Fünftes Buch. Die Metzgersrechnung

Ich kann die Wandlung nicht beschreiben, auch nicht, wann sie stattgefunden hat, und doch weiß ich, daß sich etwas verändert hat, denn ich schaue die Leiche eines Mannes mit den gleichen Gefühlen an wie die eines Pferdes oder Schweines.

Konföderierter Soldat, 1862

89

Ein milder Winter dämpfte den Anblick des gepeinigten Landes von Virginia, konnte ihn aber nicht zudecken. Zu viele Felder lagen nackt und bloß da. Zu viele Bäume zeigten die rohen Kreise, wo Äste abgehackt worden waren. Zu viele Straßen wiesen Krater und tiefe Furchen von Hufen und Rädern auf. Die Mauern zu vieler Farmen waren mit Gewehrkugeln gepflastert, Fenster waren ausgeschlagen, überall frische Gräber.

Heuböden und Ställe waren leer. Die Speisekammern waren leer, ebenso wie die Stühle, auf denen einst Onkel und Brüder, Väter und Söhne gesessen hatten.

Drei Jahre lang hatte man zu viel von der Erde gefordert, und das hatte seine Spuren hinterlassen. Von Feldern und Schluchten, von Bächen und Teichen, von Hügeln und blauen Bergen stieg im blassen Sonnenschein dünner Dunst empor. Es war der Atem eines kranken Landes.

In der Kavallerie der Armee von Nordvirginia war Charles zu einer Art Legende geworden. Sein Mut und seine Sorge für andere hoben ihn aus der Masse der Männer heraus, während sein mangelnder Ehrgeiz ihn andererseits zurückwarf. Hinter seinem Rücken erzählte man sich, daß der Krieg Spuren in seinem Kopf hinterlassen habe.

Er entwickelte merkwürdige Angewohnheiten. Er verbrachte viele Stunden bei seinem grauen Wallach, striegelte und bürstete ihn. Manchmal unterhielt er sich lange mit dem Tier. Den Winter über galoppierte er gelegentlich los, um ein Mädchen in der Nähe von Fredericksburg zu besuchen, kehrte aber jedesmal in mürrischem Schweigen zurück. Regelmäßig durchstöberte er die Camps nach gelbgebundenen Beadle-Romanen. Er las nur eine Sorte, wie Jim Pickles bemerkte – jene, die von den Ebenen im Westen handelten und den Scouts und Trappern, die sie bevölkerten.

»Wie lang bist du in dem Teil des Landes gewesen?« fragte Jim an einem Januarabend an ihrem Lagerfeuer.

»Lang genug, um mich in das Land zu verlieben.« Charles benützte sein Bowiemesser, um sich Stew in den Mund zu schaufeln. Jim hatte dafür nur einen Stock; aus Armeequellen war kein Löffel zu bekommen.

Nach einem weiteren Bissen fügte Charles hinzu: »Ich würde morgen dorthin, wenn dieser Krieg nicht wäre.«

Überrascht sagte Jim: »Was ist mit Miss Augusta?«

»Ja, das kommt dazu«, sagte Charles. Eine Weile starrte er ins Feuer.

Aus der Dunkelheit rief einer der Scouts: »Charlie? Ich glaube, dein Grauer ist los.«

Er sprang auf, verschüttete sein Essen. Durch blattloses Gesträuch stürmte er in die Richtung, in die der andere Mann gedeutet hatte. Richtig, da war sein Pferd und malmte heftig an einem Stück grauen Tuches; Sport hatte seinen Haltestrick zerrissen.

Ärgerlich zerrte Charles die Decke aus Sports Maul. Der Graue wieherte, entblößte die Zähne, stieß nach Charles’ Hand. »Verdammt noch mal, Sport, was ist los mit dir?« Natürlich wußte er, was los war. Es gab kein Futter mehr; der Hunger machte die Pferde wild.

Charles stieß heftige Flüche aus, als er im Schein eines anderen Feuers die Rippen des Grauen sah, so gleichmäßig wie Eisenbahnschwellen. Seit Wochen schon wußte er, daß Sport an Gewicht verlor. Er schätzte, daß der Graue dreißig oder vierzig Pfund weniger wog als damals, als er ihn gekauft hatte. Dieses Dahinsiechen erfüllte Charles mit Wut und Schmerz, genau wie das Schicksal der anderen Tiere. Viele starben. Warum nicht? Auch ihre Sache starb. Fast jeden Tag schickte Hampton Reitertrupps auf die Suche nach Futter; nur selten fanden sie was. Beide Seiten hatten den Staat leer gefegt.

Charles’ Zustand blieb auch Hampton nicht verborgen, der zum Generalmajor ernannt worden war und bei der letzten Neuorganisation eine Division bekommen hatte. Fitz Lee hatte die gleiche Beförderung und die andere Division erhalten. Eines Abends lud Hampton Charles in sein Zelt ein.

In dem tiefgoldenen Licht der Laternen sah Wade Hampton immer noch fit aus, ein kleines Wunder angesichts der ernsten Wunden, von denen er sich hatte erholen müssen. Doch Charles bemerkte auch Linien in seinem Gesicht, die noch nicht da gewesen waren, als Hampton die Legion aufgestellt hatte. Ein neuer, feierlicher Ernst hüllte den General wie einen Mantel ein.

Sie plauderten eine Weile über alles mögliche, doch Charles hatte das Gefühl, daß dies nur der Vorbereitung auf etwas anderes diente. Er täuschte sich nicht.

»Ich möchte Ihnen etwas sagen, das Sie, wie ich weiß, schon von vielen anderen gehört haben, einschließlich Ihres Freundes Fitz.«

Charles wartete, auf der Hut. Hampton wirbelte einen kleinen Rest Whiskey in seiner Blechtasse herum. »Sie sollten nichts Geringeres sein als Brigadier, Charles. Sie verfügen über die Erfahrung. Und über die Fähigkeit – «

»Aber nicht über den Wunsch, Sir.« Warum nicht die Wahrheit sagen? Er hatte es satt, es für sich zu behalten, und wenn ihn jemand verstehen würde, dann der General. »Ich bin soweit, daß ich den Krieg verabscheue.«

Kein Anzeichen einer Zurechtweisung; nur ein kurzes Seufzen. »Niemand wünscht sich den Frieden sehnlicher als ich, aber wir dürfen uns keinen Täuschungen hingeben, wie das bei einigen der Fall ist. Vizepräsident Stephens und viele andere in der Regierung glauben, Frieden bedeute lediglich ein Ende des Krieges. Das stimmt nicht. Darüber sind wir hinaus, zuviel Blut ist geflossen. Wir werden hinterher genauso erbittert kämpfen, auf andere Weise, wie wir jetzt kämpfen.«

Der Gedanke war Charles noch nicht gekommen. Er überlegte sich das einige Sekunden lang, fand es sowohl realistisch als auch deprimierend.

»Dann werd’ ich mich vielleicht nach Texas aufmachen und mir eine Hütte und ein Stück Farmland suchen.«

»Das will ich nicht hoffen. Der Süden wird starke Männer mit gesundem Menschenverstand nötig haben. In diesem Leben müssen wir unsere Talente verantwortlich einsetzen.«

Hampton hatte es ruhig gesagt, aber es hatte getroffen, so wie er es beabsichtigt hatte. Der General ließ seine Bemerkungen einsinken. Er streckte seine kräftigen Beine aus und lächelte auf die Art und Weise, mit der er so viele Freunde gewonnen hatte; selbst Stuart war ihm gegenüber aufgetaut. Fitz Lee allerdings, das wußte jeder, würde dem älteren General stets eifersüchtig und mißgünstig gegenüberstehen.

»Ah, ich nehme aber an, daß wir noch lange auf den Frieden warten müssen«, sagte Hampton nun. »Und ich glaube daran, daß wir siegen werden.«

Charles verzog keine Miene; solche Lügen wurden von den hohen Offizieren gefordert. Hampton jedoch diskutierte weiter über den Sieg. Sinnierend strich er seinen gewaltigen braunen Bart. »Sie werden in den Westen gehen, wenn wir es geschafft haben, sagen Sie. Was hält diese junge Lady in Fredericksburg von Ihren Plänen? Ich habe gehört, Ihre Herzenssache ist recht ernst.«

»Oh, nein, Sir. In Zeiten wie diesen kann ich mich kaum richtig um mein Pferd kümmern. Ich habe nicht die Absicht, mich auch noch um eine Frau kümmern zu müssen.«

Bald verabschiedete er sich; Hampton schüttelte ihm herzlich die Hand, drängte ihn nochmals, über die Brigade nachzudenken. Charles versprach es, allerdings nur aus Höflichkeit.

Sein Atem stand in kleinen Wolken in der Dunkelheit, als er durch den ewigen Schlamm zu Sport trottete. Obwohl er in scherzhaftem Ton über Gus gesprochen hatte, war es ihm durchaus ernst gewesen. Er liebte Gus mehr, als er je zuvor eine Frau geliebt hatte, aber er mußte die Beziehung abbrechen, um ihrer beider willen.

Mit dem immer stärker werdenden Gefühl, daß der Tod der Konföderation unvermeidlich war, stand Charles in seiner Familie nicht allein. Cooper glaubte es ebenfalls, obwohl er es nie laut aussprach, nicht einmal Judith gegenüber.

Cooper und seine Familie befanden sich in Charleston, wohin Minister Mallory sie im vergangenen Herbst geschickt hatte. Lucius Chickering hatte seinen Vorgesetzten begleitet.

Die Stadt, in die Cooper kam, war nicht länger der charmante Hafen mit Lichtern, guten Manieren und dem hellen Klang der Kirchenglocken, in den er sich verliebt hatte, als ihn sein Vater hierher, ins Exil schickte. Charleston trug noch die Wunden und Narben des Großfeuers von 1861, die Stadt war erschöpft von Blockade und Belagerung, vom Feind bedroht zu Lande und zu Wasser. Die anmutige alte Stadt war im ganzen Norden verhaßt wie keine andere. Vor allem anderen wollten die Yankees Fort Sumter zurückerobern oder dem Erdboden gleichmachen, mehr aus symbolischen denn aus strategischen Gründen.

Cooper stellte fest, daß die alte Firma der Main-Familie, die Carolina Shipping Company, nicht mehr in dieser Form existierte. Das Militär hatte das Kommando übernommen, hatte die Lagerhäuser erweitert und die Piers verrotten lassen, weil Charleston von der See her nicht mehr versorgt werden konnte. Das kühle, hohe Haus in der Tradd Street war vom Feuer verschont geblieben; Cooper und Lucius waren allerdings gezwungen, sich zu bewaffnen, um ein halbes Dutzend weiße Hausbesetzer die sich hier eingenistet hatten, zu vertreiben. Dann brauchte es Besen, Farbe und Desinfektionsmittel, um das Haus wieder halbwegs in seinen früheren Zustand zu versetzen. Nicht daß sich diese Anstrengung gelohnt hätte, dachte Judith knapp eine Woche nach ihrer Ankunft. Ihr Mann verbrachte den gesamten Tag und einen guten Teil der Nacht in seinem Büro oder dem von General Beauregard; an beiden Orten versuchte er, System in die Tests mit dem Tauchboot Hunley zu bringen.

Ein zentraler Existenzfaktor in Charleston war die Bundesblockade, die ihre grausame Wirkung zeigte, und das nicht nur, indem sie den Süden weiterhin von lebenswichtigen Versorgungsgütern abschnitt. Da die Yankees buchstäblich die Kontrolle über den Atlantik von Chesapeake bis Florida besaßen, mußten die Truppen entlang der gesamten Küste bereitgehalten werden, um jeden möglichen Angriffspunkt abzudecken. Scotts Anakonda war nicht länger eine Theorie, über die man sich lustig machen konnte. Ihre Schlingen würgten den Süden zu Tode.

Eine zweite nervenzerfetzende Realität in dem neuen Charleston waren die anhaltenden, heftigen Versuche der Yankees, die Stadt zu erobern oder wenigstens teilweise zu zerstören. Nach tagelangem Einschießen eröffneten die massiert aufgebauten Kanonen Mitte August das Bombardement. Seitdem hatte es drei schwere, mehrere Tage anhaltende Bombardements gegeben. Sumter glich nun einem Steinhaufen, obwohl sich in den Ruinen noch eine Garnison von fünfhundert Mann mit achtunddreißig Kanonen hielt.

Die Stadt widerstand den Bombardements und nahm relativ geringen Schaden. Sumter zeigte immer noch die Konföderiertenflagge. Doch der Feind hatte weder aufgegeben, noch war er abgezogen; die Yanks steckten da draußen im Dunst jenseits von James Island, wo Cooper seine noch in den Kinderschuhen steckende Werft aufbaute. Zur Stützung der Moral hatte Präsident Davis letzten November die Stadt besucht. Bei jedem Auftauchen war Mr. Davis von Menschenmengen herzlich begrüßt worden. Cooper war zu keiner Kundgebung gegangen. Jetzt halfen nur noch Taten, keine patriotischen Predigten. Sein Job war die Hunley.

Das ›Fisch-Schiff‹ war im letzten Sommer von Mobile aus antransportiert und seitdem vom Mißgeschick verfolgt worden. Mit einer offenstehenden Luke war sie von einem viel größeren, dicht vorbeifahrenden Schiff zum Sinken gebracht worden. Die gesamte Acht-Mann-Crew, einschließlich des Kapitäns, Lieutenant Payne, befand sich an Bord. Bis auf Payne ertranken alle.

Während eines Tests des Tauchschiffs mit einer Ersatz-Crew verloren weitere fünf Mann ihr Leben. Daraufhin gab Old Bory die Hunley auf, änderte aber seine Meinung, als Mallory versprach, zwei seiner vertrauenswürdigsten Mitarbeiter zur Überwachung zu schicken.

Mittlerweile hatte das Torpedoboot David am 5. Oktober bei der U.S.S. New Ironsides einen Treffer gelandet. Der Torpedo detonierte erfolgreich sechs Fuß unter der Wasserlinie des Feindschiffes, und obwohl die Sechzig-Pfund-Ladung nicht ausreichte, das Schiff zu versenken, mußte es sich doch zur Reparatur nach Port Royal zurückziehen.

Das war der Zeitpunkt, zu dem Cooper und Lucius ankamen. Sie wiesen Beauregard auf einen Vorteil hin, den die Hunley gegenüber der David aufzuweisen hatte: Lautlosigkeit. Die offiziellen Berichte zeigten, daß die Maschine der David die New Ironsides bereits auf die Gefahr aufmerksam gemacht hatte, noch bevor das Torpedoboot zugeschlagen hatte. Beauregard versprach Unterstützung, die auch dringend benötigt wurde. Die Hunley hatte bereits den Spitznamen ›Der schwimmende Sarg‹ bekommen.

Hunley selbst kam einige Tage später in Charleston an, um den nächsten Test am 15. Oktober zu leiten. Er und die gesamte Ersatz-Crew aus Mobile kamen dabei ums Leben. »Sie hatte sich in den Grund gebohrt, neun Faden tief, in einem Winkel von ungefähr fünfunddreißig Grad«, sagte Cooper am Abend danach. Er hockte vor einem Teller, von dem er noch nichts gegessen hatte.

Seine Tochter fragte: »Wie tief sind neun Faden, Papa?«

»Fünfundvierzig Fuß.«

»Brr. Nichts als Haie in der Finsternis da drunten.«

Und dieser schwimmende Sarg.

»Aber du hast sie bereits gehoben«, begann Judith.

»Gehoben und geöffnet. Die Körper lagen furchtbar verkrümmt herum.«

»Marie-Louise«, sagte ihre Mutter, »du darfst den Tisch verlassen.«

»Aber, Mama, ich möchte mehr hören über – «

»Geh.«

Nachdem ihre Tochter das Zimmer verlassen hatte, bedeckte Judith kurz ihren Mund mit der Serviette. »Wirklich, Cooper, mußt du dich vor ihr so drastisch ausdrücken?«

»Warum soll ich die Wahrheit verzuckern? Sie ist praktisch eine junge Frau. Das Unglück ist geschehen, obwohl es nicht hätte sein müssen.« Er schlug auf den Tisch. »Es hätte nicht sein müssen! Wir haben die Leichen sorgfältig studiert. Die von Hunley zum Beispiel – sein Gesicht war schwarz, und seine rechte Hand war über seinem Kopf. Nahe der vorderen Luke, die er offensichtlich zu öffnen suchte, als er starb. Zwei andere hielten Kerzen in den Händen. Sie waren bei den Riegeln, mit denen die Eisenstäbe unten am Rumpf gesichert sind. Diese Stäbe sind zusätzlicher Ballast, die gelöst und abgeworfen werden, wenn der Kapitän auftauchen will. Aber kein einziger Riegel war losgemacht worden, obwohl die armen Hunde es mit Sicherheit probiert haben. All das war ein Rätsel, bis wir die wirklich wichtige Entdeckung machten: das Bodenventil für den Ballasttank am Bug war noch offen.«

»Und was hat euch das verraten?« Ihr Ton und ihr Blick sagten, daß sie nicht sicher war, ob sie es wissen wollte.

»Wie sie runtergegangen ist! Ein anderer Mann bediente die Pumpe, mit der die Tanks geleert werden. Panik muß ausgebrochen sein. Vielleicht ging die Luft zu Ende, und die Kerzen erloschen. Das war genug auf diesem begrenzten Raum. Sie haben versucht, sie hochzubringen, verstehst du nicht? Aber das Bodenventil war offen, und in der Finsternis, bei der Panik, vergaß Hunley, den Befehl zum Schließen zu geben. Deshalb starben sie. Ordnungsgemäß betrieben ist das Schiff seetüchtig. Es kann eine Menge Yankeematrosen umbringen, und wir werden es testen und eine Mannschaft trainieren, bis alles bereit ist.«

Judith warf ihm einen seltsamen Blick zu; traurig, aber nicht unterwürfig. »Offen gesagt, ich habe es satt, von deinem heiligen Kreuzzug gegen Menschenleben zu hören.«

Er starrte sie wild an. »Judah bedeutet dir nichts?«

»Judah starb wegen Leuten von unserer Seite. Einschließlich deiner Schwester.«

Cooper schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Erspar mir deinen zimperlichen Pazifismus. Ich gehe ins Büro.«

»Heute abend? Noch einmal? Du bist jeden – «

»Du tust so, als würde ich mich in irgendein Bordell oder eine Spielhölle schleichen.« Er schrie nun. »Ich versuche dringende und lebenswichtige Arbeit zu leisten. General Beauregard wird nicht, ich wiederhole, wird nicht die Hunley in Dienst stellen, wenn wir nicht nachweisen können, daß sie seetüchtig ist, und wenn wir sie nicht mit einer Bugladung ausrüsten, mit der man ein Panzerschiff versenken und nicht bloß beschädigen kann. Dafür braucht man wenigstens neunzig Pfund Pulver. Wir prüfen Material und Entwürfe.«

Mit langsamen, betonten Bewegungen erhob er sich und verbeugte sich. »Sollte es mir gelungen sein, wieder einmal mein Verhalten und meine Motivation zu deiner Zufriedenheit zu erklären, und solltest du keine weiteren trivialen Fragen haben, dürfte ich dann mit deiner gütigen Erlaubnis gehen?«

»Oh, Cooper – «

Er wirbelte herum und ging.

Nachdem die Haustür zugeschlagen war, blieb sie regungslos sitzen. Sein häßlicher Abgang erinnerte sie vage an sein Verhalten zu der Zeit, als er mit dem Bau der Star of Carolina gekämpft hatte. Aber damals, obwohl in einem Zustand ständiger Erschöpfung, war er sanft und liebevoll gewesen. Der Mann, den sie geheiratet hatte. Jetzt lebte sie mit einem rachsüchtigen Fremden zusammen, den sie kaum kannte.

Das waren Judiths Gedanken im letzten Oktober gewesen, nach dem fatalen Test. Die Feiertage näherten sich, und nichts änderte sich – außer man betrachtete einen Wandel zum Schlechteren als Änderung. Die Verhältnisse in der Tradd Street wurden schlimmer, die Verhältnisse in Charleston wurden schlimmer.

Die Stadt erbebte weiterhin unter dem feindlichen Granatfeuer. Manchmal krächzten die Papageien die ganze Nacht hindurch, und reflektierendes rotes Licht an der Schlafzimmerdecke weckte sie häufig. Wie gern hätte sie sich umgedreht und ihren Mann umarmt, aber für gewöhnlich war er nicht da. Selten blieb er länger als zwei Stunden im Bett. Kurz vor Weihnachten schlug sie vor, sie könnten vielleicht nach Ashley fahren, um zu schauen, wie es um die Plantage stand.

»Wozu? Der Feind ist hier. Soll das Zeugs doch verfaulen.«

Eines Abends brachte er Lucius Chickering mit zum Essen, um zusätzliche Arbeitszeit zu gewinnen, nicht aus Gastfreundschaft, und die zwölfjährige Marie-Louise warf dem jungen Mann während des ganzen Essens bewundernde Blicke zu. Sie stieß mehrere Seufzer aus, die unmöglich mißzuverstehen waren.

Als sie und Judith die Männer beim Brandy allein ließen, sagte Lucius: »Ich glaube, Ihre charmante Tochter hat sich in mich verliebt.«

»Ich bin nicht in der Stimmung für billige Witze.«

Als ob du das je wärst, dachte Lucius. Mit überraschendem Mut räusperte er sich. »Hören Sie, Mr. Main. Ich weiß, ich bin bloß Ihr Assistent, jünger als Sie, mit weitaus weniger Erfahrung. Trotzdem weiß ich, was ich empfinde. Und ein bißchen Lockerheit ist auch in Kriegszeiten nicht unangebracht. Vielleicht hilft es sogar.«

»Vielleicht in Ihrem Krieg, nicht in meinem. Trinken Sie Ihren Brandy aus, damit wir uns an die Arbeit machen können.«

Jetzt war Januar. Old Borys schwindendes Vertrauen in die Hunley war durch Coopers Bitten und die Begeisterung des neuen Kapitäns und der neuen Crew am Leben gehalten worden. Der Kapitän war ein Armeeoffizier, Lieutenant George Dixon, zuletzt bei den Twenty-first Alabama Volunteers. Die Mannschaft war von dem Schiff Indian Chief angeworben worden, und jeder einzelne Mann hatte die Geschichte der Hunley erzählt bekommen. Darauf hatte General Beauregard bestanden.

Und so fuhren Cooper und Lucius jeden Morgen mit ihrem Ruderboot nach Sullivan’s Island, wo das Schiff vertäut war. Es war eine beschwerliche Fahrt, aber sie hatten es immer noch leichter als Kapitän Dixon und seine Mannschaft, die schon zu Tagesbeginn von ihren Baracken aus sieben Meilen anmarschieren mußten.

Auf dem knarrenden Dock, das aus dem Sandstrand hinausragte, ließ es sich im winterlichen Sonnenschein aushalten. Die beiden Männer vom Marineministerium und Mr. Alexander, der knorrige britische Maschinist, der beim Bau des Schiffes geholfen hatte, beobachteten mehrmals, wie die Crew mit der Hunley für kurze Zeit unter Wasser ging, ohne jeden Zwischenfall.

Ende Januar schließlich, an einem milden Nachmittag, verkündete Dixon: »Wir sind bereit, Mr. Main. Wird General Beauregard einen Angriff genehmigen?«

Coopers dünner werdendes Haar flatterte im Wind. Sein Gesicht, normalerweise schon blaß, hatte die Farbe eines Eisstücks. »Ich bezweifle es. Jetzt noch nicht. Sie sind jedesmal nur einige Minuten unten geblieben. Wir müssen demonstrieren, daß das Schiff viel länger unten bleiben kann.«

»Nun, Sir, wie lang ist viel länger?« fragte Alexander.

»Bis die Luft ausgeht. Bis die Mannschaft an der Grenze des Erträglichen angekommen ist. Diese Grenze müssen wir finden, Dixon. Ich möchte, daß Sie beim nächsten Test einen Mann an Land lassen. Ich werde ihn ersetzen – gestern hab ich Old Borys Erlaubnis erhalten. Ich tat es, weil das seine Zweifel zerstreuen wird. Ich muß beweisen, daß das Marineministerium Vertrauen in dieses Schiff hat.«

»Aber Mr. Main«, protestierte Lucius, »das könnte äußerst gefährlich für Sie werden.«

Als ihm bewußt wurde, daß die anderen ebenfalls gefährdet waren, errötete er. Den mörderischen Blicken seines Vorgesetzten wich er aus. Nixons Reaktion darauf überraschte Cooper.

»Mr. Chickering hat recht, Sir. Sie sind ein verheirateter Mann mit Familie. Ist Ihre Frau einverstanden?«

»Ich brauche General Beauregards Einverständnis, nicht das ihre. Vergessen Sie das bitte nicht. Ich möchte die Hunley in Dienst sehen, ich möchte, daß sie Yankeeschiffe versenkt und Yankeeseeleute ersaufen läßt, ohne weitere Verzögerung. Ich werde an dem Tauchtest teilnehmen. Morgen abend.«

Seine geduckte Haltung, die zusammengepreßten Lippen, die zornigen Augen ließen Widerspruch nicht ratsam erscheinen. Die Papageien fingen an zu krächzen, als das Tagesbombardement begann. Ein Dutzend große, schwarzköpfige Möwen stieg erschrocken vom Strand hoch.

90

Gegen Ende des sechsten Monats im Libby-Gefängnis wog Billy achtundzwanzig Pfund weniger als am Tag seiner Ankunft. Sein Bart hing ihm bis auf die Brust. Sein Gesicht sah grau und eingefallen aus, aber er hatte gelernt, wie man überlebt.

Man stocherte mit dem Finger im Essen herum, auf der Suche nach Getreidekäfern. Dann roch man am Essen. Besser hungern als den verdorbenen Schweinefraß hinunterschlingen, der den Gefangenen vorgesetzt wurde. Schlechtes Essen konnte die Ruhr auslösen und einen zwingen, ständig zu den stinkenden Holzklosetts zu rennen. Man konnte tot sein, bevor man mit dem Rennen aufhörte.

Man hatte besser einen leichten Schlaf, für den Fall, daß Gefangene aus einem anderen Teil des Gebäudes einen Beutezug unternahmen und alles stahlen, was zu stehlen war. Leichter Schlaf war kein Problem. Jeder der großen Gefängnisräume beherbergte zwischen drei- und fünfhundert Mann; das Gefängnis platzte aus allen Nähten, weil der Austausch fast zum Erliegen gekommen war. Billys Raum im obersten Stock war so überfüllt, daß sie in Löffelstellung schliefen. Ohne Decken. Das verhalf zu noch leichterem Schlaf, nun, da der Winter gekommen war.

Man hielt sich von den Fenstern fern, ganz gleich, wie sehr man sich nach einem Hauch frischer Luft sehnte. Die Wachen draußen, manchmal sogar Zivilisten, schossen gelegentlich auf Gefangene, die am Fenster auftauchten. Diese Schützen bekamen keinen Rüffel vom Direktor.

Man tat alles nur Denkbare, um keine depressiven Gedanken aufkommen zu lassen. Schachspielen. Gefechtsstories austauschen. Man lernte Französisch oder Musiktheorie, was inoffiziell von anderen Gefangenen unterrichtet wurde. Hatte man ein Stückchen Papier übrig, dann kritzelte man einen kleinen Artikel darauf und gab es an den Herausgeber vom Libby Chronicle weiter, der zweimal die Woche im größten Raum vor einer gewaltigen Menge eine ganze Zeitung vorlas.

Vor allem aber vermied man, wenn man Billy Hazard hieß, jeden Kontakt mit Corporal Clyde Vesey.

In den ersten Wochen von Billys Gefangenschaft war das nicht schwierig. Vesey tat immer noch im Erdgeschoß Dienst, wo er weiterhin die neuen Gefangenen in Empfang nahm. In der Nacht nach Weihnachten jedoch tauchte Vesey in dem eiskalten Raum auf, in dem Billy inmitten all der rastlosen Männer zu schlafen versuchte. In der Hand trug er eine Laterne, wie ein Gespenst.

»Da bist du, Hazard«, sagte er lächelnd. »Ich konnte es kaum erwarten, dich zu finden und dir zu erzählen, daß ich hier nach oben versetzt worden bin, nachts. Das heißt, daß ich dir endlich die Aufmerksamkeit widmen kann, die du verdienst.«

Billy hustete in seine Hand; er hatte sich erkältet. Nach dem Anfall sagte er: »Wunderbare Neuigkeiten. Jeder herrliche Augenblick deiner Gegenwart wird mir unvergeßlich bleiben, Vesey.«

Immer noch sanft lächelnd blickte Vesey auf die Hand, mit der Billy sich am Boden abstützte. Mit einer schnellen Bewegung verlagerte Vesey sein Gewicht und trat mit seinem genagelten Schuh auf die Hand.

»Ich habe nicht die Absicht, mir im Dienst deinen arroganten Collegestil bieten zu lassen.« Er trat kräftiger zu. »Ist das klar, Sir?«

Billy biß die Zähne zusammen und zwinkerte mehrmals. Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln; ein dünner Blutfaden rann unter Veseys Stiefel hervor. »Du Hundesohn«, flüsterte Billy. Zum Glück redete Vesey schon weiter.

»Was? Seh’ ich den tapferen Yankee weinen? Ausgezeichnet. Ausgezeichnet!« Er drehte den Stiefel hin und her. Billy konnte einen leisen, erstickten Laut nicht unterdrücken. Vesey hob den Stiefel, und Billy konnte im Schein der Laterne die blutenden Wunden sehen. »Ich muß meine Runden weitermachen. Aber von nun an werde ich oft kommen. Wir werden regelmäßig Lektionen in Demut nehmen. Niedriger als der niedrigste Nigger. Guten Abend, Hazard!«

Eine Hymne summend marschierte er ab.

Anfang Januar war Billys Hand infiziert, und seine Erkältung hatte sich stark verschlimmert. Vesey besuchte ihn jede Nacht mindestens dreimal, um ihn zu schmähen; manchmal ließ er ihn zwei Stunden lang die Gefängnistreppen rauf und runter steigen oder in einer Ecke auf Zehenspitzen stehen, während Vesey davor auf einem Stuhl saß, ein Bajonett auf seinem Gewehr, die Stahlspitze nur ein paar Millimeter von Billys zitterndem Rücken entfernt.

