«

Oh, mein Gott, er wird mich entlassen –

Camerons Gesichtsausdruck ließ durchaus auf diese Möglichkeit schließen. Er drückte Stanley in die Kissen. »Jetzt hören Sie mir mal zu. Ich mag Sie, Stanley. Mehr noch, ich vertraue Ihnen, und das kann ich nicht von vielen sagen, die für mich arbeiten. Hören Sie auf, sich wegen Ihres Bruders Sorgen zu machen. Ich werde schon mit ihm fertig. Sie würden verdammt viel klüger handeln, wenn Sie die Vergangenheit vergäßen und sich die Gegenwart zunutze machten.«

Stumpfsinnig sagte Stanley: »Wie meinen Sie das?«

Ruhiger setzte sich Cameron hin. »Ich meine, schneiden Sie sich eine Scheibe von dem Dieb ab, mit dem wir es eben zu tun hatten. Suchen Sie sich eine günstige Gelegenheit, und schlagen Sie Kapital daraus. Ich leite mein Ministerium genau nach Vorschrift«, Stanley war zu verwirrt, um über diese Absurdität zu lachen, »aber das heißt nicht, daß ich was dagegen hätte, daß gute, vertrauenswürdige Bekannte etwas verdienten. Viele kleine Aufgaben müssen erledigt werden, wenn wir die große Aufgabe schaffen wollen.«

Endlich dämmerte es. »Sie meinen, ich sollte um einen Kontrakt nachsuchen?«

Cameron schlug Stanley aufs Knie. »Genau.«

»Für was?«

»Was unsere Jungs brauchen. Dies hier zum Beispiel.« Er griff nach unten, klopfte gegen seinen Schuh und richtete dann seinen Blick sinnierend zur frisch gestrichenen Decke empor. »Die Schuhindustrie ist die zweitgrößte im Norden, bloß ist es ihr in letzter Zeit ziemlich dreckig gegangen. Ich möchte wetten, in New England stehen eine Menge kleiner Fabriken zum Verkauf.«

»Aber ich verstehe rein gar nichts von der Schuhindu…«

»Lernen, mein Junge.« Wie eine Schlange schoß Camerons Kopf auf ihn zu. »Lernen!«

»Nun, ich vermute, ich könnte – «

»Aber sicher.« Cameron, jetzt wieder ganz leutselig, gab Stanleys Knie einen zweiten Klaps und erhob sich. »Der Vorrat an Schuhen ist verdammt knapp. Eine äußerst günstige Gelegenheit für irgend jemanden.«

»Ich weiß die Anregung zu schätzen. Ich danke Ihnen.«

Cameron strahlte. »Gute Nacht, mein Junge.«

»Gute Nacht, Sir.«

Nachdem der Minister das Hotel verlassen hatte, starrte Stanley lange vor sich hin. Wie sollte er Isabels Zorn ertragen, wenn sie erfuhr, daß der Mann, der sie aus Lehigh Station gejagt hatte, erneut zu Stanleys Rivalen geworden war?

6

»Ohne die Nigger würd’s diesen Krieg gar nicht geben.«

»Stimmt nicht. Die Rebs, die von der Union abgefallen sind, haben ihn angefangen. Ich sage, kämpfen wir für die Flagge, aber nicht für die Schwarzen.«

»Genau. Meiner Meinung nach ließe sich das Problem am besten lösen, wenn man sie alle erschießen würde.«

Andere Zivilisten in der Willard-Bar stimmten lauthals zu. Ein einsamer Offizier war der gleichen Meinung, aber da er sich in Uniform befand, enthielt er sich jeden Kommentars.

Der Offizier wog zweihundertdreißig Pfund. Ein Bauch wölbte seinen makellosen Uniformrock. In dem wachsweißen Gesicht, das die Sonne in einer halben Stunde verbrennen konnte, huschten die Blicke der dunklen Augen zu einem Ecktisch. Ein Mann, der soeben von zwei anderen verlassen worden war, saß noch dort. Der jüngere der beiden anderen hatte ein quälend vertrautes Gesicht gehabt.

Der Offizier schlürfte seinen Whisky und durchforstete sein Gedächtnis. Er war siebenunddreißig, aber sein schwarzes Haar zeigte bereits seit sechs Monaten graue Strähnen. Er färbte sie jeden Tag, um eine jugendliche Erscheinung präsentieren zu können. Brevet Colonel Elkanah Bent wünschte nur, er könnte das vor sich selbst ebenso leicht verbergen.

Dieses Grau ließ ihm seine eigene Sterblichkeit bewußt werden und verstärkte seine Frustrationen. Während des größten Teils seines Erwachsenenlebens hatte er unter Karrierefrustrationen gelitten. Im vergangenen Monat war es noch schlimmer geworden, während er die Tage in dieser pro-südstaatlichen, umnachteten Stadt vertrödelte. Bent haßte die Südstaatler fast genauso wie die Schwarzen. Am meisten haßte er einen Südstaatler namens Orry Main; Main und dessen Yankee-Klassenkameraden George Hazard. Dazu kam noch, daß in Washington der einzige Mensch wohnte, dem Bent eine gewisse Zuneigung entgegenbrachte; und ihn durfte er nicht sehen.

Das Gesicht des Fremden ging ihm nicht aus dem Kopf. Bent winkte den Barkeeper heran. »Haben Sie den Herrn gesehen, der gerade gegangen ist?«

»Minister Cameron.«

»Nein, sein Begleiter.«

»Oh, das war einer seiner Untergebenen. Stanley Hazard.«

Bents Hand ballte sich zur Faust. »Aus Pennsylvania?«

»Ich denke schon. Cameron hat eine Menge politische Freunde mit ins Kriegsministerium genommen.« Ein Nicken zu dem leeren Glas. »Noch einen?«

»Oh ja. Einen Doppelten.«

Stanley Hazard. Bestimmt George Hazards Bruder. Das würde die Ähnlichkeit erklären, trotz des weichen, schlaffen Gesichts. Für einen Moment überwältigten ihn derartige Emotionen, daß er sich ganz benommen fühlte.

Auf der Militärakademie waren Orry Main und George Hazard einen Jahrgang unter Elkanah Bent gewesen. Von Anfang an hatten sie sich gegen ihn verschworen und andere gegen ihn aufgehetzt. Sie waren für seine ausgebliebenen Beförderungen verantwortlich.

Ende der fünfziger Jahre war Bent zur Zweiten Kavallerie in Texas versetzt worden. Dort hatte Orry Mains Cousin Charles, ein draufgängerischer Lieutenant, neu im Regiment, seinen Ruf weiter beschmutzt.

Natürlich standen die Mains in diesem Krieg auf Seiten der Südstaaten-Verräter. George Hazard hatte die Armee vor Jahren verlassen, aber sein jüngerer Bruder Billy war bei den Bundespionieren. Bent hatte keine Ahnung von ihrem Verbleib, er wußte nur eines mit absoluter Gewißheit: Elkanah Bent war zu Großem bestimmt; er sah sich als amerikanischer Bonaparte, mit aller Macht ausgestattet; und damit der Möglichkeit, die Mains und die Hazards zu vernichten.

Er stürzte seinen Whisky hinunter und rief sich Stanleys Erscheinungsbild ins Gedächtnis. Noch einen Drink, dann würde er gehen. Er schlürfte ihn, während er glückselige Visionen heraufzubeschwören suchte, wie er Stanley Hazard erwürgte oder ihm seinen Säbel in den Bauch bohrte. Aber viel nützte ihm das nicht. George war es, dem er weh tun wollte. George und dieser verfluchte Orry Main.

Seinen Säbelgriff umklammernd schlurfte er aus der Willard-Bar hinaus. Er konnte die feuchte Luft spüren und riechen; bald würde stinkender Nebel vom Fluß aufsteigen. Er stieß mit einem Austernverkäufer zusammen, der gerade seinen Karren wegrollen wollte. Bent verfluchte die verschwommene Gestalt und schwankte weiter, vorbei an zwielichtigen Schatten, die ihm mit fremden, lockenden Stimmen zuflüsterten. Wirkliche Stimmen? Phantome? Er war verwirrt.

Drei Blocks hielt diese Qual an, dann hatte er die Sicherheit seines Gasthauses erreicht. Keuchend kletterte er die Stufen zur erleuchteten Veranda hoch. Im Aufenthaltsraum traf er auf einen weiteren Pensionsgast, mit dem er sich ein wenig angefreundet hatte. Colonel Elsmdale, ein Mann aus New Hampshire mit gewaltigen Ohren, kaute an seiner Zigarre, während er auf einige Papiere deutete.

»Hab’ heute meine Befehle abgeholt. Ihre auch. Da liegen sie. Nicht gerade die erfreulichsten Nachrichten.«

»Nicht – erfreulich?« Sich die bereits feuchten Lippen leckend, schnappte sich Bent die Befehle. Die Handschrift schien sich zu winden, als wären Schlangen im Papier gefangen. Aber er verstand jedes Wort. Er war so verängstigt, daß ihm unkontrollierbare Blähungen entwichen. Elmsdale verzog keine Miene.

»Gebiet von – Kentucky?«

Ein grimmiges Nicken. »Armee von Cumberland. Wissen Sie, wer dort das Kommando hat? Anderson. Der gleiche sklavenhaltende Stümper, der in Sumter die Fahne runtergeholt hat. Ich weiß, daß ihn eine Menge Leute als Helden bezeichnet haben, aber ich will verdammt sein, wenn ich dazugehöre.«

»Wo liegt dieses Camp Dick Robinson?«

»In der Nähe von Danville. Ausbildungscamp für Freiwillige.«

Ungläubig sagte Bent: »Ich habe Frontdienst gezogen – im Sezessions-Gebiet?«

»Ja, und ich ebenfalls. Ich bin darüber kein bißchen glücklicher als Sie, Bent. Wir werden Grünschnäbel zu kommandieren haben, Heckenschützen hinter jedem Baum, niemand kämpft den Vorschriften entsprechend. Ich möchte wetten, die Bauern, die wir auszubilden haben, können nicht mal die gottverdammten Vorschriften lesen.«

»Da muß ein Irrtum vorliegen«, flüsterte Bent, drehte sich um und stolperte auf die Treppe zu.

»Ganz sicher. Typisch für die Armee.« Elmsdale seufzte. »Gibt nichts, was wir dagegen tun könnten.«

Bent hörte nichts mehr; er schleppte sich die Stufen hoch, einen staubigen Flur entlang, in dem es nach Hammelfleisch und Zwiebeln roch. Bei dem Gedanken an das Abendessen drehte es ihm schon den Magen um. Endlich gelangte er zu seinem Zimmer. Er knallte die Tür zu. Sank auf die Bettkante. Frontdienst. Analphabeten in der Wildnis kommandieren, wo man jederzeit riskierte, eine Kugel von einem Südstaatensympathisanten einzufangen.

Was war geschehen? In der abgestandenen Dunkelheit, in der es nach Uniformbaumwolle und seinem eigenen Schweiß roch, kamen ihm fast die Tränen. Wo war sein Beschützer? Seit Bents Jugendzeit hatte dieser Mann insgeheim für ihn gearbeitet. Hatte für die Akademieberufung von Ohio aus gesorgt und dann, nach den Machenschaften von Hazard und Main und seiner Entlassung, mit einem Gesuch beim Kriegsminister seine erneute Zulassung erwirkt. Bis auf den unvermeidlichen Dienst im Mexikanischen Krieg und der einen Abkommandierung nach Texas hatte man ihn immer auf einen ruhigen, sicheren Posten gesetzt. Die Armee hatte ihn behalten, ungefährdet von –

Bis jetzt.

Mein Gott, sie schickten ihn ins Exil. Angenommen, er landete bei den Kampftruppen? Er könnte sterben. Warum hatte ihn sein Beschützer im Stich gelassen? Sicher war es ohne Absicht geschehen. Sicher wußte bis auf einige Schreibstubenhengste niemand was von diesen Befehlen. Das mußte die Erklärung sein.

Immer noch zitternd entschied er, was zu tun war. Es war eine Verletzung der schon lange bestehenden Vereinbarung, daß er nie in direkte Verbindung zu seinem Beschützer treten durfte. Aber diese Krise, diese absolute Katastrophe hatte Vorrang.

Er rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, und erschreckte Elmsdale, der gerade hochkam. »Der Nebel da draußen ist mächtig dicht geworden. Wenn Sie rausmüssen, vergessen Sie Ihren Revolver nicht.«

»Ich brauche von Ihnen keinen Rat.« Bent schob ihn beiseite. »Aus dem Weg!« Mit wild schwingender Säbelscheide torkelte er zur Tür hinaus. Elmsdale fluchte und dachte für sich: Wie hat es ein Verrückter wie der da bloß geschafft, in der Armee zu bleiben?

7

Die Mietkutsche bog in die Nineteenth, wo der Abstand zwischen den einzelnen Häusern immer größer wurde. Die Reichen bauten in diesem abgelegenen Teil, um dem Dreck und den Gefahren der Innenstadt zu entrinnen.

»Welches Haus zwischen K und L?« rief der Kutscher.

»Da gibt’s nur eins. Nimmt den ganzen Block ein.«

Bent hing am inneren Haltegriff, als wäre es eine Rettungsleine im Ozean. Sein Mund fühlte sich heiß und ausgedörrt an, sein restlicher Körper kalt. Der Nebel vom Potomac hängte selbst über die hellsten Fenster schmutzige Gazevorhänge.

Bents Ziel war die Residenz eines Mannes namens Heyward Starkwether. Im üblichen Sinne besaß Starkwether, der aus Ohio stammte, weder einen Beruf noch ein Büro noch eine erkennbare Einkommensquelle, obwohl er seit fünfundzwanzig Jahren in dieser Stadt lebte. Neue, unerfahrene Reporter in Washington bezeichneten ihn manchmal als Lobbyisten. Elkanah Bent wußte nicht viel über Starkwethers Angelegenheiten, aber er wußte zumindest soviel, daß die Bezeichnung Lobbyist zu dem Mann genauso paßte, als hätte man Alexander den Großen einen gemeinen Soldaten genannt.

Das Gerücht ging um. daß Starkwether gewaltige New Yorker Geldinteressen repräsentierte, Männer, deren Einfluß und Reichtum von olympischen Dimensionen war. Männer, die jedes Gesetz ignorieren konnten, wenn es ihnen in den Sinn kam, und die Regierungspolitik nach ihren persönlichen Absichten formten. Auf ihr Geheiß, so wurde gemunkelt, unterhielt Starkwether seit zwei Jahrzehnten Freundschaften auf höchster Regierungsebene.

»Biegen Sie hier ein«, rief er. Der Kutscher hätte beinahe die Einfahrt zu dem Herrschaftshaus verpaßt, das einem griechischen Tempel glich. Nebel verbarg die weitläufigen Flügel und oberen Stockwerke; die leere Einfahrt und das Fehlen erleuchteter Fenster verwirrten Bent.

»Warten Sie auf mich«, sagte Bent und ging die weiten Marmorstufen zum Eingang hoch. Er ließ einen der Türklopfer, einen gewaltigen Löwenkopf, zweimal fallen. Der Ton dröhnte auf und verhallte. War sein Beschützer verreist? Erneut klopfte er. Ein ältlicher Diener mit geröteten Augen öffnete ihm. Bevor er den Mund aufmachen konnte, sprudelte der Besucher heraus: »Ich bin Colonel Elkanah Bent. Ich muß Mr. Starkwether sehen. Es ist dringend.«

»Ich bedaure sehr, Colonel, aber das ist unmöglich. Heute nachmittag hatte Mr. Starkwether einen unerwarteten«, der alte Mann hatte Schwierigkeiten, das Wort auszusprechen, »Anfall.«

»Sie meinen einen Schlaganfall.«

»Jawohl, Sir.«

»Aber er lebt, es geht ihm soweit gut, ja?«

»Der Schlaganfall war tödlich, Sir.«

Bent ging zur Kutsche zurück; er sah nichts, hörte nichts, und er fragte sich, wie er selbst überleben sollte, jetzt, da er seinen Vater verloren hatte.

8

»Er kommt hierher? Mit dieser katholischen Hündin, die über uns thront, als wäre sie eine Königin? Stanley, du Schwachkopf! Wie konntest du das zulassen?«

»Isabel«, begann er mit schwacher Stimme, während sie an das Wohnzimmerfenster stürzte. Sie zeigte ihm die Rückseite ihres eintönig grauen Reifrocks und der dazu passenden Jacke, die sie täglich trug. Sie stöhnte so laut, daß man hätte meinen können, irgendein Mann würde sie vergewaltigen. Verdammt geringe Chance, daß sie das zuläßt, dachte Stanley mürrisch.

Seine Frau warf die Reifen hoch, um sich schnell umdrehen zu können, zu einer weiteren Konfrontation. »Warum um Himmels willen hast du keine Einwände dagegen erhoben?«

»Hab’ ich doch! Aber Cameron will ihn haben.«

»Aus was für einem Grund?«

Stanley bot einige von Camerons Erklärungssätzen an, so gut er sie noch im Gedächtnis hatte. Hingestreckt auf einem Stuhl endete er lahm: »Die Chancen stehen recht gut, daß er gar nicht kommt.«

»Ich wollte, wir wären auch nicht gekommen. Ich verabscheue diese verfluchte Stadt.«

Er saß schweigend da, während sie dreimal das Wohnzimmer durchschritt und einen Teil ihrer Wut abreagierte. Er wußte, daß ihre letzte Bemerkung nicht ernst gemeint war. Sie liebte Washington, weil sie die Macht liebte und die Nähe zu jenen, die sie ausübten.

Ihre gegenwärtigen Umstände waren freilich nicht ideal. Ein anständiges Quartier war schwer zu finden, und so waren sie gezwungen gewesen, diese staubige, alte Suite in dem höhlenartigen National Hotel zu mieten, ein Versammlungsort von Südstaaten-Anhängern. Stanley wünschte, sie könnten umziehen. Von der Politik mal abgesehen war ein Hotel einfach nicht der richtige Ort, um zwei eigensinnige heranwachsende Söhne zu erziehen. Manchmal blieben Laban und Levi in dem Irrgarten der Korridore für Stunden verschwunden. Als Stanley um sieben gekommen war, hatte ihm Isabel berichtet, daß sie Laban dabei überrascht hatte, wie er mit einem der jungen Zimmermädchen herumschäkerte. Stanley hatte seinem Sohn eine Ermahnung erteilt – für ihn quälend und für den trotzigen Jungen langweilig. Dann hatte er den Zwillingen befohlen, für eine Stunde lateinische Verben zu lernen, und hatte ihre Schlafzimmertür zugesperrt.

Isabel beendete ihren letzten Rundgang und hielt vor ihm an, die Arme über ihrem kleinen Busen verschränkt. Zwei Jahre älter als Stanley, war sie mit zunehmendem Alter immer abstoßender geworden.

Als Antwort auf ihren funkelnden Blick sagte er: »Isabel, versuch doch zu verstehen. Ich habe widersprochen, aber – «

»Nicht eindringlich genug. Du machst nie etwas eindringlich genug.«

Sein Rücken versteifte sich. »Das ist unfair. Ich wollte mein gutes Verhältnis zu Simon nicht gefährden. Ich hatte den Eindruck, daß du das als Aktivposten betrachtest.«

Isabel Hazard war eine Expertin, was die Manipulation von Menschen anbelangte. Sie merkte, daß sie zu weit gegangen war. Die Einsicht dämpfte ihren Ärger.

»Das tue ich auch. Was ich gesagt habe, tut mir leid. Es ist nur so, daß ich George und Constance wegen all der Demütigungen, mit denen sie dich überschüttet haben, so verabscheue.«

Der Waffenstillstand war hergestellt, und er ging zu ihr. »Und dich.«

»Ja. Das würde ich ihnen gern zurückzahlen.« Lächelnd legte sie den Kopf schief. »Wenn sie tatsächlich herkommen, könnte ich vielleicht einen Weg finden. Wir kennen hier einflußreiche Leute, und du besitzt jetzt einigen Einfluß.«

Er legte den Arm um ihre Schultern. »Laß mich einen Whisky trinken, während ich dir ein paar gute Nachrichten erzähle.«

»Was ist es? Eine Beförderung?«

»Nein, nein – es ist ein Vorschlag von Simon, eine Art Bonus, um mich wegen George zu besänftigen.« Er beschrieb das Treffen mit dem Geschäftsmann und die folgende Unterhaltung mit Cameron. Isabel erkannte sofort die Möglichkeiten. Sie klatschte in die Hände.

»Für diesen Einfall würde ich zehn George Hazards in die Stadt kommen lassen. Wegen unseres Lebensunterhaltes wären wir nicht auf die Fabrik – oder auf die Launen deines Bruders – angewiesen. Stell dir bloß vor, was für ein Geld wir mit einem garantierten Kontrakt verdienen könnten!«

»Simon bietet keine Garantien«, mahnte Stanley. »Solche Dinge werden nicht genau festgelegt. Aber ich bin mir sicher, das ist es, was er meint. Das Ministerium arbeitet so. Gerade jetzt arbeite ich beispielsweise an einem Plan, der Regierung Geld bei Soldatentransporten von New York nach Washington zu ersparen. Die momentanen Kosten liegen bei sechs Dollar pro Kopf. Wenn wir die Truppen über Harrisburg befördern, mit der Northern Central, können wir die Kosten auf vier Dollar senken.«

»Aber die Northern Central gehört Cameron.«

Der Whiskey wärmte ihn angenehm, und Stanley zwinkerte. »Für gewöhnlich machen wir damit keine Reklame.«

Isabel plante bereits. »Wir müssen augenblicklich nach New England reisen. Simon wird dir freigeben, nicht wahr?«

»Oh, ja. Aber wie ich ihm schon sagte, ich habe nicht die geringste Ahnung von Schuhfabrikation.«

»Das lernen wir. Zusammen.«

»Gib mir mein Kissen zurück, du kleiner Hundesohn!«

Dem plötzlichen Geschrei hinter der Tür des kleineren Schlafzimmers folgte weiteres Gefluche und Kampfgetümmel.

»Stanley, bring diese Jungs auf der Stelle zur Besinnung!«

Der General hatte gesprochen; der Untergebene war klug genug, keine Einwände zu erheben. Er stellte seinen Drink ab und begab sich widerwillig zum Schauplatz des Bruderkriegs.

9

In Pennsylvania verließ Billys Frau Brett am nächsten Tag Belvedere, um eine Besorgung zu machen. Genausogut hätte ein Diener nach Lehigh Station gehen können, aber sie wollte für eine Weile dem überhitzten Nähzimmer und der Freiwilligenarbeit entrinnen, die dort von den Damen des Hauses geleistet wurde. Die Arbeit für die Jungs der Union beunruhigte ihr Gewissen.

Belvedere, ein L-förmiges Steingebäude im italienischen Stil, erhob sich neben einer zweiten Residenz auf dem Gipfel eines Hügels mit Blick über den Fluß, die Stadt und die Hazard-Eisenwerke. Die andere Residenz war doppelt so groß – vierzig Zimmer. Sie gehörte Stanley Hazard und dessen fürchterlichen Frau, die hier einen Hausverwalter zurückgelassen hatten, als sie nach Washington gegangen waren.

Brett wartete auf der schattigen Veranda von Belvedere, bis ein Stallknecht den Buggy brachte. Sie riß ihm praktisch die Peitsche aus der Hand und donnerte in einer Staubwolke los, auf sich selbst ärgerlich wegen ihrer unberechtigten Unfreundlichkeit.

Brett war dreiundzwanzig, mit den dunklen Haaren und Augen, wie sie in der Main-Familie üblich waren. Sie war attraktiv, aber auf eine frischere, schlichtere Weise als ihre ältere Schwester Ashton, die von allen, Ashton eingeschlossen, als Schönheit angesehen wurde. Ashtons Lieblichkeit paßte zu Abendgesellschaften, zu süßem Duft und nackten Schultern bei Kerzenschein. Brett war mehr für Tageslicht und frische Luft geschaffen. Jegliche Koketterie lag ihr fern. Ihr Lächeln war offen und freundlich, eine Seltenheit bei jungen Frauen in ihrem Alter.

Aber das schien sich in der Heimatstadt ihres Gatten allmählich zu ändern. Die Leute wußten, daß sie aus South Carolina stammte, und behandelten sie mit der Vorsicht, die man einer welkenden exotischen Blume angedeihen läßt. Nicht wenige, so vermutete sie, hielten sie für eine heimliche Verräterin.

Je länger Billy wegblieb, je länger die schrecklichen Ungewißheiten dieses Krieges andauerten, desto isolierter und unglücklicher fühlte sie sich. Sie bemühte sich, diese Gefühle vor George und seiner Frau Constance zu verbergen, aber das gelang ihr bei weitem nicht perfekt, und sie wußte es.

Schweiß tränkte die Innenfläche ihrer Netzhandschuhe. Weshalb hatte sie die Handschuhe erst angezogen? Das Einspänner-Pferd brauchte einen scharfen Zügel, um auf der holprigen Straße gehalten werden zu können, die sich neben der Fabrik den Hügel hinabschlängelte. Die gewaltigen Hazard-Werke rauchten und lärmten vierundzwanzig Stunden täglich, produzierten unermüdlich Eisenbahnschienen und Grobbleche für die Kriegsanstrengungen der Union. Kürzlich hatte die Fabrik auch noch einen Kontrakt für Kanonen bekommen.

Wohin sie auch blickte, der Krieg war allgegenwärtig. Sie kam an einigen Jungs vorbei, die auf einem unbebauten Grundstück zum Klang von Löffeln exerzierten, die gegen einen Eimer geschlagen wurden; keiner der kleinen Soldaten war über zehn. Die Vorderfront des besten Hotels am Platz war mit vielen roten, weißen und blauen Flaggen geschmückt; heute nachmittag sprach George anläßlich einer patriotischen Versammlung im Hotel.

Sie fuhr zu Herberts Kaufhaus und band das Pferd an einem Eisenpfosten an. Als sie den Bürgersteig überquerte, bemerkte sie zwei Männer, die sie von einer schattigen Bank aus beobachteten. Ihre muskulösen Arme und die eintönige Kleidung deuteten darauf hin, daß sie wahrscheinlich im Hazard-Werk arbeiteten.

Der eine Mann sagte etwas zum anderen, der darüber so heftig lachte, daß er beinahe sein Bier verschüttet hätte. Trotz der Hitze schauderte Brett.

Im Kaufhaus roch es nach Lakritze und Roggenmehl und anderen Dingen, die Mr. Pinckney Herbert verkaufte. Der Besitzer war ein zartknochiger Mann mit hellen Augen, der Brett an einen Rabbi erinnerte, den sie einst in Charleston kennengelernt hatte. Herbert war in Virginia aufgewachsen, wo seine Familie vor der Revolution gelebt hatte. Mit zwanzig hatte ihn sein Gewissen nach Pennsylvania getrieben: aus dem Süden hatte er nichts weiter als seinen Abscheu vor der Sklaverei und den Namen Pinckney mitgebracht, der ihm gefiel und den er statt seines echten Namens Pincus angenommen hatte.

»Guten Tag, Mrs. Hazard. Womit kann ich Ihnen heute dienen?«

»Mit kräftigem weißem Faden. Pinckney. Weiß. Constance und Patricia und ich haben Mützen genäht.«

»Mützen. Gut, gut.« Er wich ihrem Blick aus. Als Georges Frau und Tochter mit dem Nähen begannen, hatte sich Brett ihnen angeschlossen, denn es schien nicht gerade ein Verrat zu sein, einem anderen menschlichen Wesen zu helfen, seinen Nacken vor Regen oder Sonnenbrand zu schützen. Warum hielt sich dann so hartnäckig dieses unterschwellige Gefühl der Treulosigkeit, während sie nähte?

Sie zahlte ein halbes Dutzend Spulen und verließ den Laden. Beim Klang einer quietschenden Bohle drehte sie sich abrupt nach links; sofort wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Da standen die beiden Müßiggänger und wirbelten Bier in ihren Blechkrügen herum.

»Was gibt’s Neues von Jeff Davis, Lady?«

Sie wollte ihn einen Idioten nennen, entschied aber, daß es sicherer war, die Bemerkung zu ignorieren. Mit klopfendem Herzen eilte sie zu ihrem Buggy. Niemand war auf der Straße zu sehen. Sie hörte Geräusche hinter sich, schweren Atem, Stiefel auf harter Erde und spürte den Mann schon, noch ehe er sie an der Schulter packte und herumriß. Sie roch seine dreckige Kleidung und den Alkoholgestank.

»Möcht’ wetten, du betest drum, daß Old Abe eines Nachts der Schlag trifft und er tot umfällt, he?« Der Begleiter des Mannes fand das so komisch, daß er losgröhlte. Das erregte die Aufmerksamkeit von zwei Männern auf der anderen Straßenseite. Als sie sahen, wer da belästigt wurde, gingen sie weiter.

Mit schwerer Zunge sagte der Mann: »Hast immer noch ein paar Nigger daheim in Carolina?«

»Ihr betrunkenen Idioten«, sagte Brett. »Laßt eure Pfoten von mir.«

Der zweite Mann kicherte. »Das ist der alte Rebellengeist, nich’, Lute?«

Der erste Mann grub seine Finger in Bretts Ärmel. Ihr Gesicht verzerrte sich. »Mit deinen Augen stimmt was nicht, Frau. Ich bin ein Weißer. Mit mir kannst du nicht wie mit deinen verdammten Sklaven reden. Krieg das in deinen Schädel, und das auch. Wir woll’n keine Sezessions-Verräter in der Stadt haben.« Er schüttelte sie. »Kapiert?«

»Fessenden, laß sie los, sofort.«

Pinckney Herbert war aus seinem Laden aufgetaucht. Der zweite Mann rannte auf ihn zu. »Rein mit dir, alter Jude!« Ein harter Schlag ließ den Händler zusammenklappen und warf ihn durch die Tür zurück. Er versuchte, sich zu erheben, während Fessenden seinen Bierkrug fallen ließ, Bretts Schultern packte und sie so hart schüttelte, daß es ihr weh tun mußte; vielleicht wollte er dabei auch ihre Brüste berühren.

Herbert packte den Türrahmen und versuchte sich hochzuziehen. Der zweite Mann schlug ihn unter das Kinn. Mit einem unwillkürlichen Aufschrei krachte Herbert auf den Rücken. Brett wußte, daß sie um Hilfe hätte rufen können, aber das ging ihr gegen den Strich. Auf einmal schien die Furcht sie zu überwältigen. Mit halb geschlossenen Augen sackte sie unter Fessendens Griff zusammen.

»Bitte, lassen Sie mich los!« Kamen Tränen? »Oh, bitte – ich bin nur eine arme Frau. Nicht so stark wie Sie.«

»Na, genau so soll sich ein Südstaaten-Mädel anhören.« Lachen. Fessenden schlang einen Arm um ihre Taille, preßte sie gegen das Rad des Buggys, beugte sich über sie; sein Bart kratzte über ihre Wange. »Sag bitteschön und warte, was passiert.«

Anscheinend verstand sie ihn nicht. »Ich bin nicht – groß und stark wie Sie – Sie müssen freundlich sein – höflich – Das könnten Sie doch? Ja?« Kleine, verzweifelte Seufzer mischten sich zwischen die zitternden Worte der Bitte.

»Ich werde drüber nachdenken, Missy«, versprach Fessenden. Seine andere Hand griff nach ihrem Rock und den Petticoats darunter und dem Bein unter den Petticoats. Dadurch hatte sie die Hände frei.

»Du Yankeedreck.« Mit dem Bein, das er nicht festhielt, trat sie ihm in die Geschlechtsteile. Während er aufkreischte und rot anlief, stieß sie ihn in den Staub. Obwohl Pinckney Herbert immer noch mit blassem, schmerzverzerrtem Gesicht im Türrahmen stand, brach er über das unerwartete Wiederaufblühen der welkenden Blume in Gelächter aus.

Fessenden umklammerte seine Genitalien. Sein Freund belegte Brett mit einem üblen Schimpfnamen und ging auf sie los. Sie riß die Peitsche aus der Halterung und knallte sie ihm über die Backe.

Er sprang zurück, als hätte man ihm Feuer unter dem Hintern gemacht, und stolperte mit einem Schrei über Fessenden. Er landete auf dem Kopf, wobei er es gleichzeitig schaffte, Fessenden ins Gesicht zu treten.

Brett warf ihr Päckchen mit den Garnrollen auf den Boden des Einspänners, band das Pferd los und kletterte flink auf den Sitz. Als sie nach den Zügeln griff, stürmte der zweite Rowdy, wieder auf den Beinen, erneut auf sie los. Über ihren linken Arm hinweg versetzte sie ihm mit der rechten Hand einen zweiten Peitschenschlag ins Gesicht.

Mittlerweile waren einige Bürger, deren Gewissen sich doch noch gerührt hatte, in den Türen aufgetaucht und forderten ein Ende der Pöbelei. Ein bißchen zu spät, besten Dank. Sie jagte den Buggy auf die Hügelstraße zu; wie bösartige Wolken, die den Sommerstürmen vorausgingen, stieg hinter ihr der gelbe Staub auf. Wie ich diese Stadt hasse, diesen Krieg – alles, dachte sie, als die Wut der Verzweiflung wich.

10

Auf der provisorisch errichteten Bühne am Ende des großen Saales litt George Hazard furchtbar; Hitze, Redeschwälle und der härteste je von Menschenhand hergestellte Stuhl quälten ihn. Vor sich sah er feuchte Gesichter, wedelnde Papiere, Palmblattfächer und Fähnchen in jeder Wand.

Hinter George und den anderen Würdenträgern hing eine Lithographie des Präsidenten. Bürgermeister Blane, der bei Hazards als Vorarbeiter der Nachtschicht tätig war, hatte sich von seinem üblichen Tagesschlaf erhoben, um den Vorsitz der Versammlung zu übernehmen. Blane trommelte auf der Rednertribüne herum.

»Unsere Fahne ist geschändet worden! Entweiht! Niedergerissen von Davis und seinem verräterischen Mob von Pseudo-Aristokraten! Auf eine solche Mißhandlung der geheiligten Fahne kann es nur zwei Antworten geben: eine Geschoßsalve und einen Henkersstrick für jene, die es gewagt haben, diese Nation und ihr geliebtes, ehrwürdiges Wahrzeichen zu zerreißen!«

Allmächtiger, dachte George. Wie lange will er noch weitermachen? Blane sollte lediglich die beiden Hauptredner vorstellen; George war der widerwillige erste Redner, und ein führender Republikaner aus Bethlehem der zweite. Der Politiker stellte ein Freiwilligenregiment im Tal zusammen.

Der Bürgermeister redete und redete. George hätte es vorgezogen, an seinem Schreibtisch zu sitzen, die Produktion bei Hazard zu überwachen oder die Details für die Eröffnung einer Bank in Lehigh Station, der ersten in der Stadt, auszuarbeiten.

Für die Hazard-Werke und die meisten ihrer Angestellten war es zu unbequem geworden, die Bankgeschäfte in Bethlehem abzuwickeln. George vertraute darauf, daß eine örtliche Bank sinnvoll wäre und mit der Zeit sogar Profit abwerfen würde. Die neue Bank würde unter Pennsylvanias überarbeiteter Bankverordnung von 1824 eingerichtet werden, mit einer Zulassung von zwanzig Jahren und dreizehn Direktoren, die alle Bürger der Vereinigten Staaten und Aktienbesitzer zu sein hatten. Er und sein örtlicher Anwalt, Jupiter Smith, hatten alle Hände voll zu tun, die von der Zulassungsbehörde, der staatlichen Legislatur, verlangten Papiere vorzubereiten.

Statt dessen saß er hier, weil er der einzige Einwohner der Stadt war, der im Mexikanischen Krieg gekämpft hatte, und das Publikum nach einigen flammenden Bemerkungen über die Glorie des Krieges lechzte. Nun, er würde ihnen geben, was sie ersehnten, und sich bemühen, sich deswegen nicht allzu schuldig zu fühlen. Er wagte nicht laut zu sagen, was er wirklich in Mexiko gelernt hatte. Krieg war niemals glorreich, niemals großartig – außer in Aufrufen und Verkündigungen von Leuten, die nie dabei gewesen waren.

»Auf nach Richmond! Hoch lebe der alte Ruhm! An den Galgen mit den nichtswürdigen, gottlosen Konföderierten!«

George verdeckte mit einer Hand seine Augen, um eine sichtbare Reaktion zu vermeiden. Sein bester Freund Orry nichtswürdig und gottlos, ein solcher Gedanke war für ihn einfach absurd. Ebensowenig paßte diese Beschreibung auf viele andere Südstaatler, die er auf der Militärakademie kennengelernt und an deren Seite er in Mexiko gekämpft hatte. Tom Jackson, dessen militärisches Genie schon frühzeitig erkannt worden war, als er seinen Kadettenspitznamen ›Der General‹ verpaßt bekommen hatte. Ob er immer noch an der Militärschule in Virginia unterrichtete, oder hatte er sich gemeldet? George Pickett, zuletzt in der Bundesgarnison in Kalifornien. Gute Männer, auch wenn sie unfähig oder unwillig waren, einen Ausweg aus der bestehenden Krise zu finden, die zum offenen Krieg entbrannt war. Nun, er trug genauso Schuld wie sie, daß man die Krise politischen Abenteurern und Bar-Rowdies überlassen hatte. Diese Formulierung stammte nicht von ihm, sondern von Braxton Bragg, einem weiteren West Pointler aus dem Süden.

»– vielfach ausgezeichneter Veteran des Krieges in Mexiko, zugleich äußerst erfolgreicher Industrieller, der vielen von uns ein vertrauenswürdiger Freund, guter Nachbar und großzügiger Arbeitgeber ist – «

So bekommst du keine Lohnerhöhung, Blane.

Scham vermischte sich mit diesem Gedanken. Was für ein verdammter Zyniker er doch geworden war.

»– Mr. George Hazard!«

Schnell befreite er seinen Kopf von der Last der telegraphischen Nachricht, die er heute morgen erhalten hatte. Er wedelte eine Fliege von seiner Nase und trat unter lautem Applaus vor, bereit, um der Sache willen ein paar großartige Lügen über die Freuden des Krieges vom Stapel zu lassen.

11

Auf halber Höhe des Hügels verlangsamte Brett das Tempo des Einspänners. Die Kraft, die ihr bei dem Zusammentreffen mit den Rowdies geholfen hatte, versickerte. Wieder, und diesmal schmerzhafter, empfand sie die Abwesenheit des einzigen Menschen, dessen gesunder Verstand und physische Gegenwart ihr durch diese schlechten Zeiten hätten helfen können.

Schon früher war sie in Lehigh Station das Ziel von Feindseligkeiten gewesen. Einige waren heimtückischer Natur – kleine Stiche, die sie zufällig bei gesellschaftlichen Anlässen bekam. Andere waren offen – höhnische Rufe, wenn sie durch die Straßen fuhr. Für gewöhnlich traf sie so etwas nicht. Genau wie ihr Bruder Orry war sie stolz auf diese Art von Stärke.

Aber dieser jüngste Vorfall hatte ihre Rüstung angekratzt. Weitere unwillkommene Gedanken folgten; Gedanken an ihre Schwester Ashton, die sich mit einem Möchtegernverehrer von Brett verschworen hatte, Billy an ihrem Hochzeitstag zu ermorden. Die Erinnerung war so deprimierend, daß sie nie lange darüber grübeln konnte, aber nun war sie da und belastete sie schwer.

Sie ließ das Pferd im Schritt gehen; ein Gefühl der Niederlage und der Einsamkeit überschwemmte sie. Mit einem leichten Schauder spürte sie Tränen hinter ihren geschlossenen Augenlidern. Sie hielt das Pferd an und blieb bewegungslos im gleißenden Sonnenschein sitzen. Sie wünschte, die Feindseligkeit der örtlichen Einwohnerschaft würde sie nicht aufregen, aber sie konnte es nicht verhindern.

Bald darauf hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Sie schüttelte die Zügel, und als sie am großen Stall von Belvedere ankam, war sie wieder ganz beherrscht. Sie war fest entschlossen, kein Wort über den Vorfall zu verlieren, und hoffte nur, George würde nicht zufällig davon hören.

Als er heimkam, hatte sich der Rest der Familie zum Abendessen versammelt. Er betrat den Speisesaal, als Constance gerade zu ihrer Tochter in jenem freundlichen, aber festen Ton sprach, der für disziplinarische Angelegenheiten reserviert war.

»Nein, Patricia, du wirst dafür kein Taschengeld ausgeben. Wie du sehr wohl weißt, dient ein Glas- oder Marmorei nur einem einzigen Zweck – die Handflächen einer übermäßig aufgeregten jungen Dame bei einem Tanz oder einer Party zu kühlen. Es wird noch einige Jahre dauern, ehe du so weit bist.«

Patricia schob die Lippe vor. »Carrie King hat eins.«

»Carrie King ist dreizehn, zwei Jahre älter als du. Wobei noch hinzukommt, daß sie wie zwanzig aussieht.«

»Und sich auch so benimmt, wie ich höre«, bemerkte William mit einem unzüchtigen Grinsen. George amüsierte sich darüber, aber der Vater in ihm durfte sich das nicht anmerken lassen. Er warf seinem kräftigen, gutaussehenden Sohn stirnrunzelnd einen Blick zu.

Er beugte sich von hinten über den Stuhl seiner Frau, um ihre Wange zu küssen. »Tut mir leid, daß ich so spät komme. Ich habe noch im Büro vorbeigeschaut.« Eine vertraute Erklärung in diesen Tagen angestrengter Kriegsproduktion.

»Erzähl mir von deiner Rede«, sagte Constance, während er an seinen Platz auf der anderen Seite des langen Tisches ging. »War sie ein Erfolg?«

»Umwerfend.« Er setzte sich.

»George, ich möchte es wirklich wissen.« Er reagierte mit einem müden Schulterzucken. »Die Versammlung. Wie ist sie gelaufen?«

»Wie zu erwarten war.« Eines der Hausmädchen stellte die Schildkrötensuppe vor ihm ab. »Die Rebellen sind dem Untergang geweiht, die Fahne wurde verbal einige hundertmal geschwungen, und dann rief dieser Politiker aus Bethlehem zu Freiwilligenmeldungen auf. Acht meldeten sich.«

Die Suppe half ihm ein bißchen, sich zu entspannen und seinem bequemen häuslichen Universum anzupassen. Über seinen Löffel spähte er zu Constance hinüber. Was für ein Glückspilz er doch war. Ihre Haut hatte immer noch die weiche Glätte frisch geschlagener Sahne, und ihre Augen leuchteten unverändert in dem gleichen lebhaften Blau, das ihn schon an dem Abend entzückt hatte, an dem sie sich kennenlernten, anläßlich eines Tanzes in Corpus Christi, veranstaltet für Armeeoffiziere auf dem Weg nach Mexiko. Nach dem Krieg hatte er sie nach Lehigh Station mitgenommen, um sie zu heiraten.

Constance war fünf Zentimeter größer als ihr Mann. Er nahm das als symbolischen Anreiz, sich ihrer würdig zu erweisen. Die Jahre geteilter Intimitäten und gemeinsam getragener Sorgen hatten ihre Liebe vertieft und die körperliche Anziehungskraft in der Ehe sehr lebendig gehalten.

Patricia zappelte herum. Sie spießte ihren Fisch mit der Gabel, als sei er schuld, daß sie keinen Handkühler bekam.

»Hat die Fabrik heute eine Menge Mützen produziert?« fragte George, mehr an Brett gerichtet. Sie saß zu seiner Linken, die Augen niedergeschlagen, das Gesicht müde. Sie hatte noch kein Wort mit ihm gesprochen.

»Ganz schön, ja«, sagte Constance, während gleichzeitig ihr linker Arm vorschnellte. Sie zwickte Patricias Ohr und beendete so das Fischspießen.

Die Mahlzeit schleppte sich ihrem Ende entgegen. Brett verhielt sich ruhig. Nachdem George die Tafel aufgehoben hatte, folgte er seiner Schwägerin in die Bibliothek. Er schloß die Tür, bevor er sagte: »Ich hab’ gehört, daß du heute Ärger hattest.«

Sie blickte müde auf. »Ich hatte gehofft, du würdest nichts davon erfahren.«

»Es ist eine kleine Stadt. Bedauerlicherweise stehst du ziemlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.«

Sie seufzte. George zündete eine seiner starken, dunkelbraunen Zigarren an, ehe sie sagte: »Vermutlich war es albern von mir, anzunehmen, das alles sei unbemerkt geblieben.«

»Vor allem, weil Fessenden und sein Cousin wegen tätlicher Bedrohung gegen dich unter Arrest stehen.«

»Wer hat sie angezeigt?«

»Pinckney Herbert. Du siehst, du hast doch einige Freunde in Lehigh Station.« Er erzählte ihr, daß er die beiden Angreifer bereits entlassen habe, und sagte dann mit sanfter Stimme: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie wütend ich über die ganze Sache bin und wie leid es mir tut. Mir und Constance bedeutest du genausoviel wie jedes andere Familienmitglied. Wir wissen, wie schwer es für dich ist, so weit von zu Hause und von deinem Mann getrennt.«

Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Sie sprang auf und schlang ihre Arme um seinen Hals, wie eine Tochter, die Trost beim Vater sucht. »Ich vermisse Billy ganz schrecklich – ich schäme mich zu sagen wie sehr.«

»Mußt du nicht.« Er tätschelte ihren Rücken. »Mußt du nicht.«

»Der einzige Trost ist, daß ich bald zu ihm kann, wo immer er dann auch ist. Alle sagen, der Krieg wird keine neunzig Tage dauern.«

»Das sagen sie.« Er ließ sie los und wandte sich ab, damit sie seine Reaktion nicht sah. »Schauen wir zu, daß diese neunzig Tage schnell vorbeigehen – ohne weiteren Vorfall. Ich weiß, daß es nicht der erste war. Du bist eine tapfere junge Frau, Brett. Aber kämpfe nicht jeden Kampf allein.«

Sie schüttelte den Kopf. »George, ich muß. Ich habe schon immer auf mich aufgepaßt.« Sie mühte sich ein Lächeln ab. »Ich bin schon wieder in Ordnung. So lange sind neunzig Tage auch wieder nicht.«

Was konnte er noch tun? Resigniert entschuldigte er sich und verließ den Raum, ein blaues Rauchband hinter sich herziehend.

Oben marschierte sein Sohn im Flur auf und ab und bellte das beliebte Lied, wie sie Jeff Davis an einem Apfelbaum aufhängen würden. George schickte William auf sein Zimmer, wo er dann eine halbe Stunde mit dem Jungen Rechnen übte. Die nächsten fünfzehn Minuten verbrachte er mit Patricia und versuchte sie davon zu überzeugen, daß sie schon zur rechten Zeit ihren Handkühler bekommen würde. Es mißlang ihm.

Im Bett, in seinem Nachthemd, war es unangenehm warm, trotz der wehenden Sommerbrise; er griff nach der tröstenden Rundung der Brust seiner Frau und drückte sich an ihren Rücken, während er ihr die Ereignisse beim Kaufladen schilderte. »Sie rechnet mit einem kurzen Krieg, damit solche Dinge nicht mehr passieren.«

»Ich auch, George. Von Vater habe ich seit Monaten nichts mehr gehört, und ich mache mir Sorgen um ihn, da unten in Texas. Du weißt, daß er mit seinem Haß gegen die Sklaverei und die Sklavenbesitzer nie hinterm Berg hielt. Ganz sicher wird das alles bald ein Ende haben.«

»Wie Orry sagte, wir hatten dreißig Jahre lang Zeit, es zu verhindern, aber wir haben es nicht verhindert. Ich hasse es, Bretts oder deinen Hoffnungen einen Dämpfer zu versetzen – « Er brach ab.