»Gestehe«, pflegte Vesey lächelnd zu sagen. »Inzwischen mußt du dir deiner Minderwertigkeit bewußt sein. Deiner heidnischen Natur. Deinem falschen Denken. Gestehe, daß du Präsident Davis bewunderst und General Lee für den größten Soldaten der ganzen Christenheit hältst.«

Billys Beine zitterten. Seine Zehen fühlten sich wie gebrochen an. Er sagte: »Leck mich am Arsch.«

Vesey zerriß Billys Hemd und fuhr ihm einmal mit dem Bajonett über den Rücken. Glücklicherweise begann die Wunde nicht zu eitern wie seine Hand; die Hand war gelb und braun vom Schorf und Eiter. »Wir machen damit weiter«, versprach Vesey, als der diensttuende Sergeant ihn holte. »Verlaß dich drauf, Heide.«

Billys Einstellung, wenn es darum ging, anderen Gefangenen behilflich zu sein, änderte sich bald. Bei den nächsten Neuankömmlingen war ein blasser, krausköpfiger Junge mit hoher Stirn dabei, der den Platz neben Billy bekam. Er hieß Timothy Wann und hatte sich nach seinem ersten Jahr in Harvard gemeldet. In Wanns zweiter Nacht im Libby gingen Offiziere eines anderen Raumes auf Beutezug. Billy erwachte aus seinem leichten Schlaf, als drei bärtige Männer den Jungen aus Massachusetts zum gemeinsamen Waschraum schleppten. Ein vierter Soldat löste Wanns Gürtel und sagte: »Knochiger kleiner Arsch an dem Hühnchen, aber wird schon gehen.«

Billy wußte, daß solche Dinge passierten, obwohl er es nie miterlebt hatte. Doch eine derartige Behandlung eines jungen Offiziers, kaum älter als ein Schuljunge, konnte er nicht hinnehmen. Er taumelte auf die Füße und drängte sich durch die dösenden Gefangenen, bis er das Quartett, das den entsetzten Wann mit sich schleppte, eingeholt hatte.

»Laßt ihn los«, sagte Billy. »Ihr könnt das in eurem Raum machen, aber nicht hier.«

Der grauhaarige Mann, der Wanns Gürtel aufgemacht hatte, zog den Gürtel ganz heraus. »Hast du einen Anspruch auf den Jungen, was? Ist er dein Vögelchen?«

Billy griff nach Wann und wollte ihn von den Schultern der drei zerren, die ihn wie eine Rinderhälfte abtransportierten. Der andere Soldat trat zurück, um Platz zu bekommen, schlug dann Billy den Gürtel ins Gesicht. Krank wie er war – seit vierundzwanzig Stunden tobte das Fieber in ihm –, machte die Wut neue Kräfte in ihm frei. Er entriß dem älteren Mann den Gürtel, packte ihn an beiden Enden, warf ihn wie eine Schlinge über den Kopf des Soldaten und zog.

Der Soldat würgte. Billy zog stärker.

Die Freunde des Mannes ließen Wann zu Boden fallen. »Geh zurück zu deinem Platz«, sagte Billy zu Tim. Im Korridor erspähte er eine Laterne.

»Was ist das für ein Aufruhr? Was geht hier vor?« Vesey tauchte mit erhobener Laterne auf; in der anderen Hand hielt er einen Revolver. Billy ließ ein Ende des Gürtels los. Der grauhaarige Offizier taumelte zurück, rieb sich die gerötete Kehle. »Der Verrückte hier hat mich angegriffen. Fing an, mich zu würgen – bloß weil wir hier mit ein paar Freunden sprachen und er sich in seinem Schlaf gestört fühlte.«

»Ihre Anschuldigung überrascht mich nicht, Sir«, erwiderte Vesey mit mitfühlendem Nicken. »Dieser Offizier ist ein gewalttätiger Mann. Verursacht ständig Ärger. Ich übernehme das. Die anderen kehren in ihre Quartiere zurück.«

»Sehr wohl.« Sie verschwendeten keine Zeit.

»Was sollen wir jetzt mit dir machen, Hazard?« Vesey schaffte es, gleichzeitig zu sprechen, zu seufzen und zu lächeln. »Mit meinen Lektionen hier oben konnte ich diesen ewigen Rebellionen kein Ende bereiten. Vielleicht ist eine Lektion an der frischen Luft wirkungsvoller.«

»Ich will meine Schuhe, wenn wir hinausgehen – «

»Marsch«, sagte Vesey, zerrte ihn am Kragen. Billy fragte sich, weshalb er so dumm gewesen war und Tim geholfen hatte. Der junge Gefangene machte eine Bewegung, um aufzustehen. Billy schüttelte den Kopf und marschierte vor Vesey aus dem Raum.

Auf der Flußseite des Gebäudes gab Vesey der Wache am Tor seine Laterne und stieß Billy die Treppe hinunter auf die Knie. Vesey band Billy die Handgelenke und Fußknöchel hinter dem Rücken zusammen, zog das Seil immer fester, bis Billys Schultern ganz verkrümmt waren. Nach wenigen Sekunden begannen seine Beinmuskeln zu schmerzen.

Leichter Regen setzte ein. Vesey stopfte einen stinkenden Knebel in Billys Mund und schnürte ihn mit einem zweiten Lumpen um den Kopf herum fest.

Als Vesey fertig war, regnete es in Strömen. Kalter Regen, eiskalter Regen. Er nieste und rannte in den Schutz des Tores zurück.

»Ich hole nur meinen Mantel, Hazard, dann komme ich wieder. Es ist ziemlich kühl hier draußen, aber eine Weile muß ich schon zuschauen, wie du deine Strafe verbüßt. Wenn wir deinen Geist nicht brechen können, dann können wir dir vielleicht das Kreuz brechen.«

Viele Meilen entfernt in Charleston sagte Judith in dieser Nacht: »Ich verstehe dich nicht mehr, Cooper.«

Am anderen Ende des Eßtisches runzelte er die Stirn. Er saß in seiner üblichen, angespannten Haltung da. Seinen unberührten Teller hatte er beiseite geschoben.

»Falls dies wieder eine deiner Beschwerden wegen meines Versagens beim Vollzug meiner ehelichen Pflichten – «

»Nein, verdammt noch mal.« Ihre Augen funkelten, aber sie beherrschte sich. »Ich weiß, daß du ständig müde bist – obwohl es nett wäre, wenn du mich wenigstens gelegentlich wie eine Ehefrau behandeln würdest. Das aber war nicht der Grund meiner Bemerkung.«

Eine Brise bauschte die Vorhänge zur Veranda. »Dann ist es der Test«, sagte Cooper unvermittelt. »Warum mußte dieser verdammte Lucius auch soviel Wein trinken.«

»Gib dem armen Lucius nicht die Schuld. Heute abend hast du ihn wieder eingeladen. Du hast doch all den Wein eingeschenkt. Für ihn und für dich genauso.«

Außer Sicht begann Marie-Louise im Wohnzimmer The Bonnie Blue Flag auf dem Klavier zu spielen. Auf Judiths Drängen hin hatte sie den häufigen Gast der Mains mit ins andere Zimmer genommen, nachdem er versehentlich mit der Bemerkung über den Test, der nun für Montag nächste Woche angesetzt war, herausgeplatzt war.

Feindselig fragte er: »Was hast du damit gemeint, du verstehst mich nicht?«

»Der Satz war in schlechtem Englisch gehalten. Ist das so schwer zu entschlüsseln? Du bist nicht der Mann, den ich geheiratet habe. Nicht mal der Mann, mit dem ich nach England gegangen bin.«

Sein Gesicht zuckte vor Wut. Seine Hände umklammerten den Tisch so hart, daß es knirschte. »Und ich erinnere dich daran, daß wir nicht länger in der Welt leben, in der diese Ereignisse stattfanden. Die Konföderation ist in fürchterlicher Not. Verzweifelte Maßnahmen sind notwendig. Es ist meine Pflicht, an diesem Test teilzunehmen. Meine Pflicht. Wenn es dir an Verstand fehlt, das einzusehen, oder an Mut, das zu ertragen, dann bist du auch nicht die Frau, die ich geheiratet habe.«

Judith strich sich die dunkelblonden Locken aus der Stirn. »Oh«, sagte sie mit einem kleinen, bitteren Lächeln, »wie sehr du mich doch mißverstehst. Es ist nicht das Risiko, das du eingehst, was mich jetzt aufregt, obwohl diese Art von Aufregung mittlerweile weiß Gott ein Dauerzustand geworden ist. Ich rege mich über die herzlose Weise auf, in der du dieses verfluchte Projekt vorangetrieben hast. Ich rege mich über die Hartnäckigkeit auf, mit der du auf einem weiteren Test beharrst. Ich rege mich darüber auf, daß du sieben unschuldige Männer zwingst, diesen eisernen Sarg noch einmal zu versenken, weil du glaubst, es müsse getan werden. Es hat eine Zeit gegeben, da du diesen Krieg von ganzem Herzen haßtest. Jetzt bist du ein – ein Barbar geworden, den ich nicht einmal mehr erkenne.«

Eisig fragte er: »Bist du fertig?«

»Nein, das bin ich nicht. Setz den Test ab. Spiel nicht mit Menschenleben, bloß um dein eigenes verdrehtes Ziel zu erreichen.«

»Mein Ziel ist also verdreht, was?«

»Ja.« Sie schlug auf den Tisch.

»Patriotismus ist verdreht, ja? Meinen Heimatstaat zu verteidigen ist verdreht? Oder zu verhindern, daß diese Stadt niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht wird? Denn genau das wollen die Yankees, verstehst du – von Charleston soll nichts als Schutt und Asche übrigbleiben. Das wollen sie!« schrie er.

»Das ist mir egal – das ist mir egal!« Weinend sprang sie auf. »Du bist nicht der alleinige Retter der Konföderation, obwohl du so tust. Nur zu, mach weiter, bring dich um in deinem heiligen Krieg, wenn du willst. Aber es ist hassenswert und unmoralisch, zu verlangen, daß andere ihr Leben opfern, um deinen Zorn zu besänftigen. Der frühere Cooper hätte das verstanden. Der Cooper, den ich liebte – so sehr liebte – «

Ihre Stimme brach; Schweigen breitete sich aus. Draußen im Garten rauschten die Palmwedel im Wind. Wie eine große Schlange schraubte sich Cooper von seinem Stuhl hoch. Mit ausdruckslosem Gesicht sagte er: »Der Test wird wie geplant durchgeführt.«

»Ich wußte es. Nun, von jetzt an kannst du dich mit dir selbst darüber unterhalten.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, du kannst deine Mahlzeiten in diesem Haus einnehmen, aber erwarte nicht, daß ich dabei anwesend bin. Es heißt, du kannst in dem anderen Schlafzimmer schlafen. In meinem will ich dich nicht mehr haben.«

Sie starrten sich an. Dann marschierte Cooper hinaus.

Judiths Fassade zerbrach. Stimmen drangen aus dem Wohnzimmerzu ihr; zuerst die Stimme ihres Mannes, kurz angebunden.

»Lucius, hol deinen Mantel. Wir können heute abend noch einiges schaffen.«

Marie-Louise, ärgerlich: »Oh, Papa! Mama hat gesagt, daß wir uns alle zusammensetzen und singen.«

»Sei still.«

Judith senkte den Kopf, preßte die Hände gegen die Augen und begann lautlos zu weinen.

91

Noch Tage nach seiner Marter – Billy hatte bis zum Morgen in dem Hagelsturm knien müssen – hoppelte er mehr, als daß er ging. Meist lag er zusammengerollt auf dem Boden, die Hände um die hochgezogenen Knie, in dem vergeblichen Versuch, die Kältewellen abzuwehren, die abrupt mit hohem Fieber abwechselten, das ihn toben ließ. Und jede Nacht kam Vesey, um ihn zu beleidigen, mit dem Gewehr anzustoßen, mit dem Stiefel leicht auf die Hand zu treten, die für immer von den Nägeln gezeichnet sein würde.

Das einzig Positive war Tim Wanns. Der Junge aus Massachusetts war zwar nicht kräftig, besaß aber eine schnelle Auffassungsgabe. Unter Billys Anleitung lernte er schnell die Überlebenstricks. Tim wurde Billys ergebener Freund, weil dieser ihn gerettet hatte, bereit, alles mit ihm zu teilen, was er besaß. Und er besaß etwas, das Billy nicht hatte: grüne Dollarscheine. Ungefähr zwanzig. Das Geld hatte er bei seiner Gefangennahme in der Tasche, und zwei Dollars hatten den Wachposten bei der Einweisung dazu gebracht, ihm den Rest zu lassen.

Mit Geld konnte man sich etwas Luxus von den entgegenkommenderen Wachen kaufen. Häufig drängte Tim darauf, daß Billy sich etwas von ihm kaufen ließ. Billy lehnte all diese Angebote ab, bis er in einem Punkt nicht mehr widerstehen konnte.

»Also gut, Tim – ein bißchen Schreibpapier. Und einen Bleistift. Damit ich ein neues Tagebuch anfangen kann.«

Zehn Minuten später gab Tim die Bestellung auf. Um neun Uhr abends kam die Lieferung. Tim erhob Einspruch.

»Das ist ja Tapetenpapier! Schau dir bloß diese häßlichen blauen Blumen an. Wie soll man auf die Seite was schreiben können?«

»Gar nicht«, sagte der Wachposten. »Aber wenn du was schreiben willst, dann da drauf oder gar nicht. Selbst Jeffy Davis höchstpersönlich kriegt heutzutage nichts Besseres.«

Und so fing Billy an.

12. Jan. – Libby-Gefängnis. Ich schwöre, lebend hier rauszukommen. Mein nächstes, dringlichstes Ziel ist es, meiner lieben Frau einen Brief zu schicken.

Er wollte noch hinzufügen, daß man ihn aufgefordert hatte, sich dem Fluchtunternehmen anzuschließen, das gegenwärtig geplant wurde, hielt es dann aber doch für besser, so etwas nicht dem Papier anzuvertrauen, für den Fall, daß man das Journal entdeckte. Außerdem besaß er so wenig Papier – Tim hatte für drei Blätter drei Dollars gezahlt –, daß er sehr sparsam damit umgehen mußte.

Tim bestand darauf, einen Umschlag für den Brief zu kaufen. Geliefert wurde ein schmieriger Fetzen, gefaltet und mit Kleister zusammengehalten. Billy adressierte ihn sorgfältig und steckte ein Stückchen Tapete mit einer kurzen, liebevollen Botschaft hinein: Es ging ihm gut, er war gesund, er liebte sie, sie sollte sich keine Sorgen machen.

Der Umschlag blieb für den Zensor offen; gegen Mittag übergab er ihn der Wache. In der gleichen Nacht noch brachte ihn Vesey zurück.

»Ich fürchte, der Zensor hat diesen Brief nicht durchgelassen.« Lächelnd öffnete er die rechte Hand. Der Umschlag und sein Inhalt, alles in kleinen Fetzen, flatterte zu Boden.

Schwach und benommen stemmte sich Billy vom Boden hoch, kam langsam auf die Füße, stand dem Corporal Auge in Auge gegenüber.

»In diesem Brief stand nichts Illegales.«

»Oh, das bestimmt der Zensor. Der Zensor ist ein Kumpel von mir. Vor einigen Wochen bat ich ihn, ein Auge darauf zu haben, falls du einen Brief schreibst. Ich fürchte, keiner deiner Briefe wird je seine Zustimmung finden. Deine liebe Frau wird einfach weiterhin leiden und sich grämen müssen«, er zwinkerte lächelnd, »sie wird glauben, du liegest tot in deinem Heidengrab.«

»Die Vorschriften – «

Veseys Hand krallte sich in Billys langes Haar. »Ich hab’s dir gesagt – ich hab’s dir gesagt«, flüsterte er. »Hier gibt’s nur meine Vorschriften. Ich hoffe, der Kummer deiner Frau wird unerträglich. Ich hoffe, es juckt sie ganz gewaltig in ihren weiblichen Gegenden. Eine Sehnsucht, so heftig, so hartnäckig – «

Er beugte sich näher, das Gesicht riesig, die porzellanblauen Augen voll hämischer Freude.

»– daß sie gezwungen ist, wie verrückt zu vögeln, um sich Erleichterung zu verschaffen. Vielleicht vögelt sie mit irgendeinem weißen Tramp. Vielleicht sucht sie sich einen Niggerhengst aus.«

Billy zitterte am ganzen Leib, versuchte sich zu beherrschen, versuchte das Gesicht vor sich nicht zu sehen, das Flüstern nicht zu hören.

»Stell dir bloß vor, einer dieser großen Nigger – sie sind euch gleichgestellt, nicht wahr? Old Abe sagt, daß sie’s sind. Stell dir vor, wie er sich auf dem weißen Körper deiner Frau wälzt. Wie er seinen schwarzen Rammbock so hart in ihre zarte Öffnung stößt, daß sie blutet. Denk dran, wenn du ihr all diese Briefe schreibst, die du nie aus diesen Mauern herauskriegen wirst, du Heide, du gottloser – «

Mit einem Aufschrei schlug Billy zu. Als drei andere Wachen mit Laternen angerannt kamen, um ihn wegzuzerren, hatte er Vesey am Boden, hämmerte mit beiden Händen auf dessen Kopf ein. Einer der Wachposten riß Billy am Jackett hoch, ein zweiter trat ihm zwischen die Beine, zweimal. Keuchend kippte er zur Seite, krümmte sich zusammen. Der dritte Wachposten sagte: »Jetzt bist du dran, Yank.«

92

Obwohl es im Westen noch hell war, sah Cooper über dem Atlantik nur Dunkelheit und Wintersterne. Würde er diesen Anblick je wieder zu Gesicht bekommen? Seine Tochter? Judith? Im gleichen Moment, in dem diese Fragen auftauchten, schob er sie als unwürdige Sentimentalitäten beiseite.

Lucius Chickering war zusammen mit Alexander, dem Maschinisten, herunter zum Dock gekommen. Der junge Mann schüttelte Cooper die Hand. »Viel Glück, Sir. Wir warten auf Ihre Rückkehr.«

Alexander stieg durch die vordere Luke der Hunley. Nachdem Cooper bei Bory die Genehmigung für den Test durchgesetzt hatte, hatte der Maschinist darauf bestanden, teilzunehmen.

Cooper trat vom Pier auf den Rumpf und beugte sich über die Luke. »Kann ich runterkommen, George?«

»Alles bereit, Mr. Main«, erwiderte Lieutenant Dixon.

Cooper ließ sich in das dunkle Innere hinunter, quetschte sich an Dixon vorbei, der vor den Instrumenten stand: ein Tiefenmesser und ein Kompaß für die Steuerung unter Wasser. In einer Nische dazwischen stand in einer Tasse die brennende Kerze, die den Luftvorrat maß und für die einzige Beleuchtung sorgte.

Cooper brachte sich schräg hinter dem Kapitän in einem kleinen, am Rumpf befestigten Eisensitz unter. Die sechs Mann der Crew hatten ähnliche Sitze, drei auf jeder Seite der Antriebswelle, aus der Sektionen in Form von breiten, flachen U’s herausragten. Die Männer drehten damit die Welle, um das Tauchboot mit seiner maximalen Geschwindigkeit von vier Knoten voranzutreiben.

»Mr. Main«, sagte Dixon, »könnten Sie unserer Mannschaft den Testablauf erklären?«

»Ganz einfach«, sagte Cooper. Sein Rücken, der sich der Rumpfkrümmung anpassen mußte, schmerzte bereits. »Heute abend wird diese Kerze nicht der einzige Bestimmungsfaktor dafür sein, wie lange wir unter Wasser bleiben können. Wir werden Sie, meine Herren, dafür benützen. Wir werden auf Tauchstation bleiben für eine Stunde, anderthalb Stunden«, beunruhigtes Gemurmel erhob sich, »vielleicht länger. Wir werden erst auftauchen, wenn der erste Mann an seiner Grenze angekommen ist und erklärt, daß er ohne frische Luft nicht weitermachen könne. Jeder Mann muß diese Grenze für sich selbst herausfinden, wobei er seine eigenen Möglichkeiten nicht überschätzen darf, aber auch nicht gleich aufgeben sollte, wenn es ein bißchen ungemütlich wird.«

Bei den letzten Worten schwang ein deutlicher Unterton von Verachtung mit, was Dixon zu einer Reaktion veranlaßte. Aber sein Gesicht war den Instrumenten zugewandt; so entging Cooper das Stirnrunzeln.

»Wenn der erste Mann ein Wort ruft – hoch! –, dann ist das unser Signal zum Leeren der Tanks und zum Auftauchen. Irgendwelche Fragen?«

»Ich hoffe bloß, wir können auftauchen«, erklärte einer mit nervösem Lachen. »Manche sagen, dieser Fisch sollte besser Jonas heißen statt Hunley.«

»Schluß mit dem Gerede«, sagte Dixon und kletterte die kurze Leiter hoch, streckte seinen Kopf aus der Vorderluke. Cooper konnte aus seiner verkrampften Position einen kleinen Ausschnitt der Luke erhaschen: ein ovales Stück Himmel, mit blassen Sternen dekoriert.

»Macht die Bug- und Heckleinen los.«

Dockarbeiter rannten lärmend los, um Dixons Befehl auszuführen. Cooper konnte spüren, wie die Hunley plötzlich frei schwamm. Dixon kletterte wieder herunter und wandte sich an den Maat.

»Luftschacht offen, Mr. Fawkes?«

»Offen, Sir.«

»Achtung an der Kurbel. Halbe Kraft.«

»Halbe Kraft – kurbelt«, wiederholte der Maat. Grunzend begannen die Männer, die Welle zu drehen.

Es war mühsame Arbeit, aber Dixon hatte die Männer gut trainiert. Die Kerze flackerte. Mit seltsam hohlem Klang klatschte Wasser gegen den Rumpf.

Wieder stieg Dixon die Leiter nach oben, rief dem Maat, der das Ruder übernommen hatte, Kommandos zu. Kaum waren sie ein Stück vom Dock entfernt, wechselten sie die Richtung und nahmen Geschwindigkeit auf. Schweiß tropfte Cooper vom Kinn. Er fühlte sich wie in einem Grab, wünschte, er wäre überall, nur nicht hier. Er kämpfte gegen die aufsteigende Panik an.

»Fertig zum Tauchen.«

Coopers Herz hämmerte so sehr, daß sein ganzer Brustkorb schmerzte. Er empfand aufrichtigen Respekt für die Männer, die sich freiwillig zu diesem Dienst gemeldet hatten, und konnte die Agonie jener nachvollziehen, die bei früheren Tauchversuchen gestorben waren. Dann schalt er sich selbst: Er gab sich schon wieder Sentimentalitäten hin.

»Luftschacht schließen.«

»Luftschacht geschlossen«, rief der Maat.

»Bordventil Bugtank öffnen.«

Cooper hörte das Gurgeln und Rauschen des Wassers. Der Rumpf schwankte und neigte sich. Er umklammerte eine Stütze, als der Bug der Hunley nach vorn abkippte. Er konnte nicht anders, er mußte an Judith, an Marie-Louise denken.

Leicht schüttelnd kam das Boot mit einem weichen Stoß auf dem Grund zur Ruhe. Die Männer lehnten sich gegen den Rumpf. Dixon studierte die Quecksilbersäule des Tiefenmessers. Cooper kämpfte gegen plötzliche, schreckliche Phantasievorstellungen an. Jemand spannte ein Metallband um seinen Kopf. Jemand schloß ihn in einem lichtlosen Schrank ein, der sich von innen nicht öffnen ließ.

Alexander klopfte seine Jacke ab. »Hat einer der Herren eine Uhr dabei? Schaut so aus, als hätte ich meine in der Aufregung vergessen.«

»Ich hab’ eine.« Cooper tastete nach der flachen Golduhr, die er stets bei sich trug. Er klappte den Deckel auf. »Zehn nach sieben.«

Die Flamme der Kerze flackerte nicht.

Um halb acht brannte die Kerze deutlich schwächer. Ein Mann murmelte: »Luft wird schlecht.«

»Jemand hat einen fahren lassen«, sagte ein anderer Mann. Das Lachen war nur halbherzig. Coopers Augen begannen zu schmerzen. Dixon strich stetig seinen Backenbart mit Zeige- und Mittelfinger.

»Wie lange?« fragte Alexander abrupt. Cooper schreckte hoch. Entweder er sah schlecht, oder die Kerze war noch schwächer geworden. Er mußte die Uhr bis in Kinnhöhe heben.

»Wir sind jetzt dreiunddreißig Minuten unten.«

Er behielt die Uhr offen in der Hand. Wie laut sie tickte! Die Intervalle zwischen dem Ticken schienen immer größer zu werden; eine halbe Stunde schien es zu dauern, bis das nächste Tickgeräusch ertönte, das lange in der Stille nachhallte.

Cooper hatte Sehnsucht nach Liverpool, nach der Tradd Street, selbst nach dem Deck der Water Witch. Gedanken an den Blockadebrecher führten zu Gedanken an den armen Judah, dessen Überreste irgendwo auf dem Grunde des Atlantiks lagen. Cooper spürte Feuchtigkeit auf seinen Wangen, drehte den Kopf zur Seite, damit niemand es sah.

Die Kerze ging aus.

Ein Mann atmete tief ein, ein panikerfülltes Zischen. Ein anderer fluchte. Dixon riß ein Streichholz an einer Eisenplatte an, aber es brannte nicht, sondern flackerte nur kurz auf.

Alexanders Stimme: »Wie lange, Mr. Main?«

»Einige Minuten, bevor die Kerze erlosch, waren es ungefähr fünfundvierzig Minuten.«

»Die Luft ist noch einigermaßen atembar«, sagte Dixon. Ein Grunzer widersprach ihm.

In der Finsternis konnte Cooper die Zeit nicht schätzen. Benommenheit, Schläfrigkeit, übertriebenes Selbstvertrauen, die Gewißheit über seinen unmittelbar bevorstehenden Tod, all das wechselte in rascher Folge.

Er zerrte seine Krawatte los, riß den Hemdknopf auf. Er erstickte.

»Hoch!«

Lachen, dann redeten alle durcheinander. Einen Augenblick lang war Cooper fast davon überzeugt, er habe gerufen. Ruhig sagte Dixon: »Mr. Alexander, übernehmen Sie die Heckpumpe, bitte. Ich übernehme diese hier. Mr. Fawkes, Mr. Billings, entriegeln Sie die Ballaststangen.«

Cooper lehnte seinen Kopf gegen den Rumpf, stellte sich die köstliche Nachtluft vor, die ihn oben erwartete. Er hörte das Knarren und Quietschen der Pumpen.

»Ballaststangen sind gelöst, Sir.«

»Der Bug kommt hoch«, grunzte Dixon, an der Pumpe schuftend. »Wir müßten jeden Moment aufsteigen.«

Jedermann spürte, wie sich der Bug hob. Die Männer lachten und pfiffen, aber das hielt nicht lange an. Einer rief: »Was ist los, Alexander? Warum kommt das Heck nicht auch hoch?«

»Kapitän Dixon?« Der kleine Engländer klang verängstigt. »Der Tank ist immer noch voll. Es liegt an der Pumpe.«

»Wir werden alle sterben«, sagte der Mann direkt hinter Cooper.

Dixon: »Was ist los mit ihr?«

»Verstopft, schätze ich. Möglicherweise dieser verfluchte Seetang.«

»Wenn wir das nicht in Ordnung bringen, kommen wir nicht mehr an die Oberfläche.« Dixons Worte hatten eine schlimme Wirkung auf den Mann, der zuvor gesprochen hatte.

»Wir werden ersticken. Oh Gott, oh Gott – ich will so nicht sterben.« Seine Baritonstimme wurde schrill, sein Schluchzen unterstrich die einzelnen Worte. »Wir werden sterben. Ich weiß, daß wir sterben.«

Cooper drehte sich um und griff in die Finsternis. Die Uhr fiel zu Boden; er hörte das splitternde Glas, als er den Arm des hysterischen Mannes erwischte. Mit der freien Hand schlug er dem Mann zweimal ins Gesicht. »Aufhören. Das nützt niemandem was.«

»Verdammt, laß los – wir alle – wir werden – «

»Ich sagte aufhören.« Er schlug ein drittes Mal zu, so fest, daß der Kopf des Mannes gegen den Rumpf knallte. Cooper ließ den Arm los. Der Mann weinte weiter, erstickte es mit seinen Händen, schrie aber wenigstens nicht mehr.

»Danke, Mr. Main«, sagte Dixon.

Alexander sprach: »Sir? Ich werde die Pumpe auseinandernehmen, einen Teil nach dem anderen. Ich glaube, ich schaffe das im Dunkeln. Vielleicht kann ich reingreifen und erreiche das, was die Pumpe verstopft.«

»Wenn Sie das tun, strömt das Wasser rein.«

»Machen Sie einen besseren Vorschlag!«

Leise sagte Dixon: »Tut mir leid, ich habe keinen. Tun Sie, was immer uns Ihrer Meinung nach helfen könnte, Mr. Alexander.«

Und so ging der Alptraum weiter, intensiver als zuvor. Cooper glaubte, nicht mehr atmen zu können. Kein bißchen. Und doch tat er es irgendwie: flache Atemzüge, von denen jeder schmerzte. Oder waren die Schmerzen auch nur eingebildet? Ein Schweigen, das fast weh tat, senkte sich über das Tauchboot. Jeder lauschte. Was bedeutete dieses Geräusch? Und jenes?

Cooper tastete neben seinen Füßen nach seiner Uhr. Gerade als er sie berührte, hörte er ein blasiges Rauschen. Ein Mann schrie: »Gott schütze uns«, und Wasser rauschte durch die Pumpe herein, spritzte über den Boden.

Alexander rief: »Einen Moment noch – jetzt – da. Ich hab eine große Handvoll Tang, Sir. Ich glaube, das ist alles. Jetzt muß ich die Pumpe gegen den Druck wieder zusammenpressen.«

Das Wasser strömte weiterhin herein. Cooper wartete auf das Ende. Sein vergangenes Leben zog schnell an ihm vorüber; die schändlichen Momente übersprang er und genoß die schönen Augenblicke – beispielsweise, als er das erstemal Miss Judith Stafford an Deck des Schiffes gesehen hatte, das sie beide nach Charleston brachte. Er verfaßte eine kleine Abschiedsrede, um ihr zu sagen, wie dankbar er war, daß sie ihn geheiratet hatte.

»Geschafft«, brüllte Alexander. Cooper schaute automatisch in Richtung Heck, obwohl er nichts sehen konnte. Er hörte das langgezogene Quietschen des Pumpenkolbens. Dann wieder Alexander.

»Sie funktioniert!«

»Hurra«, rief Dixon. Die Crew klatschte Beifall. Tränen traten Cooper in die Augen, während er mühsam nach Luft schnappte. Er glaubte zu spüren, wie sich das Heck hob. Dixon bestätigte es.

»Da kommt sie hoch!«

Minuten später badete die Hunley im Mondschein.

Wie Verrückte gingen Dixon und Alexander auf die Bolzen der vorderen und hinteren Luke los. Ganz plötzlich sah Cooper die Sterne, atmete herrliche, kalte Luft ein. Innerhalb kürzester Zeit kurbelten die Männer an der Welle, als wäre nichts geschehen.

Dixon kletterte hoch und spähte hinaus. »Nur noch eine Person da. Kann nicht erkennen, wer’s ist.«

Langsam schob sich das Tauchboot auf den Pier zu, wo Lucius Chickering auf und nieder sprang und klatschte und sich mit erhobenen Armen drehte wie ein glücklicher Vogel. Dixon befahl ihm, mit den Luftsprüngen aufzuhören und beim Festmachen des Schiffes zu helfen.