»George, beende bitte den Satz.«

Widerstrebend sagte er: »Brett hat vergessen, daß Lincoln im Mai weitere zweiundvierzigtausend Mann einberufen hat. Aber nicht für kurze Zeit. Die Jungs haben sich bei dieser Kampagne für drei Jahre verpflichtet.«

Ihre Stimme wurde schwach. »Ich habe es ebenfalls vergessen. Du hast keine großen Hoffnungen auf einen kurzen Krieg?«

Er wartete einen Moment, gestand aber schließlich: »Hätte ich diese Hoffnungen, so hätte ich Boß Camerons telegraphische Nachricht in dem Augenblick weggeworfen, in dem ich sie bekam.«

12

Während Brett ihre Probleme in den Vereinigten Staaten hatte, näherten sich ihr Bruder Cooper und dessen Familie dem Ende einer Eisenbahnfahrt in Großbritannien. Rauch und Asche flogen in das Erste-Klasse-Abteil der Familie, weil die Kinder, Judah und Marie-Louise, sich abwechselnd aus dem Fenster lehnten. Cooper erlaubte das, doch seine Frau Judith hielt es für gefährlich; in angespannter Haltung saß sie sprungbereit da und hielt die Kinder an der Taille fest.

Wie gewöhnlich schaffte es Cooper, in seiner tadellosen Kleidung unordentlich zu erscheinen, was an seiner Größe, seiner Schlaksigkeit, seinem gedankenverlorenen Gelehrtenbenehmen lag.

»Pa, da ist ein Fluß!« rief Judah, halb aus dem Abteil hängend. Sein Haar glänzte in der heißen Julisonne.

»Laß mich sehen, laß mich sehen!« Marie-Louise zwängte sich neben ihm in das Fenster.

»Auf der Stelle kommt ihr rein«, sagte Judith. »Wollt ihr, daß euch die Brücke die Köpfe abschlägt?« Zwei kräftige Rucke stellten sicher, daß dies nicht passieren würde. Der Expreß von London ratterte über die Runcorn-Brücke; darunter blitzte der Merseyfluß auf wie ein Feld aus zersplitterten Spiegeln.

Judah sprang über den Gang und drückte sich gegen seinen Vater. »Sind wir bald in Liverpool?«

»Ja, in einer knappen halben Stunde.« Er begann die Pläne zusammenzurollen, um sie im Gepäck verstecken zu können.

Marie-Louise kletterte an seine rechte Seite. »Werden wir eine Weile bleiben, Papa?«

»Auf jeden Fall einige Monate.« Er lächelte und tätschelte sie.

»Wird uns Captain Bulloch besuchen?« fragte Judah.

»Das war die Bedeutung der Annonce in der Times. Natürlich ist es möglich, daß ihn irgendein Agent der Union in den letzten drei Tagen erledigt hat.«

»Cooper, ich glaube, du solltest über diese Arbeit keine Scherze machen. Geheime Botschaften über Zeitungsannoncen, feindliche Spione, die überall lauern – meiner Meinung nach ist das kein Thema für Witze.« Sie blickte vielsagend von ihrem Mann zu den Kindern, doch die waren vollkommen mit den langsam vorüberziehenden Schatten beschäftigt.

»Vielleicht nicht. Aber wir können nicht die ganze Zeit finster und grimmig sein, und obwohl ich meine Pflichten ernst nehme – und ich bin für die Warnungen durchaus empfänglich, die Bulloch in seinem Brief zum Ausdruck brachte –, wehre ich mich dagegen, daß wir uns von alle dem unseren Englandaufenthalt verderben lassen.« Er beugte sich vor, lächelte und berührte sie. »Das gilt vor allem für dich.«

Sie drückte seine Hand. »Du bist so ein lieber Mann. Tut mir leid, daß ich bissig war. Ich fürchte, ich bin müde.«

»Kein Wunder«, sagte er mit einem Nicken. Mitten in der Nacht hatten sie King’s Cross verlassen und später die Sonne über den friedvollen Kanälen und der sommergrünen Landschaft aufgehen sehen; kein Wort war gefallen über Ungewißheit, Heimweh und mögliche Gefahren.

Die Familie hatte Savannah mit dem letzten Schiff verlassen, das die Ausfahrt geschafft hatte, bevor die Union die Südküste blockierte. Das Schiff hatte Hamilton, Bermuda, angelaufen, ehe es weiter nach Southampton dampfte. Nach ihrer Ankunft in London hatten sie in engen, überfüllten Quartieren in Islington gehaust. Jetzt jedoch bestand Aussicht auf bessere, größere Räumlichkeiten in Liverpool, wo Cooper dem Chefagenten der Konföderierten-Marine zur Hand gehen sollte, der bereits vor einigen Wochen hier angekommen war. Ihre Mission bestand darin, die Konstruktion von seetüchtigen Sturmbooten anzukurbeln, um die Yankee-Schiffahrt zu stören. Hinter dem Programm steckte eine vernünftige Strategie. Konnte die Konföderation genügend Handelsschiffe vernichten oder kapern, dann würden die Versicherungsquoten in unermeßliche Höhen steigen; dadurch wäre der Feind gezwungen, Blockadeschiffe abzuziehen, um seinen Handel zu schützen.

Für Cooper waren maritime Angelegenheiten nichts Neues. Seine Liebe zur See ging weit zurück. Der ewigen Streitereien mit seinem mittlerweile verstorbenen Vater über Sklaverei und Bürgerrechte müde, unfähig, die Familienplantage noch länger zu ertragen, war er nach Charleston gegangen, um eine heruntergekommene kleine Handelsreederei zu leiten, die mehr zufällig in Tillet Mains Besitz gelangt war. Mit Hilfe von Studien, Entschlossenheit und harter Arbeit hatte Cooper die Carolina Shipping Company in die modernste Schiffslinie des Südens verwandelt, mit einer Gewinnspanne, die nur unwesentlich unter der ihrer größeren, aber konservativeren Rivalin im Hafen der Stadt lag, der John Fräser & Company. Diese Company wurde nun von einem anderen Selfmademan, dem Millionär George Trenholm, geleitet. Das Baumwoll-Büro in Liverpool, das unter dem Namen Fräser & Trenholm operierte, würde heimlich die illegale Arbeit, die Cooper vor sich hatte, mit Geldmitteln unterstützen.

Vor dem Krieg hatte Cooper im Hafen von Charleston begonnen, seinen großen Traum zu verwirklichen – ein Schiff nach dem Muster der gewaltigen Eisenschiffe von Isambard Kingdom Brunei, dem genialen britischen Konstrukteur, den er zweimal besucht hatte. Er wollte beweisen, daß Schiffsbauindustrie in den Südstaaten eine durchaus realistische Möglichkeit darstellte, daß der Reichtum des Staates nicht ausschließlich aus dem Schweiß schwarzer Haut gepreßt werden mußte.

Während die Schreihälse nach der Sezession brüllten, arbeitete er still und leise weiter, zu still und zu leise – was ein Fehler war. Er arbeitete zu langsam – was ein weiterer Fehler war. Kaum war mit dem Bau der Star of Carolina begonnen worden, da hatten die Batterien das Feuer auf Fort Sumter eröffnet; er hatte das Schiff der Konföderierten-Marine überschrieben, und jetzt war es, falls er richtig informiert war, demontiert worden, weil das Metall für andere Zwecke benötigt wurde.

Coopers Begeisterung für den Schiffsbau war stärker als seine Zweifel an der Sache, die er vertrat. Lange schon war er der Meinung, daß der ignorante Süden sich auf einem Irrweg befand, weil er nicht in der Lage war, die Bedeutung der Industrialisierung zu erkennen, und sich an ein auf Sklaverei basierendes Agrarsystem klammerte. Ihm war die Vielschichtigkeit dieses Problems durchaus bewußt. Beide Seiten hatten Schuld an der Konfrontation, die von anständigen Männern wie etwa seinem Bruder Orry oder dessen altem Kriegskameraden George Hazard nicht gewünscht worden war, die sie aber auch nicht zu verhindern gewußt hatten. Cooper glaubte daran, daß es den Männern guten Willens auf beiden Seiten – er selbst zählte sich ebenfalls dazu – an Macht, aber auch an Initiative gefehlt hatte. Und so war es zum Krieg gekommen.

In diesem apokalyptischen Augenblick ging mit Cooper ein merkwürdiger Wandel vor: Er machte die Feststellung, daß er zwar den Krieg und jene, die ihn provoziert hatten, verachtete, daß er aber sein South Carolina um so mehr liebte. Also übergab er seine Schiffahrtsgesellschaft der neuen konföderierten Regierung und teilte seiner Familie mit, daß sie nach England reisen würden, um der Marine zu dienen.

Die Situation in England war, was die Konföderation anbelangte, sehr komplex, um nicht zu sagen verwirrend. Falls die volle Anerkennung durch England ausschließlich von den drei Abgesandten des Außenministers Toombs abhing, so bezweifelte Cooper, daß dieser Mission je ein Erfolg beschieden sein würde. Rost und Mann kamen kaum über einen gewissen Grad an Mittelmäßigkeit hinaus, während der dritte Abgesandte, Yancey, einer der ursprünglichen Raufbolde, war ein derartiger Extremist, daß die Konföderiertenregierung ihn nicht haben wollte. Seine Englandmission lief auf Abschiebung ins Exil hinaus. Ein jähzorniger Bauernlümmel war kaum der richtige Verhandlungspartner für Lord Russell, den englischen Außenminister.

Außerdem besaß der Washingtoner Botschafter, Mr. Charles Francis Adams, Nachkomme von Präsidenten, einen Ruf als schlauer, aggressiver Diplomat. Er übte Druck auf die Regierung der Königin aus, um die Anerkennung der Konföderation hinauszuzögern. Und Cooper war davor gewarnt worden, daß Adams und seine Leute ein Spionagenetz aufgebaut hätten, um genau die Art von illegaler Betätigung zu verhindern, die ihn nach Liverpool gebracht hatte.

»Lime Street! Lime Street Station!«

»Judith, Kinder, folgt mir!« Er verließ als erster das Abteil und winkte einen Träger heran. Während das Gepäck ausgeladen wurde, kämpfte sich ein Mann mit mehr Haaren auf Oberlippe und Wangen als auf seinem runden Kopf durch die dicht gedrängten Fahrgäste, Träger und Straßenhändler zu den Neuankömmlingen durch. Der Mann hatte etwas Aristokratisches an sich und war gut, aber nicht extravagant gekleidet.

»Mr. Main?« Der Mann sprach leise, obwohl laute Stimmen und entweichender Dampf sehr wirkungsvoll verhinderten, daß sie belauscht werden konnten.

»Captain Bulloch?«

James D. Bulloch aus Georgia, im Dienste der Marine der Konföderierten, tippte an seinen Hut. »Mrs. Main – Kinder! Ein ganz herzliches Willkommen in Liverpool. Ich hoffe, die Reise war nicht zu anstrengend?«

»Die Kinder haben die Fahrt genossen, als die Sonne herauskam«, erwiderte Judith mit einem Lächeln.

»Ich habe die meiste Zeit damit zugebracht, die Zeichnungen zu studieren, die Sie nach Islington geschickt haben«, fügte Cooper hinzu. Ein Mann hatte sie gebracht, der angeblich Tapetenmuster lieferte.

»Gut – fein. Kommen Sie alle gleich mit. Eine Mietkutsche wartet, um uns rüber zu Mrs. Donley in die Oxford Street zu bringen. Nur ein provisorisches Quartier – ich weiß, Sie werden etwas Größeres und Passenderes wünschen.«

Mit leichter Drehung richtete er diese Bemerkung an Judith. Als Bulloch ihr zulächelte, fielen Cooper seine Augen auf. Sie waren ständig in Bewegung, seine Blicke streiften über Gesichter, Abteilfenster, suchten die müllübersäten Ecken der großen Halle ab. Das war kein Tölpel.

»Vielleicht gefällt Ihnen die Crosby-Gegend«, fuhr Bulloch fort, während er Familie und Träger hinausgeleitete. Die Mains kletterten in die Kutsche, während Bulloch auf dem Bürgersteig stehenblieb und die Menschenmenge beobachtete. Schließlich sprang er herein, klopfte mit seinem Stock gegen die Wand, und sie fuhren los.

»Hier gibt’s viel zu tun, Main, aber ich will Sie nicht hetzen. Ich weiß, Sie müssen sich erst mal einrichten – «

Cooper schüttelte den Kopf. »Die Wartezeit in London war schlimmer als zuviel Arbeit. Ich kann’s kaum erwarten anzufangen.«

»Gut für Sie. Der erste Mann, den Sie kennenlernen werden, ist Prioleau. Er leitet Fräser & Trenholm am Rumford Place. Außerdem möchte ich Sie John Laird und dessem Bruder vorstellen. Bei diesem Zusammentreffen müssen wir allerdings vorsichtig sein. Mrs. Main, Sie sind über die Probleme informiert, mit denen wir es hier zu tun haben, nicht wahr?«

»Ich denke schon, Captain. Die Neutralitätsgesetze verbieten es, daß auf britischen Werften Kriegsschiffe gebaut und bewaffnet werden, falls diese Schiffe in den Dienst einer Macht gestellt werden sollen, mit der England in Frieden lebt.«

»Meine Güte, genau das ist es. Eine kluge Frau haben Sie da, alter Junge.« Cooper lächelte; Bulloch hatte sich schnell angepaßt. Energisch fuhr er fort. »Die Gesetze gelten natürlich in jeder Hinsicht. Auch die Yankees können keine Kriegsschiffe bauen – mit dem Unterschied, daß sie das auch nicht nötig haben, wir aber schon. Der Trick besteht darin, ein Schiff zu bauen und zu bewaffnen, ohne daß es auffällt oder die Regierung sich einmischt. Glücklicherweise gibt es eine Lücke in den Gesetzen – durch die wir glatt durchschlüpfen können, wenn wir den Nerv dazu haben. Ein örtlicher Anwalt, den ich angeheuert habe, hat das herausgefunden. Ich werde es zur rechten Zeit erklären.«

»Sind die lokalen Schiffsbauer bereit, die Neutralitätsgesetze zu verletzen?« fragte Judith.

»Auch Briten sind nur Menschen, Mrs. Main. Einige werden es tun, wenn damit genügend Profit zu machen ist. Tatsache ist, daß sie mehr Auftragsangebote haben, als sie bewältigen können. Es sind einige Gentlemen in der Stadt, die nichts mit unserer Marine zu tun haben, die aber Schiffe gebaut oder umgebaut haben wollen.«

»Blockadebrecher?« sagte Cooper.

»Ja. Übrigens, haben Sie den Mann getroffen, für den wir arbeiten?«

»Staatssekretär Mallory? Bis jetzt noch nicht. Alles ist brieflich geregelt worden.«

»Kluger Bursche, dieser Mallory. Allerdings ein bißchen ein Kompromißler.«

Coopers Charakter ließ eine Irreführung in einem derart wichtigen Punkt nicht zu. »Ich habe auch dahin tendiert, Captain.«

Zum erstenmal runzelte Bulloch die Stirn. »Wollen Sie damit sagen, Sie würden auch gern wieder die alte Union zusammengeflickt sehen?«

»Ich sprach in der Vergangenheitsform, Captain. Aber da wir eng zusammenarbeiten werden, will ich offen sein.« Er legte einen Arm um seine zappelnde Tochter. Die Kutsche schwankte. »Ich verabscheue diesen Krieg. Ganz besonders verabscheue ich die Narren auf beiden Seiten, die ihn verursacht haben. Aber mein Entschluß, auf der Seite des Südens zu bleiben, ist gefaßt. Meine persönlichen Überzeugungen werden mein Pflichtgefühl nicht beeinträchtigen, das verspreche ich.«

Bulloch räusperte sich. Sein Gesicht glättete sich. »Mehr kann man nicht verlangen.« Aber es war deutlich, daß er dieses gefährliche Thema verlassen wollte. Er gratulierte den Eltern zu ihren hübschen Kindern und zeigte dann stolz ein kleines, gerahmtes Foto seines neugeborenen Neffen Theodore. Die Mutter des Jungen, Bullochs Schwester, hatte in eine alteingesessene New Yorker Familie namens Roosevelt eingeheiratet.

»Zwar hat sie jetzt Grund, es zu bedauern«, fügte er dieser Geschichte hinzu. »Ah, da sind wir schon bei Mrs. Doley.«

Sie hielten vor der Nummer 6; die Ziegelhäuser klebten aneinander und sahen alle gleich aus. Sie waren kaum ausgestiegen, da kam hinter der Kutsche eine altersschwache Gestalt in schmuddeligem Rock und geflicktem Sweater hervorgeschwankt.

Haare, die einem grauen Besen glichen, schauten unter einem Halstuch hervor. Die Frau umklammerte einen stinkenden Lumpenbeutel, den sie über der Schulter trug, und schielte Cooper mit einer Intensität an, die ebenso seltsam war wie ihr faltenloses Gesicht.

»’tschuldigung«, murmelte sie und rempelte ihn im Vorbeihuschen an. Bulloch ließ seinen Stock vorschnellen und packte mit der anderen Hand die Lumpensammlerin an den Haaren. Die Bewegung geschah so abrupt, daß Marie-Louise aufschrie und an die Seite ihrer Mutter sprang. Bulloch zerrte; graue Haare und Halstuch lösten sich, und darunter kamen kurze, blonde Locken zum Vorschein.

»Das Haar hat dich verraten, Betsy. Sag Dudley, er soll das nächste Mal nicht so eine billige Perücke kaufen. Und jetzt verschwinde!«

Drohend schwenkte er seinen Stock. Die junge Frau wich zurück, Schmähungen ausstoßend – auf englisch, vermutete Cooper, obwohl er kein Wort verstand. Bulloch trat einen Schritt vor. Die Frau raffte ihre Röcke hoch, flitzte um die Ecke und war verschwunden.

»Wer zum Teufel war das?« rief Cooper.

»Betsy Cockburn, eine Hure, äh, eine Frau, die sich in einer Kneipe in der Nähe vom Rumford Place herumdrückt. Kam mir bekannt vor. Sie ist von Dudleys Spionen, denke ich.«

»Wer ist Dudley?«

»Der Yankee-Konsul in Liverpool.«

»Was war das für ein Kauderwelsch, mit dem sie uns überschüttet hat?« wollte Judith wissen.

»Scouse. Das Liverpooler Äquivalent zu Cockney. Ich hoffe, keiner von Ihnen hat sie verstanden.«

»Keine Silbe«, beruhigte ihn Judith. »Aber ich kann kaum glauben, daß diese elende Kreatur eine Spionin sein soll.«

»Dudley stellt ein, was er kriegen kann. In erster Linie Abschaum vom Hafen. Sie werden nicht aufgrund ihrer Intelligenz angeheuert.« Staub von seinem Ärmel wedelnd, sagte er zu Cooper: »Es spielt keine Rolle, daß wir ihre lächerliche Verkleidung durchschaut haben. Das diente nur dem Zweck, Sie aus der Nähe zu sehen. Dudley hat irgendwie Wind von Ihrer Ankunft bekommen. Das hat mir gestern einer meiner Informanten berichtet. Aber ich hatte nicht erwartet, daß Sie so schnell bloßgestellt werden würden – «

Der Satz verlor sich in einem enttäuschten Seufzer. Dann: »Nun ja, das war gleich eine gute Lektion, wie es in Liverpool zugeht. Dudley ist kein Gegner, den man auf die leichte Schulter nehmen könnte. Diese Schlampe ist harmlos, was man von einigen seiner anderen Mietlinge nicht sagen kann.«

Judith warf ihrem Ehemann einen besorgten Blick zu. Coopers Mund war plötzlich unerklärlich trocken geworden. Der Sommertag ließ ihn auf einmal frösteln. »Sollten wir nicht hineingehen und unser Quartier ansehen?« Judah neben sich, ging er auf den Eingang zu. Er lächelte, aber seine Blicke suchten abwechselnd beide Seiten des Blocks ab.

13

Am gleichen Nachmittag fand in Washington Starkwethers Beerdigung statt. Es regnete. Die Örtlichkeit war ein kleiner, privater Friedhof in der Vorstadt von Georgetown, hinter Rock Creek, abseits der Tummelplätze politischer Karrieremacher.

Wasser tropfte von Elkanah Bents Hutkrempe und machte seinen dunkelblauen Waffenrock naß. Für gewöhnlich freute er sich, wenn er den Rock mit dem daran befestigten kurzen Umhang tragen konnte, der 1851 nach französischem Muster übernommen worden war; er glaubte, daß er darin weniger fett wirkte, sondern schneidiger und flotter. Aber an diesem dunklen, deprimierenden Tag konnte keine Freude aufkommen.

Ungefähr fünfzig Trauernde hatten sich versammelt. Bent war zu weit weg, um viele von ihnen identifizieren zu können – er hatte sein Pferd eine Viertelmeile entfernt angebunden und war bis zu seinem jetzigen Standort hinter einem großen Marmorkreuz marschiert –, aber die wenigen, die er erkannte, unterstrichen die Bedeutung seines Vaters. Ben Wade, Ohios mächtiger republikanischer Senator, war gekommen. Scott hatte einen hohen Stabsoffizier geschickt, und der niggerliebende Chase seine hübsche Tochter. Als Repräsentant des Präsidenten war Lamon erschienen, der langhaarige, schnurrbärtige Vertraute des Weißen Hauses.

Bents Laune war mehr von Abneigung als von Trauer bestimmt. Selbst im Tod ließ sein Vater keine Nähe zu. Er wollte sich zu den anderen Trauernden gesellen, wagte es aber nicht.

Am späten Vormittag, so hieß es in den Zeitungen, hatte für seinen Vater ein Trauergottesdienst in einer Washingtoner Kirche stattgefunden. Auch daran hatte Bent nicht teilnehmen können. All diese Arrangements waren zweifellos von Dills, dem kleinen alten Anwalt, der direkt neben dem Grab stand, veranlaßt worden.

Bent duckte sich neben dem Kreuz, halb so groß wie er, zusammen. Er verachtete Dills, wollte ihn aber nicht gegen sich einnehmen, indem er sich unbeabsichtigt zeigte. Durch Dills hatte Heyward Starkwether mit seinem illegitimen Sohn Verbindung gehalten und ihn mit Geld versorgt. Dills war es gewesen, an den sich Bent in Notfällen gewandt hatte. Nach ihrem ersten Gespräch nie mehr persönlich, nur schriftlich.

Der feierliche Geistliche hob die Hand. Der Sarg versank in der Erde. Bent hatte seinen Vater während seines Erwachsenenlebens zweimal sehen dürfen. Bei beiden Treffen war das Gespräch stockend und peinlich verlaufen, mit langen Pausen. Er erinnerte sich an Starkwether als einen gutaussehenden, reservierten Mann, offensichtlich intelligent. Niemals hatte er seinen Vater lächeln sehen.

Der Regen schien in Bents Augen zu laufen, als der Sarg verschwand. Die Trauergesellschaft bereitete sich zum Aufbruch vor. Warum hatte Starkwether nicht genug für ihn übrig gehabt, um ihn anzuerkennen? In diesen modernen Zeiten war ein unehelicher Sohn keine so große Sünde mehr. Warum also? Er haßte seinen Vater, um den er nun weinte, dafür, daß er diese und viele andere Fragen unbeantwortet gelassen hatte.

An erster Stelle: Wer war Bents Mutter? Keinesfalls Starkwethers längst verstorbene Frau; soviel hatte ihm Dills mitgeteilt, zusammen mit der Warnung, kein zweites Mal danach zu fragen. Wie konnte es der Anwalt wagen, ihn so zu behandeln? Wie konnte es Starkwether wagen, die Wahrheit zu unterdrücken?

Bei Bents einzigem Gespräch mit Dills hatte sich der Anwalt um eine Erklärung bemüht, weshalb eine enge Beziehung zu Starkwether unmöglich war. Jene, die Starkwether bezahlten, wünschten, daß er in vollkommener Zurückgezogenheit lebte und nie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregte. Bent glaubte die glatte Geschichte nicht. Starkwether besaß keine legitimen Kinder. Wahrscheinlich gehörte er zu jenen egoistischen Karrieremachern, die für eine Vaterschaft keine Zeit hatten.

Bent atmete scharf ein. Hatte ihn jemand bemerkt? Dills? Nein, niemand kam, das Rattern der abfahrenden Kutschen ging weiter. Er holte tief Luft und stolperte zu dem Baum, an dem er sein Pferd angebunden hatte. Das Pferd wich zur Seite, als es Bents volles Gewicht zu spüren bekam.

Bald befand er sich in sicherer Entfernung, trabte eine schlammige Straße am Rande des College-Campus von Georgetown entlang, wo verlorene Wachen um die Zelte der Sixty-Ninth New York Militia auf Posten standen. Der Verlust schmerzte ihn weiterhin, wurde aber mehr und mehr von seiner wachsenden Wut verdrängt. Verflucht sei der Mann, gerade jetzt zu sterben. Irgendjemand mußte intervenieren, um zu verhindern, daß er nach Kentucky geschickt wurde.

Selbst ein gewaltiges Dinner mitten am Nachmittag bei Willard’s besänftigte ihn heute nicht. Voller Groll sah er Starkwethers Bild vor sich. Er hatte Bent sogar seinen eigenen Namen verweigert und darauf bestanden, daß der Junge den Namen der Familie annahm, die ihn in pflege bekommen hatte.

Die Bents waren abgekämpfte, kaum des Lesens und Schreibens mächtige Leute, die eine kleine Klitsche in der Nähe des gottverlassenen Weilers Felicity in Clermont Country, Ohio, betrieben. Fulmer Bent war siebenundvierzig gewesen, als man ihm Starkwethers Sohn übergeben hatte. Bent war noch sehr klein gewesen und konnte sich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht hatte er es auch nur verdrängt; nur einige der schmerzlichsten Szenen waren ihm im Gedächtnis geblieben.

Mrs. Bent, die zahlreiche Verwandte auf der anderen Seite des Flusses in Kentucky besaß, war eine merkwürdige Frau mit einem Glasauge. Wenn sie ihn nicht zu Besuchen bei der Verwandtschaft schleppte, las sie ihm laut aus der Bibel vor oder unterwies ihn im Flüsterton, wie schmutzig der menschliche Leib und die menschlichen Begierden seien. Mit dreizehn erwischte sie ihn mit der Hand unter der Bettdecke und peitschte ihn mit einem Seil, bis er schrie und alle Laken blutig waren.

Die Jahre in Felicity waren die dunkelsten in Bents gesamtem Leben, nicht nur, weil er seine Stiefeltern haßte, sondern auch, weil er mit fünfzehn Jahren erfuhr, daß sein richtiger Vater in Washington lebte und ihn nicht anerkannte. Zuvor hatte er angenommen, sein Vater sei ein verstorbener Verwandter der Bents, der Schande über die Familie gebracht hatte; wann immer der Junge Fragen stellte, hatte er nur ausweichende Antworten erhalten.

Dills war es gewesen, der die lange Fahrt mit Kutsche und Schiff auf sich genommen hatte, um sich von Bents Wohlergehen zu überzeugen und ihm die Wahrheit zu sagen. Dills Ausführungen über Starkwether waren weitschweifig, die Sätze taktvoll, sogar sanft, aber er hatte keine Ahnung, wie tief er seinen Zuhörer verletzte. Seitdem schwang in Bents Liebe zu seinem Vater stets unterdrückte Wut und Gewalttätigkeit mit, ganz gleich, wie sehr ihn dieser mit Einfluß oder Geld unterstützte.

Bent war sechzehn – kurze Zeit später stellte Starkwether die Zulassung des Jungen zur Militärakademie sicher –, als Fulmer Bent Schweine zum Markt nach Cincinnati brachte und dort bei einer Schießerei in einem Haus mit üblem Ruf starb. Im gleichen Herbst weckte eine junge Angestellte vom Krämerladen in Felicity Bents sexuelle Begierde, aber erst zwei Jahre später hatte Bent seine erste Frau.

Lange bevor Starkwether jedoch die Akademie-Zulassung durchsetzte, hatte Elkanah Bent schon von einer Militärkarriere zu träumen begonnen. Der Traum nahm seinen Anfang in einem unordentlichen Buchladen in Cincinnati, in den der Junge eines Tages spazierte, während Fulmer Bent anderswo seinen Geschäften nachging. Für fünf Cent kaufte er ein zerfleddertes, wasserfleckiges Buch über Bonapartes Leben. Das war der Beginn.

Er sparte sich etwas von dem Taschengeld ab, das Dills ihm zweimal jährlich schickte. Er kaufte und las mehrmals die Biographien von Alexander, Caesar, Scipio Africanus. Aber es war Napoleon, zu dessen Erbe und amerikanischem Gegenstück er in seiner lebhaften Phantasie wurde.

Der Bonaparte von Kentucky? Mit größerer Wahrscheinlichkeit würde er als Leiche enden. Der Staat war umstrittenes Gebiet; die eine Hälfte der Männer hatte sich auf Seiten der Union, die andere auf Seiten der Konföderation geschlagen. Lincoln ließ die Finger von den Sklavenbesitzern, damit sie nicht die Sezession unterstützten. Niemals würde er an einen solchen Ort gehen.

Der Schweiß lief ihm über die Wangen, als er dem Kellner winkte. »Bringen Sie mir noch ein Stück Kuchen.« Er stopfte es in sich hinein und lehnte sich zurück. Ein drittes Stück führte ihn in Versuchung, aber sein Magen schmerzte, und so konzentrierte er sich auf sein Problem. Er glaubte immer noch an eine große militärische Zukunft für sich; allerdings durfte er in dem Fall nicht in Kentucky sterben.

Er wußte, daß jetzt nur noch ein Mann intervenieren konnte. Bent war davor gewarnt worden, mit ihm persönlichen Kontakt aufzunehmen, aber eine verzweifelte Lage rechtfertigte verzweifelte Maßnahmen.

Das Büro von Jasper Dills, Esquire, ging zur Seventh Street hinaus, dem Handelszentrum der Stadt. Der mit Büchern vollgestopfte Raum war klein und eng und deutete auf eine mißratene Kanzlei hin; kein Hinweis auf Reichtum und Status seines Inhabers.

Nervös senkte Bent sein Hinterteil in den Besucherstuhl, zu dem ihn der Angestellte geführt hatte. Er mußte sich reinquetschen, so eng war der Sitz. Er hatte seine Ausgehuniform angezogen, aber Dills Gesichtsausdruck besagte deutlich, daß die Mühe umsonst gewesen war.

»Ich dachte, Sie hätten begriffen, daß Sie hier nicht zu erscheinen haben, Colonel.«

»Es handelt sich um außergewöhnliche Umstände.«

Dills hob eine Augenbraue, was seinen verstörten Besucher beinahe völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.

»Ich brauche dringend Ihre Hilfe.«

Dills hielt seinen Schreibtisch sauber. In der Mitte lagen einige Notizblätter. Er tauchte eine Feder ein und begann, Sterne zu malen.

»Sie wissen doch, Ihr Vater kann Ihnen nicht mehr helfen.« Die Feder kratzte; ein weiterer Stern erschien. »Ich habe gesehen, wie Sie sich gestern auf dem Friedhof herumdrückten – Sie brauchen es gar nicht abzustreiten. Der Fehltritt ist verzeihlich.« Kratz; kratz. Mit den Sternen fertig, malte der Anwalt ein großes B. Dann warf er seinem Besucher einen scharfen Blick zu. »Dieser hier nicht.«

Bent wurde rot, gleichzeitig vor Furcht und vor Ärger. Wie konnte ihn dieser Mann derart einschüchtern? Jasper Dills war über siebzig und keine eins sechzig groß. Er hatte die Hände und Füße von einem Kind. Doch weder Größe noch Alter minderten die Kraft seiner Stimme oder die einschüchternde Art und Weise, in der er einen Mann anblicken konnte.

»Ich bitte – «, er schluckte, »– ich bitte zu unterscheiden, Sir. Ich bin verzweifelt.« In ein paar herausgesprudelten Sätzen beschrieb er seine Situation. Dills malte weiter und ließ ihn am Ende seines Vortrags schweigend zehn Sekunden zappeln. »Aber ich begreife immer noch nicht, weshalb Sie zu mir gekommen sind. Ich besitze weder die Macht noch einen Grund, Ihnen zu helfen. Meine einzige Verpflichtung als Testamentsvollstrecker Ihres Vaters besteht darin, seinen mündlichen Instruktionen Folge zu leisten und dafür zu sorgen, daß Sie weiterhin Ihre großzügig bemessene jährliche Geldzuwendung erhalten.«

»Das verdammte Geld bedeutet mir gar nichts, wenn ich nach Kentucky geschleppt werde, um dort zu sterben!«

»Aber was kann ich dagegen tun?«

»Lassen Sie meinen Marschbefehl ändern. Sie haben es früher schon getan – Sie oder mein Vater. Oder taten das jene Männer, die ihn beschäftigten?« Das hatte gesessen; Dills versteifte sich sichtbar. Hier ließ sich der entscheidende Bluff ansetzen. »Oh ja, ich weiß einiges über sie. Ich hab’ ein paar Namen gehört. Ich habe meinen Vater zweimal gesehen, vergessen Sie das nicht. Jedesmal einige Stunden. Ich hab’ Namen gehört«, wiederholte er.

»Colonel, Sie lügen.«

»Wirklich? Testen Sie mich doch. Verweigern Sie mir Ihre Hilfe. Ich werde mich sehr schnell mit gewissen Leuten unterhalten, die an den Namen der Auftraggeber meines Vaters interessiert sind. Oder meiner wahren Herkunft.«

Schweigen. Bent atmete laut. Er hatte gewonnen, davon war er überzeugt.

Dills seufzte. »Colonel Bent, Sie haben einen Fehler gemacht. Zwei, um genau zu sein. Ihr erster Fehler war, wie ich bereits erwähnte, Ihr Entschluß, mich aufzusuchen. Ihr zweiter ist Ihr Ultimatum.« Er legte seine Feder auf die hingekritzelten Sterne. »Ich möchte nicht melodramatisch werden, ich möchte lediglich einen Punkt so klar wie möglich machen. In dem Augenblick, in dem ich erfahre, daß Sie irgendeinen Versuch unternommen haben, Ihre Beziehung zu meinem verstorbenen Klienten an die Öffentlichkeit zu bringen, oder irgend etwas tun, was seinem Ruf schaden könnte, von dem Augenblick an sind Sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein toter Mann.« Dills lächelte. »Guten Tag, Sir.«

Er erhob sich und ging zu seinen Bücherregalen. Bent schoß aus seinem Stuhl hoch, um den Schreibtisch herum. »Verdammt noch mal, wie können Sie es wagen, so mit Starkwethers eigenem – «

Dills wirbelte herum, schlug ein Buch mit einem Laut wie ein Gewehrschuß zusammen. »Ich sagte: guten Tag.«

Während Bent die lange Treppe zur Straße hinabstolperte, kreischte eine innere Stimme: Er meint es ernst. Der Mann meint es ernst. Was soll ich nun tun?

In seinem Büro stellte Dills das Buch wieder an seinen Platz und kehrte zum Schreibtisch zurück. Er bemerkte, daß seine gefleckten Hände zitterten. Die Reaktion ärgerte und beschämte ihn. Außerdem war sie unnötig.

Ganz sicher wünschten die Auftraggeber seines früheren Klienten, daß ihre Namen im dunkeln blieben. Doch Dills vertraute darauf, daß Bent ihre Identität nicht kannte. Abgesehen davon war Bent eindeutig ein Feigling und deshalb leicht einzuschüchtern. Natürlich konnte Dills über Starkwethers Verbindungen leicht dafür sorgen, daß Bent eine tödliche Kugel traf. In Kentucky ließ sich das sogar so arrangieren, daß es sich bei dem Killer scheinbar um einen Rebellen handelte. Aber solch ein Plan würde für den Anwalt lediglich finanzielle Nachteile mit sich bringen, was wiederum Bent nicht wußte.

Daß zwei Elternteile mit so positiven Charakterzügen einen derart schwächlichen Sohn wie Elkanah Bent hervorbringen konnten, störte Dills Ordnungssinn empfindlich. In der schlimmsten Armut des westlichen Hinterlandes geboren, hatte Starkwether Geschick und Ehrgeiz besessen. Bents Mutter war von erstklassiger, reicher Herkunft gewesen. Und jetzt brauchte man sich nur das traurige Ergebnis anzusehen.

Unfähig, die Gedanken von seinem Besucher abzuwenden, holte Dills einen kleinen Messingschlüssel aus seiner Weste. Er öffnete eine Schreibtischschublade, griff nach einem Ring mit neun größeren Schlüsseln und schloß den Wandschrank des Büros auf. In der staubigen Dunkelheit öffnete ihm ein weiterer Schlüssel den Eisensafe. Er holte den Inhalt heraus. Eine einzige dünne Akte.

Er betrachtete den alten Brief, den er vor vierzehn Jahren zum erstenmal gelesen hatte. Der kränkelnde Starkwether hatte ihm den Brief im letzten Dezember auf Dauer übergeben. Beide Seiten des Briefblattes waren beschrieben. Sein Blick fiel auf die Unterschrift. Die Wirkung beim Lesen dieses sofort erkennbaren Namens war immer die gleiche: Dills war sprachlos, verblüfft, beeindruckt. In dem Brief hieß es auszugsweise:

Du hast mich benutzt, Heyward. Dann hast Du mich verlassen. Aber ich gebe zu, daß auch ich ein gewisses Vergnügen dabei empfunden habe; ich kann mich nicht dazu durchringen, das Resultat meines Fehltritts völlig im Stich zu lassen. Da ich weiß, was für eine Art Mann Du bist und was Dir am meisten bedeutet, bin ich bereit, Dir jährlich eine beträchtliche Summe auszuzahlen, vorausgesetzt, Du übernimmst die väterliche Verantwortung für das Kind – sorge für ihn, hilf ihm in vernünftigem Rahmen –, das Wichtigste aber, sorge unter allen Umständen dafür, daß er nichts unternimmt oder von anderen unternehmen läßt, was zur Entdeckung seiner Herkunft führen könnte. Muß ich hinzufügen, daß er niemals meine Identität von Dir erfahren darf? Sollte das, ganz gleich aus welchem Grund, je geschehen, so werden die Zahlungen sofort eingestellt.

Dills befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. Wäre er dieser Frau doch nur einmal begegnet, und wenn es nur für eine Stunde gewesen wäre. Ein Bastard hätte ihren Namen in den Schmutz gezogen und ihr sämtliche Zukunftsmöglichkeiten verbaut, und sie war bereits mit achtzehn klug und erfahren genug gewesen, um das zu wissen. Sie hatte sich großartig verheiratet. Wieder wendete er das Blatt, um die Unterschrift zu betrachten. Der arme, rachsüchtige Bent würde höchstwahrscheinlich zusammenbrechen, wenn er diesen Namen sehen könnte.

Der letzte Absatz über dem Namen war für ihn von größtem Interesse:

Im Falle Deines Todes schließlich wird die gleiche Summe an jeden von Dir Bevollmächtigten weitergezahlt, solange der Junge lebt und die oben aufgeführten Bedingungen erfüllt werden.

An seinem Schreibtisch tauchte ein nachdenklicher Dills erneut seine Feder ein. Lebend bedeutete Starkwethers Sohn eine Menge Geld für ihn; tot war er gar nichts wert. Vielleicht sollte er, ohne zu direkt einzugreifen, dafür sorgen, daß Bent der gefährliche Dienst im Westen erspart blieb.

Ja, das war eindeutig eine gute Idee. Morgen würde er mit einem Kontaktmann im Kriegsministerium sprechen. Er machte sich eine Notiz und stopfte sie tief in seine Westentasche. Soweit Bent. Andere Pflichten riefen.

Starkwethers Auftraggeber waren die seinen geworden, und sie interessierten sich für die Möglichkeit, daß New York City von der Union abfiel. Es war ein atemberaubendes Konzept: ein separater Stadtstaat, der freien Handel mit beiden Seiten in einem Krieg betrieb, dessen Dauer die Gentlemen bis zu einem gewissen Grad kontrollieren konnten. Mächtige Politiker, Bürgermeister Fernando Wood eingeschlossen, hatten die Sezession bereits öffentlich gutgeheißen. Dills suchte Präzedenzfälle heraus und bereitete einen Bericht über die möglichen Konsequenzen vor. Er legte den Brief in den Safe zurück und kehrte nach drei Drehungen von drei Schlüsseln in drei Schlössern an seine Arbeit zurück.

14

»Was zum Teufel haben wir falsch gemacht?« sagte George und schleuderte seinen Zigarrenstummel weg. Er landete vor dem kleinen, schlichten Bürogebäude im Herzen des gewaltigen Komplexes des Hazard-Eisenwerks.

»Ich weiß es beim besten Willen nicht, George«, erwiderte Christopher Wotherspoon mit düsterem Blick.

Hunderte von Männern, die die unbefestigte Straße in beiden Richtungen entlangströmten, konnten von Georges Gesicht deutlich seinen Zorn ablesen; die Frühschicht ging, die nächste Schicht kam. George kümmerte sich nicht darum, ob sie seinen Ärger sahen oder nicht. Die meisten hatten ohnehin die Detonation gehört, als der Prototyp auf dem Testgelände explodierte. Die große Acht-Inch-Kanone, nach Rodmanns Methode mit einem wassergekühlten Kern, hatte ihren groben Holzunterbau zerstört und Eisenfragmente, groß wie Dolche, in die dicken Planken getrieben, die zum Schutz der Testbeobachter aufgebaut worden waren.

»Ich weiß es einfach nicht«, wiederholte Georges Werksinspektor, es war der zweite Fehlschlag in dieser Woche.

»In Ordnung, wir passen die Temperatur an und probieren es erneut. Wir probieren es, bis die Hölle zufriert. Sie schreien nach Artillerie, um die Ostküste zu beschützen, und eines der ältesten Eisenwerke in Amerika ist nicht in der Lage, eine einzige funktionierende Kanone zu produzieren. Es ist unglaublich.«

Wotherspoon räusperte sich. »Nein, George, das sehen Sie falsch. Das ist Kriegsproduktion. Soweit mir bekannt ist, hat dieses Werk nie zuvor Kanonen hergestellt.«

»Aber, bei Gott, wir sollten doch in der Lage sein, die – «

»Wir werden in der Lage sein, George.« Er betonte das zweite Wort. »Wir werden den Liefertermin einhalten, wie er im Kontrakt steht, mit einwandfrei funktionierendem Material.« Er riskierte ein Lächeln. »Ich garantiere das, weil Mr. Stanley unsere Offerte unterstützt hat und ich keineswegs scharf darauf bin, ihn zu enttäuschen.«

»Ich wüßte nicht, warum«, knurrte George. »Sie könnten ihn mit einem Schlag ausknocken.«

»Das ist wahr, aber man sollte mit seiner Zeit sparsam umgehen. Und das wäre Zeitverschwendung.«

Der trockene, steife Scherz verbesserte Georges Laune keineswegs. Immerhin erkannte er die Bemühungen des jungen Schotten an. Und er wußte, daß Wotherspoon den Grund für seine Ungeduld verstand. Er konnte Hazards nicht verlassen oder auch nur ernsthaft über Camerons Angebot nachdenken, solange er nicht sicher war, daß die Firma den Kontrakt erfüllen würde.

Er hegte keinen Zweifel, daß Hazards dazu in der Lage war. Wotherspoon arbeitete mehr als gründlich – das war einer der Gründe, weshalb George den Junggesellen so schnell befördert hatte. Wotherspoon war dreißig, ein schlanker, langsam sprechender Mann mit traurigen Augen und welligem, braunem Haar, hinter dessen tadellosen Manieren sich gnadenloser Ehrgeiz verbarg. Er hatte seine Lehre in einem sterbenden Eisenwerk absolviert, das von den Nachfolgern der großen Darbyfamilie in Coalbrookdale geleitet wurde, im gleichen Teil von England, aus dem der Gründer der Hazardfamilie Ende des siebzehnten Jahrhunderts geflohen war. Vor vier Jahren war Wotherspoon auf der Suche nach einem Job, einer Frau und einem Vermögen angekommen. Ersteres hatte er, hinter den beiden anderen war er noch her. Wenn er das Rätsel des fehlerhaft gegossenen Eisens löste, davon war George überzeugt, dann konnte er beruhigt die tagtägliche Kontrolle der Hazard-Werke in die Hände des Schotten legen.

Er war sich darüber im klaren, daß er Lehigh Station verlassen und dienen mußte; die simple Frage blieb lediglich: Wo? Wenn er einige seiner Verbindungen spielen ließ, konnte er sicherlich ein Kampfkommando bekommen, ein Regiment übernehmen. Aber nicht Furcht vor dem Kampf, den er haßte, ließ ihn davor zurückschrecken, sondern seine Überzeugung, daß er mit seiner Erfahrung im Rüstungsministerium von größtem Nutzen sein könnte; und das bedeutete Cameron und Stanley und Isabel. Was für eine elende Wahl.

Wotherspoon riß ihn aus seinen düsteren Betrachtungen. »Warum gehen Sie nicht nach Hause, George?« Bis vor einem Jahr hatte ihn der jüngere Mann mit Sir angeredet. Dann waren sie zum Vornamen übergegangen, auf Georges Aufforderung hin. »Ich werde noch mal die Rodman-Notizen durchsehen. Ich habe den Verdacht, daß der Fehler in irgendeiner Form bei uns liegt. Der Erfinder dieses Prozesses hat Ihre Schule absolviert.«

»Stimmt, die Klasse von 1841.«

»Dann wird er sich kaum täuschen, was?«

Diesmal lachte George. Er zündete sich die nächste Zigarre an und sagte: »Versuchen Sie diese Meinung nicht in Washington zu verkaufen. Die Hälfte der Politiker dort glaubt, West Point habe den Krieg verursacht. Stanley schreibt in seinem letzten Brief, daß Cameron West Point in einem Bericht, den er herausbringt, ans Kreuz nageln will. Und ich denke daran, für ihn zu arbeiten. Ich muß verrückt sein.«

Wotherspoon preßte die Lippen zusammen, seine Version eines Lächeln. »Nein, nein – wir leben in einer unvollkommenen Welt, das ist alles. Sie sollten auch das berücksichtigen: Wahrscheinlich können Sie dort für West Point mehr tun als hier.«

»Das ist mir auch durch den Kopf gegangen. Gute Nacht, Christopher.«

»Gute Nacht.«

Er ging die staubige Straße entlang, durch die Menge der Männer. Über seinen Augen setzte heftiger Kopfschmerz ein. So viele Probleme in letzter Zeit. Die Fehlschläge bei den Kanonenrohren. Bretts unglückliche Verfassung. Die Möglichkeit eines Angriffs des Kriegsministeriums auf West Point…

Stanleys Brief, vordergründig informativ, war in Wirklichkeit als Irritation gedacht gewesen, und George wußte das. Die Akademie als ›Keimzelle des Verrats‹ anführend, hatte Stanley geschrieben, der Minister habe sich auf lasche Disziplin und eine vage, aber unheilvolle ›Südstaaten-Tendenz‹ als Erklärung für den Abfall so vieler regulärer Offiziere bezogen. Er sollte nicht mal im Traum daran denken, für solch einen Schmierfink zu arbeiten.