»Ich vollführe keine Luftsprünge, ich feiere«, rief Lucius, als Dixon sich zum Bug vorarbeitete und ihm eine Leine zuwarf. »Die Soldaten und die Leute aus der Stadt sind nach vierzig Minuten nach Hause gegangen. Alle sagten sie, ihr wärt tot, aber ich hatte diese verrückte Idee, ich müsse nur bleiben – ich dürfe nicht aufgeben –, dann hätten alle anderen unrecht, und das Boot würde schließlich auftauchen. Allmächtiger, Lieutenant, ihr habt meinen Glauben auf eine harte Probe gestellt. Wissen Sie, wie spät es ist?«

Alexander, der hinter Cooper hinauskletterte, fragte: »Wie lange waren wir unten?«

Cooper hob seine Uhr ans Ohr. Guter Gott, sie tickte immer noch! Er sprang an Land, hielt die Uhr ins Mondlicht, glaubte sich versehen zu haben.

»Es ist fünfzehn Minuten vor zehn. Wir waren zwei Stunden und fünfunddreißig Minuten getaucht.«

»Ich hab’s gesagt, ich hab’s gesagt«, rief Lucius, packte Cooper bei den Schultern und wirbelte ihn herum. »Ist das nicht unglaublich? Sie hatten recht. Es funktioniert.«

Alexander murmelte etwas; Dixon brachte ihn zum Schweigen. »Sie kann sich jetzt jederzeit rausschleichen, Yankees abschießen – oh.« Lucius stoppte seinen Tanz. »Hab’ ich ganz vergessen, Mr. Main. Ein Soldat sagte, er werde in General Beauregards Hauptquartier gehen, um zu melden, die Hunley sei erneut gesunken. Alle Mann seien tot. Ich möchte wetten, Ihre Frau hat das mittlerweile auch gehört.«

»Oh Gott. Lieutenant Dixon, gute Arbeit. Ich melde mich ab.«

Er hatte den Satz noch nicht ganz beendet, da lief er schon los, eilte wie ein großer Strandvogel über den Sand auf das Ruderboot zu. Lucius stülpte sich den Hut auf den Kopf. »Warten Sie auf mich, Mr. Main!«

Als Cooper nach seinem unglaublichen Abenteuer in der Tradd Street ankam, weinte Judith vor Erleichterung, auch wenn Lucius Chickerings Voraussage sich als nicht richtig erwies; sie hatte noch nichts davon gehört, daß das Boot untergegangen sein sollte.

Sie umarmte ihren Mann lange und fest. Aber sie zog es trotzdem vor, in dieser Nacht allein zu schlafen.

93

»Herr Direktor«, sagte Vesey, »dieser Yank hat sich wie ein wildes Tier auf mich gestürzt. Er tat das ohne jede Provokation. Es ist Ihre Pflicht, wenn ich so kühn sein darf – Ihre Pflicht als verantwortlicher Kommandant und Christenmensch, mir das Recht zuzugestehen, ihn zu bestrafen.«

Der junge Turner, im Zweifel darüber, dachte eine Weile nach. »Ich würde es tun, kann aber sowas aus mehreren Gründen im Libby nicht zulassen. Zum einen haben wir zuviel verfluchte Rechtsanwälte aus Philadelphia unter den Insassen. Zum anderen schenkt uns dieser verdammte Wichtigtuer, der für Seddon arbeitet, zuviel Aufmerksamkeit.«

»Sie meinen diesen einarmigen Colonel, Herr Direktor?«

»Richtig. Main. Das selbsternannte Gewissen unserer Gefängnisse. Er schnüffelte ständig hier herum.« Vesey nickte. »In letzter Zeit sind uns seine Besuche erspart geblieben – ich hab’ gehört, er hat einen schlimmen Anfall von Ruhr und kann das Bett nicht verlassen. Aber kaum sage ich, machen Sie nur zu, da erholt er sich und steht hier schon in der Tür.«

Vesey schaute düster drein. Dann bemerkte er den Ansatz eines Lächelns. »Wenn Sie natürlich eine Möglichkeit sehen, gewisse disziplinarische Maßnahmen außerhalb dieses Gebäudes durchzuführen, dann könnte ich eine vorübergehende Entlassung ausstellen, die sie hinterher wieder vernichten.«

Vesey beugte sich vor, sein Lächeln doppelt so breit wie das von Turner.

»Sollten Sie dabei Helfer brauchen – ich meine, falls es Zeugen gibt«, fuhr der Gefängnisdirektor fort, »dann müssen sie absolut vertrauenswürdig sein.«

»Kein Problem, Sir.«

»Wenn Sie Spuren an ihm hinterlassen, dann muß es so aussehen, als wäre es ein Unfall gewesen.«

»Dafür garantiere ich.«

»Dann werde ich den Paß vorbereiten. Bevor ich Ihnen den Paß aushändige, möchte ich über Ihren Plan im Detail informiert werden.«

»Jawohl, Sir. Danke, Sir!« sagte Vesey und knallte salutierend die Hacken zusammen.

»Freut mich, behilflich sein zu können.« Turner lächelte immer noch. »Sie sind ein beispielhafter Soldat, Vesey. Ich wünschte, ich hätte mehr von Ihrer Sorte.«

Diese Unterhaltung fand am 13. Januar statt. Einige Tage später meldete sich ein sehr aufgeregter Vesey wieder. Die Stimmung des Corporals erfassend, fragte Turner: »Nun? Wie wollen Sie es machen?«

»Mit einem Munitionswagen, den sich mein Cousin bei der Artillerie ausborgt. Ein Munitionswagen und die schlimmste Straße, die wir finden können. Mein Cousin hatte die Idee. Er sagte, die Yanks bestraften ständig Übeltäter auf diese Weise. Was gut genug für sie ist, sollte auch gut genug für uns sein.«

Er fuhr fort, redete über eine Minute. Zum Schluß lachte Turner laut auf. »Erstklassig! In einer Stunde haben Sie den Entlassungsbefehl. Am besten bringen Sie ihn spät abends raus, da sind weniger Leute wach. Offiziell sagen wir, er werde wegen eines dringenden Verhörs in General Winders Büro gebracht.«

»Das ist perfekt, Sir.« Vesey konnte sein Frohlocken nicht verbergen. »Ich muß Ihnen das in aller Offenheit sagen. Bei diesem Ereignis wird eine kleine Gruppe anwesend sein – mein Cousin und einige seiner Kumpels. Aber ich schwöre, Direktor, jedem einzelnen Mann kann man voll vertrauen.«

»Sie haften mir dafür«, sagte Turner mit sanftem Lächeln. »Ich wünschte, ich könnte selbst dabei sein.«

»Das ist General Winders Büro?« Nach der Frage spuckte Billy aus, aber die Spucke tröpfelte wegen der merkwürdigen Neigung seines Kopfes bloß auf die Speichen.

»Halt’s Maul, Yank«, sagte Clyde Veseys Cousin. Er zog Billys Kopf zurück, stieß ihn dann vor gegen das Rad. Die Pferde stampften und schnaubten. Es war ein strahlender, windiger Morgen, für Februar recht warm. Kahle Bäume rauschten zu beiden Seiten der verlassenen, von tiefen Rillen durchzogenen Straße, die sich über mehrere kleine Hügel hinzog.

Mit gespreizten Armen und Beinen hing Billy an dem Ersatzrad, das hinten an dem Artilleriemunitionswagen in einem Winkel von fünfundvierzig Grad befestigt war. Sein nackter Rücken war von einer Gänsehaut überzogen, die Radnabe bohrte sich in seinen Magen. Zwei Pferde statt der üblichen sechs waren eingespannt worden.

»Crawford?« Veseys Cousin trat vor. »Dir fällt die ehrenvolle Aufgabe des Vorreiters zu.« Der tölpelhafte Bursche bestieg eifrig das nächste Pferd. Mit vom winterlichen Sonnenschein geröteten Wangen trat Vesey zur Seite, damit der Gefangene ihn sehen konnte.

»Gentlemen, können wir anfangen?« Nicken, Grinsen. »Sollten wir nicht mit einer Hymne beginnen? Besser noch, vielleicht sollten wir für die Seele beten, die uns bald verlassen wird.«

Dem Beispiel seines Cousins folgend, packte er Billys Haar, riß den Kopf weit zurück, bis er Billys schmerzverzerrtes Gesicht sehen konnte.

»Eins ist sicher, Junge. Diese Fahrt wirst du nie vergessen.«

Billy spitzte seine Zunge zwischen aufgerissenen Lippen und spuckte. Diesmal verfehlte er sein Ziel nicht.

Vesey rammte Billys Kopf gegen eine Speiche, rannte dann zum nächststehenden Pferd. »Zwei Meilen die Straße runter und zurück, Crawford.«

Veseys Cousin peitschte auf das Gespann ein. »Los, ihr Schindmähren, tut eure Pflicht!« Billys Gesicht knallte gegen eine Speiche. Seine Wange riß innen auf, Blut begann seinen Mund zu füllen. Eine Beule wuchs an seiner Schläfe, als er damit mehrfach gegen das Rad knallte. Vesey, dieser Bastard, hatte genau gewußt, wie locker er ihn anbinden mußte.

Die Fahrt zurück schien viel länger zu dauern. Er hatte das Gefühl, daß jeder einzelne seiner Knochen mindestens ein paarmal gebrochen war. Blut lief ihm aus dem Mundwinkel. Der Munitionswagen verlangsamte sein Tempo, hielt gnädigerweise.

»Nun, Cousin, was meinst du?« fragte Crawford und kratzte sich.

Vesey stolzierte vor seinem Opfer auf und ab. »Oh, ich glaube es geht ihm noch viel zu gut. Ich kann nicht das leiseste Anzeichen von Reue für sein heidnisches Benehmen entdecken. Machen wir ihn los, und binden wir ihn mit dem Rücken aufs Rad. Und diesmal, Crawford, fährst du den ganzen Weg bis zur Brücke, bevor du wendest.«

Und so ging es wieder los; Crawford donnerte die Straße entlang, als würde es in die Schlacht gehen. Die Radnabe hämmerte gegen seinen Rücken, brach ihm fast das Rückgrat. Beschämt, aber machtlos, es zu unterdrücken, schrie er schließlich auf.

Und verlor das Bewußtsein.

Der Doktor, ein sechzigjähriger Säufer, in Virginia geboren, verachtete zufällig den jungen Direktor des Libby-Gefängnisses. Spät am nächsten Tag stampfte er in Turners Büro und teilte ihm mit, daß Gefangene vom dritten Stock ihm einen Mann gebracht hätten, einen gewissen Hazard, dessen Körper grauenhaft zerschlagen worden war. Ein Mann, der weder stehen noch zusammenhängend sprechen konnte und jetzt lebensgefährlich verletzt in der Chirurgie lag.

»Sein Rückgrat ist nicht gebrochen, aber das hat er denen, die ihn zusammengeschlagen haben, bestimmt nicht zu verdanken.«

»Machen Sie ihn einfach wieder gesund, und ich werde disziplinarisch gegen die Person oder die Personen vorgehen«, versprach Turner. »Vielleicht aber, Dr. Arnold, war es auch ein Unfall. Ausrutschen auf der Treppe, ein Sturz – manche Gefangene sind recht schwach, und ich kann nicht viel dagegen tun. Jawohl, Sir, ich möchte wetten, ein Unglückssturz ist die Lösung.«

»Wenn Sie das glauben, dann sind Sie sogar noch dümmer, als ich dachte. Wenn er aus einem dieser Erkundungsballons gestürzt wäre, hätte er sich nicht so schlimm verletzt.« Der Doktor stemmte beide Hände auf den Schreibtisch. »Vergessen Sie eins nicht, Bürschchen. Wir mögen uns im Krieg befinden, aber wir sind hier nicht beim Stab des Großinquisitors von Spanien. Das sind Amerikaner, die hier in diesem Gebäude eingesperrt sind – und Südstaatenehre bedeutet immer noch was. Finden Sie den Schuldigen, oder ich gehe zu Präsident Davis persönlich. Ich sorge dafür, daß Sie rausgeschmissen werden.«

Vielleicht wäre es so gekommen, hätte nicht die große Flucht für allgemeinen Aufruhr gesorgt.

Das Fluchtunternehmen fand am 9. Februar statt. Ein Colonel namens Rose aus Pennsylvania war einen Gefängniskamin hinabgeklettert und hatte einen verlassenen Raum im Keller entdeckt. Dort arbeiteten er und andere in mehreren Schichten, um einen Tunnel unter der Wand des alten Lagerhauses hindurch zu graben. Der Tunnel hatte eine Länge von fast sechzig Fuß. Sie kamen auf der anderen Seite wieder an die Oberfläche und flüchteten, hundertneun Mann.

Im Libby brach das Chaos aus, Turner steckte bis zum Hals in Schwierigkeiten. Er schrieb verzweifelt Berichte, um die Schuld auf andere abzuschieben und sich vor einer Anklage zu retten. Die ganze Zeit über lag Billy auf seinem Feldbett in der Krankenabteilung, zu sehr von Schmerzen gepeinigt, um sich daran zu erinnern, daß man ihn zur Flucht eingeladen hatte.

Tim Wann kam mindestens zweimal am Tag zu Besuch, stellte Dr. Arnold Fragen, eine davon besonders häufig: »Wer hat es getan, Doktor?«

»Ich kann’s nicht herausfinden. Ich hab’s auf Teufel komm raus probiert, aber die Wachen hier sind eine üble Bande. Die decken sich gegenseitig.«

Tim glaubte den Anführer zu kennen. Er sagte: »Jemand trug ihn mitten in der Nacht raus. Ich schlief – ich bin gar nicht aufgewacht.« Ganz blaß vor lauter Schuldgefühlen blickte der Junge aus Massachusetts auf das verquollene, verfärbte Gesicht auf dem dünnen, grauen Kissen. Selbst im Schlaf stöhnte Billy gelegentlich vor Schmerz auf.

»Und in Ihrem Raum hat sonst niemand was gesehen?«

»Sie sagen nein. Es war spät. Dunkel. Die müssen leise zu Werke gegangen sein.«

»Möge Gott uns alle verdammen für das, was wir im Namen des Patriotismus tun. Sie haben wirklich ganze Arbeit bei ihm geleistet. Sie müssen etwas viel Schlimmeres als Fäuste benützt haben, obwohl mir die Methode immer noch nicht klar ist.«

»Kann Billy uns das nicht sagen? Uns die Namen oder wenigstens die Beschreibung der Schuldigen geben?«

Billy schlug um sich, krümmte den Rücken, stöhnte leise. Aus seinem linken Nasenloch begann Blut zu tröpfeln. Der Doktor wischte es weg, warf Tim einen düsteren Blick zu.

»Falls er durchkommt«, sagte er.

Sonnenuntergang. Seevögel kreisten. Die Luft war still und kalt, obwohl sich im Norden schnell massive Wolkenbänke auftürmten. Cooper, in seinen großen Kapuzenmantel gehüllt, beobachtete, wie sich auf dem Wasser Nebel bildete.

George Dixon beendete seinen Rundblick über den Hafen und schob das Teleskop zusammen. »Der Nebel wird helfen. Auf der Rückfahrt wird uns die Strömung der Ebbe unterstützen. Bis jetzt ist das unsere beste Gelegenheit. Ich denke, wir fahren.«

Er drehte sich um und rief nach dem Maat. »Mr. Fawkes? Machen Sie bitte den Torpedobaum fertig, ich möchte gleich los.«

»Aye, aye, Captain«, sagte der frühere Alabama-Soldat. All die Landratten hatten die nautische Sprache schnell und mit Vergnügen gelernt. Nachdem sie den Unterwassertest überlebt hatten, waren sie stolz darauf, sich wie erfahrene Teerjacken zu benehmen.

»Welches Schiff wollen Sie sich zum Ziel nehmen?« fragte Cooper.

»Ich glaube, am besten entscheide ich das erst, wenn wir aus dem Hafen raus sind.«

»Ich beabsichtige, nach Sumter rüberzurudern und zuzuschauen.« Er streckte die Hand aus. »Viel Erfolg, George. Gegen Mitternacht erwarte ich Sie zurück.«

»Auf jeden Fall«, erwiderte der junge Kapitän mit einem sparsamen Lächeln. »Ich bin sehr stolz darauf, mit ihr hinausfahren zu können. Sie sollten ebenfalls stolz sein. Wenn wir Erfolg haben, wird diese Nacht in die Geschichte eingehen.«

»Sie werden Erfolg haben«, sagte Lucius hinter seinem Vorgesetzten hervor.

»Also dann – leben Sie wohl«, sagte Dixon und schritt so selbstbewußt den Pier entlang wie irgendein Kapitän, der schon als Junge in den Masten herumgeturnt war. »Vorsicht mit dem Pulver, Jungs. Damit wollen wir einen Yankee versenken, nicht uns.«

Ein Schauder lief Cooper über den Rücken – was nichts mit der sinkenden Temperatur zu tun hatte. Dieser Augenblick war all die Gefahren, die Sorge, die Bitten bei Beauregard wert – selbst die Kälte seiner Frau, die ihn oder die Bedeutung seiner Arbeit einfach nicht Erstehen konnte.

Von Fort Sumter aus beobachteten sie, wie Dunkelheit und Nebel schnell die Blockadeflotte verbarg. Nur einige Signallaternen zeigten an, wo die Schiffe lauerten. Die Nacht blieb sehr still, sehr kalt. Cooper wurde nervös. Gerade eben hatte er wieder seine Uhr kontrolliert – 8 Uhr 47 –, als Feuer und Lärm durch den Nebel über dem Wasser brachen.

Cooper hielt den Atem an. »Welches Schiff ist es?«

»Housatonic«, sagte der Major vom Fort, der sich ihnen angeschlossen hatte. Er gab das Teleskop weiter; Cooper spähte gerade hindurch, als eine Flammenwand Holzteile und Masten in den Himmel schleuderte. Der Donner rollte dröhnend in den Hafen hinein.

»Ihr Rumpf ist auf der Steuerbordseite getroffen«, frohlockte Cooper. »Dicht vor dem Hauptmast, glaube ich – oh – sie hat bereits schwere Schlagseite!« Fast schleuderte er seinem Assistenten das Teleskop zu. »Schauen Sie durch, solange es noch was zu sehen gibt, Lucius. Sie sinkt.«

Die anderen Schiffe der Feindflotte setzten schnell neue Laternen. Das Dampfkriegsschiff neben dem sinkenden Schiff setzte Rettungsboote aus, während die Männer der Sumter-Garnison aus ihren Quartieren geeilt kamen, um zu erfahren, welche Batterie der Konföderierten gefeuert und den Dampfsegler tödlich verwundet hatte.

»Keine«, sagte Cooper. »Sie wurde von unserem Tauchboot, der Hunley, versenkt.«

»Sie meinen, dieses Sargschiff von Sullivan’s Island?«

»Diesen Namen verdient sie nicht länger. Lieutenant Dixon und seine Crew werden als Helden gefeiert werden.«

Aber die Rückkehr der Helden zog sich hin. Gegen elf Uhr ruderten Cooper und Lucius zum Pier zurück und hielten kalte, grimmige Nachtwache. Um sechs Uhr morgens sagte Cooper: »Fahren wir zurück nach Charleston.«

Das Tauchboot blieb verschwunden. Einige Tage später, nach der Kaperung eines Wachbootes der Union, konnte Cooper General Beauregard bestätigen, daß die Housatonic tatsächlich versenkt worden war. Zu seiner Enttäuschung mußte er erfahren, daß dabei wegen des schnellen Einsatzes der Rettungsboote nur fünf Mann ihr Leben verloren hatten.

»Zwei weniger als die Anzahl der Leute an Bord der Hunley«, sagte er zu Lucius.

In der Hoffnung, Schlaf zu finden, trank Cooper in den nächsten Tagen gewaltige Mengen Whiskey und Gin. Der Schlaf wollte nicht kommen. Jede Nacht strich er durchs Haus oder saß in dem hohen, weißen Schaukelstuhl und starrte durch das Fenster in den Garten, der im Winterregen ertrank. Vom Garten sah er nichts. Statt dessen sah er seinen ertrinkenden Sohn. Dixons Gesicht, so voller Mut, kurz bevor die Hunley bei Sonnenuntergang ablegte. Das Seltsamste war, daß er die Finsternis vor sich sah, die ihn während des Testes umgeben hatte. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, in dem vollen, schmerzlichen Bewußtsein, wie sich Dixon und die anderen gefühlt haben mußten, als sie starben.

Eines Nachts brachte Judith, mittlerweile fast ebenso erschöpft wie ihr Mann, eine Lampe in das Zimmer mit dem weißen Schaukelstuhl.

»Cooper, so kann’s nicht weitergehen – du sitzt da, bist auf, schläfst nie.«

»Weshalb sollte ich zu Bett gehen? Ich kann nicht schlafen. Die Nacht des 17. Februar war ein Meilenstein in der Geschichte des Seekriegs. Ich versuche, Frieden bei diesem Gedanken zu finden, und kann es nicht.«

»Weil du – « Sie schwieg.

»Ich weiß, was du sagen wolltest. Ich bin verantwortlich für diesen Meilenstein. Ich wollte es so unbedingt, daß ich damit sieben Menschen getötet habe.«

Sie drehte ihm den Rücken zu, konnte seinen haßsprühenden Blick nicht ertragen. Doch er hatte recht. Sie flüsterte: »Du hättest sie verrosten lassen sollen. Ich habe keinem dieser armen Jungs etwas Schlechtes gewünscht, aber ich bin froh, daß die Hunley weg ist. Möge Gott mir verzeihen, ich bin froh. Vielleicht befreit dich das endlich von einem Teil des Wahnsinns, der dich peinigt.«

Sein Kopf ruckte hoch. »Was für eine eigenartige Wortwahl – Wahnsinn. Ich bin meinen Pflichten nach bestem Wissen und Gewissen nachgekommen, das ist alles. Ich habe meine Arbeit gemacht. Und noch viel, viel mehr Arbeit wartet auf mich. Ich werde sie genauso anpacken.«

»Dann hat sich nichts geändert. Ich hatte gehofft – «

»Was hätte sich ändern sollen?«

Sie hob die Stimme. »Willst du mich nicht einmal mehr einen Satz zu Ende reden lassen?«

»Wozu? Ich frage dich noch einmal, Judith: Was hätte sich ändern sollen?«

»Du bist so voll von diesem schrecklichen Haß.«

»Mehr denn je. Sie werden für das Leben des armen Dixon zahlen müssen und für das Leben eines jeden Mannes, der mit ihm war.« Seine Lippen wurden weiß. »Den zehnfachen Preis.«

Ein Schauder lief durch ihren Arm, brachte die Lampe zum Erzittern. »Cooper, wann wirst du verstehen? Der Süden kann diesen Krieg nicht gewinnen. Er kann nicht.«

»Ich weigere mich, darüber zu diskutieren.«

»Hör mir zu! Diese – Hingabe an das Gemetzel, das zerstört dich. Es zerstört uns.«

Er wandte den Kopf ab, steif und schweigend.

»Cooper?«

Keine Bewegung. Nichts.

Sie schüttelte den Kopf, nahm die Lampe und ließ ihn sitzen. Er starrte in den verregneten Garten; die Wut in seinem Gesicht grub sich in so tiefen Linien ein, daß er für immer damit gezeichnet war.

Tim Wann ging oben an der Treppe vorbei und bemerkte die regungslose Gestalt auf dem Treppenabsatz darunter. Tim schaute ein zweitesmal, um sicherzugehen.

»Billy?«

Der ausgemergelte Gefangene hob den Kopf. Tim entdeckte neue weiße Strähnen in dem ungeschnittenen Haar. »Billy!« Mit einem Freudenschrei sprang er zu seinem Freund hinunter, der sich auf eine gepolsterte Krücke stützte. »Du bist wieder gesund!«

»Gesund genug, um in unser herrliches Quartier zurückzukehren. Einige Rippen müssen noch heilen, und ich stehe ein bißchen unsicher auf den Beinen – wenn du zu laut sprichst, dann bläst du mich womöglich um. Ich bin auch noch etwas langsam. Vom Erdgeschoß bis hierher habe ich zehn Minuten gebraucht.«

»Jemand hätte dir helfen müssen.«

»Ich glaube, Turner hält nichts davon, seine Gäste zu verwöhnen. Du kannst mir das restliche Stück helfen, wenn du willst.«

Sie schafften es bis in ihren Raum, wo Billy mit Willkommensgeschrei begrüßt wurde. Selbst einer von den Tageswachen sagte, er sei froh, daß Billy es durchgestanden hatte.

Ganz plötzlich war Billys Bart schweißgetränkt. »Ich muß mich setzen. Hilft mir jemand?«

Tim half ihm. Andere drängten heran. Billy fragte: »Haben wir noch Februar? Da unten hab’ ich den Überblick verloren.«

»Wir haben den 1. März«, sagte ein Mann. »Draußen sind die Wachposten verdoppelt worden. Eine Kolonne unserer Kavallerie steht nördlich von Richmond – praktisch vor der Tür. Drei- oder viertausend Pferde. Die Rebs fürchten, die wollen uns befreien und die Stadt schleifen.«

»Weißt du von der Flucht?« fragte jemand. Billy schüttelte den Kopf und ließ es sich erzählen. Mehr als vierzig Gefangene waren wieder geschnappt worden, aber der Rest hatte es wahrscheinlich geschafft. Weiter erfuhr er, daß Vesey zum gemeinen Soldaten degradiert worden war und unangenehmeren Dienst außerhalb des Gefängnisses verrichten mußte.

Sie stellten Fragen, wie er zu seinen Verletzungen gekommen war, und er beantwortete jede Frage mit Schweigen oder einem Kopfschütteln. Als er aufs Klo mußte, halfen ihm Tim und ein weiterer Soldat.

Tim sagte: »Es war Vesey, nicht wahr? Vesey hat dich gefoltert, und deswegen wurde er degradiert und versetzt, richtig?«

Schweigen war für Billy eine Sache des Stolzes. »Egal«, sagte er. »Ich weiß, wer’s war, und wenn ich je die Chance bekomme, dann begleiche ich die Rechnung mit ihm.«

Tim hatte Billys improvisiertes Tagebuch in Sicherheit gebracht. In dieser Nacht, während fernes Geschützfeuer durch das Libby-Gefängnis hallte, schrieb Billy mit seinem Bleistiftstummel:

1. März – Zwei bemerkenswerte Umstände. Ich lebe, obwohl Dr. Arnold, der alte Säufer in der Krankenstation, erwartet hatte, ich würde sterben. Außerdem – der Reb, der es für seine Pflicht hielt, mich zu verletzen, hat mich eine Lektion gelehrt, so überwältigend, daß ich es noch nicht ganz erfasse. Hier drinnen, gezwungen, jeden Befehl zu befolgen, ganz gleich, wie demütigend oder verletzend, habe ich endlich verstanden, wie der versklavte Neger empfinden muß. Ich habe eine Weile in der Seele eines angeketteten schwarzen Mannes gehaust und ein bißchen davon für immer in meine eigene Seele hinübergenommen.

94

Stanley fand es zunehmend schwieriger, mit all den Veränderungen in seinem Leben zurechtzukommen. Pennyford schickte weiterhin die Monatsreporte mit den gewaltigen Profiten, die Lashbrook machte. Stanley las sie voller Unglauben. Die Zahlen konnten einfach nicht stimmen. Kein Mensch verdiente solchen Reichtum; er ganz bestimmt nicht. Auch dem schnellen Wandel der öffentlichen Ereignisse konnte er nur schwer folgen. Wegen seines wachsenden Engagements für die Neger und seiner Unfähigkeit, den Krieg erfolgreich zu beenden, war Lincoln ein verachteter Mann. Die Hauptstadt vibrierte nur so von Gerüchten, daß er entführt oder ermordet werden sollte. Ungefähr einmal pro Woche hörte Stanley von einem neuen Plan.

Dazu kam, daß der Präsident nach Meinung einflußreicher Republikaner der Partei durch die Einberufung einer weiteren halben Million Männer zum 1. Februar schweren Schaden zugefügt hatte. Mitte März würden weitere ein- oder zweihunderttausend Mann einberufen werden, hatte ihm Stanton anvertraut. Der verzweifelte Kongreß hatte jetzt den Rang eines Lieutenant General reaktiviert und ihn einem von Lincoln ausgewählten Mann verliehen – diesem Trunkenbold Grant. Als Oberkommandierender würde er bald auf dem östlichen Kriegsschauplatz das Kommando übernehmen; Old Brains war zum Stabschef degradiert worden.

Stanleys Überzeugung nach konnte nichts davon den Präsidenten retten. Lincoln würde die Herbstwahl verlieren – kein Anlaß zur Trauer. Aber die Anzahl der Republikaner, die er mit in den Abgrund reißen konnte, erschreckte Stanley und seine Freunde. Stanley empfand immer stärker den Wunsch, Washington zu verlassen. Er genoß immer noch die Macht, die sein Job mit sich brachte, aber er fühlte sich nicht wohl beim Gedanken an jene, mit denen er sich verbündet hatte, um die Cameron-Säuberung zu überleben. Im Januar hatte der Senat einen zusätzlichen Verfassungsartikel zur Aufhebung der Sklaverei vorgeschlagen – nach Stanleys Ansicht ein viel zu radikaler Schritt. Viel zu viele Neger waren bereits frei und außer Kontrolle. Überall in der Stadt stolzierten sie herum.

Doch er wußte, daß er gegen eine Flutwelle anschwamm. War sein Büro vorübergehend leer, so schloß er schnell die unterste Schublade auf und holte eine Flasche Bourbon heraus. Am ersten Arbeitstag des neuen Jahres hatte er die erste Flasche in die Schublade getan; jetzt war er bei der vierten Flasche angelangt.

Ein schneller Blick auf seine Umgebung. Sicher. Das Sonnenlicht brach sich in der Flasche, als er sie ansetzte. Die laut tickende Uhr zeigte auf zwanzig vor zehn.

Der Blitzschlag – »Im Kampf vermißt« – hatte die Hazards Ende letzten Jahres getroffen. Mitte Februar erfuhr George endlich etwas Verbindliches über Billys Schicksal, und mit einer Mischung aus Erleichterung und Widerstreben telegraphierte er nach Lehigh Station: DEIN MANN STEHT AUF LETZTEM NAMENSVERZEICHNIS LIBBY-GEFÄNGNIS RICHMOND.

Brett packte in dem Augenblick, in dem sie die Nachricht erhielt, und nahm den ersten Zug nach Washington. Als sie – dünner jetzt; nervös von monatelanger Angst und Besorgnis – in dem Haus in Georgetown ankam, war ihre erste Frage: »Was können wir tun?«

»Offiziell sehr wenig«, sagte George. »Das Austauschsystem ist fast völlig zum Erliegen gekommen. Zuviel Haß auf beiden Seiten. Jede Seite erhält Berichte, daß die anderen Gefangene aushungern und mißhandeln.«

Brett empörte sich: »Du hast recht, das ist nicht viel.«

»Hast du gehört, daß ich das Wort offiziell voransetzte?« erwiderte George. »Ich habe noch einen anderen Vorschlag.«

Constance trat hinter seinen Stuhl und massierte ihm sanft die Schultern. Er schlief schlecht, sorgte sich um seinen Bruder und über seine Versetzung zu den Militäreisenbahnen, die noch nicht genehmigt war.