Der Anstieg nach Belvedere war in der feuchten, stickigen Luft des Spätnachmittags ermüdend. Auf dem staubigen Weg blieb er stehen, um zu den Bergen hochzublicken. Er erinnerte sich an die Lehren, die seine tote Mutter an ihn weiterzugeben versucht hatte. Das bedeutendste Emblem dafür sah er über sich auf den Gipfeln – den im Wind wehenden Berglorbeer.

Seine Mutter, Maude, hatte ihr eigenes mystisches Gefühl für den Lorbeer auf ihn übertragen. Die schlimmste Witterung konnte dem Lorbeer nichts anhaben. Den Hazards ebenfalls nicht, sagte sie. Lorbeer war aus Liebe geborene Stärke, sagte sie. Nur die Liebe konnte die Männer über die Niedrigkeit erheben, die in ihrer Natur lag.

Sie hatte über den Lorbeer gesprochen, als er sich fragte, ob es klug wäre, Constance nach Lehigh Station zu bringen, wo man die Katholiken verachtete. Er hatte ihre Worte wiederholt, als Billy verzweifelte, weil Orry Main anfänglich gegen seine Heirat mit Brett war.

Ausdauer und Liebe. Vielleicht würde sich das als ausreichend erweisen. Er betete darum.

Auf Belvederes langer, breiter Veranda verschnaufte er sich. Schweiß lief ihm den Nacken herab und tränkte sein Hemd. Er war früher als gewöhnlich zu Hause. Vielleicht konnte er den Grund für das Bersten des Kanonenrohres herausfinden. Leise ging er in die Bibliothek, um seine Notizen über das Rodman-Verfahren zu holen.

»George? Du bist früh dran. Was für eine Überraschung.«

Er wandte sich der Tür zu.

»Ich hörte dich hereinkommen«, fuhr Constance fort, als sie eintrat. Sie wollte ihm einen Kuß geben, hielt aber inne. »Liebling, was ist passiert?«

»Die Hitze. Es ist höllisch heiß draußen.«

»Nein, es ist was anderes. Ah – der Test. Das ist es, nicht wahr?«

Betont lässig warf er seine Jacke über seine Schulter. »Ja. Wir hatten wieder einen Fehlschlag.«

»Oh, George, es tut mir so leid.«

Sie kam zu ihm, drückte sich fest an ihn. Ein kühler Arm schlang sich um seinen schweißfeuchten Nacken, während ihr süßer Mund ihn küßte. Erstaunlich, wie das half. Sie war der Lorbeer.

»Ich habe eine gute Nachricht«, sagte sie anschließend. »Ich habe endlich was von Vater gehört.«

»Ein Brief?«

»Ja. Heute ist er gekommen.«

»Gut. Ich weiß, daß du dir Sorgen gemacht hast. Ist alles in Ordnung mit ihm?«

»Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Komm, trink einen kalten Apfelwein, und ich werd’s dir erklären.«

Als George den Brief las, verstand er ihre rätselhafte Antwort. »Ich begreife seine Abscheu vor Texas, Patrick Flynn liebt viele Dinge des Südens, doch die Sklaverei gehört nicht dazu. Aber Kalifornien? Ist das die Antwort?«

»Meiner Meinung nach nicht. Stell dir vor, in seinem Alter eine neue Anwaltskanzlei aufzubauen.«

»Ich bezweifle, daß er damit Schwierigkeiten haben wird«, sagte George und sah den frischen, rotwangigen Anwalt vor sich, der aus County Limerick an die Golfküste gekommen war. Er merkte, daß seine Antwort Constance nicht beruhigt hatte, und fügte hinzu: »Er ist ein zäher, anpassungsfähiger Bursche, dein Vater.«

»Aber er wird dieses Jahr sechzig. Und Kalifornien ist kein sicherer Ort. In der Morgenzeitung habe ich von einem Südstaatenplan gelesen, an der Pazifikküste eine Art zweite Konföderation zu errichten.«

»Das übliche Gerücht heutzutage. In der einen Woche ist es Kalifornien, in der nächsten Chicago.«

»Trotzdem bin ich der Meinung, daß die Reise zu lang und gefährlich ist. Vater ist alt und ganz allein.«

Er lächelte. »Nicht ganz. Er reist mit einem ungemein zuverlässigen Begleiter. Ich meine seinen Paterson-Colt, der Lauf einen Fuß lang. Nie hab ich ihn ohne den Colt gesehen. Weißt du noch, wie er ihn zu unserer Hochzeit trug? Außerdem versteht er es, ihn zu benützen.«

Constance wollte sich nicht besänftigen lassen. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«

George trank seinen Apfelwein aus und sah erst in die blauen Augen, die er so liebte. »Verzeihen Sie meine Impertinenz, Mrs. Hazard, aber ich glaube, Sie können gar nichts tun. In dem Brief ist mir eine Bitte um Genehmigung nicht aufgefallen. Da steht lediglich, daß er aufbricht, und das war am 13. April. Ich nehme an, daß er mittlerweile die Sierras zur Hälfte durchquert hat.«

»Oh, guter Gott das Datum. Ich war zu besorgt, um es zu bemerken.« Jetzt nahm er sie in die Arme, um ihr zu helfen, so wie sie ihm geholfen hatte. Sie verließen die Küche und gingen nach oben, wo er sich auszog, um ein Bad zu nehmen.

»Tut mir leid, daß ich schlecht gelaunt war«, sagte sie, während er sich aus seiner verschwitzten Kleidung pellte. Nackt schlang er erneut die Arme um sie.

»Nicht schlecht gelaunt. Verständlicherweise besorgt. Ich fürchte, ich war sarkastisch. Ich bitte um Verzeihung.«

»Wir sind quitt.« Sie verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und gab ihm einen Kuß. So blieben sie eine Weile regungslos stehen; Trost strömte von einem zum anderen. Nie war George dichter daran, die Natur der menschlichen Liebe zu erfassen, als in solchen Momenten.

Sein Körper begann zu reagieren. »Wenn wir so weitermachen, komme ich nicht zu meinem Bad.«

Sie schnüffelte. »Nötig hast du’s.«

Mit gespielter Gewalt warf er sie aufs Bett und kitzelte sie, bis sie um Gnade flehte. Er ging ins Bad, drehte sich an der Tür noch mal um. »Aber wir haben auch Probleme, wo wir durchaus was tun können. Camerons Einladung, zum Beispiel.«

»Die Entscheidung liegt bei dir, George. Ich will Stanley und Isabel nicht näher sein als unbedingt notwendig. Aber ich weiß, daß es für dich wichtigere Dinge zu berücksichtigen gibt.«

»Ich wünschte, es wäre nicht so. Der Kongreßabgeordnete Thad Stevens meinte, Cameron würde auch einen rotglühenden Ofen klauen.«

»Ich mache dir einen Vorschlag. Warum fährst du nicht nach Washington und sprichst mit einigen Leuten von der Rüstung? Das könnte dir bei der Entscheidung behilflich sein.«

»Großartige Idee. Aber ich kann erst weg, wenn wir das Problem mit den Kanonenrohren gelöst haben.« Er dachte einen Augenblick nach. »Glaubst du, ich könnte es ertragen, in Stanleys Nähe zu arbeiten? Ich habe ihm die Führung der Hazard-Werke weggenommen, seine Frau aus diesem Haus gejagt – ich habe ihn sogar einmal geschlagen. Das hat er nicht vergessen. Und Isabel ist rachsüchtig.«

»Das weiß ich nur zu gut. Du mußt all das berücksichtigen. Aber wenn du annimmst, dann werde ich dir mit den Kindern so bald wie möglich folgen.«

Auch während des Abendessens ging die Diskussion über Camerons Angebot weiter. George, der in einem sauberen weißen Hemd erfrischt wirkte, erzählte Brett, daß Constance einen sehr praktischen Vorschlag gemacht habe. Er würde nach Washington fahren, bevor er seine endgültige Entscheidung traf.

»Würdest du mich mitnehmen?« rief Brett. »Ich könnte Billy sehen.«

»Ich kann nicht sofort los.« Er erklärte ihr den Grund und beobachtete, wie die hell lodernde Hoffnung in sich zusammenfiel. Schuldbewußt suchte er hastig nach einem Ausweg. Keine zehn Sekunden waren vergangen, als er fortfuhr: »Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Zwei wichtige Verträge müßten dort zu meinem Anwalt. Ich nehme an, ich könnte im Büro einen vertrauenswürdigen älteren Mitarbeiter finden, der sie hinbringt. Du könntest ihn begleiten.«

»Du erlaubst mir immer noch nicht, alleine zu fahren?«

»Brett, dieses Thema haben wir bereits vor Wochen ausdiskutiert.«

»Nicht zu meiner Zufriedenheit.«

»Werde nicht ärgerlich. Du bist eine intelligente und tüchtige junge Frau. Aber Washington ist eine Jauchegrube. Allein hast du dort nichts verloren – selbst wenn wir mal deinen unverkennbaren Südstaatenakzent unberücksichtigt lassen, was dich zum Ziel von Feindseligkeiten aller Art machen würde. Nein, so ist es besser. Ich suche einen Mann aus, der in einigen Tagen reisefertig ist. Pack deinen Koffer, und halt dich bereit.«

»Oh, ich danke dir«, sagte sie und eilte um den Tisch, warf die Arme um ihn. »Kannst du mir meine schlechte Laune verzeihen? Ihr wart beide so freundlich zu mir, aber ich habe so wenig von Billy gehabt, seit wir heirateten.«

»Ich verstehe das.« Er tätschelte ihre Hand. »Es gibt nichts zu verzeihen.«

Mit Tränen in den Augen dankte sie ihm nochmals. Für Constance war es eine der seltenen Gelegenheiten, George verlegen und leicht nervös zu erleben.

Später in ihrem Schlafzimmer sagte sie, bevor sie sich liebten: »Hast du wirklich Papiere, die nach Washington müssen?«

»Ich werd’ schon welche finden.«

Sie lachte und küßte ihn und zog ihn voller Freude an ihre Brust.

15

»Diese Reisetasche ist schwerer als ein Sack voll Steine«, stöhnte Billy, als er sie absetzte.

»Ich habe dir eine Menge Kleinigkeiten mitgebracht, von denen ich annahm, daß du sie brauchen kannst: Bücher, drei Mützenüberzüge, die ich selbst genäht habe, Socken, Unterhosen, eine neue Kasserolle, eines dieser kleinen Nähkästchen für Soldaten – «

»Bei der Armee nennt man sie Hausfrauen.« Er nahm seine Mütze ab und griff mit der anderen Hand nach hinten, um die Tür zu schließen.

Beide sprachen sie leise, als müßten sie vor Lauschern auf der Hut sein. Es war ein schwüler Nachmittag, so gegen drei, und sie waren allein in einem Pensionszimmer. Obwohl sie verheiratet waren, kam es Brett herrlich verrucht vor.

Der kleine Raum besaß nur ein mickriges Fenster, durch das der Lärm der unsichtbaren Straße drang. Aber Billy hatte Glück gehabt, daß er überhaupt etwas gefunden hatte, nachdem ihre telegraphische Nachricht angekommen war.

»Ich hab mich so nach dir gesehnt, Brett. Dich zu sehen, zu lieben.« Seine Stimme klang fremd; scheu, fast ängstlich. »Ich habe mich so danach gesehnt, daß es richtig schmerzt.«

»Oh, ich weiß, Liebling. Ich fühle genauso. Aber wir haben nie – «

»Was?«

Errötend wandte sie den Kopf ab. Er berührte ihr Kinn.

»Was, Brett?«

Sie wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Ihr Gesicht brannte. »Früher… Wir haben uns immer – im Dunkeln geliebt.«

»Ich kann nicht so lange warten.«

»Nein, ich – ich auch nicht.«

Er half ihr beim Ausziehen, schnell, aber ohne grob zu werden. Dann kam der schreckliche Moment, wo es nichts mehr zu verbergen gab; sie wußte, daß der Anblick ihres Körpers ihn abstoßen würde.

Ihre Furcht schmolz dahin, als er seine Hände ausstreckte. Er berührte ihre Schultern und ließ langsam seine Handflächen über ihre Arme gleiten, eine Liebkosung, die sie beide zart und erregend fanden. Sein liebevolles Lächeln wechselte langsam zu einem Ausdruck über, der fast schon an Verzückung grenzte. Ihr Lächeln wurde strahlend, und ihr freudig erregtes Lachen wurde von ebenso freudigen Tränen begleitet. Ihre Vereinigung, nur Augenblicke später, war um so süßer, da sie von beiden so heiß ersehnt worden war.

Captain Farmer hatte ihm über Nacht Urlaub gegeben. Am späten Nachmittag führte Billy seine Frau in die Gegend nahe beim Präsidentenpark. Die Menge der Soldaten in den Straßen verblüffte sie. Sie trugen Marine-Uniform, sie trugen Grau, und einige waren so buntgemischt ausgerüstet, daß sie den Hoftruppen irgendeines arabischen Prinzen ähnelten. Außerdem spazierten viele Neger herum.

Ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang überquerten sie einen übelriechenden Kanal, in Richtung eines noch unvollendeten Parkes nahe der phantastischen roten Türme der Smithsonian Institution. Aus vornehmen Kutschen beobachteten gut gekleidete Bürger, wie ein Freiwilligen-Regiment, die First Rhode Island, exerzierte. Billy zeigte Brett den kommandierenden Offizier, Colonel Burnside, einen Mann mit herrlichem Backenbart.

Billy erklärte, daß militärische Schauspiele zum öffentlichen Leben der Stadt gehörten. »Aber sicherlich wird es bald zum Kampf kommen. Es heißt, Lincoln will ihn, und Davis anscheinend auch. Sein populärster General kommandiert die Alexandriafront.«

»Du meinst General Beauregard?«

Er nahm ihren Arm, während sie weiterschlenderten. »Ja. Es gab mal eine Zeit, da stand Old Bory bei dieser Armee in hohem Ansehen. Jetzt nennt ihn unsere Seite nur noch einen ängstlichen kleinen Gockel.«

Unsere Seite. Durch Heirat war es auch ihre Seite geworden. Wann immer ihr das in den Sinn kam, empfand sie Verwirrung und ein vages Gefühl von Untreue. Heute war es nicht anders.

»Weiß Captain Farmer, wann der Kampf beginnen wird?«

»Nein. Manchmal frage ich mich, ob das überhaupt irgend jemand weiß – einschließlich unserer vorgesetzten Offiziere.«

»Du hast nicht viel für sie übrig?«

»Die meisten der Berufsoffiziere sind in Ordnung. Die Männer von der Akademie. Aber es gibt auch Generäle, die ihre Schulterstreifen durch politische Beziehungen bekommen haben. Die sind ziemlich übel. So arrogant es klingt, ich bin froh, daß ich nach West Point und zu den Pionieren gegangen bin. Das ist die beste Truppe.«

»Und die erste in der Schlacht.«

»Manchmal.«

»Das erschreckt mich zu Tode.«

Er wollte ihr gestehen, daß es auch ihn erschreckte, aber das hätte ihre Sorge nur verstärkt.

Die Stadt begann für Brett ihren Glanz zu verlieren, als sie zu dem Hotel spazierten, in dem sie zu Abend essen wollten. Sie kamen an zwei Soldaten vorbei, üblen Typen, und sie hörte die hämische Bemerkung, daß alle Offiziere Arschlöcher seien.

Billy versteifte sich, hielt aber weder an, noch drehte er sich um. »Beachte sowas gar nicht. Wenn ich bei solchen Bemerkungen jedesmal was unternehmen würde, hätte ich keine Minute Zeit für meine anderen Pflichten. Die Disziplin der Armee ist schrecklich – allerdings nicht in Lije Farmers Kompanie. Ich kann’s kaum erwarten, daß du ihn kennenlernst.«

»Wann wird das sein?«

»Morgen. Ich bringe dich raus zum Camp und zeige dir die Befestigungen, die wir bauen. Den Plänen nach sollten es Ringe sein, vielleicht fünfzig bis sechzig Stück, die sich um die Stadt herumziehen.«

»Magst du deinen Captain?«

»Sehr. Er ist ein außergewöhnlich religiöser Mensch. Betet viel. Die Offiziere und Soldaten beten gemeinsam mit ihm.«

»Du? Beten? Billy, hast du –?« Sie wußte nicht, wie sie die Frage taktvoll beenden sollte.

Er ersparte es ihr. »Nein, ich bin immer noch der gleiche gottlose Kerl, den du geheiratet hast. Ich bete aus einem einzigen Grund. Man verweigert Lije Farmer nicht den Gehorsam. Fairerweise muß ich sagen, daß Männer mit diesem festen Glauben in der Armee durchaus nicht ungewöhnlich sind.«

Abrupt steuerte er sie vom Bürgersteig weg, wo zwei Weiße einen zerlumpten Neger zusammenschlugen. Billy ignorierte auch das.

Doch Brett konnte das nicht. »Wie ich sehe, ist Sklavenmißhandlung nicht allein auf den Süden beschränkt.«

»Wahrscheinlich ist er ein Freigelassener. Sklave oder frei, Neger sind hier nicht sonderlich beliebt.«

»Warum um alles in der Welt führt ihr dann ihretwegen einen Krieg?«

»Brett, darüber haben wir doch bereits diskutiert. Wir haben Krieg, weil ein paar Verrückte in deinem Heimatstaat das Land in zwei Hälften zerbrochen haben. Niemand kämpft für die Neger. Sklaverei ist falsch, davon bin ich überzeugt. Aber praktisch gesehen sollte man sie vielleicht nicht auf einen Schlag abschaffen. Der Präsident glaubt das auch, heißt es. Die meisten Soldaten ebenfalls.«

Er fühlte sich nicht wohl bei dem Versuch, seine Ansicht zu rechtfertigen. Von einer Minderheit in der Armee abgesehen glaubte niemand daran, daß sie wegen dieser speziellen Institution in den Krieg zogen. Sie hatten sich freiwillig gemeldet, um die Narren und Verräter zu bestrafen, die glaubten, die Union zerbrechen zu können.

In der hellen, betriebsamen Hotelhalle bemerkte er Bretts immer noch grübelnden Gesichtsausdruck. »Komm jetzt keine Politik und keine düsteren Schatten. Du bist nur zwei Tage hier. Ich möchte, daß wir die Zeit genießen.«

»Müssen wir Stanley und seiner Frau einen Besuch abstatten?«

»Nur, wenn du mir einen Revolver vor die Nase hältst. Es ist eine Schande, aber ich habe sie nie gesehen, seit ich mich hier zum Dienst gemeldet habe. Lieber würde ich Old Borys gesamter Armee entgegentreten.«

Sie lachte; die Stimmung besserte sich wieder. Am Eingang zum Speisesaal sagte er: »Ich bin hungrig. Du auch?«

»Wie ein Wolf. Aber wir sollten mit dem Abendessen nicht zuviel Zeit verschwenden.«

Von der Seite warf sie ihm ein Lächeln zu, das er sofort verstand, und folgte dem Oberkellner. Billy eilte ihr nach, den Rücken kerzengerade, innerlich jubilierend:

»Auf gar keinen Fall.«

In der Nacht erwachte Brett, aufgeschreckt von einem fernen, rätselhaften Rumpeln. Billy bewegte sich, rollte zu ihr hinüber.

»Was ist los?«

»Was ist das für ein Lärm?«

»Armee-Fuhrwerke.«

»Vorher hab’ ich das nicht gehört.«

»Es ist dir bloß nicht aufgefallen. Wenn es in dieser Stadt oder diesem Krieg ein beherrschendes Geräusch gibt, dann die Wagen. Sie rollen Tag und Nacht. Komm – ich drücke mich an dich. Vielleicht schläfst du dann wieder ein.«

Sie schlief nicht ein. Über eine Stunde lag sie da und lauschte den schwerfälligen Hufen, den quietschenden Achsen, den knirschenden Rädern – der Donner jenseits des Horizonts als Warnung vor dem unvermeidlichen Sturm. Am Morgen fühlte sie sich erschöpft. Ein umfangreiches Frühstück munterte sie etwas auf. Billy hatte eine elegante Kutsche gemietet, in der sie über den Potomac fuhren. Der Himmel sah bedrohlich aus, und gelegentlich ertönte echter Donner.

Als sie über die Long Bridge fuhren, erzählte ihr Billy mehr von Farmer. Er stammte aus Indiana, war Junggeselle und hatte vor fünfunddreißig Jahren die Militärakademie absolviert. »Gerade als der Ort von einer gewaltigen religiösen Welle überschwemmt wurde. Der Captain und ein Klassenkamerad, Leonidas Polk, führten die Bewegung im Kadettencorps an. Drei Jahre nach der Abschlußprüfung nahm Farmer seinen Abschied, um ein berittener methodistischer Reiseprediger zu werden. Ich habe ihn mal gefragt, wo er all diese Jahre gelebt habe, und er sagte, auf einem Pferderücken. Tatsächlich ist eine kleine Stadt namens Greencastle sein Zuhause.«

»Ich glaube, ich habe von Polk gehört, ein Bischof der Episkopalkirche im Süden.«

»Das ist der Mann.«

»Warum ist Farmer wieder in die Armee eingetreten? Ist er dafür nicht zu alt?«

»Kein Mann, der Pionier-Erfahrung hat, ist zu alt. Und Old Mose haßt die Sklaverei.«

»Wie nanntest du ihn?«

»Mose – wie im Buch Moses. Der Captain bekam das Kommando über diese Freiwilligen-Kompanie, bis die regulären Pioniere aus Florida zurückkehren. Die Männer hielten Farmer für einen guten Führer, also tauften sie ihn Old Mose. Der Name paßt zu ihm. Er könnte direkt aus dem Alten Testament herausgetreten sein. Ich nenne ihn immer noch Lije – ah, da sind wir.« Er deutete mit einer Hand. »Das ist eines der großartigen Projekte, für das ich verantwortlich bin.«

»Die Dreckhaufen?«

»Erdarbeiten«, korrigierte er amüsiert. »Da hinten sollen wir ein gezimmertes Pulvermagazin bauen.«

Sie fuhren weiter. Alexandria, eine kleine Stadt aus Backsteinhäusern und zahlreichen Handelsgebäuden, schien fast genauso überfüllt zu sein wie Washington. Billy zeigte Brett das Marshall House, wo Lincolns enger Freund Colonel Ellsworth erschossen worden war. »Es passierte an dem Tag, an dem die Armee die Stadt besetzte. Ellsworth versuchte eine Rebellenflagge herunterzuholen.«

Weiter fuhren sie, durch eine Landschaft aus Zelten, Pferden, Artillerieausrüstung, flatternden Fahnen zum Schlag von Trommeln und zum Gesang von Männern – alles war neu, verblüffend und festlich, wenn auch ein bißchen erschreckend angesichts der tieferen Bedeutung.

Sie kamen an einer unfertigen Redoute vorbei und hielten vor einem Zelt, das sich in nichts von den anderen unterschied. Billy geleitete sie hinein und salutierte. »Sir? Wenn ich nicht ungelegen komme, dürfte ich Ihnen dann meine Frau vorstellen? Mrs. William Hazard – Captain Farmer.«

Der weißhaarige Offizier erhob sich von dem gebrechlichen, mit Diagrammen von Befestigungen übersäten Tisch. »Eine Ehre, Mrs. Hazard. Eine Ehre und ein Privileg.«

Er nahm ihre Hand und schüttelte sie in langsamer Formalität. Der Druck seiner Hand war kräftig und fest. Billy hat recht, dachte sie entzückt. Auf der Bühne könnte er einen der Propheten verkörpern.

»Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, und mächtig erfreut, Ihren Gatten in meinem Kommando zu haben. Ich hoffe, an dieser glücklichen Konstellation wird sich nie etwas ändern«, sagte der Captain. »Ah, wie unaufmerksam ich bin. Bitte setzen Sie sich doch – hier, auf meinen Hocker.« Er stellte ihn vor den Schreibtisch. »Ich bedaure zutiefst, daß meine Möblierung der Gelegenheit nicht angemessen ist.«

Brett bemerkte die Wahrheit seiner Worte, als sie sich im Zelt umsah. Ein Tisch, ein Feldbett, fünf Kisten mit der Aufschrift ›Amerikanische Bibelgesellschaft‹; auf einer lag ein Paket mit Traktaten. In Charleston hatte sie ähnliche Flugblättchen gesehen. Dies hier trug die Überschrift ›Warum fluchst du?‹

Farmer bemerkte ihren Blick. »Wir müssen Brücken zum Himmel bauen, selbst wenn wir gleichzeitig Verteidigungsanlagen gegen die Gottlosen errichten.«

»Es ist traurig«, teilte ihm Brett mit, »aber ich wurde unter den Gottlosen geboren.«

»Ja, dessen bin ich mir bewußt. Seien Sie versichert, ich meinte es nicht persönlich. Allerdings möchte ich Sie nicht täuschen. Es ist meine Überzeugung, daß der Allmächtige jene verachtet, die unsere schwarzen Brüder in Ketten halten.«

Seine Worte ärgerten sie; sie hätten jeden aus South Carolina geärgert. Und doch schien es paradox. Sie fand seine Stimme und seine Beredsamkeit unerwartet anrührend. Billy schaute unbehaglich drein, als würde er denken: Meine schwarzen Brüder sind sie nicht.

Brett sagte: »Ich respektiere Ihre Offenheit, Captain. Ich bedaure lediglich, daß die Angelegenheit durch einen Krieg gelöst werden muß. Billy und ich möchten unser Leben leben, eine Familie gründen. Statt dessen sehe ich nur Gefahren vor uns.«

Lije Farmer verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Wenn gefahrvolle Zeiten vor uns liegen, so wird unser Herr diesen jungen Mann sicher durch sie geleiten. Trotzdem werde auch ich ein Auge auf ihn haben. Wenn Sie wieder heimfahren, dann tragen Sie meine Versicherung in Ihrem Herzen. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit William unverletzt und so bald wie möglich wieder bei Ihnen sein kann.«

In diesem Moment vergaß Brett sämtliche politischen Angelegenheiten und brachte Lije Farmer nichts weiter als aufrichtige Liebe entgegen.

16

Weit entfernt im Flachland von South Carolina lebte ein anderer Mann mit Racheträumen, die ebenso intensiv waren wie die von Elkanah Bent.

Justin LaMotte, Besitzer der Plantage Resolute und verarmter Sprößling einer der ältesten Familien des Staates, verzehrte sich danach, seine Frau Madeline zu bestrafen. Sie war auf die Main-Plantage geflohen, um den Plan zur Ermordung des Yankees, der Orry Mains Schwester geheiratet hatte, zu enthüllen.

Aber Justins Haß reichte viel weiter zurück. Seit Jahren hatte ihm Madeline mit ihrer Offenherzigkeit und ihrer Mißachtung allgemein anerkannten weiblichen Betragens Schande gemacht. Aber, so erinnerte er sich mit einiger Befriedigung, sie war auch unterwürfig, wenn schon nicht gerade aufregend gewesen, wenn er seine ehelichen Rechte in Anspruch nahm. Für eine Weile hatte er ihre herausfordernden Aktivitäten gedämpft, indem er ihrem Essen heimlich Laudanum beigemischt hatte. Jetzt lebte sie ganz offen mit ihrem Geliebten zusammen, um sich für vergangene Demütigungen zu rächen. Der gesamte Distrikt wußte, daß sie Orry in dem Augenblick zu heiraten gedachte, in dem sie die Scheidung bekam. Nie würde das der Fall sein. Aber das war noch längst nicht genug. Täglich brachte Justin Stunden damit zu, Pläne auszuhecken, wie Orry zu ruinieren wäre, oder sich an Phantasien zu ergötzen, in denen er Madeline mit Messern oder Feuer strafte.

Im Moment lag er untergetaucht in lauwarmem Wasser, das einer seiner Nigger in die schwere Zinkwanne in seinem Schlafzimmer gegossen hatte. An seinem Nacken lösten sich Spiralen dunkelbrauner Farbe von seinem feuchten Haar. Das Fehlen jeglichen grauen Haares lenkte eher die Aufmerksamkeit auf sein Alter, anstatt es zu verbergen; die eindeutig künstliche Farbe seines Haares verlieh ihm das Aussehen einer Wachsfigur, obwohl ihm das nicht bewußt war.

Justin versuchte die Anspannung loszuwerden, die ihm in letzter Zeit das Leben schwermachte. Seine Frau war nicht der einzige Grund dafür. Es gab auch Probleme mit den Ashley Guards, dem Regiment, das er und sein Bruder Francis aufzustellen versuchten, indem sie die territoriale Verteidigungseinheit vergrößerten, die sie während der kritischen Monate der Sumter-Konfrontation organisiert hatten.

Weiße Seide mit braunen Flecken, zu mehreren Schichten zusammengefaltet und senkrecht umgebunden, verbarg die linke Seite von Justins Gesicht. Als er Madeline hatte daran hindern wollen, Resolute zu verlassen, hatte sie einen Säbel, ein altes Familienerbstück, von der Wand gerissen und sich damit verteidigt. Ein Schlag mit der gekerbten Klinge riß eine rotklaffende Wunde von seiner linken Braue über seine Oberlippe bis zum Kinn. Die schlecht heilende Verletzung schmerzte emotional genauso wie physisch. Er hatte Grund, dieses Miststück zu hassen.

Es war später Nachmittag; drückend heiß. Unten auf dem Platz brüllte sein Bruder Drillkommandos. Für die Ausrüstung des Regiments hatte sein Bruder an nichts gespart, trotzdem hatten sämtliche Gentlemen des Distrikts bei anderen Einheiten angemustert. Justin kam die Galle hoch, wenn er daran dachte, daß nicht mehr weiße Männer den Wert dieser Uniform und die einmalige Chance, von LaMottes geführt zu werden, zu schätzen wußten. Der verdammte Wade Hampton hatte seine Truppe so eintönig wie Kuhhirten eingekleidet, und die Männer rannten einander über den Haufen, um sich bei ihm zu melden.

Justin haßte den Columbia-Pflanzer auch noch aus anderen Gründen. Die LaMottes waren Jahre vor dem ersten Hampton nach Carolina gekommen, doch heute war der Name Hampton viel angesehener. Justin lebte von der Hand in den Mund, während Hampton seinen Reichtum mühelos zu vermehren schien; jedermann sagte, er sei der reichste Mann im Staate.

Hampton hatte sich geweigert, bei der Sezessions-Versammlung anwesend zu sein – hatte sich sogar öffentlich dagegen ausgesprochen –, und jetzt war er ein Held. Er befand sich bereits in Virginia, mit mehreren Kompanien zu Fuß, mit Artillerie und Kavallerie, die ergeben hinter ihm her keuchten, während Justin daheim schmachtete, von seiner Frau Hörner aufgesetzt bekam und nicht in der Lage war, mehr als zwei Kompanien aufzustellen – und diese Männer waren nichts weiter als Raufbolde, die ständig soffen, sich prügelten oder gegenseitig mit Messern abstachen.

Gott, wie ihn all das deprimierte. Er sank noch ein Stückchen tiefer ins Wasser. Dann fiel ihm auf, daß Francis keine Befehle mehr bellte. Statt dessen drang von unten Geschrei hoch, vermischt mit Keuchen und Obszönitäten. »Zum Teufel mit ihnen.« Diese Tölpel prügelten sich schon wieder. Naja, sollte Francis sich darum kümmern.

Er rechnete damit, daß der Lärm schnell ein Ende finden würde. Doch das Gelächter und die Anfeuerungsrufe wurden lauter, ebenso wie das Fluchen und das Klatschen der Schläge. Die Schlafzimmertür öffnete sich. Ein junger Neger namens Mem – Kurzform für Agamemnon – streckte den Kopf herein.

»Mr. Justin? Ihr Bruder sagen kommen, bitte. Viel Ärger.« Wütend stemmte sich Justin aus dem Zuber. »Wie kannst du es wagen, ohne Erlaubnis einfach reinzukommen!« Mit geballter Faust versetzte er Mem einen harten Schlag.

Der Junge schrie auf. Seine Augen wurden weit, und einen Moment lang erkannte Justin darin solche Wut, daß er einen Angriff befürchtete. Ein neuer, ungesunder Geist war unter den Sklaven im Distrikt wach geworden, jetzt, wo die schwarzen republikanischen Yankees ihren Krieg begonnen hatten, um anständige Männer ihres Eigentums zu berauben. In letzter Zeit hatte die Anzahl der Niggerbeerdigungen unerklärlich stark zugenommen; einige behaupteten, die Särge, die da vergraben wurden, enthielten Waffen für einen Aufstand. Die alte weiße Furcht vor schwarzer Haut wehte durch das flache Land wie die Pestbrisen der Sommerzeit.

»Raus«, brüllte Justin seinen Sklaven an. Mem rannte, jeden rebellischen Gedanken vergessend, hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Justin griff nach dem Korsett, das seinen Bauch formen sollte. Francis rief seinen Namen; er klang verängstigt.

Fluchend warf Justin das Korsett zur Seite und zerrte seine gelben engen Hosen hoch; sofort tauchten an Schenkeln, Schritt und Hinterteil feuchte Flecken auf. Er knöpfte sein Hosentürchen zu, während er die Haupttreppe hinunterrannte; unterwegs riß er nur noch schnell den alten Säbel vom Haken.

Er eilte hinaus ins Sonnenlicht, wo am Ende des baufälligen Hauses der Kampf tobte. Die Ashley Guards, ihre schönen Uniformen achtlos verdreckt, bildeten einen Kreis um zwei Männer, die um den Besitz eines uralten Hall-Hinterladers kämpften. Die Lemke-Cousins, hitzköpfige Kretins, die ganz in der Nähe eine florierende Farm betrieben.

Francis, ein verschrumpeltes Männchen, eilte zu seinem Bruder. »Besoffen wie die Schweine, alle beide. Hol besser ein paar von den Niggers – die Jungs haben zu viel Spaß dran, um einzugreifen.«

Zweifellos. Einige der Guards kicherten hämisch über Justins durchweichte Hosen und den darüber sichtbar werdenden Wanst. »Herr im Himmel, kannst du sie nicht disziplinieren?« flüsterte er Francis zu. »Muß ich immer alles machen?«

Diesmal würde er sich nicht opfern. Ein Lemke rammte seinen Kopf vor und biß den anderen so tief in die Schulter, daß Blut durch die Uniform sickerte. Nein danke, dachte Justin und entfernte sich; vier oder fünf Niggers sollten gefälligst das Risiko eingehen.

Ein Lemke änderte den Griff seiner Hände, während der andere den Lauf nach unten drückte. Die Männer in der Nähe der Mündung wichen zur Seite. Mit Rauch und Donner ging das Ding los.

Justin spürte einen schweren Schlag, der schon zu brennen begann, als er nach vorn zu Boden stürzte. Er schlug mit dem Kinn auf, und brüllte vor Schmerz und Wut. Eine große, rote Blume blühte auf den Feldern seines Hinterteils auf.

17

In Mont Royal, der großen Reisplantage am Westufer des Ashley River über Charleston, sah sich das gegenwärtige Oberhaupt der Mainfamilie einer ähnlichen Entscheidung wie sein Freund George Hazard gegenüber.

Von Kindheit an hatte Orry Main Soldat werden wollen. Er hatte mit der West-Point-Klasse von 1846 graduiert und an einigen der heißesten Gefechte des Mexikanischen Krieges teilgenommen. Bei Churubusco, außerhalb von Mexico City, hatte er seinen linken Arm verloren, teilweise wegen der Feigheit und Feindseligkeit von Elkanah Bent. Die Verwundung hatte Orry gezwungen, seinen Traum von einer militärischen Karriere aufzugeben.

Nach seiner Rückkehr nach South Carolina folgten schwierige Jahre. Er verliebte sich rettungslos in Justin LaMottes Frau, ebenso wie sie sich in ihn verliebte; Ehrgefühl beschränkte ihre Affäre auf gelegentliche heimliche Treffen, ohne die körperliche Vereinigung, die sie beide ersehnten.

Nun hatte der Wirrwarr der Ereignisse Madeline auf Dauer in sein Haus geführt. Ob sie legal heiraten konnten, war eine andere Frage. Das Scheidungsgesetz des Staates war komplex, und LaMotte würde alles in seiner Macht Stehende tun, um Madeline ihre Freiheit zu verweigern. Er tat das trotz eines Umstandes, der die meisten Südstaatenmänner entgegengesetzt hätte handeln lassen. Madelines Mutter war eine wunderschöne Viertelnegerin aus New Orleans gewesen. Madeline war zu einem Achtel schwarz, was für Orry ohne Bedeutung war. Obwohl die Wahrheit eine mächtige Waffe gegen Justin gewesen wäre, mangelte es ihr an der nötigen Grausamkeit, sie auch einzusetzen. Aber oft genug hatte sie sich die Enthüllungsszene, vor allem seine Reaktion darauf, vorgestellt.

In dem kleinen Bürogebäude, von dem aus sein Vater und der Vater seines Vaters die Plantage geleitet hatten, saß Orry an dem alten, überladenen Schreibtisch und sah sich vor ein weiteres Problem gestellt: Papiere, die er unterzeichnen mußte, wollte er seine Loyalität beweisen und die neue Regierung der Konföderation mit einem Teil seines Einkommens unterstützen.

Dunstiger Sonnenschein lag an diesem schwülen Nachmittag über den Fenstern des Büros. Die Luft roch nach Veilchen und dem Duft der süßen Olive, ein Geruch, an den er sich stets erinnern konnte, egal, wie weit er von Mont Royal entfernt war. Irritiert über sich selbst schüttelte er den Kopf, aber seine Stimmung wollte sich nicht ändern. Melancholische Zeiten brachten melancholische Gefühle mit sich.

Gesprächsfetzen, gelegentliches Gelächter oder Singen erreichten ihn aus dem nahegelegenen Küchengebäude. Er nahm nichts von dem auf was er hörte. Seine Gedanken wanderten von den Papieren zu dem Posten, der ihm angeboten worden war – Stabsdienst in Richmond im Büro von Bob Lee, dem verdienten Offizier, den die Loyalität zu seinem Geburtsstaat Virginia gezwungen hatte, die Bundesarmee zu verlassen. Lee war gegenwärtig der Sondermilitärberater von Jefferson Davis.

Die Aussicht auf einen Schreibtischposten versetzte Orry nicht gerade in Erregung, obwohl es vermutlich alles andere als realistisch war, ein Kampfkommando zu erwarten. Allerdings bestand ein Funken Hoffnung, falls Richmond dem Beispiel des Feindes folgte. Ein Offizier namens Phil Kearny, von dem Orry gehört hatte, dem er aber nie in Mexiko begegnet war, hatte ebenfalls dort seinen linken Arm verloren und nun kommandierte er als Brigadier Unionsfreiwillige.

Trotz seines starken Pflichtgefühls zögerte er aus mehreren Gründen, das Angebot anzunehmen. Davis, so hieß es, war recht schwierig. Als tapferer Soldat – ein West-Point-Absolvent – war er dafür berüchtigt, daß er selbst Truppen führen oder jene, die das taten, unter strenger Kontrolle halten wollte.

Außerdem befanden sich Orrys Schwester Ashton und ihr Ehemann James Huntoon in Richmond, wo Huntoon irgendeinen Regierungsposten bekleidete. Als Orry hinter die üble Rolle gekommen war, die Ashton bei dem fast geglückten Mordversuch an Billy Hazard gespielt hatte, hatte er ihr und ihrem Mann befohlen, Mont Royal zu verlassen und niemals zurückzukehren. Der Gedanke, ihnen irgendwo nahe zu sein, stieß ihn ab. Dazu kam noch, daß er keinen Aufseher hatte. Und vor allem ging es seiner Mutter gesundheitlich schlecht. Und er haßte es, Madeline allein zu lassen. Das war nicht nur selbstsüchtig gedacht. Wenn er weg war, könnte Justin versuchen, Rache zu nehmen.

Auch die Sklaven konnten sich zu einer Bedrohung auswachsen. Er hatte mit Madeline nicht darüber gesprochen – er wollte sie nicht unnötig aufregen –, aber in letzter Zeit hatte er im Benehmen einiger Neger verschiedene, wenn auch vage Veränderungen bemerkt. In der Vergangenheit war auf Mont Royal harte Disziplin selten notwendig gewesen; in der gegenwärtigen Situation war Cousin Charles’ Jugendfreund Cuffey der auffälligste Rebell. Man mußte ein Auge auf ihn haben.

Widerstrebend richtete Orry seine Aufmerksamkeit wieder auf das umfangreiche, blaugebundene, mit einer Anzahl von Wachssiegeln verzierte Dokument. Unterschrieb er, so erklärte er sich damit einverstanden, einen beträchtlichen Teil seiner Reisprofite jährlich gegen Regierungsobligationen im gleichen Wert einzutauschen. Diese sogenannten Produktionsdarlehen waren ins Leben gerufen worden, um den Krieg finanzieren zu helfen, für den Orry genausowenig Begeisterung aufbrachte wie sein Freund George. Orry sah die Aussichtslosigkeit des militärischen Abenteuers der Südstaaten, weil ihm sein Bruder Cooper einige schlichte Zahlen vor Augen geführt hatte.

Ungefähr zweiundzwanzig Millionen lebten im Norden. Dort befand sich auch der größte Teil der Industrieunternehmen, der Telegraphenleitungen, der Bodenschätze und des Geldes der alten Union. Die elf Staaten der Konföderation besaßen eine Bevölkerung von ungefähr neun Millionen; ein Drittel davon, die Sklaven, brauchte man für den Krieg gar nicht mitzurechnen.

Zweifelhafte, um nicht zu sagen gefährliche Einstellungen zum Krieg waren jetzt überall zu finden. Narren wie die Brüder LaMotte lachten höhnisch über jede Andeutung, der Süden könnte angegriffen werden – oder, falls doch, daß dabei etwas anderes als ein glorreicher Südstaatensieg herauskommen könnte. Von den Aristokraten bis zu den freien Bauern besaßen die meisten Südstaatler einen stolzen Glauben an ihre eigenen Fähigkeiten, was sie zu der unrealistischen Überzeugung verleitete, ein guter Mann aus Dixie könnte zehn Yankeekrämer schlagen, jederzeit und überall auf der Welt. Amen.

In seinen seltenen chauvinistischen Momenten teilte Orry diese Überzeugung bis zu einem gewissen Grad. Sein jüngerer Cousin Charles konnte es mit jedem anderen Offizier aufnehmen. Den gleichen Mut sah er in Charles’ Kommandanten, Wade Hampton. Und er fand ein wenig Wahrheit in der Maxime, die sich ihm in seinen jungen, hoffnungsvollen Jahren ins Gedächtnis gebrannt hatte. Im Krieg, sagte Bonaparte, sind Männer gar nichts; ein Mann ist alles.

Doch auch so war die Vorstellung, der Norden besitze keine Soldaten, die es mit den Soldaten des Süden aufnehmen könnten, pure Idiotie. Selbstmörderisch. Orry konnte sich an beliebig viele erstklassige Yankees von der Akademie erinnern, einschließlich eines Mannes, den er persönlich gekannt und sehr gern gehabt hatte. Wo mochte Sam Grant jetzt dienen?

Keine Antwort auf all die Fragen. Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die gelegentlich verwirrenden juristischen Formulierungen der Anleihen zu konzentrieren. Je früher er mit seiner Tagesarbeit fertig war, desto eher würde er Madeline sehen.

Gegen vier kehrte Orry von seiner Aufsichtsrunde über die Felder zurück. Er trug Stiefel, Reithosen und ein loses weißes Hemd, dessen leerer, linker Ärmel mit einer glänzenden Nadel an der Schulter festgesteckt war. Mit fünfunddreißig war Orry so schlank wie mit fünfzehn Jahren und bewegte sich trotz seines Handicaps voller Selbstvertrauen und Anmut. Seine Augen und sein Haar waren braun, sein Gesicht eher lang. Madeline sagte, er sehe mit zunehmendem Alter immer besser aus, was er allerdings bezweifelte.

Er hatte den Anleihen-Vertrag unterschrieben. Sofort hörte er auf, sich Sorgen wegen der Rückzahlung zu machen. Eine von Patriotismus geleitete Entscheidung sollte keine Bedingungen beinhalten.

Er ging die halbe Meile hinunter zur Flußstraße. Bemooste Eichen schirmten das Tageslicht ab. Er bog um die Ecke des großen Hauses, vor dem ein sauberer Garten und die Mole des langsam dahinfließenden Ashleys lagen. Leichte Schritte ertönten auf der großen Veranda über seinem Kopf, verstummten aber, als er hervortrat. Über sich sah er eine kleine, rundliche Frau, Ende Sechzig, die zufrieden den wolkenlosen Himmel betrachtete.

»Guten Tag, Mutter.«

Auf seinen Ruf hin schaute Clarissa Gault Main nach unten und lächelte auf höfliche, verwirrte Weise. »Guten Tag. Wie geht es dir?«

»Großartig. Und dir?«

Das freundliche Lächeln verstärkte sich. »Oh, ausgezeichnet – besten Dank.« Sie wandte sich ab und ging hinein. Er schüttelte den Kopf. Er hatte sich ihr als ihr Sohn zu erkennen gegeben, aber das war verlorene Liebesmüh; sie kannte ihn nicht mehr. Glücklicherweise liebten die Schwarzen von Mont Royal Clarissa, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Unauffällig wurde sie von allen überwacht und beschützt.

Wo war Madeline? Im Garten? Er fand sie im Wohnzimmer, wo sie gerade ein fast fünf Fuß langes, zylindrisches Paket untersuchte. Sie rannte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.

»Vorsicht«, sagte er und lachte. »Ich bin verstaubt und verschwitzt wie ein Maultier.«

»Verstaubt, verschwitzt – ich liebe dich in jedem Zustand.« Sie drückte einen langen, süßen Kuß auf seinen trockenen Mund, erfrischend wie Wasser aus einem Bergquell. Sie schloß ihre Hände hinter seinem Nacken, während sie sich umarmten, und er spürte ihren vollen, weichen Körper, der sich gegen ihn preßte. Obwohl ihnen eine legale Ehe noch verwehrt war, teilten sie die zwanglose physische Intimität eines bereits seit vielen Jahren verheirateten Paares, das sich immer noch liebte. Nachts schliefen sie nackt – Madelines freundliche, offene Art hatte ihm schnell jede Verlegenheit wegen seines Stumpfes genommen.

Sie lehnte sich zurück. »Wie ist der Tag gewesen?«

»Gut. Krieg hin, Krieg her, die vergangenen Wochen waren die glücklichsten meines Lebens.«

Sie seufzte eine gemurmelte Zustimmung und nahm seine Hand, während sie dastanden, die Köpfe aneinandergelehnt. Madeline war eine vollbusige Frau mit glänzenden, dunklen Augen und Haaren und weißer Haut. »Justin hat es in der Hand, mich noch ein kleines bißchen glücklicher zu machen, das muß ich gestehen.«

»Ich bin sicher, wir werden auch dieses Hindernis überwinden.« In Wirklichkeit war er keineswegs sicher, aber das gab er nie zu. Über ihre Schulter hinweg betrachtete er das Paket. »Was ist das?«

»Ich weiß nicht. Es ist an dich adressiert. Vor einer Stunde kam es vom Kai hoch.«

»Das ist richtig, das Flußboot war heute fällig – «

»Captain Asnip hat zusammen mit dem Paket eine Nachricht geschickt. Er sagt, es sei mit dem letzten Schiff vor Beginn der Blockade nach Charleston gelangt. Ich habe gesehen, daß es den Namen einer Schiffsgesellschaft in Nassau trägt. Weißt du, was es ist?«

»Vielleicht.«

»Dann hast du es also bestellt. Packen wir es aus.«

Unerwartete Panik wischte sein Lächeln weg. Wenn der Anblick des Inhalts sie verstörte? Er klemmte sich das Paket unter den rechten Arm. »Später. Ich zeig’s dir beim Abendessen. Ich möchte es dir richtig vorführen.«

»Ein Geheimnis, ein Geheimnis.« Sie lachte, als er die Treppe hochstieg.