Brett wartete. Er räusperte sich. »In seiner Position im Kriegsministerium in Richmond kann Orry uns vielleicht helfen. Old Winder ist direkt für Libby und die anderen Gefängnisse verantwortlich. Aber Seddon überwacht Winder. Und Orry arbeitet für Seddon.«

Eifrig sagte Constance: »Du glaubst, Orry könnte Billys Entlassung arrangieren?«

»Ich bin sicher, er hat einen Eid geleistet, loyal zu dienen. Ich würde ihn nicht bitten, diesen Eid zu brechen. Noch wichtiger, er ist mein bester Freund. Ich würde ihn niemals durch die Bitte, direkt zu intervenieren, in Gefahr bringen.«

Bretts Faust krallte sich in ihren Rock. »Billy ist dein eigener Bruder!«

»Und Orry ist deiner. Sei so nett und laß mich ausreden, ja?« George machte sich von der Hand seiner Frau los, erhob sich und ging vor dem Frühstückstisch auf und ab. »Ich kann Orry bitten, alles über Billys Zustand und seinen genauen Aufenthaltsort im Libby herauszufinden.«

»Wie willst du das anstellen?« erkundigte sich Constance skeptisch.

George schaute sie an. »Indem ich das tue, was er tat, als er mir letztes Jahr schrieb. Indem ich das Gesetz breche.«

In Zivil, in einen dunklen Mantel gehüllt, ritt er zwei Nächte später im Schneefall nach Süden. Er kam nach acht in Port Tobacco an und zahlte dem verschlagenen zahnlosen Mann, der auf ihn wartete, die Summe von zwanzig Dollar in Gold. Er gab dem Mann den an Orry adressierten Brief und eine Warnung mit auf den Weg.

»Sie müssen Colonel Main den Brief übergeben, ohne irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Bloß keine Aufregung, Major Hazard. Ich liefere geheime Post in alle Büros dort. Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, wieviel.«

Und damit schlüpfte er zur Hintertür der Kneipe in den Schneesturm hinaus.

Am Ersten des Monats war Grant nach Washington gekommen. Seine harte Hand wurde bereits spürbar. Ein gewaltiger Feldzug, vielleicht der endgültige, würde im Frühjahr anlaufen. Inzwischen warteten George und Brett und Constance. George hatte Stanley gegenüber den illegalen Brief nicht erwähnt. Letzten Herbst von Billys Gefangennahme in Kenntnis gesetzt, hatte Stanley nur oberflächliche Besorgnis zum Ausdruck gebracht.

Als sich der Frühling näherte, wurde George einer seiner Sorgen enthoben. Er erhielt Befehl, sich zum Ersten des Monats bei den Militäreisenbahnen zum Dienst zu melden.

»Ich werde für Old McCallum von Erie anstatt für Herman arbeiten, aber zumindest ist es Felddienst. Keine Kontrakte mehr, keine verrückten Erfinder, Wasserläufer – kein Winder-Gebäude mehr!« Er umarmte Constance, als sie an diesem Abend nach Erhalt der Nachricht im Bett lagen. Er spürte ihr Zittern und fügte schnell hinzu: »Mach dir deswegen keinen Kummer. Ich werde nicht in Gefahr sein.«

»Natürlich wirst du in Gefahr sein«, sagte sie in fremdem Tonfall. Er berührte ihre Wange; sie war feucht. »Aber ich werde pflichtgemäß unsere Sachen zusammenpacken, nach Lehigh Station zurückkehren und so tun, als ob du’s nicht wärst.«

Sie überraschte ihn damit, daß sie seine Hand an ihre Brust drückte. »Wenn du mich jetzt lieben würdest, dann könnte ich vielleicht heute nacht schlafen.«

Er lachte sanft, knabberte an ihrem Nacken. »Es wird mir ein Vergnügen sein, Lady.«

»Oh, George, du bist so ein liebenswerter Mann. Und es ist mir unmöglich, dich nicht zu lieben.«

Er räusperte sich, hielt inne, räusperte sich noch einmal. Er lächelte, als er nach ihrer Taille griff und sie zu sich zog.

»Nun«, sagte er, »das möchte ich dir auch geraten haben. Und zwar auf der Stelle.«

George ging in die Luft, als der zahnlose Mann am nächsten Morgen im Winder-Gebäude auftauchte.

»Guter Gott, Mann, sind Sie wahnsinnig, hier aufzutauchen?« Er schob den Kurier auf die Treppe zu, vorbei an der üblichen Versammlung von Kontraktsuchern und Rettern der Union, die das Ministerium weiterhin als zweites Zuhause betrachteten.

»Hab’ gedacht, Sie woll’n das auf der Stelle.« Der Mann schwenkte einen verdreckten, zerknitterten Briefumschlag vor seinem Kunden. »Hat an der Richmond-Station vorgestern auf Sie gewartet.«

»Nicht so laut«, flüsterte George mit scharlachrotem Gesicht. Ein die Treppe hochkommender Brigadier warf dem Besucher einen mißtrauischen Blick zu. »Ich nehme an, Sie sind auch hergekommen, weil Sie zusätzliche Bezahlung erwarten.«

»Jawohl, das ging mir durch den Kopf. Darum dreht sich doch das alles, oder? Eine Chance für den Unternehmertyp, sich’s für die Zukunft bequem zu machen.«

»Raus hier«, sagte George, dem Kurier Geldscheine in die Hand drückend.

»He, das sind Greenbacks. Ich nehme nur – «

»Entweder das oder gar nichts.« Er schnappte sich Orrys Brief und eilte zurück in sein Büro.

Er wagte es nicht, ihn hier zu lesen. George setzte seinen Hut auf und flüchtete sich zu Willard’s. An einem der hinteren Tische öffnete er mit zitternden Händen den Brief.

Stumpf, so fing er an. Nur die alten Namen aus Akademiezeiten, keine Zivilen. Orry war so clever wie eh und je. Für einen Moment traten George Tränen in die Augen; er wischte sie weg und begann zu lesen.

Die Person, nach der Du Dich erkundigt hast, befindet sich hier im Libby. Ich sah ihn vorgestern, allerdings nur aus der Ferne, weil ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Zu meinem Kummer muß ich Dir berichten, daß er anscheinend von einem der Totschläger, die hier als Gefängnispersonal beschäftigt werden, mißhandelt wurde. Vermutlich wurde er geschlagen; er humpelt auf eine Krücke gestützt herum.

Aber er lebt und ist an einem Stück. Schöpfe daraus Mut. Ich werde Verbindung zu einem gewissen Kavalleristen aufnehmen und sehen, was sich tun läßt. Die alten Bande der Zuneigung müssen doch zu etwas gut sein, selbst in diesen Zeiten der allgemeinen Vernichtung. Es wäre unklug, wenn wir noch einmal Kontakt aufnehmen würden, außer im äußersten Notfall. Sorge Dich nicht. Alle Anstrengungen werden unternommen.

Meine liebe Frau sendet ebenfalls die herzlichsten Grüße an Dich und Deine Familie, und ein Gebet, daß wir alle diesen schrecklichen Kampf überleben mögen. Der Süden ist geschlagen. Verknappung, innere Zerrissenheit, Fahnenflucht ganzer Armeeeinheiten, all das beweist die Wahrheit dieser Aussage, obwohl ich wahrscheinlich aufgehängt würde, wenn der Brief in falsche Hände käme.

Ich hoffe von ganzem Herzen, daß die Kluft, die nach der Kapitulation aufreißen wird, nie so breit sein kann, daß unsere beiden Familien sie nicht wieder überbrücken können.

Tief aufgewühlt von dem, was er gelesen hatte, stürzte George das Bier, das er gar nicht gewollt hatte, hinunter. Es vergingen einige Augenblicke, bevor er den Brief zu Ende lesen konnte.

Gott schütze Dich und die Deinen. Für die betreffende Person werden wir alles tun, was in unseren Kräften steht.

Herzlichst

Dein Stiel

»Alle Anstrengungen werden unternommen.« Brett drückte den Brief an ihre Brust. »Oh, George, da steht es, in Orrys Handschrift. Alle Anstrengungen werden unternommen!«

»Vorausgesetzt, er kann Charles finden. Er warnt uns, daß es eine Weile dauern wird.«

Ihr Lächeln erlosch. »Ich weiß nicht, wie ich die Zeit bis dahin überleben soll.«

»Wenn Orry das Risiko erträgt, dann kannst du die Wartezeit auch ertragen«, sagte George, streng wie ein Vater, der ein gedankenloses Kind zurechtweist. Er ahnte, daß es sehr lange dauern würde, bis sie wieder etwas hören würden. Und er betete, daß es sich dann um keine tragische Nachricht handeln würde.

95

George küßte die Kinder nach kurzen Verhaltensmaßregeln für seine Abwesenheit. Dann umarmte er Constance, die mit den Tränen kämpfte. Sie schenkte ihm einen getrockneten, offensichtlich in einem Buch gepreßten Lorbeerzweig. Er küßte sie noch einmal, sanft und zärtlich, schob den Zweig in die Tasche, versprach, bald zu schreiben und marschierte los, um sich eine Transportmöglichkeit nach Alexandria zu suchen.

Der Tag war grau und warm. Ein Platzregen ging nieder, als der Zug über die Long Bridge ratterte. Er lehnte sich hinaus in den Regen und betrachtete die grünen Hügel und die soliden Backsteinhäuser des Flußstädtchens. Das war Virginia. Das war der Krieg. Gespenstische Erinnerungsbilder an Mexiko und Manassas und das brennende Haus seines Vorarbeiters tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Er war immer noch froh, daß es mit der Versetzung geklappt hatte.

Nach einer Suche von fast einer Stunde entdeckte er Colonel Daniel McCallum, Haupts Nachfolger, im rauchigen Lokomotivschuppen. McCallum, ein Schotte mit einem ausgezeichneten Ruf als Eisenbahnmanager, trug einen fächerförmigen Bart, wie er bei höheren Offizieren üblich war. Außerdem hatte George den Eindruck, er sei äußerst schlecht gelaunt. Georges Ankunft – die Unterbrechung – kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt.

»Ich habe nicht viel Zeit für Sie«, sagte der Colonel und bedeutete George, ihm zu folgen.

Sie marschierten zwischen aufgestapelten Eisenbahnschienen hindurch, einige davon von Hazard’s, und betraten eines der vielen provisorischen Gebäude. McCallum knallte die Tür in einer Art und Weise zu, die seine Geistesverfassung mehr als deutlich machte.

Er setzte sich auf den einzigen Stuhl in dem winzigen Büro und überflog Georges Papiere. George benötigte keine große Intelligenz, um zu erkennen, daß er nicht willkommen war.

Verständlicherweise; die Papiere enthielten einen Empfehlungsbrief von Haupt. In Washington hieß es, daß McCallum gegen Georges Freund intrigiert und sich bei Stanton beliebt gemacht habe, um das Kommando übernehmen zu können.

Mit einer verächtlichen Bewegung schob McCallum die Papiere zurück. »Sie besitzen weder in Brückeninstandsetzung noch in Schienenbau praktische Erfahrungen, Major. Soweit ich das beurteilen kann, scheint Ihre einzige Qualifikation für das Konstruktions-Corps in Ihrer Freundschaft mit meinem Vorgänger zu liegen.«

George stand dicht davor, dem Colonel ins Gesicht zu schlagen. McCallum rümpfte die Nase und spähte zu einem kleinen, dreckigen Fenster hinaus. Frühlingsregen klatschte auf einen Schienenstapel.

Schließlich geruhte er, seine Aufmerksamkeit wieder dem vor ihm stehenden Mann zuzuwenden. »General Grant wünscht, daß die Orange & Alexandria-Linie offen bleibt, in gutem Zustand, die ganze Strecke bis Culpeper runter, seinem Basislager für die Frühjahrsoffensive. Das ist eine gewaltige Sache – wegen der konföderierten Partisanen. Die Gerüstbrücke bei Bull Run ist sieben Mal wieder aufgebaut worden. Was ich damit sagen will: Wir haben keine Zeit, Anfänger zu unterrichten.«

»Ich kann einen Pickel schwingen, Colonel, oder mit einer Schaufel umgehen. Dazu braucht es kein Training.« Der Mann lehnte George ab, weil er seine Abneigung gegen Haupt auch auf Haupts Freunde ausdehnte. George wollte mit sowas nichts zu tun haben. Er wollte arbeiten, und es war ihm verdammt egal, ob er jemanden beleidigen mußte, um den Platz einnehmen zu können, der ihm aufgrund seines Marschbefehls zustand.

Der Regen trommelte. Eine Pfeife ertönte, Glocken läuteten. Hinter McCallums Schweigen verbarg sich zunehmende Streitlust. Ganz plötzlich erkannte George, daß er vielleicht doch einen Trumpf im Ärmel hatte.

»Ich weiß, daß Sie für das Konstruktions-Corps Offiziere benötigen, Colonel. Viele weiße Männer wollen keine ehemaligen Negersklaven kommandieren. Ich schon.«

McCallums mürrischer Mund zuckte. »Ein guter Vorschlag, aber bedauerlicherweise läßt unser Organisationsschema sowas nicht zu. Die Grundeinheit beim Corps ist ein Zehn-Mann-Trupp. Zwei solcher Trupps werden von einem Offizier geführt. Einem Ersten Lieutenant.« Das Zucken wurde zu einem Grinsen. »Sie sind zu gebildet – «

George erkannte eine Stichelei gegen die Akademie, wenn er sie vorgesetzt bekam. Diesmal mußte er sich wirklich beherrschen, um den alten Bastard nicht zu schlagen.

»– überqualifiziert, wenn Sie verstehen, was ich meine. Haben Sie schon erwogen, sich für den Stabsdienst bei General Grant zu bewerben?«

George spielte seine höchste Karte aus. »Ich besuchte West Point zusammen mit Sam Grant. Ich kämpfte mit ihm zusammen von Vera Cruz bis Mexico City. Vielleicht sollte ich mich an ihn wenden, um dieses Schlamassel hier auszubügeln.« Er schüttelte die Papiere. »Man hat mir einen Transfer zu den Militäreisenbahnen zugesagt, und nun muß ich feststellen, daß ich zurückgewiesen werde.«

McCallum wurde so grau wie das Wetter. »Na, na – wir müssen doch keine Vorgesetzten in dieser Sache bemühen. Kein Problem ist unüberwindlich. Man kann die Vorschriften ja ein bißchen zurechtbiegen. Wir können bestimmt einen Platz finden – «

Der ältere Mann sah, daß George etwas besänftigt war, und musterte ihn mit einem verschlagenen Lächeln.

»Sie wären tatsächlich bereit, Farbige zu kommandieren?«

»Genau das sagte ich, Colonel. Ich bin bereit.«

Vierundzwanzig Stunden später lernte George auf dem Musterungsplatz seine beiden Trupps kennen und fragte sich, ob die Sicherheit, mit der er zuvor gesprochen hatte, berechtigt gewesen war. Angespannt musterte er die Neger, während sie wiederum ihn musterten. Falls seine Betrachtung Interesse und Neugier widerspiegelte, so war es bei ihnen Mißtrauen, in einigen Fällen Feindseligkeit.

Sie unterschieden sich physisch nicht mehr als jede andere zufällig zusammengewürfelte Männergruppe, mit einer Ausnahme: Bis auf einen der Schwarzen waren sie alle größer als George.

George machte sich bereit, die Männer anzusprechen, legte die Hände hinter dem Rücken zusammen und stellte sich dabei unbewußt auf die Zehenspitzen. Jemand bemerkte das und fing an zu kichern. George sprach sofort mit lauter Stimme.

»Mein Name ist Hazard. Ich bin gerade zum Konstruktions-Corps versetzt worden. Künftig werdet ihr für mich arbeiten.«

»Nein, Sir«, sagte der Neger, der kleiner als George war, ein dunkelfarbiges Kerlchen mit dünnen Handgelenken. »Ich nehme Befehle von Ihnen an, aber arbeiten tue ich für mich.«

Die Schnelligkeit, mit der das kam, amüsierte George, aber es war wohl besser, er ließ sich das nicht anmerken. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Du sagst, du bist ein freier Mann, deshalb ist dieser Dienst hier dein eigener Entschluß.«

Der dunkle Mann grinste. »Sie sind ganz schön schlau – für einen weißen Boß.«

Gelächter. George konnte nicht anders, er stimmte ein. Die Spannung löste sich. Mit diesen Männern würde er zurechtkommen.

96

Burdetta Halloran hatte ihre Nachforschungen so weit vorangetrieben, wie es ihr möglich war. Jetzt mußte sie die Behörden einbeziehen. Aber an wen sollte sie sich mit ihren Informationen wenden? Wie sollte sie das Räderwerk der Vergeltung in Gang setzen? Wartete sie zu lange, dann mochte der Belagerungszustand über Richmond verhängt werden, und die Regierungsbeamten hatten anderes zu tun, als ihr zuzuhören. Ihr Opfer könnte entkommen. Mit wem sollte sie sprechen?

Sie hatte darauf immer noch keine Antwort gefunden, als eine Freundin damit prahlte, sie habe eine Einladung zu einem der zunehmend seltener werdenden Empfänge im Weißen Haus erhalten. Mrs. Halloran erbettelte sich ebenfalls eine Einladung. Mittlerweile hatte sie die Idee zurückgewiesen, sich an die am ehesten in Frage kommende Person, den alten Winder, zu wenden.

Mehrere Gründe sprachen dagegen. Er besaß ein bösartiges Naturell und verachtete Frauen. Und sein Vorgehen war so scharf und anmaßend, daß viele seiner Verhaftungen und Anklagen wieder aufgehoben worden waren. Dem Klatsch zufolge würde er keine drei Monate mehr im Amt sein. Mrs. Halloran wollte es mit einem Beamten zu tun haben, der ihre Information ordnungsgemäß behandelte.

Am Abend des Empfangs gegen Ende März füllten mehr als hundert Leute das Weiße Haus. Mrs. Halloran trennte sich schnell von ihrer Freundin, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Ihre Blicke schweiften über die Menge aus Regierungsbeamten und hohen Militärs mit ihren Frauen. Eine fröhliche Menge, dachte sie, angesichts der Umstände. Dann erspähte sie Varina Davis.

Obwohl erst Ende Dreißig, machte die Präsidentengattin den Eindruck einer zwanzig Jahre älteren Frau. Die Bürde ihres Mannes war zu der ihren geworden. Der Präsident selbst schien deutlich erschöpft. Kein Wunder, dachte Mrs. Halloran. Davis stand von allen Seiten unter Beschuß; weil er an Bragg festhielt und Joe Johnston ablehnte; wegen des wertlosen Geldes und der galoppierenden Preise; weil seine Regierung seit drei Jahren versagt hatte und weiterhin versagte.

Burdetta Halloran versuchte sich nicht deprimieren zu lassen, während sie sich unter die Leute mischte. Sie behielt ihr Ziel im Auge.

Sie schloß sich einer Gruppe um Minister Seddon an. Dann bemerkte sie auf der anderen Seite des Raumes einen großen, in seiner hageren Art gutaussehenden Offizier. Er fiel ihr auf, weil sein leerer linker Ärmel oben an der Schulter festgesteckt war.

Vorsichtig pirschte sie sich heran. Er sprach gerade mit drei anderen Leuten über die militärische Lage; eine schöne Frau mit dem Aussehen einer Spanierin oder Kreolin umklammerte den gesunden Arm des Offiziers. Seine Frau?

Der Mann beeindruckte sie. Sie glitt davon, erkundigte sich da und dort und bekam bald die richtige Antwort.

»Das ist Colonel Main, einer von Mr. Seddons Assistenten. Seine Aufgaben? Zahlreich. Ich kenne sie nicht alle, aber eine davon ist die Rolle eines Wachhunds für diese Bestie Winder.«

Burdetta Halloran strahlte. »Ich danke Ihnen sehr für diese Auskunft. Würden Sie mich so lange entschuldigen, bis ich diese leere Tasse gegen ein Glas Weißwein umgetauscht habe?«

Die Suche war vorbei.

Am nächsten Morgen gegen halb zwölf führte man sie an Orrys Schreibtisch im Kriegsministerium. Trotz seiner Behinderung rückte er ihr höflich und überrascht geschickt den Besucherstuhl zurecht. »Setzen Sie sich bitte, Mrs. – Halloran, sagten Sie?«

»Jawohl, Colonel. Gibt es einen Platz, wo wir ungestörter sprechen können? Ich komme in einer ungemein schwerwiegenden Angelegenheit, die außerdem äußerst vertraulich ist.«

Skepsis blitzte in Orrys dunklen Augen auf. Trotz seiner guten Manieren befand er sich in höchster Anspannung, und das bereits seit zwei Wochen. Jeden Morgen erwachte er in der Hoffnung, daß er heute von seinem Schreibtisch aufschauen und Cousin Charles eintreten sehen würde. Nachdem er Georges Brief erhalten hatte, hatte er sofort an Charles geschrieben und ganz dringend ein Treffen verlangt.

Natürlich war Charles beschäftigt gewesen, um es milde auszudrücken, als die Yanks zugeschlagen hatten. Aber das war vorbei; wenigstens hätte er eine Nachricht schicken können. Bedeutete sein Schweigen, daß er verwundet worden war? In diesem Fall fiele ihm die gesamte Verantwortung zu –

Mit Mühe richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Mrs. Halloran. »Ich will mal sehen, ob unser kleiner Konferenzraum frei ist.«

Er war frei. Orry führte sie hinein und schloß die Tür. Aus ihrer Handtasche holte sie ein zusammengefaltetes Papier. Ausgebreitet erwies es sich als eine Skizzenkarte vom James-Fluß unterhalb der Stadt. Sie hatte verschiedene Landmarken angedeutet und vier kleine Quadrate am Ufer in der Gegend von Wilton Bluffs eingezeichnet.

Sie zeigte auf die Quadrate. »Das sollen die Gebäude einer verlassenen Farm sein, Colonel. Das heißt, verlassen, wenn man von den nächtlichen Aktivitäten absieht, die dort vor sich gehen. Wenn Sie Nachforschungen anstellen, werden Sie herausfinden, daß diese Farm einer Clique, angeführt von einem gewissen Mr. Lamar Hugh Augustus Powell aus Georgia, als Hauptquartier dient.«

Orry klopfte mit seinem langen Finger auf den Tisch. Was wollte diese attraktive Frau? Sie war von einer eisernen, verzweifelten Entschlossenheit beseelt. Das hatte er sofort an ihrer Haltung, ihren Augen, ihrer beherrschten Stimme erkannt.

»Powell«, sagte er. »Ich glaube, den Namen habe ich schon gehört. Spekulant, nicht wahr?«

»Von Berufs wegen. Nebenbei beschäftigt er sich mit Verrat.« Schnell erzählte sie den Rest. Powells Bande sammelte und lagerte Waffen auf der Farm bei Wilton Bluffs. Mit ihrem Fingernagel berührte sie ein Quadrat direkt neben der Klippe. »Dies hier war einst der Geräteschuppen. Auf dieser Seite führt ein Steilabhang fast senkrecht zum James, aber durch dieses Feld kann man sich dem Schuppen ungefährdet von Norden her nähern. Oder womöglich – «

»Einen Moment, bitte. Ich unterbreche Sie ungern, aber bevor Sie fortfahren, müssen Sie mir etwas über die Absichten dieser Bande erzählen. Es ist nicht illegal, Waffen zu besitzen oder zu lagern.«

»Diese Bande hat die Absicht«, sagte sie, »Präsident Davis und ein oder mehrere Mitglieder seines Kabinetts zu ermorden.«

Orry lachte nicht, nachdem seine Verblüffung verflogen war. »Mrs. Halloran, bei allem Respekt vor ihrem Patriotismus, der sie her geführt hat, haben Sie eine Ahnung, wieviele Meldungen über Morddrohungen gegen Mr. Davis wöchentlich hier eingehen?«

»Daran kann ich nichts ändern. Meine Information ist korrekt. Wenn Sie dieses Gebäude durchsuchen, dann garantiere ich Ihnen, Sie werden Gewehre, Revolver, Höllenmaschinen – «

»Bomben?« Das schreckte ihn auf; es war nicht typisch. »Was für ein Typ? Wie werden sie eingesetzt?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich versichere, daß es explosive Sachen auf dem Gelände gibt. Vielleicht erwischen Sie dabei auch gleich die Verschwörer. Sie treffen sich häufig.«

»Wann soll der Anschlag ausgeführt werden?«

»Das konnte ich nicht in Erfahrung bringen.«

Er räusperte sich. »Ich bezweifle Ihre Angaben nicht im geringsten. Nichtsdestoweniger wäre es ungemein hilfreich, wenn ich eine Ahnung hätte, wie Sie an diese Information gelangt sind.«

»Das meiste davon habe ich selbst gesammelt. Eine Person meines Vertrauens hat weitere Details hinzugefügt – zum Beispiel die nächtliche Beobachtung der Farm. Mehr kann ich dazu nicht sagen, es ist eine vertrauliche Angelegenheit. Weshalb spielen solche Details eine Rolle? Was wirklich zählt, ist doch der Plan. Das Komplott!«

»Da stimme ich Ihnen bei. Erlauben Sie mir eine andere Frage.«

Der plötzlich maskenhafte Ausdruck ihrer Augen erinnerte ihn an jemanden, an den er lange nicht mehr gedacht hatte: Elkanah Bent. »Bitte.«

»Ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, daß der Chef der Militärpolizei der richtige Mann für das ist, was Sie mir eben erzählt haben? Oh, vielleicht haben Sie bereits – «

»Nein.« Sie machte ein Gesicht, als hätte sie in verdorbenes Fleisch gebissen. »Ich bin General Winder nie begegnet, aber ich verachte ihn wie jeder gerecht denkende Bürger. Die Zivilbevölkerung hat nicht genügend Nahrungsmittel, und er beharrt auf seiner lächerlichen Preispolitik, mit der er die Farmer verärgert und die Situation nur verschlimmert. Ich würde niemals mit einem Mann zu tun haben wollen, der unserer Sache soviel Schaden zugefügt hat wie irgendein General der anderen Seite.«

Mit dieser Meinung stand Mrs. Halloran nicht allein. Es hörte sich überzeugend an.

»Gibt es noch etwas?«

»Keine weiteren Fakten, Colonel. Nur dies noch: Ich verspreche Ihnen, Sie werden sehen, daß jedes meiner Worte wahr ist, wenn Sie Nachforschungen anstellen. Falls Sie nicht nachforschen, meine Worte nicht beachten, aus was für Gründen auch immer, dann wird der Tod des Präsidenten auf Ihrem Gewissen lasten.«

»Das ist eine schwere Bürde.« Zum erstenmal klang er unfreundlich.

»Jetzt ist es Ihre Bürde, Colonel. Guten Tag.«

»Einen Moment.«

Sie hatte sich bereits halb vom Stuhl erhoben. »Wir sind noch nicht fertig. Ich werde Sie zu einem meiner Angestellten bringen. Sie müssen ihm Ihren vollen Namen, Ihren Wohnsitz und andere sachdienliche Informationen geben. Das ist die übliche Routine für jedermann, der dem Kriegsministerium behilflich ist.«

Sie lächelte. »Ich danke Ihnen, Colonel. Ich werde Ihnen voll und ganz zur Verfügung stehen, so lange ich dabei anonym bleiben kann.«

»Ich werde mein Bestes tun, Ihren Wunsch zu respektieren, aber versprechen kann ich Ihnen nichts.«

Sie zögerte, dachte an Powell, murmelte: »Ich verstehe. Ich bin mit den Bedingungen einverstanden. Was werden Sie zuerst unternehmen?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Aber ich versichere Ihnen eines: Ihre Aussagen werden bestimmt nicht ignoriert werden.«

Sie sah den eisernen Vorhang, der sich vor seine Augen schob, und wußte, daß weitere Fragen zwecklos waren. Es spielte keine Rolle. Sie hatte die Maschinerie in Bewegung gesetzt. Powell war erledigt.

»Natürlich habe ich ihr gesagt, daß ihre Aussagen nicht ignoriert würden«, erklärte er Madeline an diesem Abend. »Was sonst könnte ich jemandem sagen, der vorgibt, vollkommen aufrichtig zu handeln.«

Madeline erfaßte die Bedeutung des Wortes ›vorgibt‹. Er fuhr fort: »Ich habe sie über den nächsten Schritt nicht informiert, weil ich ihn verdammt noch mal selbst nicht kenne. Auch jetzt noch nicht. Ich glaube, sie will mit jemandem abrechnen. Wahrscheinlich mit Powell. Was mich dabei stört: Warum sollte sie so viele konkrete Details erfinden, wenn doch vollkommen klar ist, daß man ihr dabei sofort auf die Schliche kommt? Ist sie dumm? Nein. Diese Geschichte ist vielleicht ihre Form der Rache, aber möglicherweise stimmt die Geschichte trotzdem.«

»Powell«, wiederholte Madeline. »Der gleiche Powell, der Ashtons Investitionspartner war?«

»Genau der.«

»Falls eine Verschwörung existiert, könnte sie darin verwickelt sein?«

Orry überlegte einen Moment. »Nein, ich glaube nicht. Ashton ist unserer Sache gegenüber nicht gerade fanatisch eingestellt. Ashton hat niemals was von Selbstaufopferung gehört, und wenn, dann hat sie höchstens darüber gelacht. Ashton sorgt sich ausschließlich um Ashton.«

Sie nickte. »Beunruhigt dich noch etwas anderes?«

»Ja. Was mich beunruhigt, sind diese verdammten Details. Wir hören von einer Verschwörung nach der anderen, aber selten erfahren wir etwas Genaueres. Hier wird das Zentrum der Verschwörung genau festgenagelt. Sie zeichnete eine Karte, die ich in meinen Schreibtisch eingeschlossen habe. Ein letztes Detail stört mich am allermeisten.«

»Und?«

»Bomben. Es ist das erstemal, daß ich in Verbindung mit Meuchelmord von Höllenmaschinen höre. Messer, Pistolen, ja. Aber keine Bomben.«

Die Hand hebend, schob Orry langsam Daumen und Zeigefinger zusammen. »Das ist genau die winzige Kleinigkeit, die mir eine Gänsehaut verursacht – dazu hätte es des Hinweises gar nicht bedurft, daß ich es auf dem Gewissen habe, wenn etwas passiert, weil ich nichts unternommen habe.«

»Wirst du zum Minister gehen?«

»Jetzt noch nicht. Und zu Winder auch nicht. Aber vielleicht fahre ich bald schon mal allein den Fluß runter.«

Sie kniete neben ihm nieder, legte ihre Wange an seinen rechten Ärmel. »Wenn du das tust – es könnte gefährlich werden.«

»Es könnte katastrophal werden, wenn ich es nicht tue.«

97

»Und dann – «

Charles unterbrach seine Geschichte, um an seiner Zigarre zu paffen. Der Qualm war fast zuviel für Gus. Sie schob sich zur Seite, fort von seiner nackten Hüfte, und zog die leichte Decke höher über ihren Bauch. Das Glühen der Zigarre verblaßte, die bleiche Fläche von Charles’ Brust verschwand in der Dunkelheit.