Es dämmerte bereits, als sie sich zum Abendessen niedersetzten.

»Riecht großartig«, sagte Orry. »Krebse?«

»Gestern im Atlantik gefangen. Ich hab’ zwei Faß auf Eis bestellt. Sie sind mit dem Paketboot gekommen. Soviel zum gastronomischen Teil, Mr. Main. Jetzt möchte ich das Paket sehen.« Es lag neben ihm mit dem Boden, ohne die äußere Verpackung; Öltuch war sichtbar.

Er machte sich lustig über sie, pickte umständlich an den Krebsen herum und sagte mit ernstem Gesicht und leiser Stimme: »Köstlich.«

»Orry Main, du bist unmöglich! Zeigst du’s mir, wenn ich dir was Neues über Justin erzähle?«

Plötzlich ernüchtert legte er die Gabel beiseite. »Gute Neuigkeiten?«

»Oh, nichts, was die Scheidung betrifft, fürchte ich. Eine Kleinigkeit nur, ein bißchen komisch und ein bißchen traurig.« Sie berichtete, was sie von einem der Küchenmädchen gehört hatte, das heute auf Resolute gewesen war.

»Ins Hinterteil«, sinnierte Orry. »Ein direkter Treffer in den Sitz des Familienprestiges der LaMottes, eh?«

Sie lachte. »Jetzt bist du dran.« Er löste zwei rote Wachssiegel und die weitere Verpackung. Als sie sah. was das Öltuch bis jetzt verborgen hatte, atmete sie scharf ein.

»Es ist wunderschön. Wo kommt das her?«

»Aus Deutschland. Ich hab’s für Charles bestellt und hoffte, es würde durchkommen.«

Er reichte ihr die Waffe in der Scheide. Mit großer Vorsicht faßte sie den mit Messingdraht umwundenen Ledergriff. Sie zog das geschwungene Blatt heraus; die Augen des Fächerboys wurden groß, als er sah, wie sich das Kerzenlicht in dem edlen Stahl spiegelte. Orry erklärte, daß es sich hier um einen leichten Kavalleriesäbel handle, das genehmigte Modell von 1856, mit einer Länge von insgesamt einundvierzig Inches.

Madeline neigte die Klinge, um die Gravur auf der Vorderseite zu lesen: Für Charles Main, in Liebe von seiner Familie, 1861. Sie warf ihm einen langen, liebevollen Blick zu, dann untersuchte sie die andere Seite. »Ich kann das nicht lesen. Heißt es Cluberg?«

»Clauberg aus Solingen. Der Hersteller. Einer der besten in Europa.«

»Da sind viele winzige Blumen und Kurven eingraviert sogar Medaillons mit den Buchstaben C.S. darin.«

»Bei gewissen Versionen dieses Modells lauten die Buchstaben U.S.«, sagte er trocken und lächelte.

Den Säbel immer noch wie Glas behandelnd, steckte sie ihn wieder in die goldverzierte, blaumetallische Scheide zurück. Dann sagte sie, seinem Blick ausweichend: »Vielleicht hättest du auch für dich sowas bestellen sollen.«

»Falls ich das Angebot annehme?«

»Ja.«

»Oh, das ist aber ein Kavalleriesäbel. Ich könnte ihn nicht tragen, selbst wenn ich mich entschließen würde – «

»Orry«, unterbrach sie, »du weichst aus. Du weichst mir aus, und du weichst einer Entscheidung aus.«

»In letzterem Fall bekenne ich mich schuldig«, gab er mit schnell wechselndem Gesichtsausdruck zu, der doch alles verriet. Er verbarg etwas vor ihr, ein für ihn sehr ungewöhnliches Benehmen. »Ich kann jetzt noch nicht nach Richmond. Es gibt noch zu viele Hindernisse. Zuallererst deine Situation.«

»Ich kann ausgezeichnet auf mich aufpassen wie du sehr wohl weißt.«

»Geh jetzt nur nicht auf mich los. Natürlich weiß ich das. Aber ich muß auch an Mutter denken.«

»Auch um sie kann ich mich kümmern.«

»Nun, ohne Aufseher kannst du die Plantage nicht leiten. Der Mercury hat wieder mein Stellenangebot gedruckt. Hat das Paketboot irgendwelche Antworten gebracht?«

»Ich fürchte nein.«

»Dann muß ich weiter suchen. Ich brauche dieses Jahr eine gute Ernte, wenn ich einen Beitrag zu den Regierungsbemühungen leisten will – wozu ich mich heute mit der Unterzeichnung dieser Papiere einverstanden erklärt habe. Ich werde nicht mal an Richmond denken, bis ich den richtigen Mann zur Übernahme gefunden habe.«

Später gingen sie in die Bibliothek. Aus den Regalen, die Tillet Main mit guter Literatur gefüllt hatte, wählten sie einen wunderschön gebundenen Band von Das verlorene Paradies. Während der Jahre ihrer heimlichen Treffen hatten sie häufig laut Gedichte gelesen; der Rhythmus der Verse wurde manchmal zu einem unzulänglichen Ersatz für körperliche Liebe. Seit sie zusammenlebten, hatten sie entdeckt, daß diese Lesungen ihnen immer noch Vergnügen bereiteten.

Sie setzten sich auf ein Sofa, das Orry nur zu diesem Zweck angeschafft hatte. Er saß stets links von Madeline, damit er eine Seite des Buches halten konnte. Madeline ließ das Buch in ihrem Schoß sinken, und Orry sagte: »Cooper behauptet, wir hätten deswegen Krieg, weil der Süden sich weigere, die Veränderungen, die in diesem Land stattfinden, anzuerkennen. Ich erinnere mich vor allem an seine Worte, daß wir weder mit der Notwendigkeit für Veränderungen noch mit ihrer Unvermeidlichkeit umgehen könnten.«

»Wird der Krieg wirklich etwas ändern? Wenn er vorbei ist, wird dann nicht fast alles beim alten sein?«

»Einige unserer Führer möchten das gerne glauben. Ich glaube es nicht.«

Aber er wollte den Abend nicht mit melancholischen Spekulationen verderben; er küßte ihre Wange und schlug vor, Gedichte zu lesen. Sie überraschte ihn damit, daß sie sein Gesicht zwischen ihre kühlen Handflächen nahm und ihn mit Augen anblickte, in denen glückliche Tränen glänzten.

»Dies hier wird sich nicht ändern. Ich liebe dich mehr als mein Leben.«

Ihr Mund preßte sich auf seinen, öffnete sich leicht; der Kuß war lang und voll süßer Gemeinsamkeit. Er fuhr mit der Hand hoch, zerzauste ihr Haar. Sie lehnte sich gegen seine Schulter und flüsterte: »Ich habe das Interesse an britischen Poeten verloren. Laß uns die Lichter löschen und nach oben gehen.«

Am nächsten Tag, als Orry auf den Feldern war, suchte Madeline nach einem Schal. Sie und Orry teilten sich einen großen, begehbaren Garderobenschrank, der an sein Schlafzimmer grenzte; dort suchte sie nach dem Schal.

Hinter einer Reihe von Gehröcken, die er nie trug, erspähte sie ein vertrautes Paket. Zuletzt hatte sie den Säbel unten in der Bibliothek gesehen. Warum um alles in der Welt hatte er ihn hinaufgebracht und hier versteckt?

Sie hielt den Atem an, griff dann hinter die Gehröcke und hob das Paket hervor. Die roten Wachssiegel waren unbeschädigt. Kein Wunder, daß es ihn nicht erheitert hatte, als sie ihn mit der Möglichkeit eines zweiten Säbels aufgezogen hatte.

Sorgfältig legte sie das Paket wieder an Ort und Stelle. Sie würde ihre Entdeckung für sich behalten; wenn er es für richtig erachtete, würde er mit ihr darüber sprechen. Doch was seine Absichten anbelangte, gab es keinen Zweifel mehr.

18

Der blutrote Schein der sinkenden Sonne ergoß sich am nächsten Abend durch die Bürofenster. Orry schwitzte an seinem Schreibtisch; er war müde, aber die Einkaufsliste für seinen Agenten in Charleston mußte fertig werden. Er war gezwungen gewesen, seine Geschäfte wieder von der Fraser-Company abwickeln zu lassen, die schon für seinen Vater tätig gewesen war, weil Cooper die eigene Schiffsfirma an die Marine übergeben hatte. Cooper hielt sämtliche CSC-Aktien und war deshalb durchaus dazu berechtigt. Aber es war verdammt umständlich, und Orry mußte sich auch dieser Situation erst anpassen.

Aus früheren Transaktionen war Fräser ihm noch eine Rückzahlung schuldig gewesen. Einen Teil der Summe hatten sie in neuen Konföderierten-Banknoten bezahlt, sehr hübsch gemacht mit Gravuren von einer Göttin der Landwirtschaft und fröhlichen, auf einem Baumwollfeld arbeitenden Negern. In winziger Schrift stand auf den Banknoten Southern Bank Note Co. Dazu in Fräsers Brief der Kommentar: »Die Banknoten sind in N. Y. gedruckt – fragen Sie uns nicht warum.« Ein kluger Mann hätte das aus der beiliegenden Tausend-Dollar-Note schließen können. Die Porträts von John Calhoun und Andrew Jackson waren darauf zu sehen. Offensichtlich hatten die verdammten Yankees, von denen der Entwurf der Banknote stammte, keine Ahnung von Geschichte.

Auch Städte druckten Papiergeld. Orrys Repräsentant bei Fräser hatte ein Muster beigelegt, eine bizarre Banknote der Corporation von Richmond mit einem heroischen Porträt des Gouverneurs auf rosa Papier im Werte von fünfzig Cents. Wenige Sezessionisten hatten sich ihre Wirrköpfe über die praktischen Konsequenzen ihrer Tat zerbrochen.

»Orry – oh, Orry – solche Neuigkeiten!«

Madeline platzte ins Büro, raffte ihren krinolinverstärkten Rock und tanzte, für sie ganz untypisch, durch den Raum, während er sich von seiner Überraschung erholte. Sie kicherte kicherte! – während sie herumhüpfte. Tränen strömten über ihr Gesicht und widerspiegelten das dunkelrote Licht.

»Ich sollte nicht glücklich sein – Gott wird mich strafen, aber ich bin’s. Ich bin’s!«

»Madeline, was –?«

»Vielleicht wird Er mir dies eine Mal vergeben.« Sie preßte einen Zeigefinger unter ihre Nase, konnte aber nicht aufhören zu kichern.

»Hast du den Verstand verloren?«

»Ja!« Sie ergriff seine Hand, zog ihn hoch, schwenkte ihn herum. »Er ist tot!«

»Wer?«

»Justin! Ich weiß, es ist schändlich, so zu empfinden. Er«, sie schüttelte sich, »war ein menschliches Wesen – «

Nur im weitesten Sinne des Wortes, dachte Orry. »Kein Irrtum möglich?«

»Nein, nein – einer der Hausangestellten sah Dr. Lonzo Sapp auf der Flußstraße. Dr. Sapp kam gerade von Resolute. Mein Ehemann«, sie beruhigte sich etwas, wischte die Tränen fort, schluckte und sprach nun zusammenhängender weiter, »hat heute morgen seinen letzten Atemzug getan. Die Schußwunde löste irgendwie eine Infektion aus, die seinen ganzen Körper vergiftete. Ich bin ihn los.« Sie warf ihre Arme um Orrys Nacken, lehnte sich übersprudelnd vor Freude zurück. »Wir sind ihn los. Ich bin unerträglich glücklich, und ich schäme mich deswegen.«

»Das mußt du nicht. Francis wird um ihn trauern, sonst niemand.« Beschwingtheit stieg in ihm auf, der Drang zu lachen. »Gott wird auch mir vergeben müssen. Auf grimmige Art und Weise ist es komisch. Der kleine Gockel, von einem seiner eigenen Männer in den Arsch geschossen.«

»An Justin war nichts Komisches.« Ihr Rücken war dem Fenster zugewandt, und in dem Aufflammen des roten Abendlichts ließ sich ihr Gesicht kaum erkennen. »Er war ein böser Mann. Sie können mich in die Hölle stecken, ich werde trotzdem nicht zu seinem Begräbnis gehen.«

»Ich auch nicht.« Orry legte die Hand auf die Liste für Fräser; jetzt schien sie nicht mehr wichtig zu sein. »Wie bald können wir heiraten?«

»Sehr bald. Ich weigere mich zu warten und die trauernde Witwe zu spielen. Nach der Hochzeit können wir die Dinge organisieren, damit du deine Kommission annehmen kannst.«

»Ich bin immer noch entschlossen, einen Aufseher zu finden, ehe ich eine endgültige Entscheidung treffe.« Sie blickte zur Seite, als er fortfuhr: »Hier ist alles in Bewegung geraten. Geoffrey Bull kam heute nachmittag recht aufgeregt von seiner Plantage rüber. Zwei seiner Neger, seiner Meinung nach die loyalsten und vertrauenswürdigsten, sind gestern weggerannt.«

»Nach Norden?«

»Er vermutet es. Lies den Mercury, und du wirst feststellen, daß sowas ständig passiert. Zum Glück nicht bei uns.«

»Aber an Problemen mangelt es uns auch nicht. Bloß eines – der junge Mann, den du zum Vorarbeiter gemacht hast, als Rambo letzten Winter an Lungenentzündung starb.«

»Cuffey?«

Sie nickte. »Ich bin noch nicht lange hier, aber ich habe eine Veränderung bemerkt. Er ist nicht bloß frech; er ist wütend. Und er macht sich nicht die Mühe, es zu verbergen.«

»Ein Grund mehr, jede Entscheidung zurückzustellen, bis ich einen Aufseher gefunden habe.« Er zog sie an sich. »Geh’n wir ins Haus, schenken uns einen Schluck Wein ein und sprechen über die Hochzeit, ja?«

Madeline schlief längst schon in dieser Nacht, da lag Orry noch wach. Er hatte die Probleme mit den Sklaven heruntergespielt, weil er es haßte, zugeben zu müssen, daß eine so human geführte Plantage wie Mont Royal Schwierigkeiten haben könnte.

Orry spürte einen Wechsel in der Atmosphäre der Plantage. Einige Tage nach Beginn der Feindseligkeiten hatte es angefangen. Während er vom Pferd aus die Feldarbeiten beaufsichtigte, hörte er, wie ein Name gemurmelt wurde, und kam später zu dem Schluß, er sollte ihn auch hören. Der Name war Linkum.

Kurz nach Madelines Ankunft waren ernste Probleme aufgetreten, die ihre Wurzeln in einer Tragödie hatten. Im letzten November war Cuffey, Mitte Zwanzig und noch nicht zum Vorarbeiter ernannt, Vater von Zwillingsmädchen geworden. Cuffeys Frau Anne hatte eine schwere Entbindung; einer der Zwillinge lebte nur dreißig Minuten.

Das andere Mädchen, ein zartes, kleines Ding, nach Orrys Mutter auf den Namen Clarissa getauft, war am 3. Mai dieses Jahres beerdigt worden. Orry hatte davon erfahren, als er und Madeline von einem zweitägigen Aufenthalt in Charleston zurückkehrten, wo die Stimmungswogen hochschlugen und Läden und Restaurants überfüllt waren. Während eines heftigen Gewitters lenkte Orry ihre Kutsche zurück nach Mont Royal, über die fast unpassierbare, schlammige Uferstraße. Als sie bei Einbruch der Nacht ankamen, brannten im großen Haus überall Kerzen und Lampen, und Orrys Mutter wanderte mit einem verlorenen Gesichtsausdruck durch die Räume.

»Ich glaube, es hat einen Todesfall gegeben«, sagte sie.

Nachdem er von einem Hausgehilfen die Einzelheiten erfahren hatte, machte er sich auf den Weg zu der Sklavenansiedlung. In den weißgetünchten Hütten brannten Lichter, aber sonst war alles be merkenswert still. Völlig durchnäßt kletterte er zu Cuffeys Hütte hoch und klopfe.

Die Tür ging auf. Orry war schockiert vom Schweigen des gutaussehenden jungen Sklaven und seinem mürrischen Starren. Im Hintergrund hörte er das leise Weinen einer Frau.

»Cuffey, ich habe gerade von deiner Tochter erfahren. Es tut mir schrecklich leid. Darf ich hereinkommen?«

Unglaublicherweise schüttelte Cuffey den Kopf. »Meine Anne fühlt sich jetzt nicht gut.«

Verärgert überlegte Orry, ob die Ursache dafür ihr Verlust oder etwas anderes war. Er hatte Gerüchte gehört, daß Cuffey seine Frau mißhandelte. Sich beherrschend sagte er: »Auch das tut mir leid. Auf jeden Fall möchte ich zum Ausdruck bringen, daß – «

»Rissa starb, weil Sie nicht da waren.«

»Was?«

»Keiner von diesen hochnäsigen Hausnegern wollte einen Doktor holen, und Ihre Momma konnte nich’ begreifen, daß ich sie brauchte, um Ausweis zu schreiben, damit ich selber Doktor holen kann. Ich bettelte eine Stunde, aber sie schüttelte bloß Kopf wie Verrückte. Ich hab’s versucht, bin zu Doktor gerannt, kein Ausweis, nichts. Wir kamen zurück, und es war zu spät; Rissa war tot. Der Doc schaute einmal, sagte Typhusfieber, und weg war er. Mußte sie ganz allein beerdigen. Kleine Rissa. Tot wie ihre Schwester. Sie wären hier gewesen, mein Baby würde leben.«

»Verdammt, Cuffey, du kannst mir nicht die Schuld geben – «

Cuffey knallte die Tür zu. Der Regen tropfte vom Verandadach. Die Nacht fiel herab, stickig und voller wachsamer Augen.

Irgendwo begann eine Altstimme kaum hörbar eine Hymne zu singen. Orry bedauerte, was er nun zu tun hatte, aber er konnte die Herausforderung nicht auf sich beruhen lassen, nicht bei so vielen Zuschauern. Er klopfte ein zweitesmal kräftig.

Keine Antwort.

Er hämmerte gegen die Tür. »Cuffey, mach auf!«

Quietschend öffnete sich die Tür einen Spalt. Mit seinem schlammbedeckten Stiefel trat Orry dagegen. Cuffey mußte zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden.

»Hör mir zu«, sagte Orry. »Es tut mir aufrichtig leid, daß deine Tochter gestorben ist, aber deswegen lasse ich nicht zu, daß du dich mir widersetzt. Jawohl, wäre ich hier gewesen, ich hätte augenblicklich den Ausweis geschrieben oder selbst den Doktor geholt. Aber ich war nicht hier, und ich konnte von dem Notfall nichts wissen. Wenn du deines Postens nicht enthoben werden willst, halte deine Zunge im Zaum und knall mir nie wieder eine Tür vor der Nase zu.«

Schweigen, angefüllt mit dem Rauschen des Regens. Orry packte den Türrahmen. »Hast du mich verstanden?«

»Jawohl, Sir.«

Zwei leblose Worte. Im schwachen Schein der Hauslampe erkannte Orry die vor Wut funkelnden Augen Cuffeys. Er hegte den Verdacht, daß seine Warnung verschwendet war; er konnte nur hoffen, daß Cuffey bald wieder zur Vernunft kommen würde.

»Richte deiner Frau mein Beileid aus. Gute Nacht.« Er stampfte von der Veranda, traurig über den Tod des Kindes, ärgerlich über Cuffeys Auslegung, mit Schuldgefühlen beladen wegen seines Auftritts vor dem unsichtbaren Publikum. Die Rolle lag ihm nicht, aber er mußte sie spielen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Cooper hatte einmal bemerkt, daß sowohl die Herren als auch Sklaven Opfer der gleichen seltsamen Institution seien. In dieser schrecklichen Nacht verstand Orry, wie er das gemeint hatte.

Und das war der Anfang, dachte er, den sanften Druck von Madelines Schenkel neben sich spürend. Damit wurde die erste Karte aus dem Kartenhaus gerissen. Das hat die anderen ins Rutschen gebracht.

Vier Tage nach der Konfrontation bei der Hütte kam Anne. Cuffeys Frau, in der Dämmerung in sein Büro. Unter einem Auge zeigte sich eine häßliche Schwellung, und die braune Haut darum herum färbte sich schwarz. Zögernd brachte sie ihre Bitte vor: »Bitte, Sir, verkaufen Sie mich.«

»Anne, du bist hier geboren. Ebenso deine Mutter und dein Vater. Ich weiß, der Verlust von Rissa hat – «

»Verkaufen Sie mich, Mr. Orry«, unterbrach sie ihn aufweinend und ergriff sein rechtes Handgelenk. »Ich hab’ solche Angst vor Cuffey, ich möcht’ sterben.«

»Hat er dich geschlagen? Ich bin sicher, er ist nicht er selbst. Rissa – «

»Rissa hat nichts zu tun damit. Er schlägt mich immer. Macht er seit Heirat. Ich hab’ Ihnen nicht gesagt, aber Leute wissen Bescheid. Letzte Nacht hat er mich mit Stock und Faust geschlagen, dann hat er mich mit Pfanne geschlagen.«

Knapp eins neunzig groß, so ragte der weiße Mann über dem zerbrechlichen schwarzen Mädchen auf und schien vor Ärger noch größer zu werden. »Ich bin weggerannt, hab’ mich versteckt«, sagte sie, immer noch weinend. »Er hätte mir Schädel eingeschlagen, so verrückt wütend war er. Ich hab’ versucht zu ertragen wie eine gute Frau, aber ich hab’ zuviel Angst. Ich möchte hier weg.«

Ihre Augen bettelten weiter, nachdem sie ihre traurige Geschichte beendet hatte. Sie war eine gute Arbeiterin, aber er konnte nicht zusehen, wie sie kaputtgemacht wurde. »Wenn das dein Wunsch ist, Anne, dann werde ich ihn erfüllen.«

Annes Gesicht leuchtete auf, als sie ausrief: »Sie schicken mich zum Markt nach Charleston?«

»Dich verkaufen? Auf keinen Fall. Aber ich kenne eine Familie in der Stadt, gute, freundliche Leute, die letzten Herbst ihr Hausmädchen verloren haben und sich kein anderes leisten können. Nächste oder übernächste Woche werde ich dich einfach zu ihnen bringen.«

»Morgen. Bitte!«

Ihre Furcht erschreckte ihn. »Also gut. Ich werde sofort einen Brief schreiben. Geh deine Sachen holen, und halt dich bereit.«

Sie klammerte sich an ihm fest, ihr Gesicht gegen sein Hemd gepreßt. »Ich kann nicht dorthin zurück. Er bringt mich um. Ich brauche nur dies Kleid, das ist alles. Machen Sie nicht, daß ich zurück muß, Mr. Orry. Nicht.«

Er hielt sie fest, glättete ihr Haar, beruhigte sie, so gut es ging. »Wenn du solche Angst hast, such Aristotle im Haus. Richte ihm von mir aus, er soll dir einen Platz für die Nacht geben.«

Diesmal weinte sie vor Glück, umarmte ihn, zuckte dann entsetzt zurück. »Oh, Mr. Orry, ich war – ich wollte nicht – «

»Ich weiß. Du hast nichts Unrechtes getan. Geh nun ins Haus.«

Das war das letzte Mal, daß er Anne sah, abgesehen von den fünf Minuten am nächsten Morgen, als er den Paß für den Sklaven ausschrieb, der sie zusammen mit dem Brief zu der Familie nach Charleston bringen sollte. Noch im Fortfahren dankte sie ihm überschwenglich und segnete seinen Namen.

An Nachmittag ritt Orry hinaus, um die Felder zu inspizieren, die für die Bepflanzung im Juni vorbereitet wurden. Als Cuffey das Pferd hörte, hob er im gleißenden Sommerlicht den Kopf und starrte seinen Besitzer lange und durchdringend an. Dann wandte er sich ab und ging auf einen Neger los, der nicht zu seiner Zufriedenheit arbeitete. Cuffey schlug den Sklaven, der zurücktaumelte.

»Das reicht«, rief Orry. Der Vorarbeiter starrte ihn erneut an. Orry achtete darauf, nicht zu blinzeln. Nach zehn Sekunden riß er den Kopf seines Pferdes so hart herum, daß das Tier schnaubte. Der Blick zwischen Sklave und Herrn war sehr deutlich gewesen. Cuffey hatte jemanden getötet, und jeder von ihnen wußte, um wen es sich dabei handelte.

Orry erwähnte den Vorfall Madeline gegenüber nicht, aus dem gleichen Grund, aus dem er ihr Einzelheiten über Cuffeys herausforderndes Benehmen in jener regnerischen Nacht erspart hatte. Natürlich wußte Madeline, daß Anne auf eigene Bitte nach Charleston geschickt worden war. Sie war auch Augenzeugin, als die nächste Karte fiel.

Es geschah Anfang Juni. Cuffey war mit Arbeitstrupps draußen, um die Sommerpflanzung vorzunehmen, falls die Reisvögel oder salziges Flußwasser die Frühernte zerstörten.

Jedes kultivierte Feld war durch hohe Dämme von dem umliegenden Land getrennt. Hölzerne Kanäle ließen das Wasser des Ashley von Feld zu Feld fließen und bei Ebbe wieder abfließen, wenn die Kanalgatter gehoben wurden. Madeline ritt den Dämmen entlang und näherte sich dem Feld, wo die Sklaven schufteten. Der Tag war klar und angenehm, mit einer leichten Brise und einem intensiv blauen Himmel. Wie gewöhnlich bei ihren Ausritten trug sie Hosen und saß völlig undamenhaft im Männersitz im Sattel, aber spielte das noch eine Rolle? Schlechter konnte ihr Ruf im Distrikt kaum werden.

Vor sich sah sie Cuffey zwischen den gebeugten Rücken der Sklaven mit seinem Knüppel prahlen, den er als Zeichen seiner Autorität trug. Ein älterer Neger, der in der Nähe des Dammes arbeitete, erregte das Mißfallen des Vorarbeiters, als Madeline bereits dicht bei ihnen war.

»Unnützer Nigger«, schimpfte Cuffey. Er schlug den grauhaarigen Neger mit seinem Knüppel, und der Mann sackte zusammen. Seine neben ihm arbeitende Frau schrie auf. Cuffey verlor die Beherrschung und sprang mit erhobenem Knüppel auf sie zu. Die plötzliche, heftige Bewegung erschreckte Madelines Pferd. Wiehernd brach der Wallach nach rechts aus und wäre vom Damm gestürzt, hätte ihn nicht ein anderer Neger, ungefähr in Cuffeys Alter, am Halfter erwischt.

Das Gewicht und die Kraft des Sklaven verhinderten, daß das Pferd ins nächste Feld stürzte. Schnell bekam Madeline das scheuende Tier wieder unter Kontrolle, doch Cuffey mißfiel die Rettungsaktion.

»Du, geh runter an deine Arbeit!«

Der Sklave ignorierte den Befehl. Er schaute Madeline eher besorgt als unterwürfig an. »Sie sind in Ordnung. Ma’am?«

»Ja, danke. Ich – «

»Du hörst mich, Nigger?« brüllte Cuffey. Er kletterte halb den Damm hoch und deutete mit seinem Knüppel auf den anderen Schwarzen, dessen große, leicht schräg stehende Augen zum erstenmal Gefühl verrieten. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, was er für den Vorarbeiter empfand.

»Sei still, wenn ich mich bei diesem Mann bedanke«, sagte Madeline. »Du hast den Vorfall verursacht, nicht er.«

Cuffey schaute erst verblüfft, dann wütend drein. Hinter ihm erklang Kichern, und er wirbelte herum, doch die schwarzen Gesichter unter ihm waren leer und ausdruckslos. Lauter denn je tobend stampfte er den Damm hinunter.

Die Neger nahmen die Arbeit wieder auf, während Madeline zu ihrem Retter sagte: »Ich habe dich schon gesehen, aber ich weiß deinen Namen nicht.«

»Andy, Ma’am. Ich wurde nach Präsident Jackson genannt.«

»Bist du auf Mont Royal geboren?«

»Nein, Mr. Tillet kaufte mich im Frühling, bevor er starb.«

»Nun, Andy, ich danke dir für dein schnelles Eingreifen. Es hätte einen schlimmen Unfall geben können.«

»Bin froh, hat es keinen gegeben, Cuffey hatte keinen Grund, den Alten zu quälen – « Mit einem kleinen, scharfen Atemzug hielt er inne. Er hatte impulsiv gesprochen, und sowas stand ihm nicht zu.

Sie dankte ihm noch einmal. Mit einem schnellen Nicken sprang er vom Damm hinunter; das Lächeln und Murmeln einiger Leute zeigte, daß er bei ihnen genauso beliebt wie der Vorarbeiter unbeliebt war. Vor Wut kochend ließ Cuffey den Knüppel in seine andere Handfläche klatschen. Sein Blick war dabei starr auf Andy gerichtet.

Andy erwiderte das Starren. Cuffey schaute schließlich weg, wahrte aber das Gesicht, indem er gleichzeitig Befehle schrie. Eine üble Situation, dachte Madeline im Weiterreiten – und so erzählte sie es auch Orry. Bei Dunkelheit schickte er einen Boten zur Sklavenansiedlung. Kurz darauf klopfte es an der offenen Bürotür.

»Komm herein. Andy.«

Der barfüßige Sklave trat über die Schwelle. Seine Hosen waren so häufig gewaschen worden, daß sie weiß glänzten, ebenso wie sein geflicktes kurzärmeliges Hemd. Orry hatte ihn schon immer für einen gutaussehenden jungen Burschen gehalten, muskulös, höflich, ohne unterwürfig zu sein.

»Setz dich.« Orry deutete auf einen alten Schaukelstuhl neben dem Schreibtisch. »Ich möchte, daß du es bequem hast, während wir uns unterhalten.«

Diese unerwartete Behandlung entwaffnete und verwirrte den jungen Mann. Er setzte sich vorsichtig, angespannt; der Schaukelstuhl bewegte sich keinen Millimeter.

»Du hast Miss Madeline vor einer schweren Verletzung bewahrt. Ich weiß das zu schätzen. Ich möchte dir einige Fragen über die Ursache des Mißgeschicks stellen. Ich erwarte ehrliche Antworten. Du brauchst deswegen vor niemandem Angst zu haben.«

»Sie meinen den Vorarbeiter?« Andy schüttelte den Kopf. »Ich hab’ keine Angst vor ihm oder irgendeinem Neger, der schlagen und fluchen muß, um seinen Willen zu bekommen.« Sein Ton und sein Blick zeigten, daß er auch keinen Weißen von dieser Sorte fürchtete. Orrys günstiger Eindruck verstärkte sich.

»Hinter wem war Cuffey her? Miss Madeline sagte, der Mann hatte graues Haar.«

»Es war Cicero.«

»Cicero! Er ist fast sechzig.«

»Jawohl, Sir. Er und Cuffey – sie haben zuvor schon Ärger miteinander gehabt. Kaum war die Herrin weg, da schwor Cuffey. der alte Mann würde dafür büßen müssen.«

»Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?« Andy schüttelte den Kopf. »In Ordnung. Ich möchte dir danken für das, was du getan hast. Besitzt du einen Garten? Baust du für dich selbst etwas an?«

»Ja, Sir. Dieses Jahr Gumbo und ein paar Erbsen. Und drei Hühner hab’ ich.«

Orry zog eine Schreibtischschublade auf und holte drei Geldscheine heraus. »Für diese drei Dollar kannst du dir Saatgut und neues Werkzeug kaufen, wenn du welches brauchst. Sag mir, was du willst, und ich werde es in Charleston bestellen.«

»Danke, Sir. Ich denke darüber nach und sage es Ihnen.«

»Kannst du lesen und schreiben, Andy?«

»Ist gegen das Gesetz, daß Neger lesen oder schreiben. Ich kann ausgepeitscht werden, wenn ich ja sage!«

»Nicht hier. Beantworte die Frage.«

»Ich kann beides nicht.«

»Würdest du es lernen, wenn du die Möglichkeit hättest?«

Andy schätzte das Risiko ab, ehe er antwortete. »Ja. Sir, das würde ich. Lesen, schreiben – das hilft einem Mann, in der Welt voranzukommen.« Ein tiefer Atemzug, dann platzte er heraus: »Vielleicht bin ich eines Tages frei. Dann brauch’ ich es noch viel mehr.«

Orry lächelte, um die Befürchtungen des schwarzen Mannes zu zerstreuen. »Das ist weise Voraussicht. Freut mich, daß wir uns unterhalten haben. Ich habe nicht viel von dir gewußt, aber ich glaube, du kannst für diese Plantage gute Dienste leisten. Du wirst vorankommen.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Andy und hielt das Geld hoch. »Auch dafür.«

Orry nickte und beobachtete, wie der kräftige junge Mann sich der Tür zuwandte. Mancher hätte Andy für seine Offenheit ausgepeitscht; Orry wünschte, er hätte ein weiteres Dutzend mit ähnlicher Bereitschaft zur Initiative.

Während ihres Gesprächs war die Nacht hereingebrochen. In der Ferne quakten die großen Frösche, während Orry beobachtete, wie der Sklave den Pfad hinabging; Andy war nicht groß, aber sein Gang und seine ganze Art ließen ihn wesentlich größer erscheinen.

Am nächsten Morgen ritt Orry zu der Stelle, wo gearbeitet wurde, auf der Suche nach Cicero. Er sah ihn nicht. Cuffey dämpfte sein Getobe, bis Orry vorbei war. dann verdoppelte er die Lautstärke. Orry ritt weiter zu den Sklavenhütten und stieg vor dem Häuschen ab, das Cicero und dessen Frau gehörte. Ein nackter fünfjähriger Junge mit einem lustigen Gesicht pinkelte gegen einen der Pfosten. Ciceros Frau scheuchte den Jungen weg und eilte hinaus, als sie Orry hörte.

»Wo ist dein Mann, Missy?«

»Drinnen. Mist’ Orry. Er, äh, heut nicht arbeitet. Bloß bißchen krank.«

»Ich möchte ihn sehen.«

Ihre Reaktion – ein Ausbruch fast unverständlichen Gestammels, der fast an Weigerung grenzte, bestätigte ihm, daß etwas nicht stimmte. Er schob sie sanft beiseite und betrat die saubere, kahle Hütte, gerade als Cicero stöhnte.

Orry fluchte unterdrückt. Der alte Sklave lag auf einem Strohsack. Arme über dem Bauch verschränkt, das Gesicht verzerrt. Getrocknetes Blut war auf seinen geschlossenen, farblosen Augenlidern zu sehen. Seine Stirn trug ähnliche Spuren. Zweifellos hatte Cuffey seinen Knüppel benützt.

»Ich laß’ den Arzt holen, damit er nach ihm sieht, Missy«, sagte er, als er wieder zu ihr auf die Veranda heraustrat. »Ich werde diese Sache in Ordnung bringen, noch ehe der Tag vorbei ist.«

Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. Ihre Tränen erstickten jedes Wort.

Am Nachmittag herrschte brütende Hitze. Trotzdem machte Orry ein Feuer in dem Eisenofen, bevor er Cuffey von den Feldern ins Büro kommen ließ. Als Cuffey eintrat, mit seinem Knüppel, wie Orry es erwartet hatte, gab es keine langen Umstände.

»Ich hätte dich statt Anne verkaufen sollen. Ich nehme dir das weg.«

Er entriß Cuffey den Knüppel, öffnete die Ofentür und warf den Stock ins Feuer.

»Du bist nicht länger Vorarbeiter. Du bist wieder einfacher Feldarbeiter. Ich sah, was du mit Cicero gemacht hast, Gott weiß, aus was für lächerlichen Gründen. Raus mit dir.«

Am nächsten Morgen, eine Stunde nach Sonnenaufgang, sprach Orry wieder mit Andy in seinem Büro.

»Ich mache dich zum Vorarbeiter.« Andy zeigte ein schnelles, zustimmendes Nicken. »Ich setze viel Vertrauen in dich, Andy. Ich kenne dich nicht besonders gut, und die Zeiten sind schwierig. Ich weiß, daß einige Leute den starken Drang haben, sich auf Yankeegebiet zu flüchten. Ich werde nicht nachsichtig sein, wenn jemand das versucht und ich ihn oder sie erwische – was ziemlich sicher der Fall sein wird. Ich habe nichts übrig für Grausamkeit, aber ich werde auch nicht nachsichtig sein. Klar?«

Wieder nickte Andy.

»Noch eines. Du erinnerst dich, daß euer früherer Vorarbeiter, Salem Jones, den ich beim Stehlen erwischt und rausgeworfen habe, einen Stock trug. Cuffey hat sich anscheinend von dem mittlerweile verstorbenen Mr. Jones beeindrucken lassen. Er hat die Idee übernommen. Ich hätte Cuffey gleich beim erstenmal seinen Knüppel wegnehmen sollen.«

Andys Augenlider zuckten kurz, während er aufmerksam lauschte. Orry schloß seine Ansprache: »Ein Mann, der einen Stock trägt, zeigt damit, daß er schwach ist, nicht stark. Ich möchte bei dir keinen Stock sehen.«

»Ich brauche keinen«, sagte Andy, ihn offen anblickend.

Und so war das empfindliche Kartenhaus zusammengebrochen. Orry hatte mit dem Bau eines neuen Hauses begonnen, als er Cuffey durch Andy ersetzte.

Bald schon merkte er, daß die meisten Leute den Wechsel begrüßten. Auch Orry war zufrieden. Andy besaß nicht nur eine schnelle Auffassungsgabe, sondern auch das Talent, die anderen mehr zu führen, anstatt anzutreiben. Das Vertrauen, das Orry intuitiv in ihn gesetzt hatte, erzeugte eine stillschweigende Bindung zwischen den beiden Männern. Einige Male hatte Orry seinen Vater davon sprechen hören, daß er manche seiner Leute wie seine eigenen Kinder liebte. Zum erstenmal ahnte Orry, was Tillet Main damit gemeint haben mochte.

All dies ging Orry durch den Kopf, während er neben Madeline lag.

Zum Schluß aber tauchte das störende Bild von Cuffeys Gesicht auf. Zorn- und haßerfüllt – besonders nach dem Ende seiner kurzen Amtszeit als Vorarbeiter. Cuffey mußte nun im Auge behalten werden; Orry hätte ein halbes Dutzend Leute aufzählen können, die er mit seiner Unzufriedenheit hätte anstecken können.

Eine Woche später erhielt er einen überraschenden Brief.

Verehrter Herr,

Mein Cusin, der in Charleston, S. C, ist, zeigde mir Ihr Gesuch für Aufseher-Job. Ich habe die Ere, ihre Auf mergsamkeid auf mir zu lenken, Philemon Meek, Alter 64, aber sehr gesund und mit vil Erfarung

»Na, einiges hat er ja richtig geschrieben.« Orry lachte, als er am Abend des Tages, an dem der Brief gekommen war, mit Madeline durch den Garten zum Fluß schlenderte.

»Könntest du es mit so einem ungebildeten Mann riskieren?«

»Ich könnte schon, wenn er über die richtige Erfahrung verfügt. Und der Rest des Briefes scheint darauf hinzudeuten. Er schreibt, ich würde noch einen Referenzbrief von seinem gegenwärtigen Arbeitgeber bekommen, einem älteren Witwer mit einer Tabakplantage in der Nähe von Raleigh, ohne Kinder und ohne Interesse, die Plantage weiterzuführen. Meek würde sie gerne kaufen, kann es sich aber nicht leisten. Die Plantage wird in kleine Farmen aufgeteilt.«

»Es gibt da nur ein Problem mit Mr. Meek«, fuhr Orry fort und setzte sich auf ein altes Faß am Fluß. »Er ist erst irgendwann im Herbst abkömmlich. Er will seinen Arbeitgeber erst verlassen, wenn dieser ordentlich bei einer Schwester untergebracht ist.«

»Diese Einstellung spricht für ihn.«

»Eindeutig«, stimmte Orry zu. »Ich glaube nicht, daß ich jemanden mit besseren Qualifikationen finden werde. Ich sollte ihm schreiben und mit den Gehaltsverhandlungen anfangen.«

»Ja, tu das. Besitzt er Frau oder Familie?«

»Weder noch.«

Ruhig, ihre Augen auf das Wasser gerichtet, sagte sie: »Ich wollte es dich die ganze Zeit über schon fragen – wie stehst du zu letzterem?«

»Ich möchte Kinder, Madeline.«

»Auch unter Berücksichtigung dessen, was du über meine Mutter weißt?«

»Es ist viel wichtiger, was ich über dich weiß.« Er küßte ihren Mund. »Ja. ich will Kinder.«

»Ich bin froh, daß du das sagst. Justin hielt mich für unfruchtbar, während ich immer annahm, daß der Fehler bei ihm lag. Wir sollten das bald herausfinden – ich kann mir keine zwei Menschen vorstellen, die an der Beantwortung dieser Frage härter gearbeitet haben als wir, oder?« Sie drückte seinen Arm, und sie lachten gemeinsam.

»Ich bin so froh, daß sich dieser Mr. Meek gemeldet hat«, fuhr sie fort. »Selbst wenn du nicht vor Herbst weg kannst, so kannst du doch Richmond schreiben, daß du den Posten annimmst.«

»Ja, ich glaube, das könnte ich jetzt tun.«

»Also hast du dich entschlossen!«

»Nun – « So wie er das Wort aussprach, war es schon ein Eingeständnis.

»Die Mücken werden hier unten ein bißchen zu aufdringlich«, sagte sie. »Gehen wir ins Haus, auf ein Glas Wein. Vielleicht entdecken wir noch eine zweite Möglichkeit, deine Entscheidung zu feiern.«

»Im Bett?«

»Oh, nein, das meinte ich nicht.« Madeline errötete und fügte dann hinzu: »Gleich jetzt.«

»Was denn?«

Sie konnte ihr Lächeln nicht länger verbergen. »Ich glaube, es ist an der Zeit, den Säbel auszupacken, den du so sorgfältig versteckt hast.«

19

»Unser Rom«, so wurde es von langjährigen Einwohnern genannt. Als Mädchen hatte Mrs. James Huntoon zwar lieber junge Männer als alte Städte studiert, aber ein gewisser Grad an aufgezwungener klassischer Bildung versetzte sie doch in die Lage, den Vergleich als weiteres Beispiel für virginische Arroganz einzustufen. Auf der ersten Privatparty, zu der Ashton und ihr Mann eingeladen worden waren – um ihre Personen und ihren Stammbaum zu beschnüffeln, davon war sie überzeugt –, hörte eine weißhaarige Dame, eindeutig eine wichtige Persönlichkeit, zufällig Ashtons gereizte Bemerkung, daß sie das Temperament der Virginier einfach nicht verstehen könne.

Die Dame schenkte ihr ein Lächeln, in dem eine ganze Menge Hohn verborgen lag. »Das liegt daran, daß wir weder Yankees noch Südstaatler sind – der Süden ist hier eine Bezeichnung, die ganz allgemein für Staaten mit einer großen Anzahl von Baumwollpflanzeremporkömmlingen verwendet wird. Wir sind Virginier. Das ist das einzig passende Wort.«

Die Dame segelte davon. Ashton kochte vor Wut; der schlimmste Teil des Abends schien überstanden. Darin allerdings täuschte sie sich. James Chesnuts Frau Mary aus South Carolina, mit spitzer Zunge und einem sicheren Platz in Mrs. Davis’ Zirkel, hatte sie mit Namen begrüßt, sie aber keiner Unterhaltung wert befunden. Ashton befürchtete, daß der Klatsch über ihre Verbindung zu Forbes LaMotte und den Versuch, Billy Hazard zu töten, den Huntoons bis nach Virginia gefolgt war.

In einer Nacht hatte sie zwei Tests nicht bestanden. Aber sie war fest entschlossen, in Zukunft zu triumphieren. Sie verachtete die Gentlemen bester Herkunft, die in der Regierung saßen, und deren Frauen, die die Gesellschaft beherrschten, aber sie verfügten über Macht. Für Ashton gab es kein stärkeres Aphrodisiakum.

Richmond, mit einer Bevölkerung von knapp über vierzigtausend, besaß wie Rom seinen Tiber – den James, der sich erst nach Süden schlängelte und dann nach Osten, dem Atlantik zu – aber sicherlich hatte es auf dem Kapitol nach besserem gerochen als nach Tabak. Richmond stank danach; die ganze Stadt roch wie ein großes Lagerhaus.

Montgomery war die erste Hauptstadt gewesen, wenn auch nur für anderthalb Monate. Dann hatte der Kongreß für den Umzug nach Virginia gestimmt. Jene, die seit langem in Richmond wohnten, sprachen voller Stolz von den schönen, alten Häusern und Kirchen, erwähnten aber mit keinem Wort die überschäumenden Kneipenbezirke. Sie prahlten mit erhabenen Ahnenreihen und unterschlugen die degenerierten Kreaturen beiderlei Geschlechts, die sich an den Nachmittagen auf den schattigen Gehwegen am Capitol Square herumdrückten und sich schweigend zum Kauf anboten. Es hieß, die Frauen, eine abgebrühte Truppe und selten jung, kämen von Baltimore, sogar von New York herbeigeeilt, um sich ein Stück von dem großen Kuchen abzuschneiden, den eine Hauptstadt in Kriegszeiten anzubieten hatte. Nur Gott allein mochte wissen, aus welcher Gosse ihre männlichen Gegenstücke gekrochen waren.

Das alte Rom – mit den Goten aus Carolina und den Vandalen aus Alabama bereits innerhalb der Stadtmauern. Selbst der provisorische Präsident – der seine einmalige sechsjährige Amtszeit offiziell noch nicht angetreten hatte – wurde als Primitiver vom Mississippi angesehen. Zusätzlich hatte er noch das Mißgeschick, in Kentucky geboren zu sein, dem gleichen Staat, der dieser Welt die Inkarnation der Vulgarität, Abe Lincoln, beschert hatte.

Obwohl Ashton froh darüber war, dem Zentrum der Macht nahe zu sein, war sie doch keineswegs glücklich. Ihr Mann, obwohl ein fähiger Anwalt und überzeugter Sezessionist, konnte keinen besseren Job finden als den eines Angestellten bei einem der ersten Sekretäre im Finanzministerium. Das paßte zu der Verachtung, die den Leuten aus South Carolina von der neuen Regierung entgegengebracht wurde. Sehr wenige aus dem Palmetto-Staat waren für hochgestellte Posten berücksichtigt worden; die meisten hielt man für zu radikal. Und die einzige Ausnahme, Finanzminister Memminger, war auch nicht in Carolina geboren worden.

Ashton und James Huntoon mußten sich in ein einziges großes Zimmer quetschen, in einer der Pensionen in der Nähe der Main Street; auch das mißfiel ihr. Irgendwann würden sie schon ein passendes Haus finden, aber die Wartezeit war schrecklich – vor allem, weil sie im gleichen Bett wie ihr Mann schlafen mußte. Bei den seltenen Gelegenheiten – von ihr in Szene gesetzt, wenn sie wollte, daß er etwas tat oder ihr etwas kaufte –, bei denen sie es zuließ, daß er mit seinem jämmerlichen, schlappen Schwänzchen in ihr herumstocherte, blieb sie stets unbefriedigt zurück.

Richmond mochte eine blinde Münze sein, aber es besaß auch positive Seiten. Es gab hier ein paar recht attraktive Männer, mit und ohne Uniform. Irgendwie würde sie all das zu ihrem Vorteil nutzen – und vielleicht heute abend damit anfangen. Sie und James besuchten ihren ersten offiziellen Empfang. Als sie mit dem Ankleiden fertig war, fühlte sie sich ganz schwach vor Aufregung.

Orrys Schwester war eine wunderschöne junge Frau mit einer üppigen Figur und einem untrüglichen Gespür, wie sie diese Attribute zu ihrem Vorteil einsetzen konnte. Sie hatte darauf bestanden, eine Kutsche zu mieten, um bei ihrer Ankunft gleich den richtigen Eindruck zu machen. James jammerte, sie könnten sich das nicht leisten; für drei Minuten gestand sie ihm eheliche Privilegien zu. und er änderte seine Meinung. Und wie froh war sie jetzt darüber, als er ihr vor dem Spotswood Hotel aus der Kutsche half und sie das anerkennende Gemurmel der Gaffer auf dem Gehsteig hörte.

Es war ein heißer Juliabend, aber Ashton trug all das, was die Mode einer eleganten Frau vorschrieb, angefangen von vier Stahlreifen, von vertikalen Bändern zusammengehalten, die ihre Unterröcke aufbauschten, bis zu dem feinsten Seidenkleid darüber. Modische Damen trugen viel Schmuck, aber das Einkommen ihres Mannes beschränkte sie auf ein Paar schwarze Onyxtränen, die an winzigen Golddrähten von ihren Ohrläppchen baumelten. Sie wollte durch Schlichtheit und ihr eigenes blendendes Aussehen die Blicke auf sich ziehen.

»Jetzt paß auf, Darling«, sagte sie, als sie die Halle auf der Suche nach Salon 83 durchquerten. »Laß mir die Möglichkeit, heute abend alleine herumzuschlendern. Mach du es ebenso. Je mehr Leute wir kennenlernen, desto besser – und das sind doppelt so viele, wenn du mir nicht ständig am Rockzipfel hängst.«

»Oh, das werde ich nicht«, sagte Huntoon mit jener Selbstgerechtigkeit, die ihn Freundschaften kostete und seiner Karriere schadete. James war sechs Jahre älter als seine Frau, ein blasser, starrsinniger Mann mit Bauch. »Hier – diesen Flur entlang. Ich wünschte, du würdest mich nicht wie einen dummen Jungen behandeln.«

Ihr Herz raste beim Anblick der offenen Türen von Salon 83, wo Präsident Davis regelmäßig diese Empfänge abhielt; er besaß noch keine offizielle Residenz. Ashton erhaschte einen Blick auf Frauen in langen Abendkleidern, die mit Gentlemen in Uniformen oder eleganten Anzügen plauderten. Sie legte ihr schönstes Lächeln auf und flüsterte: »Benimm dich wie ein Mann, und ich werd’ dich nicht wie einen dummen Jungen behandeln. Ich bring’ dich um, wenn du jetzt eine Szene anfängst – Mrs. Johnston!«

Die Frau, die vor ihnen gerade den Salon betreten wollte, wandte sich mit höflichem, aber verwirrten Gesichtsausdruck um. »Ja?«

»Ashton Huntoon – darf ich Ihnen meinen Gatten vorstellen, James? James, dies ist die Gattin unseres berühmten Generals, der die Alexandria-Front kommandiert. James ist im Finanzministerium tätig, Mrs. Johnston.«

»Eine äußerst wichtige Position. Erfreut, Sie beide kennenzulernen.« Und damit begab sie sich in den Salon.

»Ich glaube nicht, daß sie sich an dich erinnert«, flüsterte Huntoon.

»Warum sollte sie? Wir haben uns nie getroffen.«

»Mein Gott, bist du verwegen.« Sein Keckem war sowohl bewundernd als auch mißbilligend.

Süßlich sagte sie: »Deine Trägheit erfordert es, Liebling – oh, Herr im Himmel, schau. Sie sind beide hier – Johnston und Bory.« Und auf einer Woge freudiger Überraschung schwebte Ashton in die Menge, nickte, murmelte Begrüßungsworte, lächelte Leuten zu, ganz gleich, ob sie ihr bekannt waren oder nicht. Auf der anderen Seite des überfüllten Raumes erspähte sie Präsident Davis und Varina Davis. Aber sie waren zu dicht umlagert.

Memminger begrüßte die Huntoons. Er brachte Ashton Champagnerpunsch und stellte sie dann, auf ihre Bitte hin, dem Offizier vor, den jeder kennenlernen wollte – einem drahtigen kleinen Kerl mit gelblicher Haut, melancholischen Augen und unverkennbar gallischen Zügen. Brigadegeneral Beauregard beugte sich über ihre behandschuhte Hand und küßte sie.

»Ihr Gatte hat einen Schatz entdeckt, Madam. Vom êtes plus belle que lejour! Ich fühle mich geehrt.«

Ihr Blick wies die Schmeichelei zurück und erkannte sie gleichzeitig als wahr an; zumindest in Koketterie kannten sich die Frauen aus Carolina aus. »Die Ehre liegt ganz auf meiner Seite, General. Unserem neuen Napoleon vorgestellt zu werden, dem Mann, der den ersten Schlag der Konföderation führen wird – für mich wird das der Höhepunkt des Abends sein.«

Geschmeichelt erwiderte er: »Près de vom, j’aipassé les moments les plus exquis de ma vie.« Mit einer Verbeugung entwischte der Kreolen-General; viele weitere Bewunderer warteten.

Inzwischen überflog Huntoon mit ängstlichen Blicken die Menge. Er fürchtete, jemand könnte Ashtons Worte gehört haben. War sie so dumm, daß sie nicht wußte, daß der Höhepunkt des Abends eine Vorstellung bei Präsident und Mrs. Davis zu sein hatte? James Huntoon verbrachte einen Großteil seines Lebens damit, sich über solche Kleinigkeiten zu entsetzen.

Huntoons Studie der Menge rief bald ein neues Gefühl hervor – Ärger. »Nichts als West-Point-Gockel und Ausländer. Oh, oh, dieser kleine Jude hat uns entdeckt. Hier lang, Ashton.«

Er nahm sie am Ellbogen. Sie riß sich los und schickte ihn dann mit einem funkelnden Blick und einer Kopfbewegung in die Menge. Dann begrüßte sie den kleinen, rundlichen Mann, der sich ihr näherte, mit aufrichtigem Lächeln und ausgestreckter Hand.

»Mrs. Huntoon, nicht wahr? Judah Benjamin. Ich habe Sie einige Male im Finanzministerium gesehen. Ich glaube, Ihr Mann arbeitet dort.«

»Das tut er, Mr. Benjamin. Allerdings kann ich kaum glauben, daß Sie mich bemerkt haben.«

»Es ist keine Treulosigkeit meiner Frau gegenüber, die momentan in Paris weilt, wenn ich sage, daß der Mann, der Sie nicht bemerkt hat, ein Mann ist, der Sie noch nie gesehen hat.«

»Wie nett Sie das gesagt haben. Aber ich habe schon gehört, der Justizminister ist berühmt für sowas.«

Benjamin lachte, und sie stellte fest, daß er ihr sympathisch war –teilweise deswegen, weil James ihn nicht leiden konnte. Eine gewisse Opposition gegen den Präsidenten und seine Amtsführung hatte sich bereits formiert; Davis wurde vor allem deswegen angegriffen, weil er angeblich Ausländer und Juden in seiner Administration bevorzugte. Der Justizminister, der über ein nicht existierendes Gerichtssystem herrschte, war beides. Als Rechtsanwalt war er problemlos vom Senat der Vereinigten Staaten, wo er Louisiana repräsentierte, zur Konföderation übergewechselt. Seine Kritiker bezeichneten ihn als billigen und opportunistischen Politiker – unter anderem.

Benjamin geleitete sie zum Büfett und legte kleine Leckerbissen auf einen Teller, den er ihr reichte. Sie sah, daß James, im Begriff sich zum Präsidenten vorzukämpfen, ihr einen wütenden Blick zuwarf. Ganz reizend.

»Sie und Ihr Mann müssen mich einmal besuchen«, bemerkte Benjamin. »Werden Sie kommen?«

»Selbstverständlich«, log sie; James würde bestimmt nicht kommen.

Er bat sie um ihre Adresse, die sie ihm widerstrebend gab. Es war klar, daß er den Hotelbezirk erkannte, aber das schien seiner Freundlichkeit keinen Abbruch zu tun. Er versprach, bald eine Einladungskarte zu schicken, und machte sich dann auf, den General und Mrs. Johnston zu begrüßen. Sie standen ganz allein, was ihnen ebenso mißfiel wie die Menge, die sich um Old Bory drängte.

Ashton wollte Benjamin folgen, hielt aber inne, als sie Mrs. Davis auf den Justizminister und die Johnstons zugehen sah. Sie besaß nicht den Nerv, sich einer so ehrfurchtgebietenden Gruppe anzuschließen; noch nicht.

Sie studierte die First Lady. Varina, die zweite Gattin des Präsidenten, war eine gutaussehende Frau Mitte dreißig, die gerade ein weiteres Kind erwartete. Es hieß, sie sei ein Mensch ohne Arg, offen und ehrlich; über öffentliche Fragen äußerte sie ohne zu zögern ihre Meinung, was keineswegs traditionelles Benehmen für eine Südstaatenfrau war.

Ashton schob sich an drei Offizieren vorbei, die einen vierten begrüßten, einen lebhaft aussehenden Burschen mit herrlichem Schnurrbart und Lockenkopf; seine Pomade roch fast so stark wie ihr Parfüm. »Kalifornien ist ein ganzes Stück von hier entfernt, Colonel Pickett«, sagte einer der anderen zu ihm. »Wir sind froh, daß Sie die Reise sicher hinter sich gebracht haben. Willkommen in Richmond, auf der Seite der Gerechten.«

Der so angesprochene Offizier bemerkte Ashton und schenkte ihr ein ga lantes, leicht flirtendes Lächeln. Dann runzelte er die Stirn, als versuchte er sie einzuordnen. Einer von Orrys Klassenkameraden hatte Pickett geheißen. Könnte das der Mann sein? Hatte er vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit entdeckt? Schnell ging sie weiter; sie verspürte nicht die geringste Lust, über einen Bruder zu sprechen, der sie aus ihrem Elternhaus verbannt hatte.

Sie suchte ein bekanntes Gesicht und entdeckte schließlich eines. Sie stürzte sich auf Mary Chesnut und erwischte sie allein, so daß sie ihr nicht entrinnen konnte. Mrs. Chesnut schien heute abend freundlicher und zu Klatsch aufgelegt.

»Jedermann ist völlig erschlagen, daß General und Mrs. Lee fehlen, ohne jede Erklärung. Ein häuslicher Zwist, meinen Sie nicht auch? Ich weiß, daß sie ein Paradepaar sind – es heißt, daß er niemals flucht oder die Beherrschung verliert. Aber gewiß erlebt selbst ein Mann mit seinem hochmoralischen Charakter einen Einbruch. Wäre er hier, wir könnten vielleicht ein Treffen alter Kameraden von West Point erleben. Armer alter Bob – die Yankeepresse hat ganz schön auf ihn eingeprügelt, als er seinen Abschied nahm und unserer Seite beitrat.«

»Ja, ich weiß.« Es hieß, die Frau führe ein Tagebuch und es sei angebracht, sich in ihrer Gegenwart vorsichtig zu äußern.

Ironisch lächelnd tippte Mrs. Chesnut mit ihrem Fächer auf Ashtons Handgelenk. »Man sollte meinen, das würde ihn bei den Truppen beliebt machen, nicht wahr?«

»Ist das nicht der Fall?«

»Kaum. Gemeine und Corporals aus den besten Familien nennen ihn Spatenkönig, weil sie aufgrund seiner Befehle graben und schwitzen mußten wie die gewöhnlichsten Feldarbeiter.«

Ashton folgte ihren Worten mit vorgetäuschtem Interesse, hatte aber nichtsdestoweniger den großen, gut gekleideten Gentleman in blauem Samt bemerkt, der sie vom Punschtisch aus beobachtete. Er ließ seinen Blick über die Seide gleiten, die sich straff zwischen ihren Brüsten spannte. Ashton wartete, bis sich ihre Blicke wieder trafen, dann wandte sie sich ab. Sie verließ Mary Chesnut und pirschte sich näher an ihren Mann heran, der es geschafft hatte, mit dem Präsidenten ins Gespräch zu kommen.

Jefferson Davis sah um einige Jahre jünger als einundfünfzig aus; seine militärische Haltung und seine schlanke Figur verhalfen ihm zu diesem Eindruck, ebenso sein volles Haar und sein kleiner Kinnbart, in denen fast kein Weiß zu sehen war.

»Aber Mr. Huntoon«, sagte er, »ich bestehe darauf, daß eine Zentralregierung in Kriegszeiten gewisse Maßnahmen ergreifen muß. Einberufung, zum Beispiel.«

Sie waren in eine liebenswürdige philosophische Diskussion verstrickt; Huntoon, der leise sprechende Präsident und ein dritter Mann, Außenminister Toombs. Von Toombs hieß es, er sei ein Unruhestifter. Vor allem kritisierte er West Point, weil Davis, Angehöriger der Klasse von ‘28, großes Vertrauen in einige der Absolventen setzte.

»Sie meinen, Sie würden ein derartiges Gesetz erlassen?« forderte Huntoon ihn heraus. Er besaß starke Überzeugungen und genoß die Chance, sie allgemein bekannt zu machen.

»Falls notwendig, würde ich darauf drängen, jawohl.«

»Sie würden Männer aus den verschiedenen Staaten einberufen, so wie es dieser niggerliebende Pavian getan hat?«

Davis brachte es fertig, allein durch sein Seufzen Verärgerung auszudrücken. »Mr. Lincoln hat nach Freiwilligen gefragt, weiter nichts. Wir haben das gleiche getan. Zur Zeit stellt die Einberufung auf beiden Seiten einen rein theoretischen Fall dar.«

»Aber ich setzte voraus. Sir – bei allem Respekt vor Ihnen und Ihrem Amt –, daß es sich dabei um eine Theorie handelt, die nie erprobt werden darf. Es widerspricht der Doktrin der Oberhoheit der Staaten. Sollten sie diese Oberhoheit einer Zentralgewalt gegenüber aufgeben müssen, dann bekommen wir ein Duplikat vom Zirkus in Washington.«

Jetzt funkelten die grauen Augen; und das fast blinde linke Auge schaute genauso zornig drein wie das rechte. Huntoon hatte Gerüchte über das Temperament des Präsidenten gehört; schließlich arbeiteten sie im gleichen Gebäude. Es hieß, Davis fasse jeden abweichenden Standpunkt als persönlichen Angriff auf und verhalte sich auch dementsprechend.

»Wie dem auch sei, Mr. Huntoon, meine Verantwortlichkeit ist klar: Ich sehe mich der Herausforderung gegenüber, diese neue Nation lebensfähig und erfolgreich zu machen.«

Genauso hitzig sagte Huntoon: »Und wie weit wollen Sie dabei gehen? Ich habe gehört, daß gewisse Leute der West-Point-Clique vorgeschlagen haben, Schwarze auf unserer Seite kämpfen zu lassen. Wollen Sie das befürworten?«

Davis lachte über die Vorstellung, aber Toombs rief aus: »Niemals. An dem Tag, an dem die Konföderation einem Neger Zutritt zu den Reihen ihrer Armee gewährt, an dem Tag wird die Konföderation in Schande geraten und ruiniert sein.«

»Ich stimme zu«, schnappte Huntoon. »Nun, was die allgemeine Wehrpflicht selbst anbelangt – «

»Reine Theorie«, wiederholte Davis scharf. »Ich hoffe, diese Regierung wird ohne großes Blutvergießen anerkannt werden. Verfassungsmäßig gesehen sind wir vollkommen im Recht mit dem, was wir tun. Ich will keinen Krieg führen, als würden wir uns im Unrecht befinden. Nichtsdestoweniger muß eine Zentralregierung stärker sein als ihre einzelnen Teile, sonst – «

»Nein, Sir«, unterbrach Huntoon. »Das werden die Staaten niemals tolerieren.«

Davis schien blaß zu werden, seine Konturen undeutlich; dann erst bemerkte Huntoon, daß seine Stahlrandbrille angelaufen war.

»In diesem Fall, Mr. Huntoon, wird die Konföderation kein Jahr überdauern. Sie können die Doktrin der Rechte der Staaten haben, oder Sie können ein neues Land haben. Beides zusammen geht nicht. Also wählen Sie.«

In seinem Ärger völlig unbesonnen platzte Huntoon heraus: »Meine Wahl ist, nicht Teil autokratischen Denkens zu sein, Herr Präsident. Außerdem – «

»Wenn Sie mich entschuldigen würden.« Farbflecken zeigten sich auf den Wangen des Präsidenten, als er herumwirbelte und davonging. Toombs folgte ihm.

Huntoon kochte vor Wut. Wenn der Präsident bei fundamentalen Prinzipien keinen Widerspruch duldete, dann zum Teufel mit ihm. Der Mann war hier eindeutig fehl am Platz. Bloß gut, daß er Davis die Meinung gesagt hatte –

»Du stümperhafter, minderbemittelter – «

»Ashton!«

»Ich kann einfach nicht glauben, was ich da eben gehört habe. Du hättest ihm schmeicheln müssen, und was tust du? Du verspritzt politisches Gewäsch.«

Mit puterrotem Gesicht packte er ihr Handgelenk; unter seinen schwitzigen Fingern gab das Samtband nach. »Die Leute behaupten, er benehme sich wie ein Diktator. Das wollte ich nur bestätigt haben. Und das hab’ ich. Ich habe meine feste Überzeugung darüber zum Ausdruck gebracht, daß – «

Mittlerweile hatte sie sich dicht an ihn gedrängt, lächelte ihr süßestes Lächeln, hüllte ihn in ihren zarten Duft. »Scheiß auf deine festen Überzeugungen. Anstatt mich vorzustellen, damit ich dir helfen kann, dich durch eine kritische Situation bringen kann, hast du geschwätzt und gestritten und die Totenglocke für deine bereits beendete unbedeutende Karriere geläutet.«

Sie stürzte davon, stieß gegen andere Gäste; sie zog viele Blicke auf sich, als sie mit Tränen in den Augen zu den Erfrischungen stürmte.

Idiot! Mit beiden Händen umklammerte sie eine gekühlte Punschschale; ihre schweißgetränkten Handschuhe hatte sie ausgezogen. Dieser Idiot. Alles hatte er kaputtgemacht.

Schnell wich ihr Ärger einem Gefühl der Depression. Eine große gesellschaftliche Chance war dahin; ganze Gruppen von Leuten machten sich bereits zum Aufbruch fertig. Auf der Suche nach der Macht, die sie ersehnte, war sie nach Richmond gekommen, und mit einigen wenigen Sätzen hatte er dafür gesorgt, daß er diese Macht nie für sie erringen würde. Nun gut – sie würde einen anderen finden. Einen Mann, intelligenter und taktvoller als James; mehr dem Erfolg zugewandt und geschickter darin, ihn zu erringen.

Und so faßte Ashton in weniger als einer Minute im Salon 83 des Spotswood Hotel einen Entschluß. Huntoon hatte als Ehemann nie viel getaugt, deshalb würde er von nun an nur noch dem Namen nach ihr Mann sein. Vielleicht würde er nicht mal das sein, wenn sie den richtigen Ersatz für ihn finden konnte.

Sie hob die leere Schale. »Könnte ich richtigen Champagner haben?« Schon wieder fröhlich lächelnd, reichte sie dem Neger hinter dem Tisch die Schale. »Ich kann schal gewordenen Punsch nicht ausstehen.«

Der große Mann im blauen Samtgehrock löschte seine lange Zigarre in einer Sandurne. Nach ein paar gezielten Fragen schlenderte er durch die schwindende Menge auf sein Zielobjekt zu – den schwitzenden, brillenbewehrten Tölpel, der eben einen heftigen Streit mit seiner Frau gehabt hatte. Zuvor hatte der große Mann die Frau beim Betreten des Salons bemerkt, und in seinen engen braunen Hosen hatte sich sein Penis versteift. Solch eine schnelle Reaktion lösten nur wenige Frauen bei ihm aus.

Der große Mann war um die fünfunddreißig, muskulös gebaut, mit feingliedrigen Händen. Er bewegte sich leichtfüßig und trug seine elegante Kleidung mit einer gewissen Selbstverständlichkeit; und doch wirkte er ein bißchen derb, was vielleicht an den Pockennarben aus Kindertagen liegen mochte. Glattes, leicht pomadisiertes, dunkelbraunes, mit Grau vermischtes Haar hing ihm nach der Davis-Mode bis auf den Kragen. Er glitt dicht neben Huntoon. Verwirrt und aufgeregt stand der Anwalt und polierte immer wieder seine Brillengläser mit einem feuchten Taschentuch.

»Guten Abend, Mr. Huntoon.«

Die volltönende Stimme erschreckte Huntoon; der Mann hatte sich ihm von hinten genähert. »Guten Abend. Sie kennen mich, aber – «

»Ganz richtig. Man hat mich auf Sie aufmerksam gemacht. Ihre Familie zählt zu den ältesten und berühmtesten in unserem Teil der Welt, möchte ich sagen.«

Auf was ist der Bursche aus, fragte sich Huntoon. Wollte er ihm vielleicht irgendeine Investition abluchsen? Da hatte er Pech – Ashton kontrollierte den einzigen Geldbetrag, über den sie verfügten, die vierzigtausend Dollar, die sie als Mitgift bekommen hatte.

»Stammen Sie aus South Carolina, Mr. –?«

»Powell. Lamar Hugh Augustus Powell. Lamar für meine Freunde. Ich komme nicht aus Ihrem Staat, aber ganz aus der Nähe. Die Leute meiner Mutter stammen aus Georgia. Die Familie hat viel mit Baumwolle zu tun, nahe bei Valdosta. Mein Vater war Engländer. Nahm meine Mutter als Braut mit nach Nassau, wo ich aufwuchs. Er war als Rechtsanwalt tätig, bis er vor einigen Jahren starb.«

»Die Bahamas. Das ist eine Erklärung.« Huntoons Versuch zu lächeln und sich einzuschmeicheln kam Powell geschmacklos und komisch vor. Dieser kleine Dreckskerl würde kein Problem darstellen. Aber wo –?

Ah. Ohne sich umzudrehen, entdeckte Powell einen sich nähernden Schatten. »Eine Erklärung wofür, Sir?«

»Für Ihre Sprache. Ich dachte, ich hätte Charleston herausgehört – und doch nicht ganz.« Für ein paar Augenblicke fiel Huntoon keine weitere Bemerkung ein. Verzweifelt sagte er: »Großartige Party – «

»Ich habe Sie nicht angesprochen, um über die Party zu reden.« Huntoons Grinsen verzerrte sich unter der Zurückweisung. »Um offen zu sein, ich organisiere eine kleine Gruppe zur Finanzierung eines vertraulichen Unternehmens, das sich als unglaublich lukrativ erweisen könnte.«

Huntoon blinzelte. »Sie sprechen von einer Investition?«

»Einer maritimen Investition. Diese verdammte Blockade schafft phantastische Möglichkeiten für Männer, die den Willen und die nötigen Geldmittel haben, sie zu nutzen.« Er beugte sich vor.

Nach all den entmutigenden Wendungen, die der Abend genommen hatte, fühlte sich Ashton zumindest ein bißchen durch den Anblick des attraktiven Fremden entschädigt, der mit ihrem Mann sprach. Wie jämmerlich James neben ihm aussah. War der Mann so wohlhabend, wie seine äußere Erscheinung andeutete? Und so männlich?

Sie eilte auf die beiden Männer zu. Nachdem er sie gestraft hatte, war James nun bereit, höflich zu sein.

»Meine Liebe, darf ich dir Mr. Lamar Powell aus Valdosta und den Bahamas vorstellen? Mr. Powell, meine Gattin Ashton.«

Mit dieser Vorstellung beging er einen der schlimmsten Fehler seines Lebens.

20

Charles band Ambrose Pells Braunen an die oberste Stange des Zauns. Leichter Regen fiel auf ihn, den Farmer mit der Glatze, und das enttäuschende Pferd, das zu sehen er zwölf Meilen geritten war. Die fernen Blue-Ridge-Berge verloren sich im Nebel, so trübe wie seine Stimmung.

»Ein Grauer?« fragte Charles. »Nur die Musiker reiten Graue.«

»Vermutlich hab ich ihn deswegen noch«, erwiderte der Farmer. »Alle anderen hab’ ich schnell verkauft – obwohl, wenn Sie’s interessiert: Ich mach’ nicht gern Geschäfte mit euch Buttermilchkavalleristen. Paar von denen sind erst letzte Woche hier durchgeritten, mit Papieren, auf denen stand, sie seien Männer von der Verpflegungsabteilung.«

»Wie viele Hühner haben sie Ihnen gestohlen?«

»Ah, Sie kennen die Jungs?«

»Nicht persönlich, aber ich weiß, wie einige von ihnen vorgehen.« Diese Diebstähle, offiziell ›Fourage‹ genannt, trugen zu dem schlechten Ruf bei, den sich die Kavallerie bereits erworben hatte, ebenso wie der weitverbreitete Glaube, berittene Soldaten würden ihre Pferde lediglich dazu benützen, sich möglichst schnell vom Schlachtfeld zu entfernen.

»Das Pferd – «

»Preis hab’ ich Ihnen bereits gesagt.«

»Der ist zu hoch. Aber ich zahle ihn, wenn der Graue was taugt.«

Was Charles bezweifelte. Der zweijährige Wallach war ein schlichtes, unauffälliges Tier; klein – ungefähr vierzehn Hand hoch – und bestimmt nicht mehr als tausend Pfund schwer. Er besaß die Schultern und die langen, abfallenden Fesseln eines guten Renners. Aber man begegnete selten einem grauen Sattelpferd. Was mochte mit diesem hier nicht stimmen?

»Sie lassen euch Jungs nicht reiten, wenn ihr nicht mit eigenen Pferden ankommt, so ist’s doch, oder?« fragte der Farmer.

»Ja. Mir fehlt ein Pferd, seit zwei Wochen bin ich hinter einem Ersatz her. Gegenwärtig bin ich in Kompanie Q, wenn die Gerüchte stimmen.«

»Geben sie euch was zur Versorgung eurer eigenen Pferde?«

»Vierzig Cents pro Tag, Futter, Hufeisen und die Dienste eines Hufschmieds, wenn man einen finden kann, der nüchtern ist.« Es war eine dümmliche Regelung, zweifellos von irgendeinem Regierungsangestellten erfunden, der höchstens mal in Kindertagen auf einem Steckenpferd gesessen hatte. Je mehr Charles vom Armeeleben mitbekam, desto weniger konnte er entscheiden, ob die Konföderierten-Armee nun komisch oder tragisch war. Wahrscheinlich tragikomisch.

»Wie ist Ihr Pferd gestorben?«

Neugieriger alter Querkopf, was? »Drusenkrankheit.« Er hätte Dasher erschießen müssen, aber er hatte es nicht gekonnt. Er hatte sie sterben lassen und hinterher vor Kummer und Erleichterung geweint, ganz allein für sich.

»Hu«, sagte der Farmer schaudernd. »Die Druse ist ein schlimmes Ende für ein gutes Tier.«

»Ich möchte lieber nicht drüber sprechen.« Charles mochte den Farmer nicht, und der Mann hatte eine Abneigung gegen ihn gefaßt. Er wollte das Geschäft hinter sich bringen. »Warum haben Sie den Grauen nicht verkauft? Zu teuer?«

»Nee, der andere Grund. Wie Sie sagen – nur die Jungs von der Musik wollen Graue.«

»Hören Sie, in der Ecke von Virginia stehen nicht mehr viel Pferde zum Verkauf. Also, was stimmt mit ihm nicht? Eingeritten ist er, oder?«

»Oh, klar doch, mein Cousin hat ihn einwandfrei eingeritten. Da hab’ ich ihn her – von meinem Cousin. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Soldat – «

»Captain.«

Das gefiel dem Farmer nicht. »Er ist ein guter, schneller kleiner Kerl, aber er hat was an sich, was vielen nicht gefällt. Zwei andere Jungs haben ihn angesehen und fanden ihn ein bißchen simpel und, na ja, irgendwie unangenehm. Vielleicht ist das Floridablut.«

Augenblicklich wurde Charles aufmerksam. »Ist er zum Teil Chickasaw?«

»Gibt keinen Beweis dafür, aber mein Cousin behauptet es.«

Dann könnte der Graue eine Entdeckung sein. Die besten Carolina-Rennpferde entstammten einer Kombination von englischem Vollblut und dem spanischen Pony aus Florida.

»Läßt er sich schwer reiten?«

»Einige waren der Meinung, jawohl, Sir.« Der Farmer bekam die Fragerei langsam satt. Charles mußte sich schnell entscheiden.

»Hat er einen Namen?«

»Cousin nannte ihn Sport. Wollen Sie ihn nun oder nicht?«

»Legen Sie ihm das Halfter an, und bringen Sie ihn rüber«, erwiderte Charles und schnallte seine Sporen ab. Der Farmer ging auf die Weide, und Charles beobachtete, daß Sport seinen Besitzer zweimal zu beißen versuchte, während ihm dieser das Halfter anlegte. Aber dann folgte der Graue gehorsam, als ihn der Mann zum Zaun führte.

Charles ging zu Ambrose Pells Braunem und zog seine Schrotflinte aus dem Futteral. Schnell überprüfte er die Waffe. Aufgeschreckt sagte der Farmer: »Was zum Teufel haben Sie vor?«

»Ihn ein bißchen zu reiten.«

»Kein Sattel? Keine Decke? Wo haben Sie das gelernt?«

»Texas.« Der alte Mann hing ihm zum Hals raus, und Charles schenkte ihm ein bösartiges Grinsen. »Wenn ich beim Comanchen-Killen mal Pause machte.«

»Killen? Verstehe. In Ordnung. Aber die Schrotflinte – «

»Wenn er den Krach nicht verträgt, dann taugt er für mich nichts. Bringen Sie ihn dichter an den Zaun.«

Er bellte es wie einen Befehl; der Farmer wurde sofort weniger lästig. Charles kletterte auf den Zaun und glitt so sanft wie möglich auf den Wallach. Er wickelte das Seil um seine rechte Hand, spürte bereits den mutwilligen Widerstand des Grauen. Er richtete die Schrotflinte nach oben und feuerte beide Läufe ab. Der Graue bockte nicht, sondern raste los – schnurstracks auf den Zaun am anderen Ende der Weide zu.

Charles schluckte und spürte, wie ihm der Hut vom Kopf geweht wurde. Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht. Der Zaun raste auf ihn zu. Wenn er nicht springt, dann kann ich mir das Genick brechen. Mit wehender Mähne über dem schönen, langen Bogen seines Nackens flog Sport in hohem, sauberem Sprung über den obersten Balken.

Charles lachte und gab Sport den Kopf frei. Und dann erlebte er mit dem Grauen einen der wildesten Galoppritte, die er je mitgemacht hatte. Über Stock und Stein, einen steilen Hügel hoch und hinunter in einen kalten Bach; was der Regen nicht geschafft hatte, erledigte das hoch aufspritzende Wasser. Charles hatte das Gefühl, daß nicht er den Grauen testete, sondern der Graue ihn.

Er lachte. Mit diesem unhandlichen kleinen Tier hatte er vielleicht gerade ein bemerkenswertes Kriegsroß entdeckt.

»Ich nehme ihn«, sagte er, als er zum Zaun zurückkehrte. Er griff nach einem Bündel Banknoten. »Sie sagten hundert – «

»Während Sie noch mit ihm Ihren Spaß hatten, hab’ ich beschlossen, ich kann ihn nicht für weniger als hundertfünfzig weggeben.«

»Als Preis nannten Sie hundert, und mehr kriegen Sie auch nicht.« Charles fingerte an der Schrotflinte herum. »Ich würde nicht feilschen – Sie kennen doch uns Buttermilchkavalleristen. Diebe und Killer.«

Das Geschäft wurde ohne weitere Verhandlungen abgeschlossen.

»Charlie, du hast dich übers Ohr hauen lassen«, erklärte Ambrose, kaum daß Charles mit dem Grauen zurück ins Camp gekommen war. »Jeder Narr kann sehen, daß der Gaul nichts drauf hat.«

»Der erste Blick sagt nicht immer die Wahrheit, Ambrose.« Mit einer Hand fuhr er über Sports leicht gebogene Nase. Der Wallach stupfte ihn kräftig mit den Nüstern an. »Abgesehen davon glaub’ ich, daß er mich mag.«

»Er hat die falsche Farbe. Jeder wird dich für einen verdammten Hornbläser halten anstatt für einen Gentleman.«

»Ich bin kein Gentleman. Mit sieben hab ich den Versuch aufgegeben, einer zu werden. Danke, daß du mir dein Pferd geliehen hast. Ich muß jetzt meins füttern und tränken.«

»Das kann auch mein Nigger für dich machen.«

»Toby ist dein Diener, nicht meiner. Außerdem hab’ ich, seit ich auf der Akademie war, diese komische Einstellung, daß ein Kavallerist selber für sein Pferd sorgen sollte. Es ist sein zweites Ich, wie es so schön heißt.«

»Ich höre Mißbilligung heraus«, murrte Ambrose. »Was soll falsch daran sein, einen Sklaven mit ins Camp zu bringen?«

»Nichts – bis der Kampf beginnt. Das nimmt dir keiner ab.«

Diese Bemerkung fand Ambrose überflüssig. Er schwieg einige Sekunden, ehe er murmelte: »Übrigens, Hampton will dich sehen.«

Charles runzelte die Stirn. »Weshalb?«

»Keine Ahnung. Der Colonel wollte sich mir nicht anvertrauen. Vielleicht bin ich ihm dafür nicht professionell genug. Zum Teufel, ich streit’s ja gar nicht ab. Ich habe mich nur gemeldet, weil ich gern reite und die Yankees hasse. Und weil ich nicht will, daß man mir irgendwann nachts ein Bündel Petticoats vor die Türschwelle legt, damit jeder weiß, hier wohnt ein Drückeberger.« Er seufzte. »Denk dran, daß wir heute abend mit Old Princey-Prince speisen.«

»Danke, daß du mich daran erinnert hast. Ich hatte es vergessen.«

»Sag Hampton, er soll dich nicht zu lang aufhalten, weil Seine Hoheit Pünktlichkeit von uns erwartet.«

Charles lächelte, als er Sport wegführte. »Das ist richtig. In dieser Armee rangieren Dinnerparties vor der Pflicht. Ich werde auf keinen Fall vergessen, den Colonel darauf aufmerksam zu machen.«

Obwohl Camp Hampton das Biwak eines Eliteregiments war, hatte es doch unter den üblichen Mißständen zu leiden, wie Charles vierzig Minuten später auf seinem Weg ins Regimentshauptquartier bemerkte. Anstatt in den extra zu diesem Zweck ausgehobenen Gruben lag der Müll überall in der Gegend herum. Der Gestank war um so schlimmer, weil der Nachmittag windstill war.

Er sah zwei Soldaten, trunken vom billigsten Fusel, aus dem unvermeidlichen Zelt des unvermeidlichen Marketenders gestolpert kommen. Er sah drei grell gekleidete Ladies, die eindeutig keine Offiziersfrauen oder Wäscherinnen waren. Charles hatte seit Monaten mit keiner Frau mehr geschlafen, aber er war noch nicht soweit, daß er sich mit diesen Schönheiten eingelassen hätte; jetzt, wo im Lager soviel über Tripper gejammert wurde.

Er kam an zwei jungen Gentlemen vorbei, deren Gruß so kurz war, daß es fast schon an Beleidigung grenzte. Noch ehe Charles ebenfalls salutiert hatte, stritten die Männer bereits wieder über den Preis eines Ersatzmannes, wenn einem selbst eine Wache ungelegen kam. Fünfundzwanzig Cents pro Woche war der übliche Betrag.

Das nächste Ärgernis begegnete ihm, als er an einen großen Pavillon gelangte, dessen Seiten wegen der starken Hitze und der Feuchtigkeit nach dem Regen hochgeschlagen waren. Drinnen lagen jene, die der Krieg schon gefällt hatte, noch ehe ein Schuß gefallen war. Überall breiteten sich Krankheiten aus; schlechtes Wasser verursachte schlimme Magenkrämpfe; kleine Opiumklümpchen linderten die Schmerzen nur unwesentlich. Charles hatte die Ruhr in Texas überlebt, was ihn keineswegs davon abhielt, noch eine weitere Woche in Virginia darunter zu leiden. Nun gab es eine neue Epidemie in der Armee: die Masern.

Er wehrte sich gegen den Wunsch, daß endlich der Kampf losgehen möge, doch als er das Gelände des Hauptquartiers betrat, konnte er nicht leugnen, daß er das Lagerleben satt hatte. Vielleicht würde es gar nicht mehr lange dauern, bis sich sein Wunsch erfüllte. General Patterson hatte Joe Johnston und dessen Männer aus Harpers Ferry rausgeworfen, und das Gerücht ging um, daß McDowell demnächst mindestens dreißigtausend Mann zu der strategischen Eisenbahnkreuzung von Manassas Gap verlagern würde.

Barker, der Regimentsadjutant, hatte noch beim Colonel zu tun, und so mußte Charles warten. Plötzlich kratzte er sich. Mein Gott, er hatte sie, er hatte sie tatsächlich.

Gegen sechs kam der Captain heraus, und Charles meldete sich bei dem Colonel, den er ungemein bewunderte – Wade Hampton: ein Millionär, ein guter Führer und trotz seines Alters ein ausgezeichneter Kavallerist. »Rühren, Captain«, sagte Hampton nach den Formalitäten. »Setzen Sie sich!«

Charles nahm den Hocker vor Hamptons ordentlichem Schreibtisch, dessen eine Ecke für ein kleines Samtkästchen mit geöffnetem Deckel reserviert war. In dem Kästchen stand ein kleiner Silberrahmen, der eine Miniatur von Hamptons zweiter Frau Mary enthielt.

Der Colonel stand auf und streckte sich. Er war eine imponierende Erscheinung, über eins achtzig groß, breitschultrig und offensichtlich mit gewaltigen Kräften ausgestattet. Obwohl ein blendender Reiter, hatte er nichts übrig für diese Art von Spielchen, wie sie bei der First Virginia an der Tagesordnung waren. Dort führte Beauty Stuart das Kommando, den Charles auf der Akademie kennengelernt und sympathisch gefunden hatte. Jeb besaß Schneid, Hampton eine kraftvolle Entschlossenheit. Keiner von ihnen bezweifelte den Mut des anderen, doch ihr persönlicher Stil war so unterschiedlich wie ihr Alter, und Charles hatte gehört, daß ihre wenigen Treffen in kühler Atmosphäre verlaufen waren.

»Bedaure, daß ich nicht anwesend war, als Sie nach mir schickten, Colonel. Captain Barker wußte Bescheid. Ich brauchte ein Pferd.«

»Haben Sie eins gefunden?«

»Zum Glück ja.«

»Sehr gut. Ich würde Sie ungern für längere Zeit bei der Kompanie Q missen.« Hampton zog ein Papier aus einem Stapel auf seinem Schreibtisch. »Ich wollte Sie wegen eines weiteren Verstoßes gegen die Disziplin sprechen. Heute hat sich einer Ihrer Männer ohne Erlaubnis von der Truppe entfernt. Beim Morgenappell war er anwesend, fehlte aber beim zweiten Appell eine halbe Stunde später. Durch puren Zufall wurde er zehn Meilen von hier aufgegriffen. Ein Offizier erkannte die Uniform, hielt ihn an und fragte ihn nach seinem Ziel. Der junge Idiot sagte die Wahrheit. Er erklärte, er sei unterwegs, um an einem Pferderennen teilzunehmen.«

Charles knirschte mit den Zähnen. »Womöglich mit einigen First-Virginia-Kavalleristen?«

»Genau.« Mit den Fingerknöcheln rieb Hampton seinen buschigen Backenbart, so dunkel wie sein gewelltes Haar; der Backenbart ging nahtlos in einen prächtigen Schnurrbart über. »Das Rennen soll morgen abgehalten werden, in Sichtweite der feindlichen Linien – vermutlich um die Würze der Gefahr hinzuzufügen.« Er gab sich keine Mühe, seine Verachtung zu verbergen. »Der Soldat wurde unter Aufsicht zurückgebracht. Als Sergeant Reynolds ihn fragte, weshalb er die Truppe verlassen hatte, erwiderte er«, Hampton warf einen Blick auf das Papier, »›Ich wollte ein bißchen Spaß haben. Die First Virginia sind ein schneidiger Haufen mit guter Führerschaft. Sie wissen, die erste Pflicht eines Kavalleristen besteht darin, tapfer zu sterben.‹« Kühle, graublaue Augen richteten sich auf Charles. »Ende des Zitats.«

»Ich ahne, von welchem Mann Sie sprechen, Sir.« Der gleiche Mann, der den Unions-Gefangenen hatte töten wollen, den sie vor einigen Wochen gemacht hatten. »Cramm?«

»Richtig. Kavallerist Custom Dawkins Cramm der Dritte. Ein junger Mann aus einer reichen und bedeutenden Familie.«

»Und außerdem, der Colonel möge mir verzeihen, ein aristokratischer Splitter im Arsch.«

»Wir haben reichlich davon. Tapfere Jungs, denke ich, aber als Soldaten ungeeignet. Bis jetzt.« Der Zusatz deutete seine Absicht an, das zu ändern. Der Handrücken seiner anderen Hand klatschte auf das Papier. »Diese närrische Dummheit! ›Tapfer zu sterben‹. Das mag Stuarts Stil sein, aber ich ziehe es vor, zu siegen und zu leben. Zurück zu Cramm – ich bin ermächtigt, ein spezielles Kriegsgericht einzuberufen. Er ist jedoch Ihr Mann. Sie verdienen das Recht, die Entscheidung zu treffen.«

»Berufen Sie«, sagte Charles ohne Zögern. »Ich stelle mich zur Verfügung, wenn Sie erlauben.«

»Ich überlasse Ihnen den Vorsitz.«

»Wo ist Cramm jetzt. Sir?«

»In der Unterkunft. Er steht unter Arrest.«

»Ich denke, ich werde ihm die guten Nachrichten persönlich überbringen.«

»Tun Sie das bitte«, sagte Hampton; seine Augen straften seinen emotionslosen Ton Lügen. »Dieser Mann ist mir zu häufig unangenehm aufgefallen. Ein Exempel muß statuiert werden. McDowell wird bald losschlagen, und wir können unsere Kräfte nicht konzentrieren und den Feind überwältigen, wenn jeder einzelne Soldat das tut, was er will und wann er es will.«

»Stimmt genau, Colonel.« Charles salutierte und begab sich auf kürzestem Weg zu Gramms Zelt. Ein Soldat stand davor Wache. Ganz in der Nähe polierte Cramms schwarzer Leibdiener, alt und krumm, die Messingbeschläge eines großen Koffers.

»Corporal«, sagte Charles, »während der nächsten beiden Minuten hören und sehen Sie nichts!«

»Jawohl, Sir!«

Drinnen räkelte sich Kavallerist Custom Dawkins Cramm III. zwischen den vielen Büchern, die er mit ins Camp gebracht hatte. Er trug eine weitgeschnittene, weiße Seidenbluse – gegen die Vorschriften – und erhob sich nicht, als sein Vorgesetzter eintrat, sondern warf ihm lediglich einen verärgerten Blick zu.

»Stehen Sie auf!«

Cramm explodierte wie eine Bombe, schleuderte den teuren Band von Coleridge zu Boden. »Den Teufel werd’ ich. Ich war ein Gentleman, bevor ich mich eurer verdammten Truppe anschloß, ich bin immer noch ein Gentleman, und ich will verflucht sein, wenn ich mich weiterhin von Ihnen wie irgendein Niggersklave behandeln lasse.«

Charles packte ihn bei der eleganten Bluse und zerriß sie, als er Cramm auf die Füße stellte. »Cramm, Colonel Hampton hat mir vor fünf Minuten den Vorsitz über ein Sonderkriegsgericht übertragen. Ich werde mein Bestes tun, Ihnen die Höchststrafe zu verpassen – einunddreißig Tage harte Arbeit. Sie werden jede Minute davon ableisten, außer wir ziehen vorher gegen die Yankees los; und die werden Ihnen den Schädel wegblasen, weil Sie zu dämlich sind, um Soldat zu sein. Aber wenigstens werden Sie tapfer sterben.«

Er stieß Cramm so hart zurück, daß der junge Mann gegen sein Bibliotheksschränkchen knallte und im Fallen die hintere Zeltstange umriß. Auf einem Knie, die Stange umklammernd, funkelte ihn Cramm an. »Wir hätten einen Gentleman zu unserem Captain wählen sollen. Beim nächsten Mal werden wir das nachholen.« Mit rotem Gesicht marschierte Charles hinaus.

»Jetzt kommt’s, Gentlemen. Herrliche heiße Austern, wunderbar zubereitet, genau das Richtige für Sie.«

Mit einer umwerfenden Höflichkeit, die fast schon an Spott grenzte, beugte sich Ambrose Pells Sklave Toby vor, um kleine Appetithäppchen auf einem Silbertablett anzubieten. Toby war geholt worden, um den angeheuerten Dienern des Gastgebers behilflich zu sein; er war ungefähr vierzig, und im Gegensatz zu seiner unterwürfigen Haltung schimmerte in seinen Augen eine Art verschlagene Abneigung. Zumindest hatte Charles diesen Eindruck.

Das große, gestreifte Zelt des Gastgebers war angefüllt mit Kerzenschein und Musik – Ambrose spielte irgendein Stück von Mozart auf der besseren seiner beiden Flöten. Er spielte gut. Charles, gebadet und in sauberer Kleidung, fühlte sich jetzt schon wesentlich wohler. Der Ärger mit Cramm hatte ihn in schlechte Laune versetzt, aber die Entdeckung eines Paketes von Mont Royal hatte sie wieder vertrieben. Die Inschrift des leichten Kavalleriesäbels berührte ihn. Die mit vergoldeten Beschlägen verzierte Scheide schlug nun leicht gegen sein linkes Bein. Obwohl der Säbel nicht so praktisch war wie das in Columbia hergestellte Exemplar von Hampton, schätzte Charles ihn doch viel höher ein.

Mit einer winzigen Silbergabel rückte er der Auster zu Leibe. Er aß ein Stückchen und spülte dann mit dem ausgezeichneten Whiskey ihres Gastgebers und neuen Freundes, Pierre Serbakovsky, nach. Er und Ambrose hatten den untersetzten, großstädtischen jungen Mann während einer Zechtour durch Richmonds bessere Saloons kennengelernt.

Serbakovsky besaß den Rang eines Captains, zog es aber vor, mit ›Prinz‹ angeredet zu werden. Er gehörte zu einer Anzahl von europäischen Offizieren, die sich der Konföderation angeschlossen hatten. Der Prinz war Adjutant von Major Rob Wheat, Kommandant eines Zuavenregiments aus Louisiana mit dem Spitznamen ›Die Tiger‹. Das Regiment bestand aus dem Abschaum der Straßen von New Orleans; es gab keine Einheit in Virginia, die berüchtigter für Raub und Gewalttätigkeit gewesen wäre.