»Hugh Scott und Dan und ich schoben einige Stämme in den Fluß. Wir klammerten uns dran und paddelten rüber. Das Wasser war eiskalt, und die Dunkelheit machte es noch schlimmer.« Er sprach ruhig, nachdenklich, fast so, als wäre er mit seinen Gedanken alleine; was in gewissem Sinne nicht weit von der Wahrheit entfernt war.

Den größten Teil des Winters über hatte er bei Hamilton’s Crossing biwakiert, nicht weit von ihrer Farm entfernt, was aber keineswegs bedeutete, daß sie ihn häufiger sah. Meistens war er dienstlich unterwegs. Heute abend hatte er sie wie üblich mit seinem plötzlichen Auftauchen überrascht. Nach Einbruch der Dunkelheit kam er an, schlang sein Abendessen hinunter, und mit der gleichen Schroffheit, mit der er zu Tisch gesessen hatte, zog er sie anschließend ins Bett.

Er berichtete gerade vom Überfall auf Richmond im letzten Monat. Sie munterte ihn zum Weitersprechen auf. »Ihr habt also den Fluß zur Windseite hin überquert?«

»Als Scout macht man das für gewöhnlich. Du kennst mich lange genug, um zu wissen, wie die Sache läuft.«

»Verzeih mir bitte mein schwaches Gedächtnis.«

Sofort bereute sie ihre Bitterkeit. Er wandte den Kopf ab und starrte zum offenen Fenster hinaus. Die Aprilnacht roch nach der Erde, die Washington und Boz heute gepflügt hatten.

»Wir haben in dieser Nacht noch eine ganze Menge mehr gemacht, als bloß über den Rappahannock zu schwimmen – « Die Erinnerung ließ ihn leise auflachen, was sie erfreute und erleichterte; es war lange her, daß sie ihn hatte lachen hören. »Total durchnäßt gingen wir weiter, bis wir die Yankee-Kolonne fanden. Es war tatsächlich Kilpatrick. Wir versteckten uns, bis wir uns drei vorüberlaufende Ersatzpferde schnappen konnten. Wir saßen auf und ritten eine Weile mit.«

»Mitten in der Unions-Kavallerie?«

»In der Dunkelheit hat niemand was bemerkt. Und mittendrin konnten wir leichter die Nasen zählen. Wir überquerten sogar mit General Kilpatrick und seinen Jungs den Fluß. Ich wollte, wir hätten ein paar von den Hundesöhnen abschießen können, aber wir mußten unsere Informationen zurück zur Division bringen. Das war der Grund, weshalb General Hampton schon wartete, als Little Kil auftauchte.«

Sie wollte die Härte in seiner Stimme beschwichtigen. »Das ist vielleicht eine Geschichte«, sagte sie und tätschelte seinen nackten Arm.

Sofort rollte er sich weg von ihr. »Hab’ noch ein paar von der Sorte«, ein kräftiges Gähnen, »aber die heb’ ich für morgen auf.«

Er zog die Bettdecke hoch, gab ihr ein Küßchen auf die Wange und begann nach einer knappen halben Minute zu schnarchen.

Am nächsten Morgen hatte er andere Dinge im Sinn. Kurz nach Sonnenaufgang kam er in die Küche und stopfte sich das graue Hemd in die Hose. Sie hatte ihn noch nicht ganz begrüßt, da verkündete er schon: »Ich wollte gestern nacht noch was über Richmond sagen. Jeden Tag nun – «

»Es wird weitere Kämpfe geben. Du mußt mich für eine Idiotin halten, stets auf Instruktionen von dem allwissenden Papa angewiesen. Mir ist bekannt, daß die Streitkräfte der Union bei Culpeper Court House stehen und bald marschieren werden – zweifellos in diese Richtung. Aber du entscheidest nicht, wann ich Schutz in der Stadt zu suchen habe.« Sie klopfte mit ihrem Holzlöffel gegen den Ofenrand. »Ich werde entscheiden.«

Sein Gesicht über seinem weißgesprenkelten Bart wurde lang. Er setzte sich hin und zündete sich eine Zigarre an. »Was zum Teufel ist plötzlich in dich gefahren?«

Sie warf den Löffel auf den Ofen und kam auf ihn zu. »Ich verspüre den dringenden Wunsch, einige Dinge in Ordnung zu bringen. Wenn du was für mich übrig hast, dann benimm dich auch entsprechend. Ich habe es satt, daß du hier hereinplatzt, wann immer dir danach ist. Du nimmst dir eine Mahlzeit – und was immer du sonst noch willst, knurrst und grummelst dabei ständig wie ein Bauernlümmel.«

Er nahm die Zigarre aus dem Mund. »Meine Anwesenheit hier entspricht also nicht Ihren Wünschen, Mrs. Barclay?«

»Fang nicht so an. Du behandelst mich wie eine Mischung aus Köchin, Wäscherin und Hure.«

Er sprang auf. »Mitten im Krieg haben die Leute nun mal keine Zeit für all die kleinen Nettigkeiten.«

»In diesem Hause schon, Charles Main. Andernfalls betreten sie es nicht. Jedesmal, wenn du hier bist, benimmst du dich, als wärst du lieber woanders. Wenn das stimmt, dann sag es, und fertig. Glaub mir, in deiner Verfassung bist du nicht gerade ein Goldstück.«

Charles starrte Gus an, seine Augen groß über den dunklen Halbkreisen, die da waren, seit er im letzten Sommer aus Pennsylvania zurückgekommen war. Ganz plötzlich erkannte sie eine Art überraschte Unschuld in seinem Blick.

Sie fühlte sich beschwingt, wagte aber nicht zu lächeln. Aber sie war durchgedrungen. Jetzt konnten sie miteinander reden, die Sache bereinigen.

Ein heftiges Klopfen. Washington an der Küchenschwelle.

»Reiter grad eingebogen. Kommt jetzt hinten rum.«

Draußen ertönten Hufschläge. Charles riß seinen Colt aus dem über dem Stuhl hängenden Gürtel. Geduckt stand er da, als das runde Gesicht des Reiters am Seitenfenster auftauchte.

Charles hing sich den Revolvergurt über die Schulter und öffnete die Küchentür. »Was machst du hier, Jim?«

»Stör dich ungern, Charles, aber der Brief hier für dich kam gestern abend gegen zehn. Morgen, Miz Barclay.« Jim Pickles berührte mit dem zerknitterten Briefumschlag seine Hutkrempe und reichte ihn Charles.

»Guten Morgen, Jim.« Langsam wischte sich Gus die Hände an der Schürze ab. Die Chance war vertan.

Jim deutete auf den Brief. »Steht Kriegsministerium drauf. Persönlich und vertraulich.«

»Schaut aus, als wäre er sechs Fuß tief in der Erde vergraben gewesen.«

»Stimmt fast. Der Mann, der ihn gebracht hat, sagte, sie hätten einen ganzen Packen Briefe und Meldungen in den Wäldern bei Atlee’s Station gefunden. Der Kurier war erschossen worden, schon vor einiger Zeit, und seine Tasche stand offen, und alles war verstreut.«

Charles erbrach das Siegel, faltete das Blatt auf. Sein Bart wehte in der Morgenbrise. »Du hast recht, Jim; der Brief ist im Februar geschrieben worden. Von meinem Cousin Orry, dem Colonel.«

Verblüfft las er weiter. Dann gab er Gus den Brief. Er bestand aus einem langen Absatz, in schöner, fließender Handschrift geschrieben. Als sie mit Lesen fertig war, sagte Charles zu Jim: »Billy Hazard ist im Libby-Gefängnis. Halb tot, wenn das hier stimmt.«

»Du redest von irgendeinem Yank?«

»Mein alter Freund aus West-Point-Zeiten. Ich habe dir von ihm erzählt.«

»Oh, ja«, sagte der jüngere Scout unbeeindruckt. »Was sollst du da unternehmen?«

»Ich werde sofort Orry in Richmond aufsuchen. Ich hole meine Sachen.«

Auf dem Weg zur Küche fiel Charles noch etwas ein. Er drehte sich um und zeigte auf Jim. »Und du vergißt, was ich eben gesagt habe, verstanden? Du hast nie ein Wort gehört.«

Er verschwand und tauchte kurz darauf mit Hut, Jacke und dem kleinen Leinenbeutel, in dem er Rasierzeug und Zigarren aufbewahrte, wieder auf. Sanft drückte er ihren Arm und gab ihr einen Kuß auf die Wange.

»Denk dran, was ich dir wegen Richmond gesagt habe.«

Unglücklich über die verpaßte Chance, die Dinge ins Lot zu bringen, platzte sie heraus: »Ich bin keiner deiner Rekruten, die du herumkommandieren kannst. Ich sagte dir schon, ich treffe meine eigenen Entscheidungen.«

Der grelle Sonnenaufgang widerspiegelte sich in seinen Augen. »In Ordnung. Wir reden das nächstemal über dieses ganze Durcheinander.« Es war mehr Warnung als Bitte. Sie verschränkte die Arme über ihrem Busen.

»Falls ich hier bin.«

»Mein Gott, hast du heute morgen eine spitze Zunge.«

»Nicht anders als du. Und ich bin verblüfft über deine zarte Besorgnis für deinen Yankeefreund. Ich dachte, du willst auch noch den letzten Mann auf der anderen Seite umbringen.«

»Ich gehe lediglich nach Richmond, weil Orry mich darum bittet. Reicht dir diese Erklärung? Los, Jim.«

Sie stürmte hinein und knallte die Tür zu. Als das Hufgeklapper draußen verklang, rannte sie zum Fenster; die Tränen der Niederlage liefen ihr über die Wangen. Sie zwinkerte und blinzelte, aber sie konnte nichts weiter sehen als Staub, dort, wo die Straße nach Fredericksburg in der grünen Landschaft verschwand.

Auf halbem Weg zur Hauptstadt gönnte Charles, einen Passierschein in der Tasche, Sport eine kurze Rast an einem Flüßchen. Während der Graue trank, las er noch einmal Orrys Brief. Was ging es ihn an? Nicht mehr als seine Beziehung zu Gus. Der Krieg änderte vieles.

Er saß auf einem Felsblock neben dem murmelnden Flüßchen und las den Brief ein drittes Mal. Alte Erinnerungen, Emotionen begannen sein unbeugsames Pflichtgefühl aufzuweichen. Hatten die Mains und die Hazards – nun ja, die meisten von ihnen – nicht geschworen, daß die Bande der Freundschaft und der Zuneigung zwischen ihnen die Hammerschläge des Krieges überleben würden? Dies war nicht einfach bloß ein weiterer Yank, von dem Orry schrieb. Das war sein bester Freund, der Ehemann seiner eigenen Cousine Brett.

Das war das eine Band; das andere, an der Akademie geschmiedet, konnte gleichfalls nicht mit leichter Hand zerbrochen werden. Viele Offiziere, die ihre Truppen gegen alte Klassenkameraden führen mußten, hatten diese Wahrheit einsehen müssen.

Er steckte den Brief in die Tasche und schämte sich seines ersten Impulses, ihn einfach zu ignorieren. Aus vielen Gründen war er sich längst nicht mehr sonderlich sympathisch. Er rauchte eine weitere Zigarre und galoppierte weiter auf Richmond zu.

98

Hinterher erkannte Judith, daß sie auf die Katastrophe hätte vorbereitet sein müssen. Die Warnsignale waren unübersehbar.

Cooper schlief selten mehr als zwei Stunden pro Nacht. Oft kam er überhaupt nicht nach Hause, breitete sich nur eine Decke auf dem Bürofußboden aus. Mit Lucius ging es ebenfalls bergab. Schließlich faßte sich der erschöpfte junge Mann ein Herz und wandte sich insgeheim an Judith – konnte sie nicht etwas tun, irgend etwas, um das Wahnsinnige Tempo ihres Mannes abzuschwächen? Lucius deutete an, daß es sich bei einigen der Aufgaben, die Cooper ihm aufbürdete, um reine Beschäftigungstherapie handelte. Judith stellte das nicht in Frage, da ihr längst klar war, daß der übermüdete Verstand ihres Mannes Bewegung mit Ziel verwechselte.

Sie versprach Lucius, für eine Besserung der Situation zu sorgen, redete auch mit Cooper sehr vorsichtig und taktvoll darüber, provozierte damit aber lediglich einen Ausbruch, der ihn zwei ganze Tage von der Tradd Street fernhielt.

Da er ohne Sinn und Logik explodierte, konnte sie nichts weiter tun, als das Haus während seiner Anwesenheit möglichst ruhig zu halten. Marie-Louise durfte weder singen noch spielen, und sie selbst lud weder jemanden ein, noch nahm sie eine der wenigen Einladungen an, die sie erhielten.

So bewahrte sie eine unbehagliche Ruhe bis Mitte April, als verkündet wurde, daß General Beauregard das Kommando über das Department von North Carolina und Southern Virginia übernehmen würde. In Wirklichkeit wurde ihm damit die Verantwortung für die Verteidigungslinien von Richmond übertragen. Schnell wurde ein Abschiedsempfang im Mills House arrangiert. Cooper teilte ihr mit, daß sie hingehen würden. Am Tage des Empfangs versuchte Judith, es ihm auszureden – in der letzten Nacht hatte er nicht einmal eine Stunde geruht –, aber er griff nach seinem hohen, grauen Hut und den dazu passenden Handschuhen, und sie wußte, daß sie geschlagen war.

Sie erreichten die Broad-Street-Kreuzung und pausierten neben zwei Soldaten nahe den Stufen von St. Michael. Ungefähr einen halben Block entfernt tauchte eine Gruppe von achtzehn oder zwanzig Gefangenen auf. Die Yanks waren höchstwahrscheinlich draußen auf Morris Island gefangen worden. Drei Jungs in Grau, keiner von ihnen älter als achtzehn Jahre, bewachten die älteren Männer, die lachten und sich unterhielten, als würden sie ihre Gefangenschaft genießen.

Das Gaslicht blitzte auf den Bajonetten der jungen Wachen und ließ Coopers Augen sprühen. Sein Kopf dröhnte vom lauten Läuten der Glocken im Kirchturm über ihnen. Er beobachtete die Yanks, die auf die Straßenecke zugeschlurft kamen, wo er mit seiner Frau stand. Ein Sergeant mit blauer Jacke und dickem Bauch bemerkte Judith, lächelte und sagte etwas zu seinem Nebenmann.

Cooper schüttelte Judiths Hand von seinem Arm und rannte auf die Straße. Sie rief seinen Namen, aber er zerrte bereits den Sergeant aus der Reihe. Der jugendliche Wachposten vorn und die beiden anderen hinten schauten verblüfft drein. Cooper schüttelte den erstaunten Gefangenen.

»Ich habe gesehen, wie du meine Frau angestarrt hast. Behalt deine Blicke und deine dreckigen Bemerkungen für dich.«

Stimmen redeten durcheinander. Judith: »Ich bin sicher, der Mann wollte nicht – «

Der Wachhabende: »Sir, Sie dürfen sich hier nicht einmischen – «

Der Ire neben dem Sergeant: »Hören Sie, er sagte nicht ein einziges Wort – «

»Ich weiß es besser.« Coopers Stimme klang schrill. Er stieß mit seinem Stock nach dem Sergeant. »Ich hab’s gesehen.«

»Mister, Sie sind ja verrückt.« Der Sergeant wich zurück und stieß gegen die Männer hinter sich. »Helft mir doch, mir diesen verrückten Reb vom – «

»Ich hab’ deinen Gesichtsausdruck gesehen. Du hast was Dreckiges über sie gesagt.«

»Bitte, Sir, hören Sie auf«, bat der Wachposten.

»Ich weiß, daß du’s getan hast, und bei Gott, du wirst dich entschuldigen.«

Dem Sergeant reichte es. »Du kriegst nichts weiter als meine Faust, du verfluchter Verräter, du – «

Der niedersausende Stock schimmerte im Gaslicht. Judith schrie auf, als Cooper den Sergeant am Kopf traf, dann an der Schläfe. Der Sergeant versuchte sich mit erhobenen Armen vor den Schlägen zu schützen. »Haltet ihn mir vom Leib!« Cooper zerrte eine Hand des Yanks runter und traf ihn noch zweimal. Der Sergeant sank auf ein Knie, schüttelte benommen den Kopf.

Der Ire versuchte einzugreifen. Cooper rammte dem Mann das Stockende in die Kehle, schlug erneut auf den Sergeant ein. Der Stock zerbrach. »Oh mein Gott, Cooper, hör auf.« Judith zerrte an ihm, sah Speichel auf seinen Lippen. Er schüttelte sie ab.

Er drehte das Stockstück, das er noch in der Hand hielt, um. Mit dem Silberknauf hämmerte er auf den Kopf des Sergeants ein. Blut färbte das Haar des Gefangenen. Judith versuchte noch einmal, Coopers Arm festzuhalten. Er rammte ihn nach hinten, schnaubte wie ein Tier. Sein Ellbogen traf schmerzhaft ihre Brust. Er stieß Obszönitäten aus, die sie in all den Jahren nie von ihm gehört hatte.

»Du hast meinen Sohn getötet«, kreischte Cooper und landete einen weiteren Schlag. Endlich griffen kräftige Hände nach ihm, konnten ihn zurückreißen, ihm den Stock entwinden. Der geschockte Sergeant begann zu weinen. Die Gefangenen und der Wachhabende umringten Cooper, zerrten ihn zurück. Er trat, biß, warf sich von einer Seite zur anderen.

»Laßt mich los – er hat meinen Jungen getötet – mein Sohn ist tot – er hat ihn getötet!«

Die Masse der Männer rang Cooper auf den Gehsteig nieder, als die acht Kirchturmglocken die volle Stunde zu schlagen begannen. Der Klang hallte in Coopers Kopf nach. Einer der Yanks trat nach ihm.

»Bitte, laßt mich durch. Er ist nicht bei sich – «

Niemand beachtete Judith. Sie sah, wie ein anderer Gefangener auf Coopers ausgestreckte Hand trat. Verzweifelt schlug sie auf blaue Uniformen ein.

»Ich bin seine Frau. Laßt mich durch!«

Endlich öffnete sich eine Gasse, und sie warf sich über ihn, wiederholte seinen Namen in der Hoffnung, ihn zu beruhigen. Er rollte den Kopf hin und her, Schaum in den Mundwinkeln.

»Stoppt die Glocken – sie sind zu laut – ich ertrag’s nicht.«

»Was für Glocken?«

»Im Kirchturm«, brüllte er. »Dort – dort.«

»Jene Glocken sind nicht mehr da, Cooper.« Sie faßte ihn an den Schultern und begann ihn zu schütteln. »Schon vor Monaten haben sie die Glocken von St. Michael abgeholt und nach Columbia gebracht, damit sie den Yankees nicht in die Hände fallen können.«

Sein Mund öffnete sich; er starrte sie an, dann den Kirchturm, dann wieder sie. »Aber ich höre sie.« Ein Aufschrei wie von einem Kind. »Ich höre sie, Judith!«

Er tastete nach ihrer Hand, versteifte sich plötzlich. Seine Augen schlossen sich, sein Körper wurde schlaff. Sein Kopf fiel zur Seite auf den Gehsteig.

»Cooper?«

99

Andy glaubte, ein Ast habe geknackt, bis er die Kugel vorbeizischen hörte.

Der Schuß kam aus dem Dickicht zu seiner Linken. Andy versuchte, die Person mit dem Gewehr zu entdecken, während er sein Maultier mit den schweren Arbeitsschuhen antrieb. Der Mann stand auf, ein gutes Stück drinnen im schattigen Unterholz. Er brachte eine Muskete in Anschlag, preßte den Kolben gegen die unionsblaue Uniformjacke, unter der seine schwarze Brust zu sehen war. Das linke Auge des Mannes schloß sich, während er das rechte Auge zusammenkniff, um zu zielen. Es traf Andy wie ein Hammerschlag, als er das aufgedunsene, fette Gesicht erkannte.

»Los, Maultier!« Wieder trat er das Tier.

Das Maultier rannte auf eine Straßenbiegung zu. Das Gewehr dröhnte auf, aber die Kugel war schlecht gezielt. Augenblicke später befanden sich Reiter und Maultier hinter der Biegung in Sicherheit.

In Mont Royal angekommen, ging Andy geradewegs ins Büro von Meek. Der Verwalter schob mit leicht verwirrter Miene Rechnungen hin und her, als wüßte er nicht genau, was er mit dem schnell schwindenden Inflationsgeld der Plantage noch bezahlen sollte. Mit trockenem Mund berichtete Andy.

»Er wollte mich töten, Mr. Meek. Und er hatte zwei Musketen. Er hätte die zweite Kugel nicht so schnell abschießen können, wenn er hätte nachladen müssen.«

Über den Rand seiner Halbbrille hinweg richtete sich Meeks wäßriger Blick auf Andy. Die Aufgabe, eine Plantage zu leiten, wenn man die Ernten unter Preis an die Regierung verkaufen mußte und ständig Sklaven verschwanden, hatte tiefe Falten in sein Gesicht gegraben. Er sah zehn Jahre älter aus als am Tag seiner Ankunft.

»Bist du sicher, daß es Cuffey war?«

»Bei dem Gesicht könnt’ ich mich nie täuschen. Er trug die Uniform eines Yankeesoldaten; er ist fett wie eine Frühlingskröte. Diese Bande muß verdammt gut essen.«

Er begann zu lächeln, aber Meeks Ärger vertrieb das Lächeln.

»Das tun sie. Diebe, das sind sie. Was glaubst du, wer die sechs Hennen vor einer Woche gestohlen hat? Schätze, wir bereiten uns lieber auf einen Empfang vor, falls sie noch mal kommen. Wir müssen ein paar Gewehrkugeln gießen und die beiden Pulverfäßchen auf Feuchtigkeit inspizieren.«

»Das mach’ ich«, versprach Andy.

Meek rieb sich die Nase. »Du hast nichts von dem Räuchersalz gesagt.«

Andy schüttelte den Kopf. »Nichts zu kriegen, Mr. Meek. Ich bin sogar in die Tradd Street gegangen, habe gehofft, was von Mr. Cooper zu borgen. Niemand da. Zumindest hat niemand aufgemacht. Ich habe lange und kräftig geklopft. Tut mir mächtig leid, mit leeren Händen zurückzukommen.«

»Ich weiß, daß du dein Bestes getan hast. Morgen kannst du rüber zu Francis LaMotte reiten. Ich hasse es, diesen eingebildeten kleinen Gockel um eine Gefälligkeit bitten zu müssen, aber ich habe gehört, er habe ein bißchen Salz aus Wilmington mitgebracht, als er auf Urlaub da war.« Er machte eine müde, abwesende Handbewegung. »Ich danke dir, Andy. Ich bin froh, daß dir nichts passiert ist.«

Das aufgedunsene Gesicht über dem Gewehrlauf haftete in Andys Erinnerung, als er sich in dem großen Haus auf die Suche nach Jane machte. Die Bande der Flüchtlinge, Cuffey eingeschlossen, verließ die Sümpfe, um Nahrung zu stehlen oder einsame Reisende zu töten und zu berauben. Zwei weiße Männer von Plantagen am Ashley waren letzten Monat ermordet aufgefunden worden.

»Guten Abend«, sagte Andy, als er beim Haus angelangt war. Orrys Mutter reagierte nicht. Bewegungslos saß sie auf der Veranda und starrte mit sanftem, verwirrtem Lächeln zu den Bäumen hinüber. Kopfschüttelnd betrat er das Haus und folgte dem Klang der Hammerschläge, bis er Jane gefunden hatte. Sie nagelte mit einem Hausdiener Abfallbretter über ein Fenster, das der letzte Sturm zerbrochen hatte.

Sie lächelte, als sie ihn sah, aber sein Gesichtsausdruck machte ihr klar, daß etwas nicht stimmte. Er nahm sie beiseite und erzählte ihr von dem Vorfall auf der Straße, wobei er die Gefahr herunterspielte. »Ich möchte wetten, dieser verrückte Cuffey wartet bloß darauf, hier Unheil anrichten zu können. Vielleicht«, er senkte die Stimme, damit der Hausdiener ihn nicht hören konnte, »vielleicht sollten wir beide uns auch in einer dunklen Nacht davonmachen.«

»Nein. Ich habe Miss Madeline mein Wort gegeben, daß ich bleibe. Und eine Sklavenhochzeit will ich auch nicht. Du und ich, wir werden als freie Menschen heiraten.« Sie drückte seine Hand. »Es wird nicht mehr lange dauern. Ein Jahr. Vielleicht weniger.«

»Nun, ich schätze, ich bin damit einverstanden, da ich noch keine Frau gefunden habe, die mir besser gefällt als du. Bis jetzt.«

Sie wollte ihm einen Klaps geben, und er wich lachend aus. Er hoffte, daß er hinter dem Lachen seine düstere Stimmung verbergen konnte. Er war sicher, daß sie in nächster Zeit Besuch von der Abtrünnigenbande bekommen würden.

Er schlief schlecht diese Nacht; im Traum erschien ihm Cuffeys aufgedunsenes Gesicht. Am nächsten Morgen, als er gerade zu Francis LaMottes Plantage aufbrechen wollte, nahm ihn Philemon Meek beiseite und schob einen kleinen Revolver in seine braune Hand. »Der ist geladen. Sorg dafür, daß er außer Sicht ist, wenn du irgendwelchen Weißen unterwegs begegnest. Versteck ihn im Unterholz, solange du auf LaMottes Besitz bist. Für das Tragen eines Revolvers könnten sie dich hängen.«

»Sie könnte man hängen, weil Sie ihn mir gegeben haben, Mr. Meek.«

»Das Risiko geh’ ich ein. Ich möchte nicht, daß dir was passiert.«

Andys Lächeln wurde spröde. »Wollen Ihren Nummer-eins-Nigger nicht verlieren?«

Verärgert sagte Meek: »Ich möchte keinen guten Mann verlieren. Und jetzt setz dich auf dein Maultier, bevor ich dich in dein hochnäsiges Hinterteil trete.«

Andy atmete tief durch. »Tut mir leid, daß ich das gesagt habe. Da brechen die alten Zeiten durch.«

»Ich weiß.«

Sie schüttelten sich die Hände.

Dixie’s Land vor sich hin pfeifend, ritt Andy einen fast zugewachsenen Weg entlang, eine Abkürzung zu Francis LaMottes Anwesen. Er dachte gerade, daß Old Meek gar nicht so übel sei, als er mitten auf dem Weg auf einen dunklen Haufen stieß, wie ein Bündel abgelegter Kleider.

»Whoa, Muli«, flüsterte er; lauschend saß er da. Er hörte Vögel, die üblichen Geräusche im Unterholz, aber nichts Alarmierendes. Er stieg von dem Muli ab und ging, Meeks Revolver in der Hand, langsam vor.

Das Bündel war ein regungsloser schwarzer Mann. Die Taschen seiner Hosen waren umgedreht. Zwei rotrandige Löcher markierten seine Stirn wie ein zweites Augenpaar.

Andy schauderte, schluckte und studierte den Busch zu beiden Seiten des Weges. Rechts war ein ganzes Stück niedergetrampelt. Er ging hin, den Atem anhaltend. In der feuchten Brise baumelte eine Gestalt von einem Ast. Andy erkannte Francis LaMotte, in der Uniform der Ashley Guards – oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war. LaMotte hing an einem um seine Handgelenke geschlungenen Seil. Stiefel und Socken waren ihm gestohlen worden. Seine Füße waren nackt.

Andy hätte auch genausogut einen phantastisch gefärbten Vogel vor sich haben können. LaMottes strahlend grüne Jägerjacke war an so vielen Stellen zerrissen, daß sie wie ein Federkleid wirkte. Die Jacke und die kanariengelben Hosen wiesen rote Flecke auf, die glänzten, weil sie immer noch feucht waren.

Der durchhängende Ast knirschte. Langsam drehte sich LaMottes Körper. Andy hörte auf, die Wunden zu zählen, als er bei dreißig angelangt war.

Am gleichen Aprilabend näherte sich Orry der Farm, deren Lageskizze ihm Mrs. Halloran aufgezeichnet hatte. Dünne Wolken verschleierten Mond und Sterne. Das erleichterte es ihm, die ungepflügten Felder zu überqueren, wie seine Informantin es vorgeschlagen hatte.

In einiger Entfernung band er sein Pferd an einen Baum. Der Nachtwind trug ihm ein Schnauben zu. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die feuchte Oberlippe und ging langsam und leise in Richtung des erleuchteten Gebäudes.

Es gab keine Deckung, keine Möglichkeit, sich ungesehen zu nähern, außer man kroch. Auf halbem Weg glaubte er ein Streichholz jenseits des Hauses aufflackern zu sehen, ein gutes Stück zu seiner Linken. Eine Wache auf der Straße? Mehr als wahrscheinlich.

Jetzt hörte er das sanfte Stampfen der Pferde. Ein Streifen dichten, hohen Grases trennte das Gebäude von dem Feldrand, wo er kauerte und die Tiere zählte: vier Sattelpferde; ein Tier stand vor einem Einspänner. Wenn man davon ausging, dann war Mr. Lamar Powells Revolutionsarmee nicht gerade überwältigend. Aber Orry hatte als Junge seinen Julius Caesar gelesen und wußte, daß keine Heerscharen nötig waren, um einen politischen Mord zu begehen.

Geduckt kroch er auf das Licht zu; das Unkraut raschelte und knisterte. Auf halbem Weg zur Mauer hörte er gedämpfte Unterhaltung. Einen Augenblick lang traute er seinen Sinnen nicht: Zwischen den männlichen Stimmen hörte er eine Frauenstimme heraus.

Vor lauter Überraschung verlagerte er sein Gewicht zu schnell. Mit lautem Knacken zerbrach sein rechter Stiefel einen Zweig.

»Warte, Powell. Ich glaube, ich hab’ draußen was gehört.«

»Vielleicht ein Kaninchen – oder eine Ratte. Hier wimmelt’s nur so davon.«

»Soll ich nachschauen?«

»Nicht nötig. Wilbur hält an der Straße Wache.« Die Stimme des Mannes, der als Powell angesprochen worden war, verkörperte absolute Autorität. So schnell er es wagte, kroch Orry das restliche Stück zur Wand und preßte sein Auge gegen einen Spalt.

Verdammt. Powell drehte ihm den Rücken zu. Orry konnte nichts weiter als rehfarbene Hosen, eine dunkelbraune Samtjacke und ergrauende, pomadisierte Haare sehen. Von links ragten Stiefel in Orrys Blickfeld.

»Unsere wichtigsten Waffenlieferungen sind gestern eingetroffen«, sagte Powell, ging auf einen Kistenstapel zu und drehte sich um.

Lamar Powell, Ende Dreißig, besaß ein Gesicht, das die meisten Frauen vermutlich als gutaussehend bezeichnen würden. Er posierte auf theatralische Weise, deutete auf eine rechteckige Kiste, auf die das Wort WHITWORTH aufgemalt war.