»Ich glaube, das ist genug Whiskey«, erklärte der Prinz Toby. »Frag Jules, ob der Mumm’s kühl genug ist, und falls ja, serviere ihn auf der Stelle.«

Serbakovsky hatte gern das Kommando, doch seine Art war selbst für einen Sklaven zu hochmütig. Charles beobachtete, wie Toby zweimal schluckte und im Hinausgehen die Lippen zusammenpreßte.

Er trank mehr Whiskey, um seine Schuldgefühle zu unterdrücken. Er und Ambrose sollten nicht hier beim Abendessen sitzen, sondern ihren Unteroffizieren Unterricht erteilen, wie sie es fast jeden Abend taten, damit die Unteroffiziere diese Lektionen auf dem Exerzierplatz weitergeben konnten. Ach was, dachte er dann, zum Teufel mit den Schuldgefühlen für diesen einen Abend.

Abrupt riß Ambrose die Flöte von seinen Lippen und kratzte sich heftig unter dem rechten Arm. »Verdammt noch mal, ich habe sie schon wieder.« Sein Gesicht wurde so rot wie seine Locken. Er war ein heikler Mensch; das war demütigend.

Serbakovsky lehnte sich amüsiert in seinen Polsterstuhl zurück. »Erlaube mir ein Wort des Rates, mon frère«, sagte er in stark akzentgefärbtem Englisch. »Bade. So häufig du kannst, egal wie übel die Seife, wie kalt der Fluß oder wie abstoßend das Gefühl ist, nackt vor seinen Untergebenen zu stehen.«

»Ich bade, Princey. Aber die verdammten Viecher kommen immer wieder.«

»In Wahrheit gehen sie erst gar nicht weg«, sagte Charles, als Toby und der jüngere der beiden angeheuerten Diener, ein Belgier, mit einem Tablett eintraten, auf dem sich geriffelte Gläser, eine dunkle Flasche und ein Silbereimer mit gestoßenem Eis befanden, eine im Süden derart seltene Ware, daß sie gut und gern zehnmal soviel gekostet haben mochte wie der Champagner. »Sie stecken in deiner Uniform. Du mußt das Ungeziefer total loswerden.«

»Was denn, ich soll den Rock wegwerfen?«

»Und alles andere, was du trägst.«

»Und auf meine eigenen Kosten ersetzen? Verdammt will ich sein, wenn ich das tu, Charlie. Uniformen fallen unter die Zuständigkeit des Kommandanten und nicht der Gentlemen, die unter ihm dienen.«

Charles zuckte die Schultern. »Gib Geld aus oder kratz. Liegt bei dir.«

Der Prinz lachte, schnippte dann mit den Fingern. Der junge Belgier trat sofort vor, während Toby langsamer folgte. War Charles der einzige, der die Widerspenstigkeit des Sklaven bemerkte?

»Köstlich«, sagte er nach seinem ersten Schluck Champagner. »Leben alle europäischen Offiziere so?«

»Nur wenn ihre Vorfahren Reichtümer angehäuft haben, mit Methoden, die man besser unerwähnt läßt.«

Charles mochte Serbakovsky, dessen Geschichte ihn faszinierte. Der Großvater des Prinzen väterlicherseits, ein Franzose, war als Oberst mit der Armee Bonapartes nach Rußland gezogen. Unterwegs begegnete er einer jungen russischen Aristokratin; politische Feindschaft wurde von physischer Anziehungskraft überwunden, und sie empfing ein Kind, das zur Welt kam, während der Oberst in dem grausamen Winterrückzug zugrunde ging.

Serbakovskys Großmutter hatte dem illegitimen Sohn ihren Nachnamen als Symbol für Familien- und Nationalstolz gegeben und nie geheiratet. Der junge Serbakovsky war seit seinem achtzehnten Geburtstag Soldat gewesen, zuerst im Lande seiner Mutter, dann in Übersee.

Vergeblich bemühte sich Ambrose, gleichzeitig zu trinken und sich zu kratzen. »Ich wünschte, wir würden endlich dieses verfluchte Camp verlassen und in den Kampf ziehen«, sagte er.

»Wünsch dir nichts, wovon du keine Ahnung hast, mein guter Freund«, sagte der Prinz, plötzlich ernst und düster; er war im Krimkrieg verwundet worden und hatte Charles von einigen der Greuel erzählt, die er dort erlebt hatte. »Es ist ohnehin ein müßiger Wunsch, glaube ich. Eure Konföderation – sie ist in der gleichen glücklichen Position wie mein Heimatland 1812.«

»Erklär das näher, Prinz«, sagte Charles.

»Einfach genug. Das Land selbst wird den Krieg für euch gewinnen. Es ist von so gewaltiger Ausdehnung, daß der Feind bald verzweifeln und jeden Gedanken an eine Eroberung aufgeben wird. Wenige oder gar keine Kämpfe werden für einen Sieg nötig sein. Das ist meine professionelle Prophezeiung.«

»Hoffentlich ist sie falsch«, sagte Charles. »Ich würde gern mal die Möglichkeit haben, das hier zu tragen, um die Kapitulation einiger Yankees entgegenzunehmen.« Er berührte die Säbelscheide. Die verschiedenen Drinks taten ihre Wirkung; sie ließen ihn vergessen, was Krieg wirklich war, und erzeugten ein angenehmes Gefühl der Unverwundbarkeit.

»Der Säbel ist ein Geschenk deines Cousins, sagtest du. Darf ich ihn mal betrachten?«

Charles zog den Säbel; die Reflexe der Kerzen liefen wie schnelle Blitze über die Klinge, als er Serbakovsky die Waffe reichte, der sie genau inspizierte. »Solingen. Sehr gut.« Er reichte die Waffe zurück. »Wunderschön. Ich würde ein wachsames Auge darauf haben. Bei diesen Louisiana-Ratten habe ich die Feststellung gemacht, daß die Soldaten in Amerika sich in nichts von den Soldaten überall in der Welt unterscheiden. Was immer gestohlen werden kann, das stehlen sie.«

In seinem Stadium der Trunkenheit schaffte es Charles, die Warnung sofort wieder zu vergessen. Auch das merkwürdige Geräusch aus dem Dunkel hinter dem Zelt nahm er kaum wahr; es konnte sich um einen Mann, vielleicht auch um mehrere Männer gehandelt haben.

21

Stanley entnahm dem auf dem schmutzigen Boden stehenden Koffer die Muster und stellte sie auf den Schreibtisch, der bis auf ein einziges Blatt Papier leer und sauber war. Die Fabrik produzierte nicht; sie war geschlossen. Ein Makler hatte die Hazards gleich nach ihrer Ankunft in der Stadt Lynn dorthin geschickt.

Der Mann hinter dem Schreibtisch war vorübergehend als eine Art Verwalter der Fabrik tätig. Er war ein kräftiger, derber Kerl, weißhaarig und ziemlich rundlich. Stanley schätzte ihn auf fünfundfünfzig. Mit einer Schnelligkeit, die verriet, daß er seinen untätigen Zustand haßte, nahm er mit je einer Hand ein Musterexemplar auf.

»Der Jefferson-Stil«, sagte er und tippte mit einem freien Finger gegen den verhältnismäßig hohen Schaft des Schuhs. »Ausgegeben an die Kavallerie ebenso wie an die Infanterie.«

»Sie verstehen Ihr Geschäft, Mr. Pennyford«, sagte Stanley mit kriecherischem Lächeln. Er traute Neuengländern nicht – Leute, die mit so komischem Akzent sprachen, konnten nicht normal sein –, aber er brauchte diesen Mann auf seiner Seite. »Ein Kontrakt für Stiefel dieser Art würde einen ausgedehnten, lukrativen Markt vorfinden. Könnten diese rostigen Maschinen da unten große Mengen dieses Stiefels produzieren? Und vor allem billig und schnell?«

»Schnell? Jaah – sobald ich einige Reparaturen habe machen lassen, die sich der jetzige Besitzer nicht leisten konnte. Billig?« Mit einem Finger schnippte er gegen eines der Muster. »Nichts könnte billiger als das hier sein. Zwei Ösen, Sohle und Oberteil nur angeheftet – « Ein Ruck seiner starken Hände trennte den rechten Schuh in zwei Hälften. »Eine Schande für alle Schuhmacher. Ich möchte nicht der arme Soldat sein, der sie bei Schlamm oder Schnee tragen muß. Wenn Washington bereit ist, solchen Schund an unsere tapferen Jungs auszugeben, dann pfui Teufel.«

»Verschonen Sie mich bitte mit Ihrer Moral«, sagte Stanley und schien dabei zu schrumpfen. »Kann die Lashbrook-Schuhfabrik diese Art von Stiefel herstellen?«

Widerwillig: »Jaah.« Er beugte sich vor, und Stanley erschrak. »Aber wir können viel Besseres leisten. Da gibt’s diesen Burschen Lyman Blake, dessen Erfindung der größte maschinelle Fortschritt ist, den ich je gesehen habe, und ich bin in der Branche, seit ich mit neun meine Lehre angefangen habe. Blakes Maschine näht Oberteil und Sohle zusammen, schnell sauber – sicher. Ein anderer Mann wird bald die Maschine herstellen. Blake fehlte es an Kapital, und so hat er seine Erfindung verkauft, aber ich wette, daß seine Erfindung innerhalb eines Jahres diese Industrie und diesen Staat wieder zum Leben erweckt.«

»Nicht ganz. Mr. Pennyford«, sagte Isabel vom Fenster her. mit einem Lächeln, das ihn an seinen Platz verweisen sollte. »Was den Wohlstand zurück nach Massachusetts und zur Schuhindustrie bringen wird, das sind ein langer Krieg und Kontrakte, die von Männern mit guten Beziehungen erreichbar sind, wie sie mein Gatte hat.«

Pennyfords Backen färbten sich dunkel wie reife Äpfel. Alarmiert sagte Stanley: »Mr. Pennyford versuchte lediglich, hilfreich zu sein, Isabel. Sie werden bleiben, nicht wahr, Dick? Und die Fabrik so weiterführen wie vor der Schließung?«

Pennyford schwieg eine ganze Weile. »Ich mache diese Art von Arbeit nicht gern, Mr. Hazard. Aber, offen gesagt, ich muß neun Kinder füttern, und in Lynn gibt es viele geschlossene Fabriken und wenige Jobs. Ich werde bleiben – unter einer Bedingung. Sie müssen mir erlauben, die Dinge so zu machen, wie ich es für richtig halte, ohne Einmischung, solange ich nur das vereinbarte Produkt in der vereinbarten Menge zum vereinbarten Zeitpunkt liefere.«

Stanley schlug auf den Schreibtisch. »Abgemacht!«

»Ich denke, der ganze Platz hier ist für ungefähr zweihunderttausend zu haben«, fügte Pennyford hinzu. »Lashbrooks Witwe braucht verzweifelt Bargeld.«

»Wir werden die Repräsentanten dieses Besitzes sofort aufsuchen.«

Praktisch ohne jedes Gefeilsche wurde der Kauf gegen Mittag des nächsten Tages abgeschlossen. Mit einem euphorischen Gefühl half Stanley Isabel in den Zug Richtung Süden. Während er in dem überhitzten Speisewagen Schinken mit Ei genoß – Isabel beschimpfte ihn stets wegen seines plebejischen Eßgeschmacks –, konnte er seine Begeisterung nicht länger für sich behalten.

»In diesem Dick Pennyford haben wir einen Schatz gefunden. Wie wär’s wenn wir nun einige dieser neuen Maschinen kaufen würden, von denen er gesprochen hat?«

»Wir sollten das sorgfältig abwägen.« Was bedeutete, daß sie das Wägen übernehmen würde. »Wir brauchen uns keine Sorgen darüber zu machen, daß unsere Schuhe haltbar sind, wir müssen lediglich genügend liefern, um Geld zu machen. Wenn die neuen Maschinen die Produktion beschleunigen – nun ja, dann vielleicht.«

»Wir werden Geld machen«, rief Stanley, gerade als der Zug schwankend um eine Kurve fuhr. Der Sommersturm ließ den Regen gegen die Scheibe neben ihrem Tisch klatschen. »Ich bin da sehr zuversichtlich.« Er schaufelte Eier in den Mund und kaute heftig. Isabel blieb nachdenklich. Sie ließ ihren gekochten Fisch unberührt und saß da, die behandschuhten Hände unter dem Kinn, die Augen auf die vorbeiziehende, trostlose Landschaft gerichtet. »Wir dürfen nicht zu beschränkt planen, Stanley.«

»Wie meinst du das?«

»Bevor wir Washington verließen, habe ich faszinierende Gerüchte gehört. Gewisse Industrielle suchen angeblich nach Möglichkeiten, im Falle eines langen Krieges mit der Konföderation Handel zu treiben.«

Stanleys Gabel klirrte auf den Teller. Sein Unterkiefer fiel herunter. »Du willst doch nicht andeuten – «

»Stell dir ein Arrangement vor«, fuhr sie mit leiser Stimme fort, »wo privat Militärschuhe gegen Baumwolle getauscht werden. Wie viele Schuhfabriken gibt es da unten im Süden? Sehr wenige oder gar keine, möchte ich wetten. Stell dir den Bedarf vor – und den Preis, den du hier oben beim Wiederverkauf für einen Ballen Baumwolle bekommen kannst. Denk an den gewaltigen Profit.«

Der Tisch drückte in Stanleys Bauch, als er sich vorbeugte und flüsterte: »Aber es wäre auch gefährlich, Isabel. Schlimmer als das, es wäre Verrat.«

»Es könnte auch eine Möglichkeit darstellen, nicht nur einen Profit, sondern ein Vermögen zu machen.« Sie tätschelte seine Hand wie eine Mutter dem etwas zurückgebliebenen Kind. »Tu es aber nicht vollkommen aus deinen Überlegungen streichen, mein Liebling.«

Das tat er nicht.

»Und iß deine Eier auf, bevor sie kalt werden.«

Das tat er.

22

Schwache Geräusche. Weit entfernt, dachte er in den ersten Sekunden, als er in die Dunkelheit hinein erwachte. Von der anderen Seite des Zeltes ertönte einer von Ambroses typischen Schnarchlauten.

Charles lag auf der rechten Seite. Seine Leinenunterwäsche war schweißgetränkt. Gerade als er Ambrose anstoßen und zum Schweigen bringen wollte, löste sich das Geräusch in identifizierbare Einzeltöne auf: Nachtinsekten und noch etwas anderes. Charles hielt den Atem an und rührte sich nicht.

Auch vom Feldbett aus konnte er den Zelteingang sehen. Offen. Ganz kurz tauchte eine Silhouette im Schein einer Wachlaterne auf. Er hörte den Eindringling atmen.

Er ist hinter dem Säbel her.

Dieser lag, in Wachstuch eingewickelt, oben auf dem kleinen Koffer am Fuße seines Bettes. Hätte einen sicheren Platz suchen sollen. Er unterdrückte das aufsteigende Furchtgefühl. Aus seiner Position war es schwer, plötzlich hochzuschnellen, aber es versuchte es. Als er auf die Füße kam, brüllte er los, in der Hoffnung, den Dieb zu verwirren und zu erschrecken.

Statt dessen weckte er Ambrose, der einen wilden Schrei ausstieß, als Charles sich auf den Schatten des Mannes stürzte, der gerade nach dem Säbel griff. »Gib her, verdammt noch mal.«

Der Dieb rammte Charles einen Ellbogen ins Gesicht. Blut spritzte aus seinem linken Nasenflügel. Er taumelte zurück, und der Dieb tauchte in der Straße der ordentlich aufgebauten Zelte unter, rannte dann nach links, weg von dem Zaunpfosten, wo die Laterne leuchtete; Charles, blutend und fluchend, hinter ihm her.

Ein bißchen was konnte er von dem Dieb erkennen. Er war schwer und trug weiße Gamaschen. Einer von Bob Wheats Tigern, bei Gott. Serbakovskys Warnung kam ihm in den Sinn. An dem Abend war er zu guter Stimmung gewesen, um die Warnung ernst zu nehmen.

Seine Arme und Beine pumpten. Blut lief über seine Oberlippe. Steine und Bodenunebenheiten schnitten schmerzhaft in seine nackten Füße, aber er kam näher. Der Dieb drehte sich um, sein Gesicht ein runder, verwaschener Fleck. Charles hörte Ambrose brüllen, gerade als er sich vorwarf und den Dieb an der Taille erwischte.

Der Mann fluchte; beide fielen sie zu Boden. Charles landete auf den Kniekehlen des Mannes. Der Dieb ließ den Säbel fallen, trat wild um sich und kämpfte sich unter Charles hervor. Ein Gamaschenstiefel stieß Charles’ Kopf zurück. Der Tiger sprang auf.

Benommen packte Charles das linke Bein des Mannes und zog ihn wieder zu Boden – zusammen mit dem gewaltigen Bowiemesser, das der Mann aus der Gürtelscheide gerissen hatte. Charles warf den Kopf zur Seite, um dem Stich zu entgehen, der ihm die ganze Backe aufgerissen hätte.

Der Tiger stieß Charles zurück. Mit dem Schädel knallte er gegen einen Stein. »Wachunteroffizier! Wachunteroffizier!« bellte Ambrose. Charles konnte längst tot sein, bis Hilfe kam; er hatte einen Blick auf den Dieb werfen können, also wäre es für den Mann sicherer, ihn als Leiche zurückzulassen.

Zwei Knie bohrten sich in Charles’ Brust. Der Dieb hatte ein rundes Gesicht, Knollennase, Schnurrbart. Er stank nach Zwiebeln und Dreck. »Verfluchter Carolina-Stutzer«, grunzte er, das Bowiemesser mit beiden Händen umklammernd; langsam wurde die Spitze nach unten gedrückt, auf Charles’ Kehle zu.

Verzweifelt stemmte sich Charles dagegen. Gott, war der Bastard stark! Er schob ein Knie in Charles’ Leistengegend und verlagerte sein Gewicht. Von Schweiß und Schmerz geblendet, merkte Charles kaum, daß die Klinge sich seinem Kinn bis auf wenige Zentimeter genähert hatte.

Fünf Zentimeter. Zwei –

»Jesus«, stöhnte Charles; Tränen traten ihm in die Augen, weil das Knie seine Hoden quetschte. Noch eine Sekunde, und das Messer würde ihm die Kehle zerfetzen. Seine linke Hand bewegte sich. Die Messerspitze fuhr nach unten. Charles fand die Haare des Diebes und zerrte. Der Mann kreischte auf, sein Angriff geriet ins Wanken. Glitschige Finger ließen das Bowiemesser los. Im Fallen schrammte es leicht über Charles’ linke Rippen. Als der Dieb aufzustehen versuchte, packte Charles das Messer und stieß es tief in dessen Oberschenkel.

Der Tiger schrie lauter. Er fiel nach hinten und landete in einem Gestrüpp, einige Yards hinter dem letzten Zelt; das Messer ragte aus seinen feinen, gestreiften Hosen. »Alles in Ordnung, Captain Main?«

Im Aufstehen nickte Charles dem Unteroffizier zu, der als erster bei ihm angekommen war; andere Männer strömten herbei und umringten ihn. Der Dieb stöhnte und schlug um sich.

»Bringen Sie ihn zum Arzt, damit sein Bein versorgt wird. Und schauen Sie zu, daß er ans andere Bein eine Kette und eine Eisenkugel bekommt, damit er nicht verschwunden ist, wenn ihn das Kriegsgericht seines Regiments erwartet.«

Der Unteroffizier fragte: »Was hat er getan, Sir?«

Mit dem nackten Handgelenk wischte sich Charles das Blut von der Nase. »Hat versucht, meinen Paradesäbel zu stehlen.« Keine Ehre unter diesen Rekruten, dachte er bitter. Vielleicht bin ich ein Narr, daß ich auf einen Krieg nach Vorschriften hoffe.

Hellwach und aufgeregt wollte Ambrose über den Vorfall reden. Charles preßte sich einen Lumpen gegen die Nase, bis die Blutung aufhörte, dann bestand er darauf, daß sie schliefen. Er war erledigt.

23

Am 1. Juli, einem Montag, kam George in Washington an. Er trug sich in seinem Hotel ein und fuhr dann mit einer Mietkutsche in eine Gegend großer Häuser auf riesigen Grundstücken. Der Fahrer zeigte ihm die Residenz, die ›der Kleine Riese‹ für so kurze Zeit bewohnt hatte. Stephen Douglas war im Juni gestorben; den Präsidenten, gegen den er im letzten Jahr noch als Gegenkandidat angetreten war, hatte er nach Kräften unterstützt.

Wohnraum war knapp in Washington. Stanley und Isabel hatten das Glück gehabt, von einer kränkelnden Witwe zu hören, die ihr Haus nicht länger halten konnte. Sie zog zu einer Verwandten, und Stanley unterschrieb einen Mietvertrag über ein Jahr. In einer Nachricht an George hatte er diese Information und die Adresse in so steifen Formulierungen mitgeteilt, daß George sicher war, daß Cameron aus Gründen der Harmonie innerhalb des Departments darauf bestanden hatte. Warum hatte der alte Bandit sich da eingemischt? dachte George irritiert. Die Nachricht hatte diese Reaktion erzwungen, er mußte einen Pflichtbesuch abstatten.

»Mächtig feines Plätzchen«, rief der Kutscher, als sie vorfuhren. ›Mächtig fein‹ war kaum die richtige Bezeichnung dafür. Stanleys Heim war ein Herrschaftshaus wie die anderen Häuser in der Nachbarschaft auch.

Ein Butler informierte ihn, daß sich Mr. und Mrs. Hazard in New England befänden. Der Diener wirkte verschlagen und herablassend. Vielleicht gab ihm Isabel Anschauungsunterricht, dachte George wohlgelaunt.

Drinnen erspähte er ungeöffnete Packkisten. Offensichtlich waren sie gerade erst eingezogen. George ließ seine Karte zurück und sprang lächelnd in die Kutsche. Kein Grund für einen zweiten Besuch; nicht bei dieser Reise.

Er aß allein im Speisesaal des Hotels. In seinem Zimmer versuchte George die neueste Ausgabe des Scientific American zu lesen, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Die für nächsten Morgen geplanten Gespräche beschäftigten ihn und machten ihn nervös.

Gegen halb zehn erreichte er das fünfstöckige Winder-Gebäude gegenüber von President’s Park. Der ursprüngliche Backsteinbau war durch einen Mörtelanstrich und einen Eisenbalkon im zweiten Stock belebt worden. Er ging an den diensttuenden Wachen vorbei, die die wichtigen Regierungsoffiziellen in ihrem Hauptquartier zu beschützen hatten; einer davon war General Scott. Beim Betreten des Gebäudes hatte man das Gefühl, als würde man an einem sonnigen Tag ins Meer tauchen. Auf der düsteren Eisentreppe bemerkte er, in welch schlechtem Zustand die Holzverarbeitung war und daß überall Farbe abblätterte.

George hielt einen Captain an und wurde durch eine weitere Tür in ein entsetzlich unordentliches Büro mit Steinfußboden gewiesen. An Reihen von Schreibtischen stellten Angestellte Papiere aus oder wühlten darin herum. Zwei Lieutenants stritten sich über das Tonmodell einer Kanone.

George und Wotherspoon hatten endlich den Fehler beim Gußprozeß entdeckt, und die Organisation der Bank lief reibungslos, also hatte er wegen seines Besuches ein reines Gewissen – obwohl ihn im Moment nur ein wilder Fluchtdrang beseelte.

Ein Bedeutsamkeit ausstrahlender Offizier mittleren Alters näherte sich. »Hazard?« George bejahte. »Der Artilleriechef ist noch nicht hier. Ich bin Captain Maynadier. Vielleicht setzen Sie sich und warten – dort, neben Colonel Ripleys Schreibtisch. Ich bedaure, keine Zeit zum Plaudern zu haben. Ich bin seit fünfzehn Jahren in diesem Department und habe es noch nie geschafft, meinen Papierkram aufzuarbeiten. Papier ist der Fluch Washingtons.«

Er trottete davon und begann einige Papierberge auf seinem Schreibtisch zu inspizieren. Irgend jemand hatte George erzählt, daß Maynadier ein Mann der Akademie war. Obwohl alle Absolventen von West Point Brüder, Freunde sein sollten, war George durchaus bereit, in diesem Fall eine Ausnahme zu machen.

Er nahm Platz. Nach zwanzig Minuten hörte er Geschrei im Vorraum.

»Colonel Ripley!«

»Wenn ich nur eine Sekunde – «

»Dürfte ich Ihnen das zeigen – «

»Hab’ keine Zeit.«

Die gereizte Stimme kündigte einen gleichfalls gereizten Lieutenant-Colonel an, einen scharfgesichtigen alten Burschen aus Connecticut, Akademiejahrgang ‘14. Der Chef des Waffenamtes trug seine offiziellen Bürden und die Last seiner Sechsundsechzig Jahre mit offensichtlichem Mißvergnügen.

»Hazard, nicht wahr?« bellte er, als George sich erhob. »Für Sie hab’ ich auch nicht viel Zeit. Wollen Sie den Job oder nicht? Bringt den Rang eines Captain, bis wir einen höheren Titularrang für Sie haben. All meine Offiziere brauchen Titularränge. Cameron will Sie hier haben, also nehm’ ich an, die Sache ist abgeschlossen, wenn Sie ja sagen.«

Hut und Handschuhe wurden dabei auf den Schreibtisch geklatscht. Seit Ripleys Eintritt hatte sich ein betontes Schweigen – Furcht? – über den Raum gesenkt.

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte der Colonel. »Die Hazard-Werke haben einen Kontrakt von diesem Department hier, nicht wahr?«

»Jawohl, Sir. Wir werden termingemäß liefern.«

»Gut. Das ist mehr, als man von den meisten unserer Lieferanten sagen kann. Nun, stellen Sie mir Fragen. Reden Sie. In einer halben Stunde haben wir im Park zu sein. Der Minister will Sie sehen, und da er mir vor zwei Monaten den Job hier gegeben hat, denke ich, wir werden hingehen.«

»Ich habe tatsächlich eine wichtige Frage, Colonel Ripley. Wie Sie wissen, bin ich von Beruf Eisenproduzent. Wie könnte ich mich da nützlich machen? Was hätte ich zu tun?«

»Beispielsweise Artilleriekontrakte überwachen. Sie leiten außerdem ein gewaltiges Werk, was vermutlich organisatorische Fähigkeiten voraussetzt. So was können wir brauchen. Schauen Sie sich den Saustall an, den ich geerbt habe«, rief er mit weit ausholender Armbewegung. »Ich würde Ihre Anwesenheit begrüßen, Hazard – solange Sie mich nicht mit neumodischem Firlefanz belästigen. Hab’ keine Zeit für solche Sachen. Erprobte Waffen sind die besten Waffen.«

Ein weiterer Stanley. Fest und unerschütterlich gegen jeden Wandel eingestellt. Das war ein eindeutig negativer Punkt. George begann zu verstehen, weshalb seine Kritiker den Colonel Ripley van Winkle nannten.

Sie diskutierten Bezahlung und Dienstantritt – Details, die er als zweitrangig betrachtete. Seine Stimmung war ebenso schlecht wie die von Ripley, als der Colonel eine Taschenuhr zu Rate zog und feststellte, daß sie sich für ihr Treffen mit Cameron verspäten würden.

Im Eiltempo durchbrachen sie die Barrikaden aus menschlichen Leibern. Verschiedene Kontraktsuchende folgten Ripley die Treppen hinab, schrill wie Möwen, die ein Fischerboot jagen.

»Erfinder«, schäumte Ripley, als sie die Avenue überquerten. »Sollte jeden von ihnen in die Irrenhäuser zurückverfrachten lassen, aus denen sie entsprungen sind.«

Eine weitere Erfindung, die den Colonel zweifellos in Wut versetzte, schwebte über den Bäumen des Präsidentenparks. Seile hielten den leeren Beobachtungskorb am Boden fest. George erkannte die Enterprise, den Ballon, den sämtliche Illustrierten letzten Monat abgebildet hatten. Hier an Ort und Stelle war er erst vor wenigen Tagen vorgeführt worden, und es hieß, Lincoln hätte sich für seinen potentiellen Einsatz als Luftaufklärer interessiert.

Ripley paradierte durch die den Ballon angaffende Menschenmenge in einer Haltung, die deutlich zum Ausdruck brachte, daß er Autorität verkörperte. Sie entdeckten Simon Cameron, der sich mit einem dreißigjährigen Mann in langem Leinenrock unterhielt. Noch ehe die Vorstellung beendet war, schüttelte der junge Mann Georges Hand.

»Dr. Thaddeus Sobieski Constantine Löwe, Sir. Eine Ehre, Sie kennenzulernen! Obwohl ich von New Hampshire komme, kenne ich ihren Namen und Ihr hohes Ansehen in der Welt der Industrie. Darf ich Ihnen meinen Plan für ein Spionagenetz aus der Luft beschreiben? Ich hoffe auf Unterstützung interessierter Bürger, damit der kommandierende General überredet werden kann – «

»General Scott wird dem Plan seine Aufmerksamkeit schenken«, unterbrach Cameron. »Sie brauchen sich nicht um weitere Vorführungen dieser Art zu kümmern.« Hinter dem Lächeln des alten Politikers steckte die Andeutung, daß sie auf Regierungsgelände auch gar nicht zugelassen würden. »Wenn Sie mich entschuldigen, Doktor, ich habe mit unserem Besucher Geschäftliches zu besprechen.«

Und damit zog er George beiseite, als wären sie schon immer politische Partner und nicht Gegner gewesen. Ripley trabte hinter ihnen her. »Haben Sie sich mit dem Colonel angenehm unterhalten, George?«

»Das hab’ ich, Herr Minister.«

»Simon. Wir sind doch alte Freunde. Hören Sie – ich weiß, daß Sie und Stanley nicht immer gut miteinander auskommen. Aber jetzt ist Krieg; persönliche Dinge müssen da im Hintergrund bleiben. Ich denke niemals an die Vergangenheit. Wer damals zu Hause für mich gearbeitet und mich gewählt hat und wer nicht – « Nach dieser listigen Einführung begann Cameron zu predigen. »Ripley benötigt dringend einen Mann für die Artilleriebeschaffung. Jemand, der die Männer der Eisenindustrie versteht, der ihre Sprache spricht.«

Er sah George an und kniff die Augen gegen das grelle Julilicht zusammen. »Wenn wir diese Nation nicht auseinanderbrechen sehen wollen, dann müssen wir alle einen Teil der Last tragen, um sie zu erhalten.«

Halt mir keine Moralpredigten, du verdammter Gauner, dachte George. Gleichzeitig reagierte er merkwürdigerweise auf den Appell.

Ripley mischte sich ein, räusperte sich. »Nun, Hazard? Irgendeine Entschuldigung?«

»Sie waren mit ihren Informationen sehr entgegenkommend, Sir. Aber ich würde mir gern alles noch mal durch den Kopf gehen lassen.«

»Das ist nur fair«, stimmte Cameron zu. »Ich freue mich, bald von Ihnen zu hören, George. Ich weiß, Ihre Entscheidung wird eine gute Nachricht sein.« Noch einmal klopfte er seinem Besucher auf die Schulter, dann eilte er davon.

In Wirklichkeit hatte sich George bereits entschieden. Er würde nach Washington kommen, aber mit einer ganzen Menge Vorbehalte als Gepäck. Er fühlte sich nicht edel, lediglich albern und, folgerichtig, ein bißchen deprimiert.

Dann mietete sich George ein Pferd und ritt hinüber zur anderen Seite des Potomac, den Anweisungen folgend, die Brett ihm gegeben hatte. Captain Farmers Kompanie konnte er nicht finden. Da seine Geschäfte es erforderten, daß er den Zug um 7 Uhr abends nahm, kehrte er widerstrebend um. Überall um die Befestigungen herum sah er Zelte und exerzierende Männer. Es erinnerte ihn an Mexiko, mit einem Unterschied: Die Soldaten, die da so ungeschickt marschierten, waren sehr jung.

24

Mehrere Tage später nahm Isabel den Tee in dem Herrschaftshaus in der I-Street ein, in einem Raum, den sie gleich bei der ersten Hausinspektion für sich beansprucht hatte. Ab vier Uhr durfte sie eine Stunde lang von niemandem gestört werden, während sie ihren Tee schlürfte und die Zeitungen las.

Es war ein tägliches Ritual, das sie in diesem Stadtlabyrinth für lebenswichtig hielt, wenn man Erfolg haben wollte. Schnell von Begriff, kannte Isabel bereits gewisse Grundsätze des Überlebens. Man war besser ausweichend als aufrichtig. Enthülle niemals deine wahre Meinung; die falsche Person könnte es hören. Auch eine gewisse Sensibilität für wechselnde Machtverhältnisse war bedeutsam. Stanley besaß ungefähr die Sensibilität eines Käselaibes.

Heute entdeckte sie die gedruckte Rede des Präsidenten vor dem Kongreß zum Unabhängigkeitstag. Hauptsächlich Wiederholungen der Kriegsursachen. Natürlich schob Lincoln die ganze Schuld auf den Süden und stellte erneut fest, daß die Konföderation keinen strategischen Grund besessen hatte, Fort Sumter einzunehmen.

Isabel haßte den affenähnlichen Mann aus dem Westen, am meisten aber verabscheute sie ihn, als sie las, daß er nach legalen Mitteln suchte, um diesen Konflikt kurz und entscheidend auszutragen.

Legal, wo er gerade Scott befohlen hatte, die Habeas-Korpus-Akte in gewissen Militärbezirken zwischen Washington und New York außer Kraft zu setzen? Die Erklärungen des Mannes waren reines Geschwätz. Er benahm sich bereits wie ein absoluter Herrscher.

Zwei Absätze der Rede erfreuten sie. Obwohl Lincoln auf einen kurzen Krieg hoffte, hatte er den Kongreß gebeten, ihm vierhunderttausend Mann zur Verfügung zu stellen. Isabel sah achthunderttausend Jefferson-Stiefel vor sich.

Weiterhin sprang der Präsident nicht sehr sanft mit den Militärakademien um:

Es verdient auch Beachtung, daß in dieser Stunde der Bewährung eine große Anzahl von Männern, die in der Armee und der Marine zu Offizieren auserwählt worden waren, ihren Abschied genommen und die Hand weggestoßen haben, die sie großgezogen hat.

Großartig. Wenn ihr selbstgefälliger Schwager erschien, dann konnte sie vielleicht aus der wachsenden Anti-West-Point-Stimmung Kapital schlagen. Als sie und Stanley aus New England zurückkehrten, hatte sie die Nachricht erwartet, daß George in die Stadt kommen würde. George blieb ein West-Point-Loyalist, aber viele einflußreiche Leute wollten diese Institution abgeschafft sehen. Die meisten, die dieses Ziel verfolgten, gehörten zu einer sich neu formierenden Clique: einer Allianz aus Senatoren. Kongreßabgeordneten und Kabinettsoffizieren vom extremen Abolitionistenflügel der Republikanischen Partei. Kate Chases Vater gehörte dazu, so hieß es, ebenso das alte Wrack aus Isabels Heimatstaat, der Kongreßabgeordnete Thad Stevens. Ihr war noch nicht klar, wie sie diese Information gegen George einsetzen würde, aber tun würde sie es auf jeden Fall. Sie wußte bereits gewisse Fakten über diese neue radikale Gruppe; zu den wichtigsten Fakten gehörte, daß der verschlagene Mr. Cameron hier nicht viel zählte.

Die Radikalen liebäugelten mit einem aggressiven Krieg und harten Bedingungen, sobald er gewonnen war. Lincoln hatte andere Ansichten, was Krieg und Sklaverei anbelangte. Er wollte nicht alle Neger befreit haben, damit sie herumwüteten und vergewaltigten und den Weißen die Stellen wegnahmen. Isabel wollte das genausowenig. Das aber hinderte sie nicht daran, die Frauen der Radikalen zu hofieren, falls ihr das einen Vorteil einbrachte.

Beim Abendessen sprach sie über Lincolns Rede. »Er sagt genau das gleiche, was wir von verschiedenen Kongreßabgeordneten gehört haben. West Point hat auf Kosten der Öffentlichkeit Verräter ausgebildet und sollte geschlossen werden. Diese Stimmung ließe sich vielleicht gegen deinen Bruder einsetzen.«

Stanleys ungewöhnlich gute Laune machte sie wütend – er hatte nicht aufgehört zu grinsen, seit er heimgekommen war –, und seine stumpfsinnige Antwort reizte sie noch mehr. »Warum sollte ich George jetzt etwas antun?«

»Hast du all seine Beleidigungen vergessen? Und die seiner Frau?«

»Nein, natürlich nicht, aber – «

»Angenommen, er kommt her und fängt an, sich breitzumachen, wie es seine Art ist?«

»Na und? Das Waffenamt ist dem Kriegsministerium unterstellt. Ich besitze einen höheren Rang als er. Und ich stehe Simon nahe, vergiß das nicht.«

Hielt der Narr das vielleicht für einen sicheren Platz? Bevor sie ihn anfahren konnte, sprach er weiter: »Genug von George. Ich habe mit der heutigen Post zwei gute Nachrichten erhalten. Diese Anwälte, die wir in Lynn beauftragt haben – absolute Scharlatane, aber sie haben den richtigen Leuten Geld zugesteckt. Der Besitztransfer wird schnell und reibungslos über die Bühne gehen. Auch von Pennyford hab’ ich gehört. Noch in diesem Monat hat er die Fabrik für den Betrieb mit Doppelschicht bereit und die Hilfskräfte sind gar kein Problem. Für jede Stelle gibt es zwei oder drei Bewerber. Kinder können wir sogar noch billiger anheuern.«

»Wie wunderbar«, sagte sie höhnisch. »Wir haben alles, was wir brauchen. Bis auf einen Kontrakt.«

Seine Hand schoß in die Tasche. »Auch den haben wir.«

Isabel war selten sprachlos, aber jetzt war sie es. Stanley reichte ihr das von einem Band zusammengehaltene Dokument, als hätte er es in der Schlacht erbeutet. »Wie – sehr schön.« Sie sagte es schwach, weil sie es nicht so meinte; er hatte den Kontrakt aus eigener Kraft erhalten. Verwandelte diese Stadt oder diese Stelle ihn in etwas, was er nie zuvor gewesen war? In einen richtigen Mann? Allein die bloße Möglichkeit war sehr verwirrend.

25

Serbakovsky war tot.

In der ersten Juliwoche legten ihn Offizierskameraden in einen schlichten Piniensarg. Zwei bärtige Männer in reichlich mit Tressen besetzten Uniformen erschienen mit einem Wagen und einem Zivilkutscher. Zwei Russen, die nur sehr gebrochen englisch sprachen, trugen einen Geleitbrief bei sich, von der Union ebenso unterzeichnet wie von der Konföderation. Die Leichtigkeit, mit der sie aufgrund einer Kurierbotschaft von Washington aus angereist waren, bestätigte, was Charles bereits häufiger gehört hatte: Die feindlichen Linien zu überwinden, egal in welcher Richtung, war keineswegs schwierig.

Der fröhliche Prinz, der dem Tod schon auf vielen Schlachtfeldern ins Auge geschaut hatte, war von einer Kinderkrankheit dahingerafft worden. Die Soldaten starben daran in epidemischen Ausmaßen. Die Opfer standen zu früh auf, glaubten, die Masern überwunden zu haben, und wurden dann von tödlichem Fieber befallen. Die Ärzte schienen hilflos.

Der Wagen quietschte in der heißen Dämmerung davon, und Ambrose und Charles gingen zum Marketender, um sich zu besaufen.

Wieder bei ihrem Zelt, erwartete sie eine unangenehme Überraschung. Toby war verschwunden, zusammen mit den besten Stiefeln seines Herrn und vielen persönlichen Habseligkeiten. Wütend marschierte Ambrose zum Hauptquartier, während Charles rein auf Verdacht zum nicht weit entfernten Lager der Tiger ritt. Und natürlich war auch das Pavillonzelt des Prinzen mitsamt dessen Dienern verschwunden.

»Ich wette mit dir um meinen Jahreslohn, daß Toby und dieses Pärchen zusammen abgehauen sind«, sagte er später zu Ambrose.

»Eindeutig. Die Belgier können so tun, als wäre Toby ihr Nigger, und ihn über den Potomac geradewegs in Old Abes Schoß schmuggeln. Der Colonel hat mir Erlaubnis gegeben, das Camp zu verlassen und mein Eigentum zurückzuholen. Aber er sagte, ich brauchte auch deine Erlaubnis.« Sein Gesichtsausdruck deutete an, daß Charles ihm die besser nicht vorenthalten sollte.

Charles sank auf sein Bett und knöpfte sein Hemd auf. Der Tod, die Diebstähle, das Warten – all das deprimierte ihn. Er glaubte nicht, daß Toby gefunden werden konnte, er war sich nicht mal sicher, ob man überhaupt den Versuch unternehmen sollte, aber er brauchte Tapetenwechsel.

»Verdammt, wenn es irgendwie geht, komm’ ich mit dir.«

»Bei Gott, Charlie, du bist ein echter weißer Mann.«

»Gleich morgen früh spreche ich mit dem Colonel«, versprach er, voller Sehnsucht nach Schlaf und Vergessen.

»Ich habe nichts dagegen, daß Sie Pell helfen«, sagte der Colonel am nächsten Morgen, »vorausgesetzt, Ihr anderer Offizier und Ihr Erster Sergeant kommen mit der Ausbildung zurecht.«

»Problemlos. Sir – obwohl ich ungern fehlen würde, wenn wir in den Kampf ziehen.«

»Ich weiß nicht, wann und ob wir kämpfen werden«, erwiderte Hampton ungewöhnlich zornig. »Niemand sagt mir irgendwas. Wenn Sie nach Norden reiten, dann sind Sie den Yankees näher als ich – vielleicht erleben Sie ein paar Aktionen. Lassen Sie sich von Captain Barker einen Paß ausstellen, und kommen Sie so schnell wie möglich zurück.«

Dunkle Ringe der Müdigkeit zeigten sich um Hamptons Augen. Tagsüber ein Regiment zu kommandieren und abends die Empfänge in Richmond zu besuchen forderte seinen Preis.

Er und Ambrose brachen um acht Uhr auf. Sport tänzelte durch den kühlen Morgen. Der Wallach war ausgeruht und gesund; dem Regiment stand Korn im Überfluß zur Verfügung, und in der Nähe des Lagers gab es reichlich Weiden.

Charles hatte sich nie für fähig gehalten, irgend jemanden oder irgend etwas tief und aufrichtig zu lieben, aber er empfand eine immer stärker werdende Zuneigung für den munteren kleinen Grauen. Er merkte es, als er für das Geld, das er normalerweise vertrank, Melasse kaufte, um sie in Sports Futter zu mischen; Melasse verlieh einem Pferd zusätzliche Energie. Er merkte es daran, daß er den Grauen eine Stunde lang mit dem weichsten Tuch abrieb, das er finden konnte; fünfzehn Minuten wären ausreichend gewesen. Vor allem merkte er es, als ein achtloser Unteroffizier zur Fütterung Sport mit den braunen Stuten der Truppe zusammenbrachte. Ein Kampf brach aus, und Charles stürzte sich zwischen die schnaubenden Pferde, um den Grauen in Sicherheit zu bringen. Er erteilte dem Unteroffizier eine Lektion und machte ihm dann klar, daß zur Fütterung niemals Stuten und Wallache zusammenkommen dürften.

Heute wehte eine milde, sanfte Brise, die Luft war einfach zu herrlich, als daß irgendwo Krieg hätte sein können. Bei kleinen Farmen forschten sie nach den Flüchtlingen; es war leicht, der Spur zu folgen. Verschiedene Patrouillen wollten ihre Pässe sehen, und Charles bestand darauf, daß sie den Pferden häufig Wasser gaben; im Sommer brauchte ein Tier mindestens zwölf Gallonen täglich.

Und weiter ritten sie, die Blue-Ridge-Berge und den Sonnenuntergang zur Linken. Als Ambrose seine monotone Version von ›Young Lochinvar‹ begann, stimmte Charles begeistert ein.

Am nächsten Morgen überschritten sie die Grenze zum Fairfax County, näherten sich Old Borys Basis bei Manassas Junction, einer kleinen Station ohne wirklichen Wert, aber von beträchtlicher strategischer Bedeutung; hier traf die vom Shenandoah kommende Manassas-Gap-Bahnlinie auf die Orange und Alexandria-Linie. Die Spur hatte sich einfach im Nichts verloren. Sie trafen niemanden, der zwei Weiße und einen Schwarzen entsprechend ihrer Beschreibung gesehen hatte. Hier oben in der Nähe von Linkumland gab es einfach zuviel winzige Sträßchen und Verstecke.

Gegen zwei sagte Charles: »Kein Sinn, weiterzureiten. Wir haben sie verloren.«

Ambrose seufzte. »Verdammt will ich sein, wenn ich es zugebe, aber ich glaube, du hast recht.« Er blinzelte in das grelle Licht. »Was hältst du von einem Halt bei dieser Farm an der Biegung? Meine Feldflasche ist leer.«

»In Ordnung, aber danach kehren wir um. Ich dachte, ich hätte vorhin eben auf diesem Kamm was Blaues aufblitzen sehen.« Er hatte keine Ahnung, wie nahe sie den Yankee-Linien waren. Zuverlässige Karten existierten nicht.

Sie ritten die letzte Viertelmeile auf das saubere, weiße Haus zu, mit dem grünen Wäldchen dahinter. Ordentliche Felder erstreckten sich nach Norden. Charles ließ Sport im Schritt gehen. »Halt scharf Ausschau, Ambrose. Da ist schon ein Besucher vor uns da.«

Er deutete mit dem Kopf zu Pferd und Buggy, die an einer Ulme angebunden waren. Als sie in den Hof einbogen und abstiegen, glaubte Charles eine Bewegung des Fenstervorhangs wahrzunehmen. Sein Nacken begann zu jucken.

Er band Sport an und ging mit seiner Schrotflinte zur Veranda hoch; seine Sporen klingelten in der Stille des Sommers. Er klopfte. Wartete. Hörte drinnen Bewegung; gedämpfte Stimmen.

»Bleib auf der Seite, und halt deine Kanone bereit«, flüsterte er. Ambrose glitt an die Wand, seine Schrotflinte schußbereit; Schweiß lief ihm übers Gesicht. Charles hämmerte gegen die Tür.

»Was zum Teufel soll das, solch einen Lärm zu machen?« sagte der ärmlich gekleidete Farmer, der schließlich öffnete. Er versperrte den Eingang, als wollte er verbergen, was immer sich im Schatten hinter ihm befand.

»Bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte Charles, sich beherrschend. »Captain Main, Wade Hampton Legion. First Lieutenant Pell und ich suchen einen flüchtenden Neger und zwei Weiße, Belgier, die möglicherweise auf ihrem Weg nach Washington hier durchgekommen sind.«

»Wie kommen Sie drauf? Die Straße führt nach Benning’s Bridge, aber es gibt noch eine Menge andere ganz in der Nähe.«

Charles, nun noch mehr auf der Hut, sagte: »Ich begreife Ihre mangelnde Höflichkeit nicht, Sir. Auf welcher Seite stehen Sie?«

»Ihrer. Aber ich hab’ zu tun.« Er trat zurück, um die Tür zu schließen.

Charles rammte seine Schulter dagegen. Der alte Mann taumelte zurück. Eine Frau stieß einen kleinen, spitzen Schrei aus, der überhaupt nicht zu ihrer Größe paßte. Eine ältere Person mit der Figur eines kleinen Walfisches verstopfte den Wohnzimmereingang, um Charles die Sicht zu verwehren, aber dafür war er zu groß.

Entsetzt sagte die Frau: »Wir sind entdeckt, Miz Barclay.«

»Wir hätten nicht versuchen sollen, ihn abzuwimmeln. Wenn er nicht gerade McDowell in Verkleidung ist, dann gehört er zu unseren Leuten.«

Die leisen, schnippischen Worte der zweiten Sprecherin verwirrten Charles für einen Moment. Sie klang, als käme sie aus Virginia, aber was er von der jungen Frau sehen konnte, wirkte eindeutig verdächtig. Ihr oberster Rock war hochgezogen, und darunter kam ein zweiter Rock zum Vorschein, krinolinversteift und in viele Taschen unterteilt, die sich alle leicht wölbten. Auf einem Stuhl sah er vier in Wachstuch gewickelte, verschnürte Päckchen. Auf einmal dämmerte es ihm, und er hätte beinahe aufgelacht. Er war noch nie einem Schmuggler begegnet, geschweige denn einem so attraktiven.

»Captain Charles Main, Ma’am. Von – «

»Der Wade Hampton Legion. Sie haben eine laute Stimme, Captain. Versuchen Sie uns die Yankees auf den Hals zu hetzen?«

Sie lächelte dabei, aber ohne Freundlichkeit. Er wußte nicht recht, was er von ihr halten sollte. Ihre Kleidung war nicht ärmlich, aber schlicht und von der Reise zerdrückt. Sie mochte ungefähr in seinem Alter sein, zehn Zentimeter kleiner, mit breiten Hüften, einem vollen Busen, blauen Augen und blonden Locken; eine junge Frau, die es fertigbrachte, gleichzeitig robust und verdammt hübsch auszusehen. Für wenige Sekunden fühlte er sich leichtherzig und beschwingt wie ein Junge. Dann erinnerte er sich an seine Pflichten.

»Ich stelle besser die Fragen, Ma’am. Darf ich Ihnen First Lieutenant Pell vorstellen?« Ambrose betrat das Wohnzimmer. Der alte Mann duckte sich neben seine Frau.

»Ich hab’ gesehen, wie er sich im Flurspiegel bewundert hat. Ich hätte Sie für Jungs aus South Carolina gehalten, auch wenn Sie es nicht verkündet hätten.«

»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Mrs. Augusta Barclay aus Spotsylvania County. Meine Farm liegt in der Nähe von Fredericksburg, falls Sie das was angeht.«

Er fing an: »Aber dies hier ist Fairfax – «

»Meine Güte. Ein Spezialist in Geographie, ebenso wie in schlechten Manieren.« Sie beugte sich vor, um weitere Pakete aus ihrem Unterrock zu zerren. »Ich kann keine Zeit mit Ihnen verschwenden, Captain. Ich fürchte, ein paar Reiter sind dicht hinter mir her. Yankees.« Plop! fiel das nächste Paket auf den Stuhl, und plop!

»Die Witwe Barclay war in Washington City«, sagte die Frau des Farmers. »Ein geheimer Botengang der Wohltätigkeit für – «

»Psst, kein Wort mehr«, unterbrach der alte Farmer.

»Oh, warum nicht?« fauchte die junge Frau und zerrte Päckchen heraus. »Wenn er weiß, was wir tun, dann hilft er uns vielleicht, anstatt hier wie eine prächtige Föhre herumzustehen, die darauf wartet, bewundert zu werden.«

Die blauen Augen schossen solch einen verächtlichen Blick auf Charles ab, daß er kein Wort mehr herausbrachte. An das alte Pärchen gewandt, fuhr die junge Witwe fort: »Es war ein Fehler von mir, das Rendezvous so nahe am Potomac zu arrangieren. Ich fürchtete schon, jemand wüßte Bescheid, als sie an der Brücke zehn Minuten lang meine Papiere untersuchten. Ein Sergeant bohrte mit seinen Blicken Löcher in meinen Rock und so attraktiv bin ich auch nicht.«

»Ich möchte wissen, was in den Päckchen ist«, sagte Charles.

»Chinin. In Washington massenhaft vorhanden, aber in Richmond knapp. Es wird verzweifelt benötigt werden, wenn erst mal die richtigen Kämpfe begonnen haben. Ich bin nicht die einzige Frau, die diese Arbeit verrichtet, Captain. Weit gefehlt.«

Langsam durchquerte Ambrose das Zimmer. Schönheit und Patriotismus der Witwe Barclay gefielen Charles, aber nicht ihre spitze Zunge. Sie erinnerte ihn an Billy Hazards Schwester Virgilia.

Er war ein bißchen rauh mit den beiden Alten umgesprungen. Zu der Frau sagte er: »Wenn Sie mögen, können Sie ihr natürlich helfen.« Die Frau kniete sich hinter Augusta Barclay und steckte ihren Kopf unter den oberen Rock der Witwe. Die Pakete tauchten nun doppelt so schnell auf.

An Charles gewandt, sagte die junge Frau mit dem gleichen Sarkasmus: »Wie großzügig von Ihnen. Ich meinte es ernst, als ich sagte, vielleicht werde ich verfolgt.«

»Ich will verdammt sein, wenn das nicht stimmt«, rief Ambrose vom Nordfenster. Nervös winkte er Charles heran, der über seine Schulter spähte; hinter einem Hügel, ein oder zwei Meilen die Straße hinunter, stieg Staub auf.

»Müssen Yanks sein, wenn sie so schnell reiten.« Er ließ den Vorhang fallen. Zu den mit den Päckchen kämpfenden Frauen sagte er: »Ich bedaure meine scharfen Worte, Ladies.« Er hoffte, die Witwe Barclay verstand, daß dies an ihre Person gerichtet war; ein leichtes Neigen des Kopfes deutete ein Vielleicht an. »Ich möchte diese lobenswerte Arbeit nicht zunichte machen, aber sie ist hochgradig gefährdet, wenn wir uns nicht beeilen.«

»Nur noch ein paar«, keuchte die dicke Frau. Päckchen flogen nach rechts und links.

Charles bedeutete dem Farmer, sie einzusammeln, und fragte: »Wo ist das sicherste Versteck dafür?«

»Dachstube.«

»Machen Sie das. Ambrose, geh raus, und fahr den Einspänner zwischen die Bäume. Schaffst du es nicht zurück, bevor die Reiter in Sichtweite kommen, dann bleib in Deckung. Sind Sie fertig, Mrs. Barclay?«

Sie glättete ihren obersten Rock. »Man braucht lediglich zwei Augen, um das zu beantworten, Captain.«

»Ersparen Sie mir Ihren Spott, und gehen Sie nach hinten in den Holzschuppen. Bleiben Sie drin, und geben Sie keine Silbe von sich. Falls das möglich ist.« Überraschenderweise lächelte sie über den Seitenhieb.

Der Farmer schwankte vollbeladen nach oben. Draußen quietschten Räder, als Ambrose den Einspänner fortfuhr. Augusta Barclay eilte hinaus.

Erneut rannte Charles zum Nordfenster. Er konnte nun die sich im Galopp nähernden Reiter deutlich erkennen. Ein halbes Dutzend Männer, alle dunkelblau gekleidet. Unter seiner grauen Jacke begann der Schweiß zu laufen.

Der Farmer kam wieder herunter. »Gibt es in der Küche Wasser?« fragte Charles die Frau.

»Ein Eimer und eine Schöpfkelle.«

»Füllen Sie die Schöpfkelle, und her damit. Dann verhaltet euch beide still.«

Augenblicke später schlenderte er hinaus auf die Veranda, Schrotflinte in der linken Armbeuge, Schöpfkelle in der rechten Hand. Die Reiter reagierten auf seinen Anblick, indem sie Säbel und Seitengewehre zogen. Der Lieutenant, der das Kommando führte, hielt die Hand hoch.

Der Moment, in dem Charles hätte erschossen werden können, ging so schnell vorüber, daß er es gar nicht richtig mitbekam. Er lehnte sich gegen einen der Verandapfosten; in seinen Ohren dröhnte das Hämmern seines Herzens.

26

Die Reiter drängten von der Straße heran; die leichte Brise wehte den aufgewirbelten Staub davon. Die Mündungen mehrerer Armeerevolver zeigten auf Charles’ Brust.

In der Hitze rot wie ein Apfel, dirigierte der Lieutenant sein Pferd zur Veranda. Charles trank von der Schöpfkelle, ließ dann seine Hand fallen. Er preßte seinen rechten Ärmel gegen die Rippen, um ein Zittern zu verbergen. Er hatte den jungen Unionsoffizier zuvor schon gesehen.

»Guten Tag, Sir«, sagte der Lieutenant. Seine Stimme kippte über, wurde hoch und schrill. Charles verkniff sich jedes Lachen oder Lächeln. Ein nervöser Mann oder ein gedemütigter – reagiert oft unüberlegt.

»Guten Tag«, erwiderte er mit freundlichem Nicken. Sein Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht. Vier der Yanks waren kaum alt genug, um sich rasieren zu müssen. Zwei wichen seinem Blick aus; sie stellten keine Gefahr dar.

Charles wartete und zwang so den anderen zur Vorstellung. »Zweiter Lieutenant Prevo. Georgetown Berittene Dragoner, Department von Washington, zu Ihren Diensten.«

»Captain Main, Wade-Hampton-Legion. Ihr Diener.«

»Darf ich fragen, Sir, was ein Rebellenoffizier so nahe am Potomac zu suchen hat?«

»Ich lege keinen großen Wert auf die Bezeichnung Rebell, Sir, doch die Antwort auf Ihre Frage ist simpel. Mein Negersklave, den ich aus South Carolina mitgebracht hatte, ist mir vorgestern fortgelaufen – in Richtung der gesegneten Freiheit des Yankeeterritoriums, wie ich vermute. Ich bin gerade zu dem Schluß gelangt, daß ich ihn nicht mehr erwischen werde. Die Spur ist kalt geworden.«

Der Lieutenant deutete auf die beiden angebundenen Pferde. »Wie ich sehe, haben Sie sich nicht allein auf die Verfolgung gemacht.«

»Mein Erster Lieutenant ist drinnen und schläft.« Wo zum Teufel hatte er diesen grünen Jüngling schon mal getroffen?

»Sie sagen, Ihr Niggersklave ist weggerannt?«

»Diese Rebs genießen allen Luxus, was. Lieutenant?« sagte ein bissiger Corporal mit einer gewaltigen Dragonerpistole. Damit konnte er Charles in Stücke schießen. Ein übler Bursche. Er mußte ein Auge auf ihn haben.

Charles’ Taktik bestand darin, den Corporal zu ignorieren, und so sagte er zu dem Offizier: »Ja, und ich bin verdammt ärgerlich deswegen.«

Der Corporal blieb hartnäckig. »Darum dreht sich doch der ganze Krieg, oder? Ihr Jungs wollt eure Schuhputzer nicht verlieren, oder diese Niggermädels, die Ihr jederzeit vögeln könnt.«

Der Lieutenant wollte den Unteroffizier zurechtweisen. Ehe er dazu kam, warf Charles die Schöpfkelle in den Dreck, »Lieutenant Prevo, lassen Sie Ihren Mann absteigen, dann werde ich ihm die Antwort auf seine Bemerkung geben, in einer Weise, die er versteht.« Er starrte den Corporal an, während seine Hand zum Säbelgriff fuhr. Es wäre dumm, wenn er sich in einen Kampf hineinmanövrieren würde, doch wenn sie Lunte rochen, abstiegen und überall herumschnüffelten, dann war Mrs. Barclay erledigt.

»Nicht notwendig. Sir«, sagte Prevo. »Mein Corporal wird den Mund halten.« Der Unteroffizier starrte Charles murrend an. Der Yank-Offizier entspannte sich etwas. »Ich gestehe, daß ich Ihren Gefühlen nicht verständnislos gegenüberstehe, Captain. Ich komme aus Maryland. Mein Bruder hat dort auf seiner Farm zwei Sklaven, die ebenfalls weggerannt sind. Als diese Einheit zusammengestellt wurde, weigerte sich ein Drittel der Jungs, den Eid abzulegen, und nahm den Abschied. Auch ich geriet in Versuchung. Da ich es nicht tat, habe ich meine Pflicht zu erfüllen.« Wieder wechselte seine Stimmung. »Aber ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß wir uns schon mal begegnet sind.«

»Nicht in Maryland?« Plötzlich funkte es bei ihm. »West Point?«

»Bei Gott, das ist es. Sie waren –?«

»Jahrgang ‘57.«

»Ich fing kurz vor Ihrer Graduierung an.« Prevo machte eine Pause. »Mir hat es dort sehr gefallen. – Nun, das Geheimnis wäre geklärt. Wenn Sie uns nun entschuldigen, dann kümmern wir uns wieder um unsere Arbeit.«

»Sicher.«

»Wir verfolgen eine Schmugglerin. Wir glauben, sie hat Medizin aus dem Bezirk geschmuggelt und diesen Weg eingeschlagen. Entlang dieser Straße durchsuchen wir jede Farm.« Er machte sich daran, abzusteigen.

»Schmugglerin?« Charles hoffte, sein unterdrücktes Lachen klang überzeugend. »Sparen Sie sich die Mühe, Lieutenant. Ich bin seit einer Stunde hier, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß keine solche Person im Haus ist.«

Prevo blieb im Sattel, zögerte. Die Mündungen der Gewehre blieben auf Charles gerichtet.

»Mein Wort als Offizier und Mann der Akademie«, sagte Charles lässig und ungezwungen, was die sorgfältig eingeschränkte Wahrheit, wie er hoffte, überzeugend klingen ließ.

Sekunden vergingen. Prevo atmete tief durch. Es hatte nicht funktioniert. Was würden sie nun –?

»Captain Main, ich akzeptiere Ihr Wort und danke Ihnen für Ihre Kooperation, die Kooperation eines Gentleman. Wir haben noch viel vor uns, und Sie haben uns Zeit erspart.«

Er schob seinen Säbel in die Scheide, brüllte Befehle, und der Trupp donnerte zurück zur Straße und dann weiter nach Süden. Das enttäuschte Gesicht des Corporals tauchte im Staub unter. Charles hob die Schöpfkelle auf und lehnte sich gegen den Pfosten, vor Erleichterung ganz benommen.

27

Charles wartete zehn Minuten, für den Fall, daß die Soldaten zurückkehrten, dann rief er Augusta Barclay zu, sie könne aus ihrem Versteck kommen, und pfiff hinüber zum Wäldchen nach Ambrose. »Laß den Buggy dort. Diese Yankees könnten den gleichen Weg zurück nehmen.«

»Ich vermute, Ihre Beredsamkeit war sehr überzeugend, Captain«, sagte Augusta, während sie Holzsplitter von ihrem Rock bürstete.

»Ich gab ihnen mein Wort, daß sich keine Schmugglerin im Haus befindet.« Er schätzte die Entfernung zwischen dem weißen Gebäude und dem Holzschuppen ab. »Einer direkten Lüge bin ich um ungefähr sieben Fuß entgangen.«

»Klug von Ihnen.«

»Dieses Kompliment verschönt mir den Tag, Ma’am.«

Er wollte nicht bissig klingen, aber es kam so heraus, als die Spannung der letzten halben Stunde in ihm nachließ. Er drehte sich um und beugte sich schnell über den Wassertrog, um sich das Gesicht zu waschen. Warum zum Teufel war es ihm nicht vollkommen egal, was sie sagte oder nicht sagte?

Eine Berührung an seiner Schulter. »Captain?«

»Ja?«

»Es steht Ihnen zu, ärgerlich zu sein. Ich habe mich zuvor mehrmals im Ton vergriffen. Sie waren tapfer und haben uns einen wertvollen Dienst erwiesen. Ich schulde Ihnen Dank und eine Entschuldigung.«

»Sie schulden mir weder das eine noch das andere, Mrs. Barclay. Es ist auch mein Krieg. Und jetzt würde ich vorschlagen, Sie gehen hinein und bleiben drinnen, bis es dunkel ist.« Sie reagierte mit einem leichten Nicken und hielt mit ihren blauen Augen seinen Blick fest. Tief in sich spürte er einen unvertrauten Widerhall, beunruhigend.

Gegen vier tränkte er Sport und Ambroses Braunen, als Lärm und Staub sich nähernde Reiter ankündigten. Prevos Trupp galoppierte Richtung Norden vorbei. Der Lieutenant winkte. Charles winkte zurück. Dann waren die blauen Reiter hinter dem Haus verschwunden.

Der Farmer und seine Frau luden die Kavalleristen zum Abendessen ein. Sie stimmten zu, um so bereitwilliger, als Augusta Barclay den Vorschlag unterstützte. Charles wusch sich, gerade als die Sonne versank und die Hitze des Tages nachließ. Eine erfrischende Brise wehte durchs Haus, als sie sich zu einem schlichten Mahl niedersetzten.

Der alte Farmer versuchte schüchtern, ein Gespräch in Gang zu bringen, und sagte zu Ambrose: »Ein schönes Pferd, das Sie da reiten.«

»Jawohl, Sir. Die Reitpferde aus South Carolina sind die besten der Welt.«

»Lassen Sie das keinen Virginier hören«, meinte Augusta.

»Amen«, sagte Charles. »Ich hab’ langsam das Gefühl, gewisse Leute in diesem Teil des Landes glauben, Virginia hätte das Pferd erfunden.«

»Wir sind mächtig stolz auf Männer wie Turner Ashby und Colonel Stuart«, sagte die Frau des Farmers und reichte die Bohnen herum. Es war ihre einzige Bemerkung während des Essens.

Ambrose ließ seine zweite Kartoffel verschwinden. »Da stimme ich mit Charlie überein. Die Leute aus Virginia bringen es leicht fertig, daß man sich wie ein Außenseiter vorkommt, da benötigen sie nicht mehr als ein Wort oder einen Blick dazu.«

Augusta lächelte. »Ich kenne den Typ. Aber wie der Dichter sagte, Lieutenant, Irren ist menschlich. Vergeben göttlich.«

»Sie mögen Shakespeare, nicht wahr?« fragte Charles.

»Das tue ich, aber ich habe eben Alexander Pope zitiert, den klassischen Satiriker. Er ist mein Lieblingsschriftsteller.«

»Oh.« Seine Dummheit bereuend, spießte Charles mit seiner Gabel schnell ein Stück Schinken auf. »Die beiden verwechsle ich immer. Ich fürchte, ich komme nicht dazu, viele Gedichte zu lesen.«

»Ich besitze fast alles, was Pope je geschrieben hat«, sagte sie. »Er war unglaublich witzig und geistreich, aber in vieler Hinsicht auch sehr traurig. Er war nur knapp eins vierzig groß, mit einem deformierten Rückgrat. Er wußte über das Leben Bescheid, aber er konnte den Schmerz verdrängen, indem er sich darüber lustig machte.«

»Ich verstehe.« Die beiden gemurmelten Worte blieben in dem Schweigen hängen. Er kannte Pope nur dem Namen nach, aber nun glaubte er, die Frau besser zu kennen. Welcher Schmerz versteckte sich hinter ihrem Spott und ihren Sticheleien?

Der Farmer erkundigte sich bei Augusta, wann und wie das Chinin nach Richmond gebracht werden würde. »Morgen früh soll es von einem Mann geholt werden«, erwiderte sie.

»Nun, im leerstehenden Zimmer ist Ihr Bett gemacht«, rief die Frau aus der Küche. »Captain, bleiben Sie ebenfalls über Nacht hier? Ich kann Strohsäcke ins Wohnzimmer legen.«

Pflichtgefühl und persönliche Wünsche zogen ihn in verschiedene Richtungen. Ambrose wartete einen Hinweis seines Vorgesetzten ab, aber da nichts kam, sagte er: »Gegen eine gute Nachtruhe hätte ich nichts einzuwenden. Vor allem, wenn Sie mir erlauben, dieses Melodium im Wohnzimmer auszuprobieren.«

»Aber natürlich«, sagte der Farmer erfreut.

»Also gut«, sagte Charles. »Wir bleiben.«

Augustas Lächeln blieb zurückhaltend. Aber es schien aufrichtig gemeint.

Die Farmersfrau brachte einen Steinkrug mit ausgezeichnetem Apfelschnaps. Charles trank davon, Augusta ebenfalls. Sie saßen sich auf Stühlen gegenüber, während Ambrose mit dem alten Instrument herumexperimentierte. Bald schon stimmte er eine lebhafte Melodie an.

»Sie spielen gut«, sagte Augusta. »Ich mag diese Melodie, kenne sie aber nicht.«

»Sie heißt ›Dixie’s Land‹.«

»Letzten Herbst, als Abe zur Wahl stand, haben sie es überall im Norden gespielt«, ergänzte der Farmer. »Die Republikaner sind dazu marschiert.«

»Kann sein«, stimmte Ambrose zu. »Aber die Yankees verlieren das Lied genauso schnell, wie sie den Krieg verlieren werden. In den Camps um Richmond singt und spielt das jeder.«

Die lebhafte Musik ging weiter. Augusta sagte: »Erzählen Sie mir ein bißchen was über sich, Captain Main.«

Er wählte seine Worte mit Bedacht, auf der Hut vor ihren lächelnden Sarkasmen. Er erwähnte West Point, faßte mit wenigen Sätzen seinen Dienst in Texas, seine Freundschaft mit Billy Hazard und seine Zweifel bezüglich der Sklaverei zusammen.

»Nun, ich habe auch nie an diese Institution geglaubt. Als mein Mann vor einem Jahr starb, da stellte ich Freibriefe für seine beiden Sklaven aus. Gott sei Dank blieben sie bei mir. Sonst wäre ich gezwungen gewesen, die Farm zu verkaufen.«

»Was bauen Sie an?«

»Hafer. Tabak. Ich erledige einen Teil der Feldarbeit; mein Mann hatte mir das stets verboten, weil es nicht weiblich sei.«

Wie blond und sanft sie im Schein der Lampe aussah. Nicht weiblich? Hatte sie einen Verrückten geheiratet?

»Ihr Mann war Farmer, nehme ich an?«

»Ja. Er hat sein ganzes Leben auf dem gleichen Besitz verbracht – wie sein Vater vor ihm. Er war ein anständiger Mann, freundlich mit mir, obwohl er Büchern, Poesie, Musik sehr mißtrauisch gegenüberstand.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Sieben Monate, nachdem seine Frau gestorben war, nahm ich seinen Antrag an. Er starb auf die gleiche Weise wie sie. Influenza. Er war dreiundzwanzig Jahre älter als ich.«

»Aber auch so müssen Sie ihn geliebt haben.«

»Ich mochte ihn; geliebt hab’ ich ihn nicht.«

»Wie konnten Sie ihn dann heiraten?«

»Ah – ein weiterer Jünger des romantischen Sir Walter. Die Virginier beten ihn kaum weniger an als den Herrn und George Washington.« Schnell leerte sie ihr Glas. Das kämpferische Funkeln kehrte in ihre Augen zurück. Er hatte ein deformiertes Rückgrat. Er konnte den Schmerz verdrängen, indem er sich darüber lustig machte.

»Die Antwort auf Ihre Frage ist schlicht und unromantisch, Captain. Mein Vater und meine Mutter waren tot, und mein einziger Bruder ebenfalls. Ein Jagdunfall kostete ihn das Leben, als er sechzehn und ich zwölf war. Als Barclay mit seinem Antrag kam, dachte ich eine Stunde darüber nach und sagte dann ja.« Sie starrte in ihr leeres Glas. »Ich dachte, kein anderer würde je um meine Hand anhalten.«

»Wieso, natürlich würde jemand«, sagte er sogleich. »Sie sind eine hübsche Frau.«

Sie sah ihn an. Wie Blitze funkelten die Gefühle zwischen ihnen auf.

Ihr kleiner Mund kräuselte sich, ein Lächeln der Verteidigung, dann erhob sie sich abrupt. Ihre großen Brüste spannten den Stoff ihres Kleides. »Das ist sehr galant von Ihnen, Captain. Ich weiß, daß ich nicht hübsch bin, aber ich habe es mir immer gewünscht. Und jetzt bin ich müde. Gute Nacht.«

Er stand auf. »Gute Nacht.« Als sie außer Sicht war, sagte er zu Ambrose: »Die tollste Frau, der ich je begegnet bin.«

Ambrose legte das Akkordeon beiseite und grinste. »Laß dich nicht hinreißen, Charlie. Der Colonel wünscht, daß du dich um die Geschäfte kümmerst.«

»Sei kein Idiot«, sagte er, wie er hoffte, voller Überzeugung.

Charles schlief gut und erwachte bei Anbruch der Morgendämmerung, voll ungewohnter Energien. Seit Monaten hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt. Augusta half der Farmersfrau in der Küche, Eier und Schinken zu braten. »Guten Morgen, Captain Main.« Ihr Lächeln schien herzlich und aufrichtig. Er antwortete ebenso.

Bald saßen sie alle beim Frühstück. Ambrose reichte Charles einen noch warmen Laib Brot, als sie einen Reiter im Hof hörten. In seiner Hast stieß Charles seinen Stuhl um. Augusta, die zu seiner Rechten saß, berührte sein Handgelenk.

»Ich nehme an, es ist der Mann aus Richmond. Kein Grund zur Besorgnis.«

Ihre Finger, schnell zurückgezogen, ließen ihn innerlich erbeben. Ich benehme mich wie ein verdammter Schuljunge, dachte er, als der Farmer den Besucher einließ. Augusta starrte mit geröteten Wangen auf ihren Teller, als könnte er jeden Moment wegfliegen.

Der Mann aus Richmond kannte ihren Namen, nannte aber seinen eigenen nicht. Er war ein schlanker Mann in braunem Anzug, der wie ein Angestellter in mittleren Jahren wirkte. Er nahm die Einladung des Farmers an und zog sich einen Stuhl an den Tisch. »Das Chinin ist also hier? In Sicherheit?«

»Im Dachgeschoß«, sagte Augusta. »In Sicherheit dank der schnellen Reaktion von Captain Main und Lieutenant Pell.« Sie schilderte die gestrigen Ereignisse. Der Mann aus Richmond stattete seinen Dank ab und machte sich dann über sein Essen her. Er aß für sechs und sagte kein weiteres Wort mehr.

Charles und die Witwe unterhielten sich nun unverkrampfter als am Abend zuvor. Ihre Fragen in bezug auf Billy beantwortete er, indem er das Unglück der Hazards und Mains beschrieb, als sie sich plötzlich auf gegnerischen Seiten wiederfanden. »Unsere Familien stehen sich seit langem nahe.«

Ein sanftes Neigen ihres Kopfes. »Meine Familie ist ebenfalls durch den Krieg geteilt.«

»Ich dachte, Sie sagten, Sie hätten keine Familie mehr.«

»Keine in Spotsylvania County. Ich habe einen Onkel, den Bruder meiner Mutter, in der Armee der Union, Brigadier Jack Duncan. Er hat West Point besucht. Er graduierte 1840, wenn ich mich recht entsinne.«

»George Thomas war in dieser Klasse«, rief Charles. »Ich diente unter ihm bei der Zweiten Kavallerie. Er ist ein Virginier – «

»Der auf Seiten der Union geblieben ist.«

»Das stimmt. Mal sehen, wer ist da noch? Bill Sherman. Ein guter Freund von Thomas namens Dick Ewell – er ist auf unserer Seite General. Er hat gerade den Befehl über eine der Brigaden bei Manassas Junction erhalten.«

Ambroses Hand schoß vor und schnappte dem Kurier aus Richmond die letzte Scheibe Schinken weg. Nachdem alle fertig waren, fuhr Ambrose den Einspänner von Augusta vor, während Charles ihren Reisekoffer auf die Veranda trug.

»Werden Sie so ganz allein den restlichen Weg sicher sein?« fragte er.

»In der Tasche, die sie gerade eingeladen haben, steckt eine Pistole. Ich reise nie ohne sie.«

Nur zu gern ergriff er die Chance, ihre Hand zu nehmen und ihr auf den Sitz zu helfen. »Nun, Captain, ich möchte noch einmal meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Wenn Ihre Pflichten Sie mal nach Fredericksburg führen, bitte besuchen Sie mich. Barclays Farm liegt nur wenige Meilen außerhalb der Stadt.« Ihr fiel etwas ein. »Die Einladung gilt natürlich auch für Sie, Lieutenant Pell.«

»Oh, gewiß – ich habe es auch so aufgefaßt«, sagte er mit einem verschlagenen Seitenblick zu seinem Freund.

»Auf Wiedersehen, Captain Main.«

»Es kommt ein bißchen spät, aber sagen Sie bitte Charles zu mir.«

»Dann müssen Sie mich Augusta nennen.«

Er grinste. »Das ist ziemlich formell. In West Point hatten wir Spitznamen. Wie wär’s mit Gus?«

Er hatte es einfach so dahingesagt. Sie richtete sich auf, als hätte man sie mit einem heißen Eisen berührt.

»Rein zufällig hat mein Bruder diesen Namen benutzt. Ich habe ihn verabscheut.«

»Warum denn? Er paßt zu Ihnen. Gus würde auf ihren eigenen Feldern arbeiten, was ich bei Augusta bezweifle.«

»Auf Wiedersehen, Captain.«

»Warten Sie«, rief er, aber die Chance zur Entschuldigung verschwand so schnell wie ihr Buggy. Sie schoß aus dem Hof und bog nach Süden ab. Ambrose näherte sich mit gespielter Betrübnis.

»Charlie, diesmal bist du aber bis zum Hals ins Fettnäpfchen getreten. War ganz schön aufgebracht, die kleine Witwe. Natürlich halte ich ein Mädel auch nicht für sehr weiblich, das eine spitze Zunge hat oder Gus heißt, was das anbelangt.«

»Halt bloß die Klappe, Ambrose. Ich sehe sie ohnehin nie wieder, also was soll’s? Zum Teufel mit ihr.«

Er sattelte Sport, grüßte die Farmersleute und galoppierte Richtung Süden davon. Ambrose mußte seinem Braunen die Sporen geben, bloß um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Nach ungefähr fünf Meilen beruhigte sich Charles allmählich und verlangsamte sein Tempo. Trotz allem, er wünschte, er könnte sie wiedersehen, die Dinge in Ordnung bringen. Aber das stand außer Frage, nicht jetzt, wo eine Schlacht sich abzeichnete. Vielleicht ließ sich die ganze Angelegenheit mit einem einzigen, gewaltigen Schlag bereinigen (die Handlungsweise von Lieutenant Prevo hatte seinen Glauben an die Möglichkeit eines Krieges unter Gentlemen wieder hergestellt), und dann konnte er die junge Witwe aufsuchen, an die er unseligerweise nur in Verbindung mit dem Namen Gus denken konnte.

28

Der 13. Juli fiel auf einen Samstag. Einen Tag blieb Constance noch, um mit dem Packen für die Reise nach Washington fertig zu werden.

Mit offensichtlichem Widerstreben war George bereits Anfang der Woche gefahren. Die Nacht vor seiner Abfahrt hatte er rast- und ruhelos verbracht; schließlich war er aufgesprungen und zehn Minuten weggeblieben. Mit mehreren Lorbeerzweigen von den Hügeln hinter Belvedere war er zurückgekehrt. Er schob den Lorbeer in einen Koffer, ohne jede Erklärung, aber Constance benötigte auch keine.

Brett würde den Haushalt leiten, Wotherspoon die Eisenwerke, und Georges lokaler Anwalt, Jupiter Smith, würde die Organisation der Bank vorantreiben. Alle drei hatten den Auftrag, in Notfällen sofort zu telegraphieren, also konnte Constance beruhigt fortfahren.

Doch an diesem sonnigen Samstag war sie schlecht gelaunt. Es gab zuviel zu packen, und ihre beiden besten Partykleider, die sie seit einem Monat nicht mehr angehabt hatte, paßten nicht mehr. Sie hatte es nicht bemerkt, aber in ihrer Zufriedenheit hatte sie trotz des Krieges das Leben in letzter Zeit zu sehr genossen. George hatte kein Wort darüber verloren. Doch die Beweise – das kleine Bäuchlein, die neue Fülle ihrer Schenkel – sah sie im Spiegel deutlich vor sich.

Spätmorgens betrat Bridgit zögernd das mit Gepäck übersäte Schlafzimmer. »Mrs. Hazard? Da ist«, das normalerweise offene Mädchen flüsterte und war merkwürdig blaß, »ein Besuch in der Küche, der Sie sprechen will.«

»Um Himmels willen. Bridgit, belästige mich nicht mit irgendeinem Händler, wenn ich so beschäftigt bin.«

»Ma’am, bitte. Es – es ist kein Händler.«

»Wer dann? Du benimmst dich, als hättest du Beelzebub persönlich gesehen.«

Gedämpft: »Es ist Mr. Hazards Schwester.«

Nur der plötzliche Tod von George oder einem der Kinder hätte Constance härter treffen können. Während sie mit fliegendem rotem Haar die Treppe hinabstürzte, zerbrach ihre gewohnte Ruhe. Sie war verblüfft, verwirrt, empört. Es war nicht zu fassen, daß Virgilia Hazard es wagte, nach Belvedere zurückzukehren.

Virgilia war schon immer sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht gewesen. Sie hatte sich der Abolitionistenbewegung angeschlossen und war langsam auf den extremsten Flügel abgetrieben. Sie hatte sich in aller Öffentlichkeit mit Negern gezeigt, die nicht bloß Verbündete oder Freunde, sondern ihre Liebhaber gewesen waren.

Bei einem Besuch auf Mont Royal hatte sie die Gastfreundschaft der Main-Familie verraten, indem sie einem Sklaven zur Flucht verholfen hatte. Später hatte sie mit diesem Grady in Armut in den Slums von Philadelphia zusammengelebt. Sie hatte ihrem Mann geholfen, an dem Überfall auf Harpers Ferry teilzunehmen, unter dem Kommando des berüchtigten John Brown, dessen Ansichten genauso extrem und gewalttätig waren wie ihre eigenen.

Virgilia haßte alles, was aus dem Süden kam. Bei Orrys Besuch hatte sie den Pöbel nach Belvedere geholt, und nur George und ein Revolver hatten den Mob zurückhalten können. Noch in der gleichen Nacht hatte George seiner Schwester für immer das Haus verboten. Und jetzt war sie unglaublicherweise zurückgekommen. Sie verdiente –

Stop, dachte Constance, immer noch vor der geschlossenen Küchentür stehend. Kontrolle. Mitgefühl. Versuch es. Sie glättete ihre Haarsträhnen, atmete tief durch, betete lautlos, bekreuzigte sich dann und öffnete die Tür.

Virgilias Kleid war fast so schmutzig wie ihre Reisetasche. Der Schal um ihre Schultern war durchlöchert. Wie kannst du es wagen, dachte Constance und verlor vorübergehend wieder die Fassung.

Virgilia, siebenunddreißig Jahre alt, besaß ein viereckiges Gesicht, mit einigen wenigen, aus der Kindheit zurückgebliebenen Pockennarben. In der Vergangenheit stramm und kräftig, wirkte sie nun dünn, fast abgezehrt. Ihre Haut war gelblich, und ihre Augen lagen tief in den dunklen Höhlen. Sie roch nach Schweiß und anderen abscheulichen Dingen. Constance war froh, daß Brett mit der Köchin in Lehigh Station beim Einkaufen war. Sie hätte Virgilia möglicherweise in Stücke gerissen. Constance war ebenfalls danach zumute. »Was tust du hier?«

»Darf ich auf George warten? Ich muß ihn sehen.« Wie jämmerlich ihre Stimme klang. Die ständige Arroganz, an die sich Constance voller Abscheu erinnerte, war daraus verschwunden. Sie erkannte den Schmerz und die Wunden in Virgilias Augen. Freude züngelte in ihrem Inneren wie eine Flamme hoch, ehe Scham und ihr besseres Ich sie zum Verlöschen brachten.

»Dein Bruder ist nach Washington gegangen, um für die Regierung zu arbeiten.«

»Oh.« Für einen Moment schloß sie die Augen.

»Wieso bist du hier, Virgilia?«

»Darf ich mich auf den Hocker setzen? Ich fühle mich nicht sonderlich gut.«

»Ja, gut. setz dich«, sagte Constance nach kurzem Zögern. Unwillkürlich ging sie zu dem großen Holzblock und legte ihre Hand auf das Hackmesser. Mit der Langsamkeit einer viel älteren Person sank Virgilia auf den Hocker. Mit Schrecken erkannte Constance. was sie berührte, und zog ihre Hand zurück. Draußen im Hof jubelte William auf und rannte zum Ziel, um drei Pfeile aus dem Zentrum der Zielscheibe zu ziehen.

Constance deutete auf die Reisetasche. »Hast du die im April mitgenommen? Nachdem du mein bestes Tafelsilber hineingetan hattest? Du hast der Familie in jeder nur denkbaren Weise Schande gemacht, und dann ist dir noch eine weitere Möglichkeit eingefallen. Du hast gestohlen.«

Virgilia faltete die Hände im Schoß. Wieviel Gewicht mochte sie verloren haben? Vierzig Pfund? Fünfzig? »Ich mußte leben«, sagte sie.

»Das mag ein Grund sein, eine Rechtfertigung ist es nicht. Wo bist ein seitdem gewesen?«

»An Orten, über die zu reden ich mich schäme.«

»Und doch erdreistest du dich, zurückzukommen.«

Glitzernde Tränen tauchten in Virgilias Augen auf. Unmöglich, dachte Constance. Bis auf ihren schwarzen Geliebten hatte sie nie um etwas geweint.

»Ich bin krank«, flüsterte Virgilia. »Mir ist so heiß und schwindelig, daß ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Den Weg von der Station den Hügel hoch dachte ich, ich werde ohnmächtig.« Sie schluckte, dann folgte die Erklärung für alles. »Ich weiß nicht, wo ich sonst hin könnte.«

»Wollen deine sauberen Abolitionistenfreunde dich nicht aufnehmen?«

Die hämische Bemerkung kam unbewußt, sofort gefolgt von noch mehr Scham. Virgilia war eine geschlagene Kreatur.

Nach langer Pause antwortete sie: »Nein. Nicht mehr.«

»Was willst du hier?«

»Ich will bleiben. Mich erholen. Ich wollte George bitten – «

»Ich sagte dir bereits, er hat einen Posten der Armee in Washington angenommen.«

»Dann bitte ich dich, wenn es das ist, was du willst, Constance.«

»Sei still!« Constance wirbelte herum und bedeckte die Augen. Sie war ernst, aber gefaßt, als sie sich nach einer Minute wieder zu Virgilia umdrehte. »Du kannst nur kurz bleiben.«

»Gut.«

»Höchstens ein paar Monate.«

»Ja. Ich danke dir.«

»Und George darf es nicht erfahren. Hat William dich gesehen, als du ankamst?«

»Ich glaube nicht. Ich war vorsichtig, und er war mit seinem Bogen beschäftigt.«

»Ich fahre morgen zu George und nehme die Kinder mit. Sie dürfen dich nicht sehen. Also wirst du in einem Zimmer der Dienerschaft bleiben, bis wir weg sind. Dann muß lediglich ich lügen.«

Virgilia schauderte; die Worte kamen schneidend scharf. Auch wenn sie sich Mühe gab, konnte Constance nicht alles unter Kontrolle halten. Sie fügte hinzu: »Wenn George dich hier entdecken sollte, würde er dich hinauswarfen.«

»Ja, ich glaube schon.«

»Brett wohnt auch hier. Während Billy in der Armee ist.«

»Ich erinnere mich. Ich bin froh, daß Billy kämpft. Und auch, daß George seinen Teil leistet. Der Süden muß vollkommen – «

Constance packte das Hackmesser und knallte die Flachseite auf den Block. »Virgilia, wenn du auch nur ein Wort von diesem ideologischen Müll von dir gibst, den du seit Jahren auf uns gekippt hast, dann werfe ich dich auf der Stelle eigenhändig raus. Andere mögen das moralische Recht haben, über Sklaverei und Sklavenbesitzer zu sprechen, aber du nicht. Du bist nicht die Richtige, um auch nur über ein einziges menschliches Wesen zu Gericht zu sitzen.«

»Tut mir leid. Ich habe gesprochen, ohne zu überlegen. Es tut mir leid. Ich werde nicht – «

»Das ist richtig, du wirst nicht. Ich werde Schwierigkeiten genug haben, Brett zu überreden, dich auf Belvedere bleiben zu lassen, während ich weg bin und sie das Haus führt. Aber wenn du meine Bedingungen in Frage stellst…«

»Nein, das tu ich nicht.«

Mit der Handfläche schlug sie auf den Block. »Du mußt jede einzelne akzeptieren.«

»Ja.«

»Oder du fliegst auf dem gleichen Weg raus, auf dem du reingekommen bist. Habe ich mich klar und verständlich ausgedrückt?«

»Ja. Ja.« Virgilia senkte den Kopf. »Ja.«

Wieder bedeckte Constance ihre Augen, immer noch verwirrt, immer noch zornig. Virgilias Schultern begannen zu beben. Sie weinte, zuerst fast lautlos, dann lauter. Es war eine Art Wimmern; wie ein Tier. Auch Constance fühlte sich benommen und schwindelig, als sie zur Hintertür eilte, um sich zu vergewissern, daß sie fest verschlossen war und ihr Sohn nichts hörte.

29

»Fordere ich euch beide auf, so wie ihr Zeugnis ablegen werdet am Tage des Jüngsten Gerichts – «

Die Stimme von Reverend Mr. Saxton, Pfarrer der Episkopalgemeinde, wurde plötzlich von anderen Stimmen übertönt. Orry, der in seinem besten und vor allem wärmsten Anzug neben Madeline stand, blickte schnell zu den offenen Fenstern hinüber.

Madeline trug ein schlichtes, aber elegantes Sommerkleid aus weißem Batist. Die Sklaven hatten einen Tag frei bekommen und waren eingeladen worden, der Zeremonie von der Piazza aus beizuwohnen. Ungefähr vierzig Neger und Negerinnen hatten sich im Sonnenschein versammelt. Das Hauspersonal, das sich als höhere Kaste betrachtete und auch dementsprechend behandelt werden wollte, war im Vorraum zugelassen, obwohl dort im Moment nur noch eine einzige Person saß: Clarissa.

»– wenn einer von euch einen Hindernisgrund weiß, warum ihr nicht rechtmäßig in den heiligen Bund der Ehe – «

Der Streit draußen wurde lauter. Jemand schrie.

»– dann leget jetzt Zeugnis ab. Denn seid versichert – «

Der Pfarrer zögerte, verlor den Faden, hustete zweimal, wobei er eine Duftfahne des Sherrys verbreitete, den er zuvor in Gesellschaft der nervösen Braut und des Bräutigams getrunken hatte. Kurz vor ihrer Ankunft hier hatte Orry noch scherzend zu Madeline gesagt, daß vielleicht Francis LaMotte auftauchen könnte, um Einspruch gegen ihre Eheschließung so kurz nach Justins Beerdigung einzulegen. »Denn seid versichert – «, fuhr der Reverend Mr. Saxton fort, als das Geschrei noch stärker wurde. Ein Mann begann zu fluchen. Orry erkannte die Stimme. Mit dunkelrotem Gesicht beugte er sich zu dem Pfarrer vor.

»Entschuldigen Sie mich einen Moment.«

Seine Mutter schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, als er vorbeimarschierte, hinaus in den grellen Sonnenschein. Ein Halbkreis aus schwarzen Gesichtern umgab die Kämpfenden. Orry hörte Andy.

»Laß ihn in Ruhe, Cuffey. Er hat dir nichts getan – «

»Pfoten weg, Nigger. Er hat mich gestoßen.«

»Du hast gestoßen«, erwiderte ein Sklave namens Percival schwach.

Unbemerkt von den Zuschauern hatte sich Orry genähert und brüllte: »Schluß jetzt!«

Die Menge wich zurück, und er sah Cuffey, zerlumpt und mürrisch, breitbeinig über Percivals Beinen stehend. Der zierliche Sklave war gegen ein Wagenrad gefallen oder gestoßen worden. Andy stand einen Meter hinter Cuffey. Er trug saubere Kleidung, wie alle anderen auch. Für Mont Royal war es ein besonderer Tag. Orry ging geradewegs auf Cuffey zu.

»Heute ist mein Hochzeitstag, und ich dulde keine Störungen. Was ist hier passiert?«

»Dieser Nigger hat Schuld«, erklärte Percival und zeigte auf Cuffey. Andy half ihm noch. »Kam rein, da hatte der Prediger schon angefangen, und wir hörten alle zu. Er kam zu spät, aber er wollte besser sehen, da stieß und schob er mich.«

Cuffey saß in der Falle, was ihn noch wütender machte. Haß leuchtete in seinen Augen auf, bevor er den Blick abwandte. »Hab’ nich’ gestoßen. Hab’ mich nich’ gut gefühlt – so schwindelig. Bin bloß gestolpert, hab’ ihn umgestoßen. Hab’ mich nich’ gut gefühlt«, wiederholte er lahm.

Über die spöttischen Zurufe der anderen hinweg sagte Percival: »Hat schon Gefühle, bloß gemein und bösartig, wie an jedem anderen Tag. Sonst ist alles in Ordnung mit ihm.« Wie es das Protokoll verlangte, blickte Orry seinen Vorarbeiter an.

»Percival hat recht«, sagte Andy.

»Cuffey, schau mich an.« Als er es tat, fuhr Orry fort: »Doppelte Arbeit eine Woche lang. Die nächste Woche das Anderthalbfache. Sorg dafür, daß er es macht, Andy.«

»Werd’ ich, Mr. Orry.«

Cuffey kochte vor Wut, wagte aber nichts zu sagen. Orry wirbelte herum und stampfte zurück ins Haus.

Kurz darauf reichten er und Madeline sich die Hände, während der Pfarrer sagte: »Möget ihr in diesem Leben so zusammenleben, auf daß euch in der kommenden Welt das ewige Leben geschenkt werde. Amen.«

In ihrem Schlafzimmer griff Madeline durch die Dunkelheit nach ihm. »Meine Güte, man könnte glauben, der Bräutigam sei noch nie zuvor mit der Braut zusammengewesen.«

»Als Ehemann ist er das auch noch nicht«, sagte Orry neben ihr; seine behaarten Beine berührten ihre weichen, glatten Schenkel. Die Spitzen ihrer Brüste waren so dunkel wie ihr Haar und ihre Augen; ihr restlicher Körper war wie aus Marmor.

Sie legte beide Arme um ihn und küßte ihn. »Oh Gott, ich liebe dich so.«

»Ich liebe Sie, Mrs. Main.«

»Es ist Wirklichkeit, nicht wahr? Ich hätte nie gedacht – « Sie lachte leise. »Mrs. Main. Wie großartig das klingt.«

Ein weiterer, glühender Kuß, seine Hand an ihrer Brust.

»Tut mir leid, was heute während der Trauung passiert ist. Ich sollte Cuffey verkaufen, damit er keinen Ärger macht, wenn ich in Richmond bin.«

»Dann wird Mr. Meek da sein. Er wird schon mit ihm fertig werden.«

»Ich weiß, aber – «

»Liebling, mach dir doch nicht solche Sorgen.« Sie berührte ihn mit ihrer Hüfte; ihr Mund murmelte dicht an seinem Gesicht: »Nicht heute nacht. Ein Ehemann hat gewisse Pflichten, weißt du.«

Hinterher, schon fast im Halbschlaf, riß sie ein wilder, rauher Ton draußen in der Nacht hoch. »Guter Gott, was war das?« Wieder ertönte der Schrei, rollte als Echo davon. Unten rief ein Hausmädchen eine ängstliche Frage. Der Schrei wiederholte sich nicht.