»Wie Ihr sehen könnt, sind wir mit dem Besten ausgerüstet.«

»Whitworth ist verflucht teuer«, fing einer an. Powells Augen blitzten in plötzlicher Wut auf. Der Sprecher murmelte: »Bitte um Entschuldigung.«

»Teuer schon«, stimmte Powell zu. »Aber auch die besten Scharfschützengewehre der Welt. Die .45-Kaliber-Whitworth hat auf achthundert Yards eine Abweichung von weniger als einem Fuß. Wenn nur einige wenige von uns auf den Feind zielen«, sein Mund verzog sich zu einem humorlosen Lächeln, »dann muß jeder höchste Treffsicherheit erreichen.«

Mit diesen wenigen Sätzen schaffte es Powell, Orry in Alarmzustand zu versetzen. Diesen Mann umgab, anders als die meisten Fanatiker, eine Aura der Kompetenz. Durch eigene Dummheit würde er nicht scheitern, vermutete Orry.

Powell fuhr fort: »Ich glaube nicht, daß einer von euch daran interessiert ist zu erfahren, wieviele illegale Maßnahmen – teure Bestechungen – notwendig waren, um diese Schiffsladung zu erhalten. Je weniger ihr wißt, desto sicherer seid ihr. Und so, wie die Dinge stehen, riskieren wir schon bald genug den Hanfstrick.«

»Ich habe den langen Ritt hier heraus nicht gewagt, um mir Scherze anzuhören, Lamar.«

Der Schreck ging Orry durch und durch. Die Stimme gehörte zu James Huntoon.

»Ich will zum Kern der Sache kommen«, sagte er. »Wann und wie töten wir Davis?«

Dann glaubte Orry wirklich den Verstand zu verlieren. Der nächste Sprecher, der sich an Powell wandte, war eine Frau.

»Und wer stirbt mit ihm?«

Ganz deutlich sah er, dicht neben Powell, seine Schwester Ashton.

Er mußte auch die anderen Verschwörer identifizieren. Er veränderte seine Stellung, um einen anderen Teil des Inneren überblicken zu können. Ein Mann lehnte an der Wand, zur Flußseite hin. Der Mann war ein grober, bulliger Typ, den Orry noch nie gesehen hatte.

Er legte seine Hand gegen die Wand und preßte sein anderes Auge gegen den Spalt. Die Holzverkleidung knackte unter seiner Hand. Huntoon sagte: »Draußen ist jemand.«

Powell rannte durch Orrys Blickfeld. Orry kroch zurück, während Powell brüllte: »Löscht die Laternen!«

Die senkrechten gelben Schlitze wurden schwarz. Orry sprang auf und rannte geduckt auf das Feld zu. Eine Tür ging auf. Er hörte Stimmen außerhalb des Geräteschuppens; Powells Stimme klang am lautesten.

»Wilbur? Wir brauchen dich. Wir sind ausspioniert worden.«

Orrys Brust schmerzte bereits vom Rennen. Auf halbem Weg durchs Feld hörte er ein Pferd herangaloppieren; der Reiter feuerte einen Schuß ab. Die Kugel schlug zwei Fuß links von Orry ein. Er rutschte aus, fiel auf die Knie, stieß sich wieder hoch; er erreichte sein Pferd, als sein Verfolger in der Mitte des Feldes angekommen war.

Er trieb seinen Gaul den Weg entlang, den er hergekommen war. Tiefhängende Zweige peitschten seine Wangen und seine Stirn. Der Mann hinter ihm schoß ein zweitesmal und verfehlte ihn erneut. Orry galoppierte auf die breitere Hauptstraße, die im Bogen vom Fluß wegführte. Er ließ seinen Verfolger hinter sich, atmete tief durch. Er entfernte sich von dem Ort des Schocks – ritt aber auf eine unvermeidliche Auseinandersetzung mit seinem eigenen Gewissen zu. Um Mitternacht war es soweit. Madeline saß auf dem Bettrand, während er auf und ab marschierte.

Nachdem er ihr alles erzählt hatte, waren ihre ersten Worte: »Wie um alles in der Welt konnte sie in eine solche Sache geraten?«

»Im ersten Moment dachte ich, wegen James. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Außerdem spielt das wohl kaum eine Rolle. Ich bin der einzige Mensch, der Kenntnis hat von einem Anschlag auf das Leben des Präsidenten. Und auch andere Leben sind gefährdet.« Er umklammerte den Bettpfosten. »Ich muß mit der Information zu Seddon. Und zu Winder. Er kann die Verschwörer still und heimlich verhaften.«

»Alle Verschwörer?« fragte Madeline. »Einschließlich deiner Schwester?«

»Sie ist eine von ihnen. Weshalb sollte sie besondere Berücksichtigung verdient haben?«

»Du weißt, Orry, daß ich nicht mehr für sie übrig habe als du. Aber sie gehört zur Familie.«

»Familie! Lieber hätte ich Beast Butler als Verwandten. Madeline, meine Schwester wollte Billy Hazard ermorden lassen.«

»Das habe ich nicht vergessen, aber es ändert nichts an dem, was ich eben gesagt habe. Du hörst es nicht gern, aber es stimmt. Dazu kommt noch: Bis jetzt ist noch kein Verbrechen begangen worden.«

»Bestenfalls könnte ich – und ich will verdammt sein, wenn sie es verdient hat – ihren Namen verschweigen oder die Tatsache, daß ich sie gesehen habe.«

»Du müßtest für James das gleiche tun.«

»Ich schulde ihm nichts.«

»Er ist Ashtons Ehemann.«

Ein langes Schweigen, dann ein angewidertes Seufzen. »In Ordnung. Aber auf weitere Kompromisse lasse ich mich nicht ein. Ich werde Powell und niemanden sonst identifizieren. Wenn er Huntoon oder meine Schwester mit hineinzieht, so ist das seine Sache.«

»Wir sind entdeckt – man wird uns verhaften –, was in Gottes Namen sollen wir tun, Lamar?«

Huntoons Gejammer machte Ashton krank. Draußen vor dem Geräteschuppen schoß Powells Hand vor, packte Huntoon am Kragen. »Ganz bestimmt werden wir nicht wie die Kinder heulen.« Er stieß Huntoon zurück, als Wilbur, der Wachposten, über das Feld zurückgetrabt kam.

»Habe ihn aus den Augen verloren.«

»Aber du hast ihn erkannt.«

»Nein.«

»Zum Teufel mit dir.« Powell wandte Wilbur den Rücken zu, der sich den Farmerhut über die Augen zog und sich schweigend setzte.

Powell rieb sich mit den Fingerknöcheln das Kinn, dachte nach.

Einer der Verschwörer räusperte sich. »Gegen Morgen werden sie hier draußen sein, was?«

Huntoon sagte: »Vielleicht war’s bloß ein Niggerjunge, der Hühner stehlen wollte.« Er versuchte sich selbst zu beruhigen.

»Es war ein Weißer. Soviel hab’ ich gesehen«, sagte Wilbur.

»Aber vielleicht will er uns nichts Böses – «

»Bist du schwachsinnig?« sagte Powell. »Er hat sich heimlich angeschlichen. Er hat uns durch einen Spalt in dieser Wand beobachtet. Aber davon abgesehen, glaubst du ernsthaft, ich setze mich erst mal hin und warte ab, ob er harmlos ist oder nicht?«

Er schob den gedemütigten Huntoon beiseite und überflog die Klippe, das Feld, die anderen Gebäude mit prüfenden Blicken. »Wir benötigen eine vernünftige Taktik, um mit dieser Situation fertig zu werden. Wenn wir kühlen Kopf behalten, dann kommen wir ohne jede Schramme da durch.«

Voller Angst klammerte sich Ashton an ihren Glauben in Powells Intelligenz und Mut. Aber auch dieser Glauben wurde erschüttert, als er lächelnd sagte: »Als erstes müssen wir uns die Hilfe von Mr. Edgar Allan Poe sichern. Mein Lieblingsautor. Kennt jemand von euch seine Geschichte des gestohlenen Briefes?«

»Du bist ein Schwachsinniger!« – tobte Huntoon. »Jetzt von irgendeinem billigen Schreiberling zu reden.«

Ausnahmsweise war Ashton insgeheim auf Seiten ihres Mannes. Ihr Geliebter gab keinerlei Erklärung ab, sondern stieß Huntoon ein zweitesmal beiseite und ging lachend an ihm vorbei.

Bei Tageslicht marschierte Orry zu Minister Seddons Residenz hoch und betätigte den Klopfer so kräftig, daß er damit wahrscheinlich die ganze Nachbarschaft weckte. Innerhalb von Minuten wurde der mürrische Winder herbeizitiert. Nach seinem Erscheinen leistete er eine halbe Stunde lang Widerstand – Orry gehörte schließlich nicht gerade zu den Kollegen, denen er bedingungslos vertraute –, gab dann aber unter Druck von Seddon nach. Vor Mittag noch würde er Männer nach Wilton’s Bluff schicken.

»Ich werde sofort zum Präsidenten gehen«, sagte der Minister, nachdem er sich vom Schock erholt hatte. »Alle Kabinettsmitglieder werden gewarnt. Inzwischen steht Ihnen, Colonel Main, das Privileg zu, das Netz für den größten Fisch auszuwerfen.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Sir.«

Einige Minuten nach zehn raste eine geschlossene Kutsche nach Church Hill und bog in die Franklin Street ein. Orry sprang hinaus und führte einen bewaffneten Trupp die Eingangsstufen hoch. Ein zweiter Trupp hatte sich bereits im Garten postiert.

Die Eingangstür bot keinen Widerstand. Verblüfft sagte er zu seinen Männern: »Sie ist unverschlossen.«

Die Inneneinrichtung war unberührt, aber Kleidung und persönlicher Besitz fehlten.

Lamar Powell war verschwunden.

An diesem Abend kam ein zweiter Schock, und zwar drinnen in Winders Heiligtum.

»Ich habe nichts gefunden«, sagte Winder. »Kein Anzeichen, daß jemand dort gewesen ist. Und vor allem keine Spur der Waffenkisten, von denen Sie berichteten, Colonel. Meiner Meinung nach ist seit Monaten niemand mehr dort gewesen. Die Nachbarn, die ich befragt hab’, sind der gleichen Ansicht.«

Orry sprang auf. »Das kann nicht sein.«

Feindselig sagte der andere Mann: »Wirklich? Nun«, eine spöttische Geste zur Tür, »befragen Sie die beiden Detektive, die ich mitgenommen habe. Sie haben meinen Bericht gehört. Wenn er Ihnen nicht paßt, reiten Sie zurück, und machen Sie Ihren eigenen Bericht.«

»Bei Gott, das werd’ ich«, sagte Orry, als Israel Quincy ans Fenster trat und den Sonnenuntergang betrachtete.

Orry, der sein kärgliches Abendessen aus Reis und Maisbrot nicht angerührt hatte, sagte zu Madeline: »Quincy ist gekauft worden. Winder auch, soweit ich das beurteilen kann. Mrs. Halloran ist unbeabsichtigt über eine Verschwörung gestolpert, die sich bis in höchste Kreise zieht. Ich beabsichtige herauszufinden, bis wohin.« Am frühen Abend hatte er die Farm noch einmal persönlich abgesucht und nicht die geringste Spur entdecken können.

»Aber der Präsident ist jetzt in Sicherheit, nicht wahr? Er ist gewarnt worden.«

»Ja, aber ich muß es trotzdem herausfinden. Ich wäre nicht überrascht, wenn sich gerade jetzt Seddon und seine Frau Gedanken über meinen Geisteszustand machen würde. Bin ich ein Trunkenbold? Nehme ich Opium? Hatte ich Visionen auf der Farm? Ich schwöre dir«, er ging um den Tisch herum zu ihr, »nichts davon trifft zu.«

»Ich glaube dir, Liebster. Aber was kannst du tun? Es scheint so, als wäre der Fall an einem einzigen Tag aufgetaucht und wieder verschwunden.«

»Für mich nicht. Und ich kenne jemanden, der auf der Farm war. Sie ist immer noch in Richmond – das habe ich überprüft. Gleich morgen früh werde ich mich um meine Schwester kümmern.«

Aber dazu kam es nicht. Um halb elf läutete es. Orry rannte nach unten. Es mußte für ihn sein; die Vermieterin empfing nie so spät noch Besuch.

Über und über mit Schmutz bedeckt stand Charles vor ihm; wie ein Berggipfel über Wolken ragte sein Kopf aus dem Zigarrenqualm heraus.

»Dein Brief hat einen Umweg über Atlee’s Station gemacht, aber endlich hab’ ich ihn doch noch bekommen. Ich bin hier, um was für Billy zu tun.«

100

Stephen Mallory kam am gleichen Abend in Charleston an, nach einer beschwerlichen Fahrt in einem der dreckigen, ungeheizten Wagen der allmählich verrottenden Südstaaten-Eisenbahn. Eine telegraphische Nachricht von Lucius Chickering hatte ihn auf den Weg gebracht.

Cooper wußte davon nichts. Nach dem Vorfall in der Meeting Street hatten ihn Soldaten der Militärpolizei nicht gerade übertrieben sanft heimgeschafft, und seitdem hatte er das Bett nicht mehr verlassen, hatte sich nicht bewegt, nicht gesprochen, das Essen nicht berührt, das Judith ihm brachte.

Cooper drehte seinen Kopf um ein paar Millimeter, als Judith die Tür öffnete, nachdem sie sanft geklopft hatte.

»Liebling? Du hast einen Besucher. Dein Freund Stephen. Der Minister.«

Er sagte nichts, lag nur unter den für das milde Wetter zu dicken Decken.

»Könnte ich einen Moment mit ihm allein sein, Judith?«

Sie betrachtete ihren Mann. Seine Augen waren rund und leer, wie jeden Tag. Sorgfältig verbarg sie ihren Schmerz vor dem Besucher.

»Natürlich. Wenn Sie mich brauchen, auf dem Tisch dort ist eine kleine Handglocke.«

Mallory nickte und zog sich einen Stuhl neben das Bett. Er setzte sich. Judith schloß die Tür.

Der Minister starrte seinen Assistenten an. Coopers Augen waren auf die Zimmerdecke gerichtet. Mallory begann mit der Abruptheit eines Gewehrschusses.

»Es heißt, du bist erledigt. Stimmt das?«

Seiner Stimme fehlte der übliche, süßliche Krankenzimmertonfall. Cooper zwinkerte einmal, rührte sich aber nicht.

»Hör zu, Cooper. Wenn du mich verstehst, dann bring wenigstens die Höflichkeit auf, mir in die Augen zu schauen. Ich habe nicht den weiten Weg von Richmond gemacht, um mich mit einer Leiche zu unterhalten.«

Langsam kippte Coopers Kopf in Richtung des Besuchers, die Wange ruhte auf dem Kissen, dünnes, graues Haar breitete sich darüber. Aber die Augen blieben leer.

Hartnäckig fuhr Mallory fort: »Das war skandalös, was du da getan hast. Skandalös, es gibt kein anderes Wort dafür. Der Feind hält uns bereits für eine Nation von Barbaren – bedauerlich, aber nicht ganz ungerechtfertigt. Doch wenn sich ein Regierungsbeamter wie ein wahnsinnig gewordener Gefängniswärter aufführt, noch dazu in aller Öffentlichkeit…« Er schüttelte den Kopf. »Du hast unserer Sache geschadet, Cooper, und du hast dir selbst geschadet.«

Diese Worte lösten schließlich eine Reaktion aus: Coopers Augenlider flatterten, und seine Lippen preßten sich zusammen. Mallorys Gesicht sah fast so grau aus wie das des Mannes im Bett.

»Ich konnte in dem verdammten Zug nicht schlafen, da habe ich über irgendeine höfliche Formulierung nachgedacht, mit der ich deinen sofortigen Rücktritt fordern könnte. Es gibt keine. Deshalb – «

»Sie haben meinen Sohn getötet.«

Die plötzlichen Worte ließen Mallory zusammenfahren. »Was soll das? Die Gefangenen, die du angegriffen hast? Unsinn.«

Coopers Hände zuckten über die Decke, ziellose weiße Spinnen ohne Netz. Er zwinkerte wieder schnell und sagte heiser: »Die Profitler haben meinen Sohn getötet. Der Krieg hat ihn getötet.«

»Das war tragisch, das streite ich gar nicht ab. Aber in diesen Zeiten war es auch nichts Außergewöhnliches.«

Coopers Kopf ruckte hoch. In den tiefen Höhlen seiner Augen flackerte Ärger. Mallory drückte ihn sanft zurück.

»Nichts Außergewöhnliches, außer für dich und deine Familie. Hast du keine Ahnung von den Zahlen? Wieviele Väter ihre Söhne verloren haben? Das sind Hunderttausende, über den ganzen Süden verteilt. Und übrigens auch über den ganzen Norden. Nach einer angemessenen Zeit der Trauer nehmen die meisten dieser Väter wieder ihr Leben auf. Sie legen sich nicht ins Bett und heulen.«

Der Minister sackte ein bißchen in sich zusammen. Seine Bemühungen waren anstrengend und, schlimmer noch, erfolglos. Mit einem Taschentuch fuhr er sich übers Gesicht. Ein letzter Versuch noch.

»Du hast dem Marineministerium mehr als zuverlässig gedient, Cooper. Im Fall der Hunley hast du großen Mut bewiesen. Wenn du der gleiche Mann bist, der auf dem Grunde des Hafens von Charleston zweieinhalb Stunden lang verbrauchte Luft und Todesangst ertragen hat, dann benötige ich deine Dienste immer noch. Dieser Krieg ist noch nicht beendet. Die Soldaten und Matrosen kämpfen immer noch, genau wie ich. Deshalb wäre ich bereit, auf ein Rücktrittsgesuch zu verzichten. Aber um die Arbeit wieder aufzunehmen«, streng wie ein Vater erhob er sich, »müßtest du dich aus dem Bett erheben. Bitte teile mir deine Entscheidung innerhalb von zweiundsiebzig Stunden mit.«

Er achtete sorgfältig darauf, die Türe lauter als notwendig zu schließen.

Unten bei Judith wischte er sich erneut das schwitzende Gesicht ab. »Das war das Schwerste, was ich je getan habe – mein Mitgefühl für diesen armen Mann zu verbergen. Es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen.«

»Es hat sich schon lange angedeutet, Stephen. Eine Anhäufung von Müdigkeit, Frustration, Kummer; ich habe keine Möglichkeit, dagegen anzukämpfen. Weder freundliche noch ärgerliche Worte nützen etwas. Ich dachte, ein Schock wäre vielleicht notwendig. Deshalb bat ich Sie um dieses Vorgehen.«

»Ich habe das nicht nur gespielt. Wichtige Männer haben von mir seinen Rücktritt gefordert.«

»Oh, das glaube ich.«

Sie küßte seine Wange, und Mallory errötete. »Ich schulde Ihnen Dank.«

»Was ich sagte, war brutal – zumindest für mich. Ich hoffe nur, daß es etwas genützt hat.«

Nachdem er gegangen war, kümmerte sich Judith um ihre häuslichen Angelegenheiten, bis sie von einem Geräusch aufgeschreckt wurde. Sie blickte zur Decke. Hatte sie sich das eben nur eingebildet?

Nein. Schwach, aber unmißverständlich klingelte das kleine Glöckchen erneut.

Vor Hoffnung weinend, rannte sie die Treppe hoch, riß die Tür auf und trat in die abgestandene Luft des Zimmers. Sehen konnte sie ihn nicht in der Dunkelheit, aber hören konnte sie ihn deutlich.

»Judith, könntest du vielleicht die Vorhänge öffnen, damit etwas Licht hereinkommt?«

Der salzige Wind wehte vom Meer her in das Schlafzimmer an der Tradd Street. Am Nachmittag nahm Cooper etwas Fleischbrühe zu sich. Dann ruhte er sich aus, den Kopf den hohen Fenstern zugewandt, vor denen die große Eiche und das Dach des Nachbarhauses zu sehen waren.

Er fühlte sich schwach, als hätte er gerade einen schweren Fieberanfall überwunden. »Mein Kopf ist klar. Ich fühle – wie soll ich es ausdrücken? Ich fühle mich nicht mehr so wie vor Stephens Besuch. Nicht mehr so wütend.«

Sie zog ihn sanft an ihren kleinen Busen, legte den linken Arm um seine Schulter. »Als du diesen Gefangenen angegriffen hast, da ist etwas in dir wie ein Kessel geplatzt. Du hast die Sklaverei verachtet, aber als du vor drei Jahren deinen Platz einnahmst, da tatest du das mit all der Entschlossenheit, mit der du dich zuvor dagegen gewandt hattest. Das war lobenswert, aber ich glaube, schreckliche Kräfte gerieten dadurch in dir in Widerstreit. Judahs Tod machte alles noch schlimmer.« Sie drückte ihn an sich. »Was immer auch die Gründe gewesen waren, ich danke Gott, daß es dir besser geht. Wäre ich katholisch, ich würde sie bitten, Stephen heiligzusprechen.«

»Ich hoffe, ich bin wieder bei Vernunft. Ich schäme mich furchtbar. Wie geht es dem Sergeant, den ich angegriffen habe?«

»Eine Gehirnerschütterung. Aber er erholt sich wieder.«

Ein erleichterter Seufzer. »Du hast recht mit dem Kampf in mir. Das ist noch nicht vorüber. Ich weiß, der Krieg ist verloren, aber ich denke, ich sollte mich trotzdem wieder an die Arbeit machen, wenn das Ministerium mich will. Übrigens, wo ist Stephen?«

»Er ruht sich im Mills House aus. Was die Arbeit anbelangt – ich würde eine Weile darüber nachdenken. Meine Gefühle dem Krieg gegenüber haben sich nicht geändert. Als Sumter fiel, waren das auch deine Gefühle. Dieser Krieg ist nicht nur falsch, Cooper, weil alle Kriege falsch sind, sondern auch, weil für eine unmoralische Sache gekämpft wird – nein, bitte, laß mich ausreden. Wir haben die Freiheit anderer menschlicher Wesen gestohlen und aus diesem Diebstahl Vermögen angehäuft.«

Er nahm ihre Hand; seine Stimme klang wie die eines verwirrten Kindes. »Ich weiß, daß du recht hast. Aber ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll.«

»Überlebe den Krieg. Arbeite für Stephen, wenn du mußt. Was immer du entscheidest, es wird richtig sein. Dein Kopf ist jetzt klar. Aber verspreche dir – und mir –, daß du nach dem Fall des Südens genauso hart für den Frieden arbeiten wirst. Du weißt, was der Haß einem Mann antun kann.«

»Haß bringt immer mehr Haß hervor, und aus dem Schmerz darüber erwacht neuer Haß und – «

Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, drückte ihn fester an sich. »Oh, Cooper, wie ich dich liebe. Der Mann, den ich geheiratet habe – er ging für eine Weile weg – aber ich glaube – ich habe ihn wiedergefunden.«

Er hielt sie fest, während sie Freudentränen vergoß.

Schließlich fragte sie ihn, ob er mit Mallory sprechen wollte. Cooper bejahte. Er würde ein frisches Nachthemd und einen Morgenmantel anziehen und ihnen beim Abendessen Gesellschaft leisten. Judith klatschte in die Hände und rannte los, um Marie-Louise zu suchen.

Cooper spülte sich den Mund aus und zuckte beim Anblick des ausgemergelten Mannes im Rasierspiegel zusammen. Er wechselte das Nachthemd, zog einen alten Morgenmantel an und suchte seine Hausschuhe. Dann ging er nach unten.

Marie-Louise war sprachlos, als sie ihn sah. Dann weinte sie auf und warf sich in seine Arme. Judith hielt Coopers Hand, als Mallory kam und Cooper mit ihm sprach.

»Stephen, ich werde für den Rest meines Lebens in deiner Schuld stehen. Dein Besuch heute hat mich gerettet. Du besitzt meine höchste Bewunderung und wirst sie immer haben. Aber ich kann nicht mehr für dich arbeiten. Etwas hat sich verändert. Ich habe mich verändert. Ich möchte, daß der Krieg ein Ende findet. Ich möchte, daß das Sterben aufhört. Deshalb plane ich, meine Zeit mit Schreiben und Reden zu verbringen, für ehrenvolle Friedensverhandlungen in Verbindung mit der Emanzipation eines jeden Negers, der noch im Süden in Sklaverei gehalten wird.«

Mallorys geöffneter Mund zeigte einige verwirrte Reaktionen: Unglauben, Spott, Ärger. Schließlich murmelte er: »Oh?« Seine Stimme wurde schärfer. »Und von wo aus willst du diesen neuen, anspruchsvollen Kreuzzug leiten?«

»Von Mont Royal aus. Meine Familie und ich gehen heim.«

101

Während das Öl in der Lampe niederbrannte, machten Orry und Charles Pläne.

»Wir können den Befehl schreiben, ihn aus dem Libby-Gefängnis zu entlassen.«

»Mit schreiben meinst du fälschen«, unterbrach Charles und nahm für einen Moment den Zigarrenstummel aus dem Mund.

»Also gut, fälschen. Vermutlich hast du rein technisch gesehen recht, da die Entlassung illegal ist.«

»Was brauchen wir sonst noch?«

»Eine graue Jacke und Hosen als Ersatz für seine Uniform. Ein Pferd.«

»Das Pferd besorge ich.«

Orry nickte. »Schließlich braucht er noch einen Paß. Darum kann ich mich auch kümmern. Wie er über den Rapidan kommt, ist seine Sache. Noch einen Whiskey?«

Charles leerte sein Glas und schob es seinem Cousin zu, der betroffen war von der Art und Weise, wie die Zeit und der Krieg ihr Verhältnis zueinander geändert hatte. Sie waren nicht länger Mann und Junge, Lehrer und Schüler, sondern Erwachsene, Gleichgestellte. Orry schenkte wieder ein und sagte: »Ich habe vor, dich ins Gefängnis zu begleiten. Ich werde dir nicht allein das Risiko aufhalsen.«

Charles nahm seine Füße vom Schreibtisch und knallte sie auf den Boden. »Oh doch, das wirst du, Cousin. Du hast einen höheren Rang als ich, aber ich gehe allein, und damit hat sich’s.«

»Ich kann nicht zulassen – «

»Den Teufel kannst du nicht«, unterbrach ihn Charles hart. »Ich fürchte, du hast eine wichtige Kleinigkeit vergessen. Es ist nicht deine Schuld, aber für die Wachen ist es zu leicht, sich später an dich zu erinnern und dich zu beschreiben. Ich bin nicht scharf darauf, daß die Behörden eine Woche, nachdem sie dich geschnappt haben, hinter mir her sind. Dies muß ein Soloauftritt bleiben.«

Ihm war keine andere Möglichkeit eingefallen, Orry zusätzliche Gefahren zu ersparen, aber er versteckte seine Motive hinter einem kalten Lächeln, während er auf Orrys hochgesteckten Ärmel schaute.

»In diesem Punkt, Cousin, muß ich auf meiner Methode bestehen.« Charles drehte sich in seinem Stuhl. »Was meinst du dazu, Madeline?«

Von der Kommode aus, wo sie gestanden und zugehört hatte, sagte Madeline: »Ich glaube, du hast recht.«

»Verflucht noch mal«, sagte Orry. »Noch eine Verschwörung.«

Charles paffte schon wieder an seiner Zigarre. »Noch eine? Was war die erste?«

»Bloß so eine Redensart«, sagte Orry, der Madelines besorgten Blick bemerkte. »Wir hören ständig von eingebildeten Verschwörungen gegen die Regierung.« Er hatte bereits beschlossen, weder Powells Gruppe noch Ashtons Beteiligung daran zu erwähnen. Charles verachtete Ashton, und wenn diese Verachtung neu geschürt wurde, konnte ihn das von seiner Aufgabe ablenken.

Nur ein Detail mußte noch geklärt werden. Charles sprach es an.

»Wann?«

Orry sagte: »Ich kann die notwendigen Schreibarbeiten am Morgen erledigen.«

»Dann bringe ich ihn morgen abend raus.«

Charles band Sport an einen der Eisenpfosten in der Twenty-first, gerade um die Ecke von Libbys Haupteingang. Ein steifer Wind trieb Fischgestank vom Kanal hoch. Weiter unten konnte er einen Wachposten sehen. Er wußte, daß sie um das ganze Gebäude herum standen.

Charles streichelte den Grauen. Ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen, sagte er: »Ruh dich aus, solange du noch kannst. Bald schon wirst du doppelte Last schleppen müssen.«

Zumindest hoffte er das. Er war sich keineswegs sicher, und die Krämpfe in seinem Magen machten ihm das schmerzhaft klar.

Der Wind wirbelte Staubwolken auf. Charles stemmte sich dagegen und stieg die Gefängnisstufen hoch, vorbei an einer bewaffneten Wache, einem rotgesichtigen Jungen mit blonden Locken und porzellanblauen Augen. Der Soldat starrte ihn scharf an.

Drinnen rümpfte Charles die Nase über den Gestank, während er dem diensttuenden Corporal den gefälschten Befehl gab. »Gefangener Hazard. William Hazard. Ich soll ihn zum Verhör in General Winders Büro bringen.«

Ohne dem Befehl einen zweiten Blick zu gönnen, blätterte der Corporal einen Stapel zerknitterter Blätter durch, las die mit Tinte geschriebenen Namen. Andere Wachen kamen vorbei. Einer starrte Charles lange an, ging aber weiter.

»Hazard, Hazard – da haben wir’s. Sie finden ihn im obersten Stock. Fragen Sie im Wachraum.«

Der Corporal zog die Schreibtischschublade auf und wollte den Überstellungsbefehl weglegen. Charles schnippte mit den Fingern. »Geben Sie mir das. Ich will oben nicht aufgehalten werden.«

Der Unteroffizier reagierte, ohne nachzudenken – womit Charles gerechnet hatte. Er dankte dem Corporal, indem er mit dem gefälschten Befehl eine Art Salut andeutete, dann wandte er sich ab und stieg die quietschenden Stufen hoch.

Bevor er den obersten Stock erreichte, zog er die Hutkrempe tiefer, um sein Gesicht ein wenig zu verbergen. Dann trat er in das Lichtrechteck an der Tür des Wachraums. Wieder zeigte er seinen Befehl vor, wiederholte das, was er unten schon gesagt hatte.

»Hätten eine Tragbahre mitbringen sollen«, teilte ihm der gelangweilte Wachposten mit. »Hazard läuft zur Zeit nicht besonders gut.« Er wandte sich an den anderen Soldaten im Raum. »Such ihn, Sid.«

»Zum Teufel. Du bist dran.«

Knurrend trat der erste Soldat an Charles vorbei. »Mächtig komisch, ihn zu dieser Nachtzeit zum Verhör zu schleppen.«

»Wenn Sie Ihre Einwände General Winder zukommen lassen möchten, dann erledige ich das für Sie, Soldat. Zusammen mit Ihrem Namen.« Charles sagte es rauh und grob, verließ sich auf das, was ihn lange Dienstjahre gelehrt hatten: Auf Einschüchterung reagieren Männer für gewöhnlich sofort. Es hatte unten funktioniert, und es funktionierte auch hier.