Madeline schauderte. »Klang wie irgendein wildes Tier.«

»Es ist Panthergebrüll. Das heißt, die Imitation davon. Gelegentlich machen das die Neger, um die Weißen zu erschrecken.«

»Hier gibt es niemanden, der sowas machen würde – « Sie hielt inne und preßte sich, erneut schaudernd, gegen seinen Rücken.

30

Erregung erfüllte Washington an diesem Abend. Das Knirschen und Rumpeln von Wagen schallte durch die Stadt, der Klang donnernder Hufe, die gebrüllten Lieder der Regimenter, die zu den Virginia-Brücken marschierten. Es war Montag, der 15. Juli.

George hatte den Tag damit zugebracht, hundert persönliche Kleinigkeiten zu regeln, die zur Vorbereitung der Ankunft von Constance und den Kindern nötig schienen. Gegen halb zehn betrat er den Hauptspeisesaal bei Willard’s. Sein Bruder winkte von einem ziemlich in der Mitte stehenden Tisch.

George kam sich steif und lächerlich vor in dem Aufzug, der für Generalstabsoffiziere vorgesehen war: Goldstreifen, zusätzliche Tressen, Messingadler, schwarze Kokarde. Er hatte den billigsten vorschriftsmäßigen Säbel gekauft, eine Blechwaffe, nur gut zu Dekorationszwecken. Das machte nichts, er würde ihn ohnehin so selten wie möglich tragen; genau wie den verdammten Hut.

Es schien merkwürdig, wieder in Uniform zu stecken. Und noch merkwürdiger, seinen eigenen Bruder in Kriegszeiten in einem Hotel zu begrüßen. George hatte eine Nachricht hinüber nach Alexandria geschickt, und sie war tatsächlich durchgekommen.

»Gott bewahre – welche Eleganz!« sagte Billy, als George sich setzte. »Und wie ich sehe, besitzen Sie einen höheren Rang als ich, Captain.«

»Kein Wort mehr davon, oder ich bringe dich zur Meldung«, knurrte George gutgelaunt. »Nächsten Monat werde ich wahrscheinlich schon Major sein. Jeder im Ministerium soll um ein oder zwei Ränge befördert werden.«

»Wie gefällt’s dir bis jetzt im Waffenamt?«

»Gar nicht.«

»Warum um alles in der Welt?«

»Wir alle müssen gelegentlich Dinge tun, die uns nicht gefallen. Ich glaube, ich kann mich im Ministerium nützlich machen. Sonst wär’ ich nicht dort.«

Sie gaben ihre Bestellung auf, und dann sagte Billy: »Vielleicht, George, bekommst du gar nicht erst die Chance, irgendwas im Ministerium zu tun. Ein schneller Schlag gegen Richmond, und alles könnte vorbei sein. McDowell marschiert heute nacht.«

George nickte: »Man müßte taub und blind sein, um das nicht zu merken. Ich bekam von Stanley eine Vorwarnung. Wir haben heute mittag zusammen gespeist.«

Billy schaute schuldbewußt drein. »Hätten wir ihn heute abend einladen sollen?«

»Ja, aber ich bin froh, daß wir es nicht getan haben. Davon abgesehen würde ihn Isabel wahrscheinlich gar nicht aus dem Haus lassen.«

George paffte an seiner Zigarre.

»Mit wie vielen Männern marschiert McDowell in Virginia ein?« fragte Billy.

»Ich hörte was von dreißigtausend.« Wieder paffte er. »Ich bin sicher, die genaue Zahl wird morgen in den Zeitungen stehen. Wir können Old Bory um Bestätigung anschreiben. Man sagte mir, er bekomme die Lokalzeitungen täglich per Kurier geliefert.«

Der Kellner brachte dampfende Schüsseln mit großen Austern in einer milchigen Brühe.

»Ich sag’ dir was«, fuhr George fort, während er seine Zigarre beiseite legte und zu löffeln begann. »Um den Krieg schneller zu beendigen, würde ich sämtliche Schwarzen bewaffnen, die vom Süden hereinströmen.«

»Du würdest ehemalige Negersklaven bewaffnen?«

Billys Empörung überraschte George. Er zuckte die Schultern. »Warum nicht? Ich denke, sie würden härter kämpfen als mancher der weißen Gentlemen, die sich hier in der Stadt herumdrücken.«

»Aber sie sind keine Bürger. Der Fall Dred Scott hat das klargestellt.«

»Stimmt – wenn du diese Entscheidung für richtig hältst. Ich tue das nicht.« Er beugte sich über den Tisch. »Billy, Sezession war das Pulver, das hochging und diesen Krieg auslöste, aber die Zündschnur dazu war die Sklaverei. Sollte es den Schwarzen nicht erlaubt sein, für ihre eigene Sache zu kämpfen?«

»Vielleicht. Ich meine, du magst politisch recht haben, aber ich kenne die Armee. Es würde zu Gewalttaten kommen, wenn du Negertruppen einführst. Der Wechsel wäre zu drastisch.«

»Du meinst, weiße Soldaten hätten kein Vertrauen zu farbigen Soldaten?«

»Ja.«

»Du eingeschlossen?«

Seine Verlegenheit hinter leichtem Trotz verbergend, erwiderte Billy: »Ja. Es mag falsch sein, aber so empfinde ich eben.«

»Dann wechseln wir vielleicht besser das Thema.«

Die restliche Mahlzeit verlief erfreulich. Hinterher gingen sie hinaus auf die Avenue, um ein vorbeimarschierendes Regiment zu beobachten.

»Paß auf dich auf, Billy«, sagte George ruhig. »Die große Schlacht kommt – vielleicht schon in der Woche.«

»Mir passiert schon nichts. Ich bin sowieso nicht sicher, ob unsere Einheit zusammen mit den anderen nach Richmond geschickt wird.«

»Wieso ist jedermann so sicher, daß wir Richmond erreichen? Die Leute benehmen sich, als würden die Rebs nur aus Narren und Stutzern bestehen. Ich kenne einige der Männer von West Point, die sich dem Süden angeschlossen haben. Die besten. Und was die Mannschaften anbelangt, die Südstaatenjungs sind an das rauhe Leben im Freien gewöhnt. Also unterschätze sie nicht. Und hör auf meinen Rat. Sei vorsichtig, um Bretts willen, wenn schon nicht aus einem anderen Grund.«

»Ich werde vorsichtig sein«, versprach Billy.

George breitete die Arme aus. Sie umarmten sich, und Billy verschwand in der Dunkelheit, dem Glitzern der Bajonette und dem Dröhnen unsichtbarer Trommeln folgend.

Constance und die Kinder kamen gut an. Sie brachten haufenweise Gepäck mit und ein Eßpaket und Lesestoff von Brett für Billy.

Patricia war ganz aufgeregt beim Anblick der Stadt; der Gedanke, im Herbst hier die Schule zu besuchen, versetzte sie in beschwingte Stimmung. Ihr Bruder, um genau zehn Monate älter, teilte ihre Begeisterung, streckte ihr aber nichtsdestoweniger die Zunge heraus, was ihm einen Klaps von seiner Mutter einbrachte.

George meinte, im Herbst könnten sie vielleicht alle schon wieder zu Hause sein. Die kommende Schlacht würde jedenfalls einen Hinweis darauf geben. Die Mietpreise für Pferde und Wagen waren in den letzten Tagen in die Höhe geschossen; Hunderte von Leuten wollten nach Virginia fahren, um die aufregenden Ereignisse von einem sicheren Aussichtspunkt aus zu genießen. Obwohl George die wahre Natur des Krieges kannte, war auch er dieser Sucht erlegen; falls sie davon Gebrauch machen wollten, hatten sie eine Kutsche zur Verfügung.

»Wenn ich dir den Preis dafür sagen würde, Constance, dann hältst du mich vielleicht für verrückt.«

Am Mittwochabend kehrte George in die Hotel-Suite zurück, nachdem er stundenlang das Chaos in Ripleys Abteilung zu bewältigen versucht hatte. Mit grimmiger Miene reichte ihm Constance eine Visitenkarte.

»Das hat jemand abgegeben, als ich beim Einkaufen war. Ich dachte, wir hätten vielleicht das Glück, von Stanley und Isabel geschnitten zu werden.«

Voller Widerwillen las er auf der Rückseite der Karte in Isabels Handschrift die Einladung zum Dinner am nächsten Abend. »Gehen wir dies eine Mal hin. damit wir’s hinter uns haben. Ansonsten laden sie uns weiterhin ein, und wir schieben das wie eine Verabredung beim Zahnarzt vor uns her.«

Constance seufzte. »Wenn du’s ertragen kannst, dann kann ich’s auch.«

George kratzte sich am Kinn. »Möchte mal wissen, womit sie diesmal angeben will?«

Mit einer ganzen Liste, wie sich herausstellte. Als Appetitanreger diente das gemietete Haus in der I-Street. Fünfzehn Minuten lang mußten sie es besichtigen. Isabel lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die wertvolle Einrichtung und sagte mitfühlend: »Ich bedaure euch wirklich, so eng, wie ihr’s im Willard habt. Wir hatten solch ein Glück, dem National zu entrinnen und dieses Haus hier zu bekommen, nicht wahr?«

»Oh, ja.« Constance befleißigte sich einer makellosen Höflichkeit. »Es war nett von dir. uns einzuladen, Isabel.«

»Vergangenes sollte vergangen bleiben – vor allem in Zeiten wie diesen.« Isabel warf den Brocken George zu, der ihn jedoch nicht schlucken mochte. Plötzlich fühlte er sich müde, künstlich und herausgeputzt – ein Spielzeugsoldat.

Beim Dinner kamen dann langsam die gewetzten Messer zum Vorschein. Stanley und Isabel ließen die Namen wichtiger Persönlichkeiten in ihr Gespräch einfließen, taten so, als wären sie mit allen sehr vertraut – Chase, Stevens, Welles, General McDowell und natürlich Cameron.

»Hast du seinen letzten Monatsbericht gesehen, George?«

»Ich bin nicht in der Position, den Bericht zu sehen. Ich lese darüber, Stanley.«

»Die Bemerkungen über die Akademie?«

»Ja.« Allein das zuzugeben erforderte Beherrschung.

»Was genau hat er denn gesagt. Lieber?« fragte Isabel.

George hörte eine Phantomtür zuknallen; er saß in ihrer Falle. »Nun, er sagte lediglich, daß die Rebellion nicht möglich gewesen wäre – zumindest nicht in diesem Ausmaß –, ohne den Verrat von Offizieren, die in West Point auf Kosten der Öffentlichkeit ausgebildet worden waren.«

Kosten der Öffentlichkeit. Verrat. »Geschwätz«, sagte er, sich nach einem kräftigeren Ausdruck sehnend.

»Erlaube mir zu widersprechen, George«, sagte Isabel. »Die gleiche Ansicht hab’ ich von vielen Frauen von Kongreß- und Kabinettsmitgliedern gehört. Selbst der Präsident brachte es in seiner Botschaft am 4. Juli zum Ausdruck.«

Stanley täuschte eine bekümmerte Miene vor, schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, deiner Schule stehen harte Zeiten bevor.«

Über die Terrine mit Schildkrötensuppe hinweg schoß George seiner Frau einen funkelnden Blick zu. Ihre Augen spiegelten seine Empfindungen, baten aber um Geduld.

Das nächste Messer wurde gezückt, als die Diener Platten mit gekochtem Fisch und Wildbret anboten. Lächelnd sagte Isabel: »Wir haben noch eine gute Nachricht. Erzähl ihnen von der Fabrik, Stanley.«

Stanley tat es, wie ein Schuljunge, der eine auswendig gelernte Lektion aufsagt.

George sagte: »Armeestiefel, ja? Ich nehme an, ihr habt bereits einen Kontrakt?«

»Das haben wir«, sagte Isabel. »Profit ist jedoch nicht der Hauptgrund, weshalb wir Lashbrook’s gekauft haben. Wir wollten unseren Teil zu den Kriegsanstrengungen leisten. Außerdem ist Stanley damit nicht mehr ausschließlich auf Hazard angewiesen, um den Hungerlohn, den das Kriegsministerium zahlt, aufzubessern. Er wird nun auf eigenen Füßen stehen.«

Mit größerer Wahrscheinlichkeit wird er in Boß Camerons Tasche stecken.

Isabel fuhr lächelnd fort: »Natürlich erwarten wir, daß Stanleys Gewinnanteil an Hazards weiterhin ausbezahlt wird.«

»Du brauchst keine Angst zu haben, daß dich irgendjemand betrügen will, Isabel.« Constance hörte das Grollen in der Stimme ihres Mannes und berührte sein Handgelenk.

»Wir dürfen nicht solange bleiben. Du sagtest, morgen wird ein anstrengender Tag.«

Falsche Höflichkeit legte sich wieder über die Tafel. Isabel war bester Stimmung, als hätte sie einen oder mehrere Trümpfe ausgespielt und gewonnen.

In der Mietkutsche, auf dem Rückweg zum Hotel, brach es aus George heraus: »Durch Stanleys Schuhkontrakt komme ich mir ebenfalls wie ein verdammter Profitgeier vor. Wir verkaufen Blech an die Navy und an das Kriegsministerium, für das ich arbeite.«

Constance tätschelte seine Hand. »Oh, ich glaube, da gibt es Unterschiede.«

Zweifelnd schüttelte George den Kopf. »Ich weiß nicht recht. Eines allerdings weiß ich mit Sicherheit. Unsere Kanonen sind ein ganzes Stück besser als Stanleys Schuhe.«

Constance lachte und umarmte ihn. »Das ist der Grund, weshalb sich Stanley möglicherweise in einen Profitgeier verwandelt, aber du wirst – immer und ewig – George Hazard bleiben.« Sie küßte ihn auf die Wange. »Wofür ich sehr dankbar bin.«

Im Hotel stellte sie mit Erleichterung fest, daß ihr Sohn sicher aus den Lagern drüben in Virginia zurückgekehrt war.

»McDowell ist auf dem Marsch«, erzählte er ihnen voller Begeisterung. »Onkel Billy sagt, wahrscheinlich werden wir Samstag oder Sonntag gegen die Rebs kämpfen.«

Stanley hatte angekündigt, hinauszufahren, um das Spektakel anzusehen. Während sie sich auszogen, besprachen George und Constance die möglichen Risiken eines solchen Ausflugs. Sie wollte fahren und hatte, sein Einverständnis voraussetzend, einen Lunchkorb bei Gautier’s bestellt.

»Also gut«, sagte er. »Wir fahren.«

In dieser Nacht schrieb Billy in sein Journal:

Heute kam mein Neffe und Namensvetter aus der Stadt herüber. Ich holte die Erlaubnis des Captains ein und nahm ihn mit zum Fairfax Courthouse, um den Anmarsch zu beobachten. Es war ein großartiger Anblick, wehende Fahnen, funkelnde Bajonette, dröhnende Trommeln. Unsere Kompanie bleibt zurück, zusammen mit den Distrikt-Truppen, was mich enttäuscht. Gleichzeitig muß ich ein gewisses Maß an Erleichterung eingestehen. Auf Schusters Rappen – diesmal fanden wir keinen Versorgungswagen – kehrten wir zum Lager zurück und kamen an Captain F.’s Zelt vorbei. Capt. F. lud William ein, unserer Messe beizuwohnen, und behandelte ihn sehr herzlich, machte ihm wegen seiner intelligenten Fragen Komplimente. William blieb, bis die Wachfeuer in der Landschaft aufleuchteten, dann bestieg er sein Mietpferd und ritt nach Washington zurück, wo, wie ich hörte, ebenfalls große Aufregung herrscht. Während ich schreibe, kann ich immer noch in der Ferne die Armee hören – Wagen, Kavallerie, singende Freiwillige und all das. Obwohl ich noch nicht in der Schlacht war und sicherlich Angst hätte, wünsch’ ich mir nun, wir wären auch dabei.

31

Brett vermißte Constance. Dieses Gefühl wurde noch dadurch verstärkt, daß eine andere Frau sie auf Belvedere ersetzt hatte. Eine Frau, die Brett verabscheute.

In den Tagen seit Constances Abfahrt hatte Brett mehrfach versucht, ihre Schwägerin in ein höfliches Gespräch zu verwickeln. Jedesmal reagierte Virgilia einsilbig. Sie benahm sich weder selbstgerecht noch verärgert, wie es vor dem Krieg stets der Fall gewesen war, hatte jedoch eine neue Methode gefunden, grob und unhöflich zu sein.

Trotzdem spürte die jüngere Frau die Verpflichtung, freundlich zu sein. Virgilia war nicht nur eine Verwandte; sie war eine verwundete Kreatur. Brett beschloß, eine neue Annäherung zu wagen.

Sie konnte sie nicht finden. Auf ihre Frage hin erwiderte eines der Hausmädchen mit offensichtlicher Abneigung: »Ich sah sie in den Turm gehen, mit der Zeitung, Mum.«

Brett kletterte die eiserne Wendeltreppe hoch, die George selbst entworfen und im Hazard-Werk hergestellt hatte. Sie trat auf den schmalen Balkon hinaus, der sich um den Turm zog. Unter ihr lagen die Lichter von Lehigh Station. »Virgilia?«

»Oh. Guten Abend.«

Sie wandte sich nicht um. Haarsträhnen flatterten in der Brise; im verblassenden Tageslicht hätte man sie für Medusa halten können. Brett sah, daß sie unterm Arm ein Exemplar vom Lehigh Station Ledger hatte, der sich nun aus patriotischen Gründen in Ledger-Union umgetauft hatte.

»Gibt es irgendwelche wichtigen Nachrichten?«

»Es heißt, in wenigen Tagen wird in Virginia eine Schlacht geschlagen.«

»Vielleicht wird uns das einen schnellen Frieden bringen.«

»Vielleicht.« Sie klang gleichgültig.

»Kommst Du zum Abendessen?«

»Ich glaube nicht.«

»Virgilia, erweise mir die Höflichkeit und schau mich an.«

Langsam gehorchte Billys Schwester; das Licht des Himmels fing sich in ihren Augen, und Brett glaubte etwas von der alten Virgilia aufblitzen zu sehen – märtyrerhaft, wütend. Dann wurden die Augen stumpf. Brett zwang sich zu einer Sanftmut, die sie nicht empfand.

»Man sieht dir an, daß du einige schreckliche Erfahrungen gemacht hast.«

»Ich liebte Grady«, sagte Virgilia. »Jedermann haßt mich, weil er ein Farbiger war. Aber ich liebte ihn.«

»Ich kann verstehen, wie verloren du dir ohne ihn vorkommen mußt.« Es war eine Lüge; es ging über ihren Horizont, wie eine weiße Hau einen Neger lieben konnte.

Virgilia versank in Selbstmitleid. »Dies hier ist mein Zuhause, und niemand will mich.«

»Du irrst dich. Constance hat dich aufgenommen. Und ich würde dir auch gern helfen.«

Endlich, die alte Virgilia, ätzend: »Wie?«

»Nun – « Verzweifelt griff Brett nach einem Strohhalm. »Als erstes müssen wir mal was mit deinem Kleid tun. Das steht dir nicht. Um genau zu sein, es ist gräßlich.«

»Warum sollte ich mir die Mühe machen? Kein Mann wird mich ansehen wollen.«

»Niemand versucht dich vor den Altar oder zu Gesellschaftsempfängen zu schleppen«, der leichte Ton brachte ihr einen weiteren harten Blick ein, »aber du fühlst dich vielleicht selbst besser, wenn du das Kleid ablegst, ein ausgiebiges Bad nimmst und dein Haar richtest. Warum soll ich dir nach dem Essen nicht bei deiner Frisur behilflich sein?«

»Weil es darauf nicht ankommt.«

Wie närrisch zu glauben, sie würde Hilfe annehmen, dachte Brett. Sie ist so verdammt undankbar wie –

Der Gedanke blieb unvollendet, als Brett die Frau betrachtete. Virgilias Haare wehten nach allen Richtungen, und ihre Schultern waren wieder runder geworden. Obwohl sie viel Gewicht verloren hatte, besaß sie immer noch einen vollen Busen. Aber er hing nach unten, wie bei einem alten Weib. Wieder fingen ihre Augen das Licht des schwindenden Tages ein. Schmerz. So viel Schmerz.

»Komm – versuchen wir’s.« Wie eine Mutter ihr Kind nahm sie Virgilia am Handgelenk. Da sie keinen Widerstand spürte, zog sie sanft.

»Es ist mir egal«, sagte Virgilia schulterzuckend. Aber sie ließ sich von der Jüngeren hineinbringen und die Eisentreppe hinabführen.

Nach dem Essen ließ Brett von zwei Mädchen heißes Wasser in einen Zuber füllen. Dann schob sie Virgilia, schlaff und widerstandslos, ins Badezimmer. »Wirf all deine Kleidung hinaus. Alles. Ich such’ dir was Neues heraus.«

Sie saß in dem düsteren Schlafzimmer – Virgilia hatte sämtliche Vorhänge zugezogen – und ließ fünf Minuten verstreichen. Nach zehn Minuten war sie nicht mehr nur irritiert, sondern alarmiert. Hatte diese Irre sich umgebracht?

Sie preßte ein Ohr gegen die Tür. »Virgilia?«

Ihr Herz hämmerte. Endlich hörte sie Geräusche. Sie trat zurück, als sich die Tür öffnete. Eine Hand hielt einen Packen Kleidung heraus, den Brett am liebsten gar nicht angefaßt hätte. Mit ausgestreckten Armen trug sie ihn hinunter.

»Verbrennt das«, sagte sie zu einem der Mädchen.

Oben legte sie ein Nachthemd aufs Bett und reichte einen Morgenrock durch die Badezimmertür. Sie drehte alle Gaslichter hoch, so daß es im Schlafzimmer hell war, als Virgilia schließlich fast scheu heraustrat, den Morgenrock fest um sich gewickelt. Haut und Haare waren feucht, aber sie war sauber.

»Du siehst großartig aus! Komm, setz dich her.«

Virgilia setzte sich auf den Stuhl, den Brett vor den großen, ovalen Spiegel gestellt hatte. Mit einem frischen Handtuch trocknete Brett Virgilias Haare – tatsächlich wie bei einem Kind – und begann dann mit einer Bürste hindurchzufahren. Sie bürstete und bürstete, während eine Uhr auf dem Kaminsims tickte. Virgilia blieb steif sitzen, starrte in den Spiegel, hatte Gott weiß welche Visionen.

Als sie mit dem Bürsten fertig war, teilte sie Virgilias Haar nach der gegenwärtigen Mode, dann wickelte sie eine Strähne um ihren Finger und drückte sie über Virgilias linkem Ohr fest. Die Prozedur wiederholte sie auf der anderen Seite. Sie hob den Rest an. Virgilia besaß wunderschöne, dichte Haarflechten. »Den Rest binden wir am Morgen mit einem Netz zusammen. Du wirst sehr modisch sein.«

Im Spiegel sah sie ihr eigenes lächelndes Gesicht über Virgilias leblosem Gesicht. Sie versuchte ihre Entmutigung zu verbergen.

»Auf dem Bett liegt ein Nachthemd. Gleich morgen früh fahren wir in die Stadt und kaufen dir neue Kleidung.«

»Ich hab’ nichts anzuziehen.«

»Wir borgen uns ein Kleid für dich.«

»Ich habe überhaupt kein Geld.«

»Macht nichts. Ich hab’ welches. Betrachte es als Geschenk.«

»Du brauchst nicht – «

»Doch, doch. Und jetzt sei still. Ich möchte, daß du dich besser fühlst. Du bist eine attraktive Frau.«

Das brachte schließlich ein Lächeln hervor – voll von verächtlichem Zweifel. Ärgerlich wandte sich Brett ab. »Schlaf gut. Bis morgen.«

Virgilia blieb regungslos sitzen, wie eine Gartenstatue. Brett kam zu dem Schluß, daß sie umsonst einen Abend geopfert hatte.

Noch lange nachdem sich die Tür geschlossen hatte, saß Virgilia mit im Schoß gefalteten Händen da. Nie hatte jemand das Wort attraktiv auf sie angewendet. Niemand hatte sie je als hübsch bezeichnet. Sie war weder das eine noch das andere, und sie wußte es. Und doch, wie sie so ihr vom Gaslicht erhelltes Bild anstarrte, sah sie eine neue, wunderbare Frau vor sich. Ein Klumpen formte sich in ihrer Kehle.

Als Brett sagte, sie wolle ihr helfen, da war Virgilias erste Reaktion Mißtrauen, dann nur noch erschöpfte Gleichgültigkeit gewesen. Nun, vor dem Spiegel, rührte sich etwas tief in ihr. Kein Glücksgefühl; dazu war sie selten fähig und jetzt schon gar nicht. Man hätte es Interesse nennen können. Neugier. Egal, was für einen Namen man dafür benutzte, es war eine kleine Knospe des Lebens, die unerwartet durch harten Boden brach.

Sie erhob sich, öffnete den Morgenrock, um sich zu betrachten.

Mit einem Korsett wären ihre Brüste gar nicht übel. Die schlimme Hungerszeit, die sie nach dem Verkauf des letzten Stücks von dem gestohlenen Tafelsilber hatte erdulden müssen, hatte sie schlank gemacht.

Sie ließ den Morgenrock fallen. Ganz plötzlich überwältigt machte sie einen kleinen Schritt nach vorn. Eine zitternde Hand kam hoch, streckte sich, berührte das wunderbare Spiegelbild. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

In dieser Nacht fand sie nur schwer Schlaf. Gegen Mitternacht zog sie die Vorhänge auf, damit das Morgenlicht sie wecken würde. Mit Nachthemd und Morgenrock bekleidet saß sie wartend im Speisezimmer, als Brett erschien.

32

Am Sonntagmorgen erwachte George um fünf. Er schlüpfte aus dem Bett – nicht unbedingt leise. Seine Aktivitäten weckten bald schon Constance und die Kinder. »Du bist aufgeregt wie ein Junge«, sagte Constance, während sie sich in ihre Kleider kämpfte.

»Ich möchte die Schlacht sehen. Die halbe Stadt rechnet damit, daß es die erste und letzte dieses Krieges ist.«

»Du auch, Pa?« fragte sein Sohn, genauso aufgekratzt und aufgeregt wie sein Vater.

»Ich würde keine Prognose wagen.« Er schnallte sich den alten Armeewaffengurt um und überprüfte, ob der Colt, Modell 1847, sicher im Halfter steckte.

»William, hol meine Reiseflasche Whiskey, und paß auf sie auf. Patricia, hilf deiner Mutter mit dem Lunchkorb. Ich hole die Kutsche.«

Patricia zog ein Gesicht. »Ich möchte lieber bleiben und lesen und die Kühe auf der Promenade füttern.«

»Komm, komm«, sagte Constance. »Dein Vater hat alle Vorbereitungen getroffen. Wir fahren.«

Und mit ihnen, wie es schien, der größte Teil der Bevölkerung von Washington. Selbst zu dieser frühen Stunde wartete eine lange Schlange von Reitern und Fahrzeugen am Stadtrand von Long Bridge, während die Wachen die Pässe kontrollierten. Endlich waren die Hazards ganz vorn angekommen. George zeigte seinen Paß vom Kriegsministerium. »Ganz schöner Verkehr heute morgen.«

»Und noch mehr vor Ihnen, Captain. Seit Stunden kommen sie schon durch.« Der Wachtposten salutierte und winkte ihre Kutsche weiter.

Sie überquerten den Fluß; George ging geschickt mit den beiden Gäulen um, die zu dem Mietwagen gehörten, der ihn unverschämte dreißig Dollar pro Tag kostete. Er hatte ohne zu protestieren bezahlt und konnte sich noch glücklich schätzen; auf der schlechten Straße waren noch viel schlimmere Vehikel unterwegs.

Der Weg war nicht gerade kurz; sie mußten ungefähr fünfundzwanzig Meilen Richtung Südwest zurücklegen, um die Armeen zu entdecken. Nach zwei bis drei Stunden Fahrt kamen sie an Maisfeldern, kleinen Farmen und baufälligen Hütten vorbei. Weiße und Schwarze beobachteten die Kavalkade gleichermaßen erstaunt.

McDowells Marsch hatte die Straße aufgerissen. Constance und die Kinder schwankten und hüpften; Patricia jammerte laut über die Unbequemlichkeit und den weiten Weg.

Ein Reiter galoppierte an der linken Seite der Kutsche vorbei. George erkannte einen Senator. Er hatte bereits drei bekannte Senatsangehörige gesehen. Sie waren immer noch einige Meilen von Fairfax entfernt, als William aufgeregt an Georges Ärmel zupfte. »Pa, hör doch!«

Inmitten all des Lärms hatte George das ferne Grollen überhört. »Das ist Artillerie.« Constance legte ihren Arm um Patricia. Georges Rückgrat kribbelte, und er erinnerte sich an Mexiko. Berstende Geschosse. Stürzende Männer. Die durchdringenden Schreie der Verwundeten; die verlorenen Schreie der Sterbenden. Er erinnerte sich an die Granate, die die Hütte an der Churubusco Road wegfegte – und den Arm seines Freundes Orry. Er schloß die Augen, um die Erinnerungen auszulöschen.

Weiter vorne schien es irgendwelche Schwierigkeiten zu geben, die Kolonne staute sich. Riesige Staubwolken wogten.

»Guter Gott, was ist das?« sagte er, als Unionstruppen in Richtung Washington anmarschiert kamen und Fahrzeuge, einschließlich der Kutsche, an den Straßenrand drängten.

»Wer seid ihr?« brüllte George einem Corporal zu, der einen hochaufgetürmten Gepäckkarren fuhr.

»Fourth Pennsylvania.«

»Ist die Schlacht vorbei?«

»Keine Ahnung, aber wir gehen heim. Unsere Verpflichtungszeit ist gestern abgelaufen.«

Der Corporal fuhr weiter, gefolgt von Haufen von daherschlendernden Freiwilligen, die viel lachten und ihre Waffen wie Spielzeuge behandelten. In mehr als einer Mündung steckten Feldblumen.

Hinter Fairfax hielten die Picknicker aus Washington auf einen dünnen blauen Dunst zu, der über der noch Meilen entfernten Kammlinie dahintrieb. Das Donnern der Artillerie wurde lauter. Gegen Mittag begann George auch das Krachen von Gewehren zu hören.

Sie fuhren durch Centreville und den Warrenton Turnpike hinunter, bis sie auf viele andere Kutschen und Pferde trafen. Ein Armeekurier galoppierte vorbei und brüllte, sie sollten besser nicht weiterfahren.

»Ich kann nichts sehen, Pa«, beschwerte sich William, als George die Pferde nach links zog, auf der Suche nach einem freien Plätzchen. Er sah so viele ausländische Uniformen und hörte so viele Fremdsprachen, daß es leicht für einen Diplomatenball gereicht hätte. Immer noch erkannte er viele Washingtoner, einschließlich Senator Trumball aus Illinois, der in großer Gesellschaft anwesend war.

Er seufzte auf, als er an einer bekannten Gruppe vorbeikam. »Guten Morgen, Stanley«, rief er und fuhr weiter. Er war dankbar, daß auf keiner Seite von Stanleys Wagen Platz war.

»Ich kann immer noch nichts sehen«, protestierte William.

»Das mag sein, aber näher gehen wir nicht heran«, sagte George. »Hier ist ein Plätzchen.« Müde und erhitzt bog er am Ende der Fahrzeugreihe ein. Auf seiner Uhr war es zehn nach eins. Ihr Ausblick auf die Schlacht bestand aus einem Panorama ferner, dichter Rauchwolken.

»Sie schießen nicht mehr.« Constance klang erleichtert, als sie die Decke ausbreitete. Konnte es schon vorbei sein? George sagte, er versuche, einige Informationen einzuholen. Zu Fuß machte er sich auf den Weg.

Er erreichte die Straße und hielt Ausschau nach jemandem, der halbwegs vertrauenswürdig aussah. Nach ein paar Minuten kam ein leichter Zweiradwagen von der Brücke über den Cub Run den Hügel hochgerattert.

Der Wagen hielt an der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein stattlicher, gutgekleideter Zivilist setzte seinen an einer Kette hängenden Kneifer auf. Unter dem Sitz holte er Schreibblock und Bleistift hervor. George überquerte die Straße.

»Sind Sie Reporter?«

»Das ist richtig, Sir.« Der korrekte britische Akzent verblüffte George. »Russell ist mein Name.« Er wartete auf eine Reaktion und fügte dann kühler hinzu: »Von der Times in London.«

»Ja, natürlich – ich habe Ihre Berichte gelesen. Sind Sie vorn gewesen?«

»Soweit es Vorsicht und Klugheit zugelassen haben.«

»Wie ist die Lage?«

»Läßt sich unmöglich mit Sicherheit feststellen, aber die Unionstruppen scheinen die Oberhand zu behalten. Ein Konföderiertengeneral hat sich in einem heißen Gefecht um ein Farmhaus nahe der Sudley Road ausgezeichnet. Ein Kavallerieposten der Union hat mir Einzelheiten mitgeteilt; der Bursche heißt – «, er blätterte zwei Seiten zurück, »– Jackson.«

»Thomas Jackson? Stammt er aus Virginia?«

»Kann ich nicht sagen, alter Junge. Wirklich – ich muß weitermachen. Beide Seiten sammeln sich gerade. Bald wird es weitergehen, kein Zweifel.«

George war überzeugt davon, daß es sich bei dem Helden im Kampf um das Farmhaus um seinen alten Freund und Klassenkameraden von West Point handeln mußte; diesen seltsamen, besessenen Virginier, mit dem ihn gemeinsame Studienzeiten und viele Gespräche in sonnigen Cantinas nach dem Fall von Mexico City verbanden. Vor dem Krieg hatte Jackson an irgendeiner Militärschule gelehrt. Selbst damals auf der Akademie hatte es zwei eindeutige Meinungen über Tom Jackson gegeben: er sei brillant und er sei verrückt.

George marschierte zu seiner Familie zurück. Gegen zwei, während sie gerade aßen, begann eine Kanonade, die den Boden erbeben ließ und William begeisterte und Patricia entsetzte. Hunderte von Zuschauern spähten durch Ferngläser, aber bis auf gelegentliche blaue Schlierenwolken gab es wenig zu sehen. Eine Stunde verging. Noch eine. Das Bellen der Handfeuerwaffen hörte nie auf. Da selbst der beste Soldat einen Vorderlader nicht öfter als viermal pro Minute abfeuern konnte, wußte George, daß hier eine große Anzahl von Männern Salven abgaben.

Plötzlich brachen aus dem Dunst, der über der Straße hing, Pferde hervor; ein Wagen tauchte auf, gefolgt von zwei weiteren. Alle rasten auf die Cub Run Brücke zu – viel zu schnell. Bei jedem Rütteln hörten die Zuschauer unsichtbare Verwundete aufschreien.

Constance beugte sich zu ihm. »George, das alles ist irgendwie nichtswürdig. Müssen wir bleiben?«

»Auf keinen Fall. Wir haben genug gesehen.«

Das fand seine Bestätigung, als eine Wagenladung Offiziere mit Pferdeschweifen an den kunstvoll verzierten Helmen sich aus der Reihe löste und auf die Straße zuhielt. Ein Offizier schwankte trunken und fiel hinaus. Der Wagen stoppte. Als seine Kameraden ihm wieder hereinhalfen, kotzte er sie voll.

»Ja, das ist eindeutig nicht – «

Ein Aufruhr unterbrach George. Ein Soldat in blauer Uniform rannte die Straße hinunter, auf die Brücke zu. Dann noch einer. Dann mehr als ein Dutzend. George hörte den ersten Mann etwas Unverständliches brüllen. Die hinter ihm warfen ihre Mützen, Tornister – Allmächtiger –, sogar ihre Musketen weg.

Dann verstand George den Schrei des Jungen auf der Brücke.

»Wir sind geschlagen. Wir sind geschlagen!«

Georges Magen verkrampfte sich. »Constance, in die Kutsche. Kinder, ihr auch. Laßt das Essen liegen.« Etwas Schreckliches lag in der pulvergeschwängerten Luft. Er schob seinen Sohn und seine Tochter hinein. »Beeilt euch.«

Sein Ton alarmierte sie. Weiter unten schwangen sich zwei Reiter in den Sattel, aber ansonsten reagierte niemand besorgt. George manövrierte die Kutsche auf die Straße zu; er sah, daß jenseits von Cub Run immer mehr Soldaten aus den rauchigen Wäldern geströmt kamen, ein Junge in Blau brüllte: »Black Horse Cavalry! Black Horse Cavalry direkt hinter uns!«

George hatte von dem gefürchteten Regiment aus Fauquier County gehört. Er schüttelte die Zügel, um die Stallgäule anzutreiben; Stanley und Isabel, an denen er gerade vorbeikam, schienen von seiner Hast verblüfft. »Ich würde mich ranhalten, wenn ihr nicht mittendrin erwischt – «

Das Jaulen einer Granate übertönte den Rest der Warnung. Sich den Hals verrenkend beobachtete George, wie eine weitere Ambulanz die Hängebrücke erreichte, kurz bevor die Granate explodierte. Die Pferde bäumten sich auf, der Wagen kippte um – die Brücke war blockiert.

Die Unionsfreiwilligen befanden sich auf der Flucht; die Brücke war unpassierbar; Ambulanzen und Versorgungswagen stauten sich in dem rauchigen Tal dahinter; und schnell wie Buschfeuer breitete sich Panik unter den Zuschauern aus.

Ein Zivilist sprang auf die Kutsche und versuchte die Zügel zu packen. Seine Fingernägel rissen Georges Handrücken blutig. George trat den Mann in die Leisten. Er fiel zu Boden.

»Black Horse, Black Horse!« schrien die rennenden Soldaten, von denen die Landstraße nun übersät war. Constance weinte leise und umklammerte die Kinder, als eine Granate rechts von ihnen im Feld explodierte. Erde regnete auf sie herab.

George zog seinen Colt, nahm ihn in die Linke und zerrte die nervösen Tiere lediglich mit der rechten Hand herum. Er hielt sich von der Landstraße fern; zu viele flüchtende Männer machten ein schnelles Vorwärtskommen unmöglich. Uniformen vermischten sich, das normale Blau mit der grellen Zuavenausrüstung – die gesamte Streitmacht der Union mußte zusammengebrochen sein.

»Festhalten«, brüllte er, während er das Gespann über ein Stoppelfeld südlich der Straße jagte. George war außer sich über die wilde Flucht, die rennenden Soldaten und die Zuschauer. Jenseits der Landstraße sah er, wie drei Frauen von zwei Zivilisten von ihrem Buggy geworfen wurden. Er hob den Colt, um auf sie zu feuern, erkannte dann die Sinnlosigkeit und ließ es bleiben.

Das grobe Geholper über die Felder fuhr ihm in schmerzhaften Stößen durch den Körper. Der Rauch ließ seine Augen tränen; Granaten explodierten dicht hinter ihnen. Er überquerte einen weiteren kleinen Fluß, und die Hinterräder der Kutsche versanken im Schlamm der Uferbank. George befahl seiner Familie auszusteigen und beorderte William ans Hinterrad. In dem Moment sah er Stanleys Gespann vorbeirasen, genau in der Mitte der Landstraße. Soldaten mußten aus dem Weg springen. Isabel erspähte die Kutsche, aber ihr angstverzerrtes Gesicht brachte deutlich zum Ausdruck, daß sie nichts und niemanden erkannte.

Ein Sergeant und zwei einfache Soldaten planschten auf das festhängende Fahrzeug zu. George bemerkte den glasigen Blick des Sergeants und war auf der Hut. Bis zu den Oberschenkeln im schlammigen Wasser stehend, spannte George den Colt.

»Helft uns schieben, oder geht zum Teufel, aber schnell!«

Der Sergeant belegte ihn mit einem Schimpfnamen und winkte seine Männer weiter. Von Schweiß fast blind stemmte sich George mit der Schulter gegen das Rad und rief seinem Sohn zu: »Stoß!«

Sie mühten sich und spannten alle Kräfte an; Constance zerrte vorn um Zaumzeug des einen Pferdes. Endlich schob sich die Kutsche aus dem Schlamm. Verdreckt, verärgert und sehr besorgt nahm George die Fahrt nach Washington wieder auf; er fragte sich, ob sie die Stadt je wiedersehen würden.

Männer und Wagen, Wagen und Männer. Das Sommerlicht wurde schwächer, und der Rauch schränkte die Sichtweite ein. Der Gestank wurde unerträglich: uringetränkte Wolle, blutende Tiere, die Eingeweide eines toten Jungen, der mit offenem Mund in einem Graben lag.

Die Wälder vor ihnen sahen unpassierbar aus; George brachte die Kutsche zurück auf die Straße. Er hörte Weinen. »Die Black Horse Cavalry hat uns in Stücke gerissen!« Wiederholt versuchten Soldaten in die Kutsche zu klettern. George gab den Colt an Constance weiter und bewaffnete sich mit der Peitsche.

Mitten auf der Straße lag ein sterbendes Pferd. Ein junger Soldat in Zuavenuniform hob plötzlich seinen Vorderlader und ließ den Kolben auf den Kopf des Pferdes krachen. Wieder und wieder. George sprang von der Kutsche. Während das Tier um sich schlug und Georges empörter Schrei ungehört verhallte, hob der Soldat seine Muskete zu einem weiteren Schlag. Tränen strömten über die tiefe Wunde an seiner Wange.

George brüllte: »Ich gebe dir den Befehl, zu – «

Der Rest ging in den geschluchzten Obszönitäten des Jungen unter. George rannte zu dem Pferd, warf einen zufälligen Blick auf den Schädel; beinahe hätte er erbrochen. Er riß den Vorderlader aus den Händen des wahnsinnigen Jungen und bedrohte ihn damit.

»Los, verschwinde. Verschwinde!«

Der Junge warf George einen leeren Blick zu, stolperte dann in den Graben hinunter und wandte sich Richtung Washington. Schnell überprüfte George die Muskete, stellte fest, daß sie geladen war, und beendete mit einem Schuß die Agonie des Pferdes.

Schwer atmend, den Geschmack von Erbrochenem im Mund, suchte er nach der Kutsche. Er erspähte Constance, am Straßenrand stehend, einen Arm um jedes Kind geschlungen und in der rechten Hand den Colt. George sah die Kutsche, vollgepackt mit Männern in blauer Uniform, auf Centreville zufahren.

»Sie haben sie genommen, George. Ich konnte nicht auf unsere eigenen Soldaten schießen.«

»Natürlich nicht. Es ist meine Schuld, ich hätte euch nicht allein lassen dürfen – Patricia, weinen hilft uns jetzt auch nicht weiter. Wir kommen schon durch. Alles wird gut werden. Gib mir den Colt. Und jetzt marschieren wir.«

In Mexiko hatte George gelernt, daß eine Schlacht unvermeidlich größer war als das Blickfeld eines einzelnen Soldaten; selbst Generale überblickten manchmal nicht das Gesamtmuster. Georges Wissen von der Schlacht bei Bull Run beschränkte sich auf das, was er als Zuschauer mitbekommen hatte. Für ihn würde Bull Run für immer aus einer endlosen Straße von Wagenwracks und weggeworfener Ausrüstung bestehen, das Bett eines blauen Sturzbachs, der nach beiden Seiten über die Ufer trat.

Constance zupfte ihn am Ärmel seiner Uniform. »George, schau dort, vor uns.«

Stanleys Kutsche lag umgekippt auf der Seite. Die Pferde waren verschwunden; wahrscheinlich gestohlen. Isabel und die Zwillinge drängten sich um Georges Bruder, der auf einem Stein saß; die gelöste Krawatte baumelte zwischen seinen Beinen. Die Hände hatte er vors Gesicht gepreßt. George kannte den Grund; vor Jahren hatte er einen ähnlichen Moment erlebt.

»Herr im Himmel, muß ich mich wieder um ihn kümmern?«

»Ich weiß, wie dir zumute ist. Aber wir können sie nicht hierlassen.«

»Warum nicht?« sagte Patricia. »Laban und Levi sind abscheulich. Sollen die Rebs sie kriegen.« Constance schlug sie, wurde rot, umarmte sie und entschuldigte sich.

George schaute Isabel nicht an, als er vor seinen Bruder trat. »Steh auf, Stanley!« Stanleys Schultern hoben und senkten sich. George packte Stanleys rechte Hand und riß sie nach unten. »Auf die Füße. Deine Familie braucht dich.«

»Er ist einfach – zusammengebrochen, nachdem die Kutsche umkippte«, sagte Isabel. George beachtete sie nicht; er zerrte seinen Bruder hoch und stieß ihn in die richtige Richtung. Stanley begann zu laufen.

Stanleys Zusammenbruch versetzte seine Frau in Wut, aber merkwürdigerweise konzentrierte sich ihr Ärger auf George. Die Zwillinge jammerten und machten verächtliche Bemerkungen über George, bis die halbe Dunkelheit sie von den anderen im Feld trennte. Nach fünf Minuten verzweifelten Gebrülls fanden die Zwillinge die Erwachsenen wieder. Von da an marschierten sie schweigend dicht hinter George her.

Der Schutt der Niederlage war überall zu sehen: Feldflaschen, Hörner und Trommeln, Bajonette. Die Dunkelheit fiel herab, und die unheimlichen Schreie der Verwundeten und Sterbenden ließen George an ein Vogelhaus in der Hölle denken. Aus der vorbeiströmenden Woge der Schatten drangen Stimmen:

»– verfluchte Captain rannte. Rannte – während wir die Stellung hielten – «

»– meine Füße bluten. Kannst du nicht – «

»– Black Horse. Das waren mindestens tausend – «

»– Shermans Brigade zerbrach, als Hamptons Voltigeurs angriffen – «

Hampton? George griff den Namen aus dem Stimmengemurmel heraus, dem Quietschen der Räder, dem Gejammer der Kinder. Ritt nicht Charles Main mit Hamptons Legion? Hatte er heute gekämpft? Hatte er überlebt?

In Centreville sahen sie endlich wieder Lichter – und überall Verwundete. Einige New Yorker Freiwillige mit einem Versorgungswagen bemerkten die Kinder und anerboten sich, sie bis nach Fairfax Courthouse mitzunehmen. Für die Erwachsenen hatten sie keinen Platz. George sprach ernsthaft mit William, dem er vertrauen konnte, und als er sich vergewissert hatte, daß sein Sohn den Treffpunkt kannte, halfen er und Constance den Kindern in den Wagen. Isabel erhob Einwände; Stanley starrte den verwaschenen Mond an.

Der Wagen verschwand. Die Erwachsenen setzten ihren Marsch fort. Auf der Straße hinter Centreville trafen sie auf weitere Opfer. Der Anblick der verwundeten Gesichter, der blutigen Gliedmaßen, der mondhellen Augen von viel zu jungen Burschen erinnerten George ständig an Mexiko und an das brennende Haus in Lehigh Station.

»Stanley? Bleib nicht zurück!« Die Augen des Schäfers, der seine Herde zusammenhalten mußte, begannen vor Staub und Müdigkeit zu tränen. Der Mond schmolz, und Streifen davon tropften vom Himmel herab. Statt der Straße sah er den jungen Soldaten vor sich, der auf das gestürzte Pferd eingeschlagen hatte. Ein unglaublicher Akt. Ein Wandel, den er nicht begreifen konnte, hatte seinen Anfang genommen. Irgendein schrecklicher Wandel.

»Isabel? Alles in Ordnung? Komm schon. Du mußt dran bleiben.«

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