Am Eingang eines großen Raumes, in dem Hunderte von Gefangenen dicht gedrängt saßen oder lagen, hielt der Wachposten an. »Hazard? Wo ist William Hazard?«

»Billy«, sagte jemand und stieß den Gefangenen neben sich an. Charles hielt den Atem an, als eine abgezehrte Gestalt sich langsam aufsetzte, dann mit Hilfe anderer auf die Füße kam.

Charles wartete, spürte, wie sein Herzschlag schneller wurde. Dies war der erste kritische Moment: wenn der Gefangene mit seiner Krücke nahe genug herangehumpelt war, um ihn zu erkennen.

Ein Schweißtropfen fiel von Charles’ Nase. Sein Mund fühlte sich an wie eine Tasse Staub. Billy taumelte. Mein Gott, wie schwach er aussah, nur Lumpen und Bart. Charles entdeckte Schürfungen und einen verheilten Riß am Ohr. Sein Freund war geschlagen worden.

Der Wachposten zeigte mit dem Daumen auf Charles. »Dieser Offizier hier bringt dich für ‘ne Weile runter in Old Winders Büro. Was hast du diesmal angestellt?«

»Gar nichts.« Durch die Hagerkeit des Gesichts noch größer wirkende Augen schauten Charles an, der insgeheim betete: Sag kein Wort!

Billys Unterkiefer klappte herunter. »Bison?« An seinem Gesicht ließ sich ablesen, daß er seinen Fehler sofort erkannte.

Mißtrauisch beobachtete der Wachposten Charles. »Wie hat er Sie genannt?«

»Nichts, was Sie Ihrer Mutter gegenüber wiederholen würden.« Er packte Billys dreckigen Ärmel. »Noch ein verfluchtes Wort, und ich liefere dich beim Chef der Militärpolizei in kleinen Stücken ab. Wegen euch Yankeedreck hab’ ich bei Malvern Hill einen Bruder verloren.«

Beruhigt sagte der Wachmann: »Weiß auch nicht, warum wir sie so hätscheln. Sollten den ganzen Bau niederbrennen – mit ihnen drinnen.«

»Ganz Ihrer Meinung.« Charles versetzte Billy einen so harten Stoß gegen die Schulter, daß er beinahe gestürzt wäre. Mit der Krücke, eine Hand gegen die Wand gestemmt, richtete er sich auf und warf Charles einen forschenden, vorsichtigen Blick zu. Gut, dachte Charles. Er schob den Gefangenen vorwärts.

Der Wachposten drückte sich noch an der Tür seines Zimmers herum, beobachtete Charles, der Billy die ersten Stufen hinabschob. Billy war langsam und unsicher, benötigte offensichtlich die Krücke. Der Abstieg zum Erdgeschoß würde lange dauern. Je länger sie im Libby blieben, desto größer war das Risiko einer Entdeckung.

»Bison?« flüsterte Billy, lehnte sich gegen die fleckige Wand. »Ist es wirklich –?«

»Sei um Gottes willen still«, flüsterte Charles zurück. »Wenn du hier raus willst, dann benimm dich, als würden wir uns nicht kennen.« Zwei Wachen kamen die Treppe hoch. Charles stieß Billy an, sagte laut: »Beweg dich, Blaubauch.«

Der zweite Stock. Billy schwitzte und atmete schwer. Mehrere Männer beobachteten sie. Charles riß seinen Revolver unter dem Poncho hervor. »Etwas schneller, oder ich blas dir Hundesohn den Schädel von den Schultern.«

Erdgeschoß. Der Corporal vom Dienst stand da, streckte die Hand aus. »Bitte um den Überstellungsbefehl.«

Charles fischte das Papier aus seiner Tasche. Jetzt waren sie nur noch ein paar Schritte von den Türen entfernt, die hinaus zur Cary führten, wo der Wind fast Sturmstärke angenommen hatte. Der Corporal schloß den Befehl in die Schublade und blieb mit einem undeutbaren Ausdruck stehen.

Sechs Schritte bis zu den Türen.

Vier.

Zwei.

Billy lehnte seinen Kopf gegen die dreckige Wand. »Bloß einen Moment – «

Beeil dich. Ein lautloser Schrei von Charles, der zu den Türen eilte, damit er sich umdrehen und den Corporal im Auge behalten konnte. Der Corporal runzelte die Stirn, spürte, daß etwas nicht stimmte.

»Mach vorwärts, oder ich schleif dich an den Beinen raus.«

Billy stieß sich von der Wand ab, kämpfte sich die nächste Stufe hinunter. Charles riß die Tür auf, spürte die Macht des Sturms auf der anderen Seite. Unter der Hutkrempe hervor beobachtete er weiterhin den Corporal. Dieser stellte die größte Bedrohung dar, fühlte Charles – und merkte, daß er sich getäuscht hatte, als er sich an der Tür umdrehte. Da stand der blonde Wachposten mit erhobenem Gewehr und flammenden blauen Augen.

»Wohin bringen Sie diesen Gefangenen?«

»Muß dir jeder Antwort geben, Vesey?« murmelte Billy und verriet damit Charles, daß zwischen den beiden eine besondere Feindschaft bestand.

»Ich stehe nicht jedem hergelaufenen Soldaten Rede und Antwort«, sagte Charles. »Zur Seite.«

»He, Bull, wohin bringen sie diesen Yank?« rief Vesey dem Corporal vom Dienst zu.

»Büro Militärpolizei. Zum Verhör.«

»Militärpolizei?« wiederholte Vesey, während Charles nach Billys Ellbogen griff, um ihm die erste Stufe hinunterzuhelfen. »Mr. Quincy war vor nicht ganz einer Stunde hier, während du beim Essen warst. Er hat nichts davon gesagt, daß ein Gefangener überstellt werden soll.«

Er riß die blaßblauen Augen auf. »Du!« Das Gewehr richtete sich auf Charles. »Rühr dich nicht. Ich kenne jeden von General Winders Jungs, du gehörst nicht dazu. Irgendwas stimmt an der Sache nicht – «

Charles knallte den Lauf seines Colts gegen Veseys Kopf.

102

Vesey schrie auf und prallte gegen die Mauer. Sein Gewehr polterte über das Treppengeländer. Drinnen gab der Corporal Alarm. »Los, um die Ecke«, rief Charles Billy zu, einen Moment, bevor sich Vesey mit ausgestreckten Händen auf ihn stürzte.

Charles schlug die Hände weg, schleuderte Vesey gegen die Tür, so daß der Corporal, der sich von innen dagegen stemmte, sie nur schwer aufbekam. Charles wollte die Stufen runterrennen. Wieder versuchte Vesey, ihn zu packen. Zwei Fingernägel rissen blutige Bahnen in Charles’ Wange. Vor Schmerz, Wut und Verzweiflung rammte Charles seinen Colt in Veseys Bauch und drückte ab.

Vesey kreischte auf und kippte vornüber. Der Wind trug das Geräusch des Schusses davon. Charles sah, daß Billy am Fuße der Treppe auf Hände und Knie gefallen war. Charles rannte zu ihm hinunter. Obwohl er jetzt dazu in der Lage gewesen wäre, machte der Corporal die Tür nicht auf; statt dessen brüllte er drinnen weiter.

»Los«, sagte Charles und riß Billy grob auf die Füße. Billy schrie leise auf. Im Libby ertönten mehr und mehr Stimmen, ein ganzer bellender Chor. An der Ecke tauchte ein Wachposten mit erhobenem Gewehr auf. Er war jung, unerfahren, zögerte. Das brachte einige weitere Sekunden. Charles schleppte Billy schnell zur gegenüberliegenden Ecke, wo sie beinahe mit einem anderen Wachposten zusammengestoßen wären. Charles richtete den Colt auf das Gesicht des Jungen.

»Renn, oder du bist tot, Junge.«

Der Wachposten ließ sein Gewehr fallen und rannte.

Aber ein weiterer Posten kam von der Flußseite des Gebäudes die Straße hochgerannt. Charles band hastig Sport los, schwang sich in den Sattel und feuerte einen Schuß ab, um den rennenden Posten zurückzujagen. Die Zügel des nervösen Grauen fest packend, streckte er seine freie Hand nach unten.

»Halt dich fest, und tritt in den Steigbügel. Schnell!«

Billy stöhnte vor Anstrengung. Charles feuerte erneut, um den Posten in Deckung zu halten. Als er Billy hinter sich spürte, brüllte er: »Nicht loslassen, Bunk!« und spornte den Grauen an, das kurze Stück zur Cary hoch. Der Spitzname seines Freundes aus Akademiezeiten war ihm ganz automatisch über die Lippen gekommen.

Drei Wachposten an der Ecke schossen auf sie, als Sport vorbeidonnerte. Billy schlang seine Arme um Charles’ Poncho und klammerte sich fest. Alle drei Schüsse gingen fehl. Der Graue galoppierte davon, in den heulenden Sturm hinein.

Eine Meile vom Gefängnis entfernt zog Billy die zimtfarbene Hose und das Kordhemd aus der Sattelrolle an.

»Jesus«, sagte Charles, als er Billy die graue Jacke reichte.

»Was ist?«

»Ich habe diesen Wachposten getötet. Ohne zu überlegen.«

»Du hast einen Orden verdient.«

»Dafür, daß ich einen Jungen erschossen habe?«

»Du hast damit jedem Mann im Libby-Gefängnis einen Dienst erwiesen. Dieser Posten war der Bastard, der mich so zugerichtet hat.«

»Tatsächlich? Dann bin ich froh, daß ich’s getan habe.« Charles lächelte auf eine Art, die Billy schaudern ließ. »Also weiter.«

Billy wartete in der Dunkelheit bei Sport, während Charles den Stall betrat, wo er für die Nacht ein Maultier angemietet hatte. »Bringen Sie ihn gegen acht Uhr morgens zurück«, sagte der schläfrige Stallmann. »Ich habe noch einen Kunden.«

»Versprochen«, sagte Charles und zerrte das störrische Tier in die Dunkelheit.

Er trug seinen eigenen Paß auf sich und Billy den von Orry gefälschten; so kamen sie problemlos durch die nördlichen Verteidigungslinien. In einem Obstgarten stiegen sie ab, und Charles gab seinem Freund ein zweites, kleineres Bündel.

»Madeline hat dir ein bißchen Zwieback und Schinken zurechtgemacht. Ich wünschte, ich hätte eine Waffe für dich oder mehr Ausrüstung, damit du wie ein Soldat auf Urlaub wirkst.«

»Ich schaff’s so auch«, versprach Billy. »Ich wünschte bloß, wir hätten ein bißchen mehr Zeit, über alles zu reden.« Sie hatten fast pausenlos geredet, nachdem sie den letzten Wachposten hinter sich gelassen hatten; die Schicksale der meisten Mitglieder beider Familien waren durchdiskutiert worden.

Jetzt sagte Charles: »Ich würde dich gerne zu Orry und Madeline bringen, aber es ist besser, wenn du noch vor Tagesanbruch einige Meilen zwischen dich und Richmond legst. Der Paß wird dich durchbringen. Und vergiß nicht, Mütze und Jacke abzulegen, wenn du bei deinen Linien ankommst.«

»Werd’ ich nicht – und glaub mir, ich werde mich mit hoch erhobenen Händen nähern.«

Beide versuchten sie herunterzuspielen, was vor ihm lag: ein stundenlanger Ritt, Patrouillen auf der Straße, Hunger, Furcht. Und sein geschwächter Zustand machte all das noch schlimmer. Aber es gab jetzt auch Hoffnung. Ein Ziel. Die Sicherheit seiner eigenen Seite.

»Bison!«

Den Blick auf die Richmond-Straße gerichtet, sagte Charles, »Hm?«

»Du hast mich schon mal gerettet. Jetzt werd’ ich immer in deiner Schuld stehen, da komme ich nicht mehr – «

»Schau zu, daß du aus der Konföderation herauskommst, das reicht.«

»Mein schlimmstes Problem ist wahrscheinlich mein Akzent. Wenn ich Fragen beantworten muß – «

»Sprich langsam. So ungefähr. Verschluck ein paar von dienen g’s, und sag, du kommst aus dem Westen. Niemand in Virginia weiß wirklich, wie ein Missourirebell redet.«

Billy lächelte. »Gute Idee. Ich war in St. Louis stationiert.« Ernster fügte er hinzu: »Du hast mir von Orrys Heirat und einer Menge anderer Sachen erzählt, aber von dir kein Wort. Wie ist es dir ergangen? Bei welchem Kommando bist du?«

»Ich bin Scout für General Wade Hamptons Kavallerie, ich komme gut zurecht«, log Charles. »Ich würde noch weit besser zurechtkommen, wenn dieser Krieg vorüber wäre. Schätze, das wird bald der Fall sein.«

Er wollte was über Gus sagen, aber wozu eine Beziehung erwähnen, die ohnehin enden mußte? »Ich würde gern die ganze Nacht reden, über du solltest jetzt los.«

»Ja, ich glaube auch.« Mit langsamen Bewegungen, von Schmerzen geplagt, bestieg er das Maultier. Charles half ihm nicht; Billy mußte es selbst schaffen.

Als Billy im Sattel saß, trat Charles vor. Sie schüttelten einander die Hände.

»Gute Reise. Richte Cousine Brett meine besten Grüße aus, wenn du sie siehst.«

»Dasselbe von mir an Orry und Madeline. Ich weiß, was er riskiert hat, um mir zu helfen. Du natürlich auch.«

Das Lachen klang gezwungen. »West Point kümmert sich um seine Leute, nicht wahr?«

»Mach keine Witze, Bison. Ich werde nie in der Lage sein, dir das zurückzuzahlen.«

»Das erwarte ich auch nicht. Weich bloß die nächsten acht oder zehn Monate unseren Kugeln aus, dann können wir einander in Pennsylvania oder South Carolina besuchen. Und jetzt los.«

»Gott segne dich, Bison.«

Mit überraschend kräftiger Stimme trieb Billy das Maultier an und war bald schon in der Dunkelheit verschwunden.

Charles fühlte sich leer und ausgebrannt. Er hätte einen Whiskey dringend nötig gehabt. »Na komm«, sagte er zu dem Grauen und schwang sich in den Sattel.

Die Uhr schlug vier. Charles wirbelte, die nackten Füße auf einem Kissen ausgestreckt, den letzten Schluck Bourbon im Glas herum und trank dann aus.

»Ich hab’s mit der Angst bekommen und ihn erschossen. Panik – das ist das einzig passende Wort dafür.«

Madeline sagte: »Ich glaube, es ist nicht leicht, jemanden zu töten, selbst wenn es ein Feind ist.«

»Oh, man gewöhnt sich dran«, sagte Charles. Sie und Orry tauschten einen schnellen Blick, aber das sah er nicht. »Der Posten war sowieso derjenige, der Billy gefoltert hatte. Was mich beunruhigt, ist die Tatsache, daß ich die Beherrschung verloren habe. Ich dachte, ich hätte genug hinter mir, um mit solchen Situationen fertig zu werden.«

»Wie viele Gefängnisausbrüche hast du denn schon durchgeführt?« fragte Orry leicht sarkastisch.

»Ja, das ist was neues«, nickte Charles gedankenverloren.

»Wie sah Billy aus?« fragte Madeline.

»Weiß und krank. Schwach wie sonstwas. Ich habe keine Ahnung, ob er auch nur den halben Weg zum Rapidan schafft.«

»Wie geht’s Brett? Hat er was von ihr gesagt?«

Charles schüttelte den Kopf. »Von Brett hat er seit Monaten nichts mehr gehört. Dieser Wachposten, Vesey, hat jeden Brief vernichtet, den Billy schrieb, also wird er wohl auch die ankommenden Briefe vernichtet haben. Orry, hast du ein bißchen Geld für den Stallmann übrig? Sein Maultier wird er nie wiedersehen.«

»Ich kümmere mich drum«, versprach Orry.

Charles gähnte. »Habt ihr was dagegen, wenn ich mich schlafen lege?« Er griff nach einer Decke. Orry drehte das Gas ab und wünschte ihm eine gute Nacht. Voll angekleidet rollte sich Charles in die Decke und schloß die Augen.

Der Schlaf wollte nicht kommen. Zu viele Geister waren aufgewacht und strichen durch die Nacht.

Er fiel in Schlaf, als ein ferner Kirchturm fünf Uhr schlug. Er schlief eine Stunde, träumte von Gus und von Billy, der in einem sonnenhellen Feld lag, von Kugeln durchsiebt und von fetten, schwarzen Fliegen umschwärmt.

Madeline schenkte ihnen Kaffee-Ersatz ein, und Charles setzte sich seinem Cousin gegenüber, nachdem er sich zuvor Wasser über Gesicht und Hände gespritzt hatte.

Orrys Gesichtsausdruck zeigte, daß ihm etwas Ernstes durch den Kopf ging. Charles wartete, bis sein Cousin damit herausrückte.

»Wir hatten gestern nacht soviel zu bereden, daß ich gar nicht zu den anderen schlechten Nachrichten gekommen bin.«

»Ärger zu Hause?«

»Nein, direkt hier in der Stadt. Ich habe eine Verschwörung aufgedeckt. Der Präsident und Mitglieder seines Kabinetts sollten ermordet werden.« Charles lächelte ungläubig. »Jemand, der uns beiden gut bekannt ist, ist in die Sache verwickelt.«

»Wer?«

»Deine Cousine. Meine Schwester.«

»Ashton?«

»Ja.«

»Gütiger Himmel«, sagte Charles. Er war selbst überrascht, wie wenig ihn diese Mitteilung verwunderte; kaum mehr als mildes Erstaunen. Sein Inneres verhärtete sich mehr und mehr, konnte kaum noch von etwas berührt werden.

Orry erzählte der Reihe nach, was sich alles ereignet hatte.

»Ein paar Tage danach glaubte ich wirklich, ich sei verrückt. Aber das hab’ ich jetzt hinter mir. Sie mögen Freunde in hohen Positionen haben, die ihnen geholfen haben, die Spur zu verwischen, aber ich weiß, was ich gesehen habe. Die Verschwörung existiert wirklich, Huntoon ist daran beteiligt, genau wie Ashton.«

»Was wirst du unternehmen?«

Orrys Blick machte Charles klar, daß er nicht der einzige war, der sich einen Panzer zugelegt hatte.

»Ich werde sie mir schnappen.«

103

Sie überraschten ihn beim ersten Tageslicht am Bachufer, schlichen sich an, während er schlief. Keiner der drei stellte sich vor. In Gedanken gab er ihnen Namen – Narbengesicht, Eindäumige, Hundegesicht. Alle trugen sie zerfetzte Konföderiertenuniformen.

Um ihr Mißtrauen zu zerstreuen, teilte er seinen letzten Zwieback und Schinken mit ihnen. Sie berichteten von ihren Erlebnissen während der letzten Tage, wohl mehr, wie Billy vermutete, um das Schweigen des Maimorgens zu füllen.

»Grant schickte hunderttausend in die Wildnis gegen unsere sechzigtausend. Es wurde so heiß gekämpft, daß die Bäume Feuer fingen. Unsere Jungs erstickten entweder am Rauch oder wurden von brennenden Ästen erschlagen.«

»Wie weit ist die Front noch entfernt?« fragte Billy.

Hundegesicht antwortete: »Zwanzig, dreißig Meilen. Was meint ihr?« Seine Gefährten nickten. »Aber wir gehen in die andere Richtung. Zurück nach Alabama.« Er warf Billy einen forschenden Blick zu, wartete auf eine Reaktion; Verachtung vielleicht.

»Die Omen sind schlecht«, sagte der Eindäumige. »Old Pete Longstreet, er wurde von einer Kugel von unserer Seite verwundet, gerade so wie vor einem Jahr Stonewall. Und ich habe gehört, der kleine Junge von Jeff Davis ist vor ein paar Tagen vom Balkon des Weißen Hauses gestürzt. Tot. Wie ich schon sagte – schlechte Omen.«

Narbengesicht, der älteste, wischte sich Fett vom Mund. »Mächtig nett von dir, Missouri, deinen Vorrat mit uns zu teilen. Wir haben fast nichts, was uns auf unserm Heimweg helfen könnte«, mit einer glatten Bewegung zog er seinen Revolver und richtete ihn auf Billy, »also sind wir dir dankbar, wenn du kein Theater machst und uns ein bißchen unterstützt.«

Fünf Minuten später verschwanden sie mit seinem Maultier und seinem Paß.

Laternenschein fiel auf die nackten, schwarzen Oberkörper. Rufe klangen durch die Dunkelheit, das Klirren und Klappern der Schienen, die von den Waggons abgeladen wurden, Gehämmer, das Gequak der Frösche aus den Sumpfgebieten nahe des Potomac. Eine Gruppe von Georges Männern packte eine Schiene, rannte damit vor und ließ sie auf die ein paar Augenblicke zuvor gelegten Eisenbahnschwellen fallen. Es war die Nacht des 9. Mai; oder genauer, der Morgen des 10. Mai. Seit der gestrigen Morgendämmerung waren die Reparaturarbeiten an der beschädigten Aquia & Fredericksburg-Linie bis hinunter nach Falmouth in Gang.

Die Metzgersrechnung aus den Wäldern hatte schwindelnde Höhen erreicht. Lee hatte sich bei Spotsylvania verschanzt, und vermutlich marschierte die Unionsarmee auf seine Stellungen zu. Ohne daß man es ihm erklärt hätte, wußte George, weshalb am gleichen Morgen, an dem Grant seine Kriegsmaschinerie über den Rapidan gebracht hatte, der größte Teil der Orange & Alexandria aufgegeben und weshalb das Konstruktions-Corps nach Osten zu diesem Dienst abkommandiert worden war. Auf diesen Schienen würden bald schon Tote und Verwundete transportiert werden.

George sah, daß einer seiner besten Arbeiter, ein riesiger brauner Junge namens Scow, plötzlich stolperte. Die Männer hinter ihm wurden zum Halten gezwungen. Eine Laterne an einem Pfahl spiegelte sich in Scows Augen wieder, als er seinen Kommandanten anstarrte.

»Fall gleich um.«

George trat hinter ihn und nahm die Schiene auf seine Schultern. »Ruh dich zehn Minuten aus, dann komm wieder. Wenn wir mit diesen Schienen fertig sind, wird die Potomac-Brücke repariert.«

»Sie geb’n ein von diese Niggers zehn Minuten, Ihn’ gehn bald die Minuten aus.«

»Laß das meine Sorge sein. Los.«

Scow rieb sich den Mund; Bewunderung und Mißtrauen mischten sich auf seinem Gesicht. »Sind schon verflucht’ Boß«, sagte er, marschierte davon und überließ es George, wie er das auffassen sollte. Mit grimmiger Erheiterung überlegte er, was Scow wohl sagen würde, wenn er wüßte, daß sein Kommandant ein gewaltiges Eisenwerk und eine florierende Bank führte. Er nahm Scows Platz in dem Team ein, das die Schienen schleppte. Er versuchte seine Benommenheit und die sich im Magen ausbreitende Übelkeit zu verbergen. »Macht schon«, brüllte er den anderen Männern zu. Er wußte, daß sie sich genauso schlimm fühlten wie er. Aber gemeinsam schleppten sie im Eiltempo die nächste Schiene vor, legten sie ab, sprangen beiseite, während die ersten Hämmer zuschlugen, und rannten zurück, um die nächste zu holen.

Auf der Brock Road fiel Billy auf die Knie und kroch in einen Graben, als eine Granate vorbeizischte und explodierte. Scharfkantige Felsbrocken und Dreck regneten auf seinen nackten Hals und hämmerten die letzte Kraft aus ihm.

Von Westen, Norden, Osten drangen die zahllosen Schlachtgeräusche zu ihm. Am lautesten schienen sie im Osten zu sein. Ohne Zwischenfall hatte er sich durch die raucherfüllten Straßen von Spotsylvania Court House gekämpft. Aber gerade, als er wieder etwas gleichmäßiger zu atmen begann und vor Müdigkeit und Hunger und Schmerzen taumelnd zur Straße zurückkehrte, tauchte aus dem Rauch, der das Grau des Morgens noch vertiefte, ein Captain zu Pferd auf – einer von Jubal Earlys Kommando, wie Billy vermutete.

Der bärtige Offizier war schon an Billy vorbei, ehe er ihn richtig zur Kenntnis nahm. Er riß sein Pferd herum, stieg ab und zog seinen Säbel. »Hier wird nicht desertiert«, brüllte er und schlug Billy mit der Flachseite des Säbels über den Rücken. »Die Linien sind dort.«

Mit der Klinge deutete er nach Osten. Ein um seinen rechten Ärmel gebundenes schwarzes Seidenband flatterte in der Brise. Um seinen Akzent zu verbergen, murmelte Billy undeutlich, »Sir, ich habe mein Gewehr verloren – «

»Hier wirst du keinen Ersatz finden.« Ein zweiter Schlag. »Beweg dich, Soldat.«

Billy zwinkerte, dachte: Irgendwo muß ich durch die Linien. Kann’s genauso gut hier versuchen.

»Du und deine Sorte, ihr ekelt mich an«, sagte der Captain. »Wir verlieren einen großen Mann, und ihr tragt zu seiner Erinnerung nichts weiter als Feigheit bei.«

Billy wollte nicht, hatte aber das Gefühl, er müßte etwas sagen. »Versteh nicht, Sir.« Das stimmte. »Wen haben wir verloren?«

»General Stuart, du verdammter Narr. Sheridans Reiterei schlug einen Bogen um unsere Flanke nach Richmond. Vorgestern töteten sie den General bei Yellow Tavern. Und jetzt beweg dich, oder du stehst unter Arrest.«

Billy taumelte los. Eine Granate explodierte über ihm wie eine schwarze Blume. Er bedeckte seinen Kopf und stolperte weiter; jeder Schritt bereitete ihm größere Schmerzen.

Jetzt. Jetzt. Jetzt.

Seit zehn Minuten sagte er das zu sich, um seinem zu schwachen Körper die nötige Kraft abzuringen. Schließlich wußte er, daß er dem lautlosen Kommando gehorchen mußte. Mit einer Hand umkrallte Billy das Gewehr, das man ihm gegeben hatte, mit der anderen zerrte er sich über die Verschanzung, während der Sturzbachregen ihn durchweichte.

»He, Missouri, sei nicht verrückt. Noch bißchen näher, und du gehst mit Sicherheit drauf.«

Irgendein Reb-Unteroffizier brüllte ihm das aus der Verschanzung nach, die er gerade eben verlassen hatte. Billy taumelte hoch und hinkte durch hohes, schlüpfriges Gras. Ein Lichtblitz der Union zuckte auf, und als die Dunkelheit zurückkehrte, warf er sein Gewehr und seine Mütze weg. Der nächste Blitz überraschte ihn dabei, wie er seine graue Jacke herunterzerrte. Der gleiche Reb, der zuvor sein Erscheinen ohne weitere Fragen hingenommen hatte, entdeckte ihn. Die Stimme des Unteroffiziers klang zu ihm herüber.

»Der Scheißkerl greift niemand an. Der rennt auf die andere Seite. Erschießt den Bastard.«

Hinter ihm krachten die Gewehre. Mit schmerzenden Lungen bewegte er sich vorwärts, fort von ihnen. Donner grollte im Kielwasser des letzten Blitzes, dann zuckte ein neuer Lichtschein auf, ließ ein Unionsbajonett wie weißglühendes Metall aufleuchten.

Der Wachposten hinter dem Bajonett, einer von Burnsides Männern, entdeckte die zerlumpte Gestalt. Hinter dem Wachposten begannen Gewehre zu krachen, so laut wie die der Rebs.

»Nicht schießen«, brüllte Billy mit erhobenen Händen in das Kreuzfeuer. »Nicht schießen. Ich bin ein Unionsoffizier, geflüchtet von – «

Auf einem halb in der Erde verborgenen Stein knickte er um, stürzte. Er warf die Arme in die Luft, verlor die Orientierung. So erfuhr er nie, wer den Schuß abgefeuert hatte, der ihn traf; mit einem unterdrückten Aufschrei fiel er vornüber aufs Gesicht.

Aus den Washingtoner Zeitungen erfuhr George mehr über die Frühjahrsoffensive als an Ort und Stelle. Jeder nannte es Grants Kampagne und pries Grants tapfere Männer, obwohl der tatsächliche Kommandeur der Potomac-Armee Generalmajor Meade war. Grant jedoch war ein Armeegeneral, der ins Feld zog. Meade bekam mehr oder weniger die Rolle eines Corps-Kommandeurs zugewiesen. Es wurde Grants Krieg und Grants Plan. Richmond ignorieren, Lees Armee vernichten. Dann würde das Kartenhaus von selbst zusammenfallen.

Aber immer häufiger tauchte in den Zeitungen ein anklagender Satz auf: Grants Verluste. Die dezimierte Armee füllte ihre Reihen wieder auf und marschierte bei Nacht in Verfolgung des sich zurückziehenden Lees. Die Schlagzeilen wiederholten sich wie dumpfer Trommelschlag: UNGEHEURE VERLUSTE DER REBELLEN und EIGENE VERLUSTE ZWÖLFTAUSEND und SCHWERE VERLUSTE AUF BEIDEN SEITEN.

George und der Junge namens Scow beobachteten einen der Todeszüge, die auf der wiedereröffneten Aquia Creek & Fredericksburg von Falmouth aus Richtung Norden fuhren. Die Züge mit den Toten von Falmouth konnten sie stets daran erkennen, daß sie deutlich schneller fuhren als die Züge mit Verwundeten oder Gefangenen. Die Reihe der Waggons war so lang, daß sie gar nicht mehr aufzuhören schien.

»Zwanzig, einundzwanzig – zweiundzwanzig«, sagte Scow. »Das sind mächtig viele Särge.«

»Der General tötet auch mächtig viele Männer, aber er wird noch mehr umbringen.«

George schlug Scow freundlich auf die Schulter, in einer für einen Offizier unpassenden Weise, aber das war ihm egal. Das Corps war eine eigenartige Truppe; eigenartig und stolz. »Suchen wir uns was zu essen.«

Kurz darauf saß George mit untergeschlagenen Beinen am Campfeuer und löffelte Bohnen von einem Blechteller, als ein Pfeifton einen weiteren Falmouth-Zug ankündigte. Er beobachtete, wie der weiße Scheinwerferkegel die Biegung nahm.

»Verwundete«, sagte George, nachdem er die Geschwindigkeit abgeschätzt hatte. Dann widmete er sich wieder seinen Bohnen, während der Waggon mit seinem Bruder vorbei ratterte.

104

Im Gewittersturm fuhren Virgilia und acht weitere Krankenschwestern mit dem Zug von Aquia Creek nach Falmouth. Dort war ein Nothospital zur Ergänzung der Kirchen, Ställe und Privatheime, die dem gleichen Zweck dienten, errichtet worden. Der hart umkämpfte Grund und Boden um Spotsylvania herum lieferte einen stetigen Strom an Opfern. Die schlimmsten Fälle, die nicht mal eine kurze Eisenbahnfahrt überleben würden, wurden in Falmouth behandelt.

Die Krankenschwester, die das Kommando führte, war Mrs. Neal, der Virgilia bereits dreimal zu entkommen versucht hatte. Miss Dix hatte ihre Versetzungsgesuche jedesmal knapp und bündig abgelehnt. Miss Hazards Dienste waren zu wertvoll. Miss Hazard war ein Gewinn für ihr gegenwärtiges Hospital. Auf Miss Hazards Dienste konnte nicht verzichtet werden.

Virgilia hegte den Verdacht, daß Mrs. Neal hinter diesen Ablehnungen steckte. Die ältere Frau erkannte Virgilias Fähigkeiten, aber es machte ihr Spaß, sie zu frustrieren. Virgilia hingegen verachtete ihre Vorgesetzte weiterhin, konnte sich aber nicht dazu bringen, den Dienst zu quittieren. Die Arbeit befriedigte sie immer noch ungemein. Sie brachte einer Vielzahl von schmerzgepeinigten Männern Trost und Genesung. Der Anblick der Verstümmelten und Sterbenden hielt ihren Haß auf die Südstaatler in voller Stärke am Leben.

»Es heißt, die Kämpfe um Spotsylvania seien fürchterlich gewesen.« Das kam von einer vollbusigen Jungfer namens Thomasina Kisco. Der Rand ihres schwarzen Hutes warf einen scharfen Schatten über ihr Gesicht. »Mit gewaltigen Verlusten.«

»Das wird dafür sorgen, daß Mr. Lincoln im November aus dem Amt entfernt wird«, sagte Mrs. Neal. »Er weigerte sich, die Schlächterei zu beenden, also muß die Wahl dafür sorgen.« Sie versäumte es selten, für McClellan und die Friedensdemokraten einzutreten.

»Stimmt es, daß sie auch konföderierte Verwundete in dieses Hospital bringen?« fragte Virgilia.

»Ja.« Mrs. Neals Ton war so kalt wie ihr Blick. Virgilia war an beides gewöhnt. Sie schauderte.

»Ich werde keine feindlichen Soldaten pflegen, Mrs. Neal.«

»Sie werden tun, was Ihnen gesagt wird, Miss Hazard.« Ihr Ärger erzeugte mitfühlende Blicke der anderen – für Virgilia. Mrs. Neal machte einen Rückzieher. »Wirklich, meine Liebe – Sie sind eine ausgezeichnete Krankenschwester, aber Sie akzeptieren offensichtlich keine Disziplin. Warum bleiben sie eigentlich im Dienst?«

Weil ich auf meine Art ebenfalls ein Soldat bin, du dämliche Kuh. Statt es laut zu sagen, wandte sie lediglich den Blick ab.

Der Waggon schwankte, der Wind heulte, der Regen peitschte durch die zerbrochenen Scheiben. Miss Kisco schaute ängstlich zur Decke hoch.

»Dieser Donner ist wahnsinnig laut.«

»Das sind die Kanonen von Spotsylvania«, sagte Virgilia.

Der Sturm hielt an, ließ die Leinwand der Zelte des Nothospitals flattern. Virgilia und Miss Kisco wurden einem Pavillon zugeteilt, in den Männer kamen, die zwar schwer verwundet waren, aber nicht sofort operiert werden mußten. Das Schneiden und Sägen fand im nächsten Pavillon statt, wo Mrs. Neal das Kommando übernommen hatte. Stündlich kam sie zur Inspektion bei Virgilia vorbei.

»Und jetzt hier herüber, Miss Hazard«, sagte der Chefarzt des Pavillons, ein dicklicher Mann mit schnaufender Stimme. Er riß sie fast mit zu einem Feldbett, auf das die Sanitäter einen schlanken Lieutenant mit seidig braunem Haar gelegt hatten. Der junge Mann war bewußtlos. Obwohl das Feldbett in der dunkelsten Ecke stand, erkannte Virgilia sofort die Farbe der Uniform.

»Dieser Mann ist ein Rebell.«

»Das hab’ ich mir beim Anblick des grauen Rocks auch gedacht«, sagte der Arzt gereizt. »Zufällig ist er auch noch verwundet.« Er deutete auf den rechten Oberschenkel. »Entfernen Sie bitte diesen Verband.«

Der Arzt riß einen großen Papierfetzen los, der an die Decke geheftet war. »Kugel nahe der Oberschenkelarterie. Gefäß zerrissen, aber nicht verklammert. Er ist ein Mississippi-Junge. Brigade von General Nat Harris. Seinen Namen kann ich nicht entziffern – «

Er hielt das Papier unter die nächste Laterne. Inzwischen zwang sich Virgilia, den Verband zu entfernen. Ein Junge in der nächsten Reihe würgte und weinte. Aus dem Operationszelt hörte sie das Raspeln von Sägen, die sich durch Knochen fraßen. So viel Leiden – und hier pflegte sie einen von denen, die für all dies Leiden verantwortlich waren. Ihre Wut flammte auf wie Feuer in trockenem Unterholz.

Die Wunde des Rebellen war von den Ambulanz-Sanitätern ordentlich versorgt worden. Die blasse Haut des Beines fühlte sich kühl an. Das erklärte die fehlende Blutung; es hatte aufgehört zu bluten, als die Temperatur sank.

»O’Grady.«

Virgilias Kopf ruckte hoch. »Wie bitte?«

»Ich sagte«, knurrte der Doktor, »sein Name scheint O’Grady zu sein. Thomas Aloysius O’Grady. Ich wußte gar nicht, daß es irische Kartoffelfresser am Mississippi gibt. Lassen Sie mich mal sehen.«

O’Grady. Ihr Haß auf den Jungen mit den seidigen Haaren verdoppelte sich, weil er diesen Namen trug. Sie krallte sich an ihrer Schürze fest, begann zu drehen, sanft zuerst, dann mit zunehmender Heftigkeit.

»Miss Hazard, sind Sie krank?«

Seine schnaufende Frage riß sie aus ihrer privaten Hölle. »Tut mir leid. Doktor – was sagten Sie?«

»Ich weiß nicht, wo Sie mit Ihren Gedanken sind, aber richten Sie bitte freundlicherweise Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Patienten. Wir müssen diese Arterie abklemmen und versuchen, die – «

»Doktor«, rief Miss Kisco von der anderen Seite des Pavillons. »Bitte, schnell ein Notfall.«

Im Weglaufen sagte der Arzt: »Ich kümmere mich um ihn, sobald ich kann. Legen Sie einen neuen Verband an, und behalten Sie ihn im Auge.«

Virgilia holte Gaze und kehrte ans Feldbett von Leutnant O’Grady zurück. Wieviele Unionssoldaten mochte der Mississippi-Junge getötet haben, fragte sie sich. Sie wußte nur eines: Er würde niemanden mehr töten. Wie passend, daß er fast den gleichen Namen trug wie ihr toter Geliebter.

Sie bemerkte Mrs. Neal, die sich am Zelteingang mit einem anderen Arzt unterhielt. Auch die Oberschwester beobachtete Virgilia für einige Momente. Sie versuchte sie ständig bei einem Fehler zu ertappen, aber es gelang ihr nie. Als Mrs. Neal ihre Aufmerksamkeit wieder dem Doktor zuwandte, machte sich Virgilia daran, den verwundeten Oberschenkel sorgfältig neu zu verbinden.

Nichts in ihrem Gesichtsausdruck deutete auf ihre Erregung hin, als sie die Wolldecke über den jungen Lieutenant zog. Als sie noch eine zweite Decke darüberlegte, konnte sie ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Zart strich sie dem Jungen über die kühle Stirn und glitt davon.

Während der nächsten zwanzig Minuten hatte der Chefarzt keine Zeit, sich um Lieutenant O’Grady zu kümmern. Aber Virgilia fand die Zeit, ging zu dem Feldbett, frische Gaze über dem Arm.

Vorsichtig hob sie die Decken an. Helles, arterielles Blut hatte den Verband gerötet. Der Soldat atmete jetzt laut und mühsam – wie erwartet. Sie tastete nach seinem Puls; er war schneller – ebenfalls wie erwartet. Die Decken hatten seine Temperatur nach oben getrieben, und eine zweite Blutung hatte eingesetzt. Auch wie erwartet.

Sie zog die Decken herunter und legte zwei neue Verbände über den ersten. Es würde einige Zeit dauern, bis das pumpende Blut durch diese Lagen gedrungen war. Sollte jemand die Decken aufheben, dann würde ihm wahrscheinlich gar nichts auffallen. Erneut zog Virgilia die Decken hoch und steckte sie ordentlich unter dem Kinn des Jungen fest. Sie spürte keinen Hauch von Gewissensbissen. Dies war der Feind. Sie war ein Soldat. Grady wartete schon lange darauf, gerächt zu werden.

»Miss Hazard!«

Der Ruf des Chefarztes ließ sie in die Zeltmitte laufen. Ein Captain mit einer schlimmen Brustwunde wurde auf einer Tragbahre hereingebracht. Das einzig freie Feldbett war das neben O’Grady.

Mit klopfendem Herzen schob sie sich vor O’Gradys Bett, um dem Arzt zumindest teilweise das Blickfeld zu verstellen. Der Arzt, mit lauter dringenden Fällen beschäftigt, nickte lediglich zu O’Grady und fragte: »Wie geht’s dem?«

»Zufriedenstellend, als ich das letztemal nach ihm sah, Sir.«

»Scheint schwer zu atmen. Sehen Sie nach ihm.«

»Jawohl, Sir.« Voller Panik wollte sie sich umwenden.

»Ich meine, nachdem Sie mir hier geholfen haben.«

Virgilias Anspannung schwand dahin. Sechs Minuten lang beschäftigten sie sich mit dem Captain, dann taumelte der erschöpfte Arzt weiter zu Miss Kisco, die am Eingang gerade eine neue Ambulanzladung Verwundeter in Empfang nahm. Virgilia holte neue Gaze aus der Vorratskiste und eilte zurück zu O’Grady. Sie hob die Decken und sah die kleinen, leuchtend roten Sterne in dem weißen Feld. Sie lächelte, ein fast sinnliches Lächeln.

Sie legte einen weiteren Verband darüber und zog wieder die Decken hoch. Er verblutete unbemerkt. In einer halben Stunde würde es soweit sein, schätzte sie. Mit einem glücklichen, warmen Gefühl widmete sie sich ihren anderen Arbeiten.

Nach einer dreiviertel Stunde entfernte sie die durchweichten Verbände und ersetzte sie durch einen neuen, letzten Verband. Sie legte die Decken über den Körper. Trotz des Lärms und der schlechten Luft schwebte sie während der nächsten zwanzig Minuten fast euphorisch durch den Pavillon. Dann wurde sie aufgeschreckt.

Von Virgilia unbemerkt, war Mrs. Neal zurückgekehrt, um nach verschiedenen Patienten zu sehen. Ihr scharfer Aufschrei riß Virgilia herum. In der dunklen Ecke entdeckte sie die Oberschwester, ihr kompakter Körper als Silhouette gegen die vom Licht des neuen Tages erhellte Leinwand. Mit der rechten Hand hielt Mrs. Neal die Decken hoch, die Lieutenant O’Gradys Körper bedeckt hatten.

»Doktor – Doktor! Der Junge hier ist tot. Wer sollte sich um ihn kümmern?«

105

»Name und Rang des Gefangenen?«

»Soldat Stephen McNaughton.«

»Wo gefangen?«

»Ungefähr drei Meilen nördlich von hier, Sir.« Der Sergeant hatte eine Froschstimme.

Der Schein der Laterne spiegelte sich in den Augen des Regimentsadjutanten wieder; ein Major, halb so alt wie der Gefangene. »Vortreten«, befahl er mit leicht rollendem R. Salem Jones, die Kappe in der Hand, machte zwei Schritte auf den Schreibtisch zu.

»Straßengesindel – was anderes kriegen wir nicht mehr. So ein heruntergekommenes, übles Gesindel hat noch keine Armee der Welt ertragen müssen.«

Trotz seiner Besorgnis war Jones im Grunde der gleichen Meinung wie der Major. Als er sich bei seinem letzten Regiment verpflichtet hatte, einer Pennsylvania-Reserveeinheit, hatte man ihn dreieinhalb Tage lang in einem Pferch gehalten, ständig von bewaffneten Wachen beobachtet. Die anderen Rekruten entsetzten ihn: Kriminelle, die ihn abgestochen oder erwürgt und seine Taschen geplündert hätten, wenn er seine Freiwilligenprämie nicht bereits in einem Pokerspiel verloren gehabt hätte.

»Was war dein ursprünglicher Beruf, Soldat McNaughton? Kartenhai? Dieb? Mörder?« Die nächsten Worte des Majors klangen wie Pistolenschüsse. »Egal, ich kenne die wirklichen Antworten. Opportunist. Feigling. Du bist eine Schande für dieses Regiment, für die Armee der Vereinigten Staaten, den Staat New York, Amerika und das Land deiner Vorfahren.«

Heuchlerischer kleiner Sack, dachte Jones, und malte sich verschiedene schmerzvolle Möglichkeiten aus, wie er den Major ermorden würde. Ah, aber er durfte keine Zeit auf Phantasien verschwenden, sondern mußte sich auf seine Rettung konzentrieren. Er hatte das Pech gehabt, sich einen falschen schottischen Namen auszusuchen, und der Adjutant war ein Schotte. Jones hatte das Gefühl, bei diesem Offizier würde er nicht so leicht davonkommen wie bei anderen zuvor.

Der Major schien nicht in der Lage zu sein, sein Temperament zu zügeln – verständlich bei der gewaltigen Anzahl von Galgenvögeln, die zusammengeschaufelt wurde, um Grants Kriegsmaschinerie zu schüren. Der Offizier kam um seinen Schreibtisch herum und pflanzte sich unmittelbar vor Jones auf.

»Wie oft hast du schon die Freiwilligenprämie eingesteckt und bist dann abgehauen? Mehrmals, möchte ich wetten. Nun, McNaughton, in Zukunft wird das nicht mehr so einfach sein.«

Salem Jones bekam weiche Knie. Sein Magen begann zu zucken, als der Major zu dem Sergeant sagte: »Holen Sie den Barbier und lassen Sie ihn das Eisen ansetzen. Und schaffen Sie mir dieses Stück Dreck aus den Augen.«

Zuerst kam die Schere, dann das Rasiermesser. Jones saß auf einem Hocker, während der Unteroffizier, der als Barbier fungierte, ihm die letzten Haare vom fast schon kahlen Schädel kratzte. Ungefähr dreißig Soldaten sahen der Bestrafung zu. Die grinsenden Gesichter versetzten ihn in Wut. Sie gehörten Männern, die sich genau wie er unter falschem Namen gemeldet hatten, um die Prämie einzustreichen und dann sofort zu desertieren. Jones war viermal desertiert, aber er kannte Männer, die es sieben oder acht Mal gemacht hatten und nie erwischt worden waren. Dieses Glück hatte er nicht gehabt, so wie ihm sein ganzes Leben lang das Glück ausgewichen war.

Die Mainacht war warm. Vom großen Feuer aus rief der Sergeant: »Fertig.«

Der Ring der Zuschauer öffnete sich. Jones wurde zu dem Feuer gestoßen, aus dem der Sergeant, dessen rechte Hand durch einen dicken Stulpenhandschuh geschützt war, ein Brandeisen zog. Das Ende war weißglühend.

Sie hielten ihn fest: der schwitzende Sergeant hob das Eisen. Bastarde!, schrie Jones lautlos. Ich bring euch um.

Das weißglühende Eisen näherte sich seinen Augen, wurde größer und größer. Jones krümmte sich, begann zu betteln. »Nein – nein, nicht!« Auf einer Seite des grellen Lichtes tauchte ein bekanntes Gesicht auf. Der Major war herausgekommen, um zuzusehen.

»Ich sagte, haltet ihn fest«, schnarrte der Sergeant. Hände umklammerten Salem Jones’ Kopf. Er begann zu kreischen, einige Sekunden, bevor der Sergeant das Eisen gegen sein Gesicht stieß.

Er schleuderte das brennende Holzscheit gegen das Zelt und rannte los.

Einen grasbewachsenen Damm hinunter, drüben wieder hoch, in einen Garten mit Apfelbäumen hinein. Dort wirbelte er schließlich herum, beobachtete, wie die Flammen am Zelt hochzüngelten. Rufe, Flüche schallten von drinnen heraus. Er hoffte nicht wirklich, der Major würde in den Flammen umkommen, aber zumindest konnte er ihm einen Schrecken einjagen. Er wandte sich ab und rannte weiter.

Drei Tage nach seiner Strafe war Jones wieder zum Dienst eingeteilt worden, weil die Armee sich zum Aufbruch vorbereitete (Nachtmarsch, was mittlerweile die Regel zu sein schien) und weil die Narren glaubten, der rasierte Kopf und das Brandzeichen hätten ihn zerbrochen. Außerdem brauchten sie Leiber, mit denen sie die Kriegsmaschine füttern konnten.

Er hatte sich auf seine letzte Fahnenflucht vorbereitet. Selbst wenn er sich noch mal um einer Prämie willen verpflichten könnte, würde er es nicht mehr tun. Der Krieg war zu grausam geworden. Lee hatte Metzger Grant in den Wäldern standgehalten und ihm bei Spotsylvania einen hohen Blutzoll abverlangt. Aber Grant würde nicht aufgeben. Seine Maxime, in allen Zeitungen des Nordens abgedruckt, lautete: »Ich habe vor, hier an dieser Front auszukämpfen, und wenn es den ganzen Sommer dauert.«

Nun, jedenfalls würde er das ohne Salem Jones tun. Er würde sich nach Süden absetzen, so schnell und so weit es ging. Vielleicht sollte er nach South Carolina. Er würde gern dort sein, wenn die Konföderation fiel, was sicherlich bald der Fall sein mußte. Genußvoll gab sich Jones der Vorstellung hin, was er Mont Royal und den Leuten antun konnte, die ihn hinausgeworfen hatten, wenn Carolina zu einer besetzten Provinz werden würde…

Jetzt aber mußte er sich erst mal darum kümmern, daß er gut durch die Linien der Union und weiter südlich dann durch die Linien der Konföderierten kam. Beim Biwak des anschließenden Regiments huschte er durch eine Lücke in der Postenkette. Wenige Augenblicke später tauchte der Mond hinter einer Wolke auf und überschüttete ihn mit Licht. Ganz deutlich war das große, schwarze D unter seinem rechten Auge zu erkennen.

Innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Ankunft der Krankenschwestern besserten sich die Zustände im Feldhospital. Inmitten all der Aktivität und gelegentlichen Verwirrung bereitete sich Virgilia auf die unvermeidliche Auseinandersetzung mit Mrs. Neal vor. Sie vermutete, die Oberschwester würde sich zuerst an sie persönlich wenden, anstatt zu dem leitenden Arzt zu gehen; auf diese Befriedigung würde sie nicht verzichten.

Gegen Ende von Virgilias erstem vollem Arbeitstag wurde es ruhiger. Sie trank einen Schluck Kaffee, schlenderte dann in die Abenddämmerung hinaus, vorbei an der Ecke ihres Pavillons. Als sie das Rascheln von Röcken hinter sich hörte, setzte sie sich, ohne sich umzudrehen, angespannt auf einen Baumstumpf.

»Miss Hazard?«

Mit ausdruckslosem Gesicht nahm Virgilia die Gegenwart der älteren Frau zur Kenntnis.

»Ich habe mit Ihnen eine ungemein ernste Angelegenheit zu besprechen. Ich fürchte, wir wissen beide, worum es sich dabei handelt.«

Die Oberschwester ging zu einem anderen Baumstumpf, ihre Untergebene wie ein Vorsitzender Richter musternd.

»Sie haben es zugelassen, daß dieser junge Südstaatler verblutet ist, nicht wahr? Mit anderen Worten, Sie haben ihn umgebracht.«

»Von allen lächerlichen, beleidigenden – «

»Es wird Ihnen nichts nützen, mit Aufgebrause und Protesten zum Angriff überzugehen«, unterbrach Mrs. Neal. »Sie haben mir im Zug erklärt, sehr deutlich und vor Zeugen, daß Sie keinen verwundeten Feind pflegen würden. Ihr extremer Haß auf den Süden ist allgemein bekannt. Sie bedeckten diesen jungen Mann mit Decken, obwohl Ihnen vollkommen klar war, daß erhöhte Temperatur zu einer erneuten Blutung führen würde.«

»Ja, ich habe ihn zugedeckt. Diesen Fehler geb’ ich zu. In der Verwirrung – so viele brauchten Hilfe – die Ärzte schrien durcheinander – «

»Unsinn. Sie sind eine der besten Schwestern, die ich je getroffen habe. Ich habe Sie noch nie leiden können, aber ich spreche Ihnen Ihre Fähigkeiten nicht ab. Sie würden niemals so einen Fehler machen, höchstens mit Absicht.«

Ohne ihre Vorgesetzte anzublicken, bluffte Virgilia: »Wenn ich den Irrtum eingestehe, wird es Ihnen schwerfallen, das Gegenteil zu beweisen.«

»Ich kann’s versuchen. Ich werde melden, daß Sie den Patienten im vollen Bewußtsein der Konsequenzen mit Decken zugedeckt und dann die Blutung durch neue Verbände verborgen haben.«

»Ich gebe die Decke zu, sonst nichts.«

»Dann ist jede weitere Diskussion sinnlos. Aber ich weiß, was Sie getan haben, und ich werde Miss Dix die Beweise vorführen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie bestraft werden.«

Und damit rauschte sie davon.

Die Dunkelheit senkte sich herab. Erschöpft gab sich Virgilia wilden Phantasien hin. Eine vergitterte Zelle. Hoch über ihr ein Mann in Robe, der das Urteil verkündete.

»Oh Gott«, weinte sie leise auf.

Sie riß sich zusammen, rieb sich die Angsttränen aus den Augen. Behalt die Nerven. Denke klar. Du hast kein Verbrechen begangen. Es war für Grady. Millionen würden es patriotisch nennen. Es war der Feind.

Aber all diese Vernunftgründe änderten nichts an der Tatsache, daß Mrs. Neal sie melden würde. Es würde eine Untersuchung geben. Es lag an ihr, das zu verhindern und den möglichen Konsequenzen auszuweichen: Anklage, Gefängnis –

Aber wie? Wie!

»Da bist du ja, Virgilia.«

Die Frauenstimme erschreckte sie. Sie sah Miss Kisco am Zelteingang. Jetzt erst fiel ihr auf, daß noch etwas in der Stimme der anderen Schwester mitschwang: Feindseligkeit.

»Was ist?«

»Der Chefarzt möchte dich sprechen.«

»Sag ihm, ich komme sofort. Ich bin noch etwas benommen von der Luft drinnen.«

»Gut.« Miss Kisco verschwand.

Virgilia drehte sich um und ging in entgegengesetzter Richtung in die Dunkelheit hinein.

Ihr Paß war in Ordnung; sie hatte keine Schwierigkeiten, den ersten Zug zu nehmen, der Aquia Landing verließ. Bei Sonnenaufgang dampfte sie auf einem Boot den Potomac hinauf.

Nie wieder würde sie zu diesem Feldhospital oder sonst einem Hospital zurückkehren. Aber sie würde sich auch nicht verstecken. Vor dem Pavillon war ihr der Einfall gekommen, daß sie einer Untersuchung nur durch Intervention einer einflußreichen Person ausweichen konnte. Eine Person, mächtig genug, um Mrs. Neal und selbst Miss Dix an die Wand zu drücken.

Sie bedauerte nichts, obwohl es ihr leid tat, daß sie nicht mehr als Krankenschwester arbeiten konnte. Aber wenigstens hatte sie ihre Karriere im Stile eines guten Soldaten beendet: Sie hatte einen Feind vernichtet.

In der Kühle des frühen Morgens ging sie am City-Pier an Land, entschlossen und ruhig. Sobald sie ein Zimmer gefunden und sich gesäubert hatte, würde sie Kontakt mit dem Kongreßabgeordneten Sam Stout aufnehmen.

106

In seinem Bett im Harewood Convalescent Hospital schrieb Billy:

Sonntag, 5. Juni. Wetter warm. Nachts müssen wir in Moskitonetze gehüllt werden, sonst werden wir aufgefressen. Bäume geben diesem Pavillon während der heißesten Stunden Schatten, aber nichts kann den Leichengeruch vertreiben, der über der Stadt hängt, seit General G. in die Schlacht gezogen ist. Überall Tote; man kann sie nicht mehr zählen.

Erhalte keine verläßlichen Nachrichten, aber die Sanitäter erzählten mir, daß eine weitere große Schlacht vor Richmond geschlagen wird. Vielleicht führt das zum Ende, und ich kann zu Dir heimkehren, meine geliebte Frau. Wenn nicht, dann werde ich in wenigen Tagen auf dem Weg zurück nach Virginia sein – die Kugel, die mich traf, hat den Unterschenkel glatt durchschlagen, ohne großen Schaden anzurichten.

Old Abe läßt sich nächste Woche in Baltimore wieder als Kandidat der sogenannten Nationalen Unions-Partei aufstellen, die anscheinend plötzlich ins Leben gerufen wurde, um Einigkeit zwischen gemäßigt radikalen Republikanern und Pro-Unions-Demokraten zu demonstrieren. Es ist keineswegs sicher, daß L. diesmal siegen wird. Viele sind gegen ihn, und es werden jeden Tag mehr. Ein Offizier meinte gestern hier zu diesem Thema, daß der Nation besser gedient wäre, wenn jemand den Präsidenten ermorden würde. Wie tief müssen wir noch im Wahnsinn versinken, bis all das ein Ende findet?

An dem Tag, an dem Lincoln erneut als Kandidat aufgestellt wurde, mit Gouverneur Johnson von Tennessee, einem Demokraten, als Vize, packte Isabel die Zwillinge und verließ das Haus für einen langen Urlaub in Newport. Washington war unerträglich geworden. Stanley erhob keine Einwände gegen die Abreise seiner Frau, denn sie ermöglichte ihm, eine junge Dame häufiger zu besuchen, deren Bekanntschaft er in einer Aprilnacht gemacht hatte, als er und einige republikanische Kumpels stockbetrunken das große Theater in der Ninth Street besucht hatten.

Das Publikum für die Show bestand fast ausschließlich aus Männern. Vor den Varieté-Künstlern trat eine spärlich bekleidete Tanztruppe auf. Eine der Tänzerinnen, ein vollbusiges Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren, war so hübsch, daß Stanley genau wie die schwitzenden Soldaten um ihn herum auf die Bank sprang und brüllte.

Stanley ließ kein Auge von dieser Tänzerin und verwickelte sie anschließend hinter der Bühne in ein Gespräch – was nicht schwierig war, nachdem die junge Dame seine teure Kleidung bemerkt und vernommen hatte, daß er unter anderem ein Vertrauter von Minister Stanton, Senator Wade und dem Kongreßabgeordneten Davis war.

Miss Jeannie Canary – den Nachnamen hatte sie als Ersatz für den unaussprechlichen Namen ihres levantinischen Vaters angenommen – war von Stanleys Freunden fast genauso beeindruckt wie von seinem unerschöpflichen Geldvorrat. In der Nacht nach der erneuten Nominierung lagen sie in Miss Canarys billiger Wohnung auf der Insel – er hatte versprochen, ihr bald eine neue Wohnung zu besorgen – nackt im Bett.

Vom Bourbon angenehm benebelt, lag Stanley auf seinem stattlichen Bauch und spielte mit den Fingerspitzen an Miss Canarys dunklen Brustwarzen herum. Für gewöhnlich lächelte sie ständig. Nicht so heute abend.

»Liebling, ich will das Feuerwerk sehen. Ich möchte die Marinekapelle Tramp! Tramp! Tramp! spielen hören.«

»Jeannie«, er sprach mit ihr wie mit einem zurückgebliebenen Kind, »diese Feierlichkeiten bedeuten für meine engsten Freunde einen Schlag ins Gesicht. Wie könnte ich daran teilnehmen?«

»Oh, das ist nicht der Grund, weshalb du nein sagst«, erwiderte sie, warf sich herum und zeigte ihm ihr rundliches Hinterteil. »Du willst nur nicht mit mir zusammen gesehen werden.«

»Das darf dich doch nicht kränken. Man kennt mich in dieser Stadt. Außerdem bin ich ein verheirateter Mann.«

»Dann hast du hier bei mir auch nichts verloren, oder? Wenn du mich nicht ausführst, brauchst du auch keine neue Wohnung für mich zu mieten. Oder hinter die Bühne zu kommen – niemals mehr.«

Ihren dunklen Augen und ihrem Schmollen war er nicht gewachsen. Er schob seinen farblosen Körper aus dem Bett, suchte die Flasche und trank den letzten Schluck. »Also gut. Ich denke, für eine Stunde könnten wir gehen. Hoffentlich ist dir klar, was für ein Risiko ich für dich auf mich nehme.« Er griff nach seinen übergroßen Unterhosen.

»Oh, Liebling, das tue ich, das tue ich«, quietschte sie, schlang duftende Arme um seinen Nacken und preßte ihre Brüste gegen sein schwabbeliges Fleisch. Das waren die Momente, in denen er sich wieder wie ein junger Mann fühlte.

Sie nahmen eine Kutsche, und er versuchte ihr unterwegs zu erklären, weshalb er und seine Freunde Lincoln verachteten.

»Der Präsident hat auf Grant gesetzt, aber Grants Kampagne ist praktisch zum Stehen gekommen. Cold Harbor war eine Katastrophe, deren Ausmaße uns erst jetzt langsam klar wird. Der General hat ungefähr fünfzigtausend Mann verloren – fast die Hälfte der ursprünglichen Streitmacht, mit der er den Rapidan überquerte, fast genausoviel wie Lees gesamte Armee. Die Nation wird eine derart hohe Metzgersrechnung nicht hinnehmen – vor allem jetzt, wo Richmond immer noch nicht erobert ist.«

»Ich bin mir nicht ganz sicher, wo Richmond liegt, Lieber. Irgendwo da unten in North Carolina?«

Seufzend tätschelte er ihre Hand und gab auf. Jeannie Canary war süß und niedlich, doch ihre köstlichen Talente waren begrenzt. Von einer Schauspielerin sollte man vermutlich nicht mehr erwarten, dachte er.

»Ich will aussteigen«, beharrte sie, als die Kutsche Ecke Seventh und F von der Menschenmenge aufgehalten wurde. Er versuchte sie zu überreden, in der Kutsche zu bleiben, aber sie öffnete trotzdem die Tür. Mit einem ängstlichen Schauder folgte er ihr.

Feuerwerkskörper explodierten krachend über ihren Köpfen. Die Menge bejubelte die roten, weißen und blauen Sterne. Miss Canary quietschte und klammerte sich an seinen Arm; er bemerkte, daß Fremde sie anschauten. Eine Gänsehaut jagte ihm über den Rücken. Die Gefahr war bis zu einem gewissen Grad pikant, so wie die Erregung, die seiner Meinung nach ein Soldat empfinden mußte.

»Guten Abend, Stanley.«

Erbleichend drehte er sich schnell um und sah den Kongreßabgeordneten Henry Davis aus Maryland, der an seinen Hut tippte, Miss Canary mit einem schiefen Blick streifte und weiterging.

Oh Gott, oh mein Gott, das war alles, was Stanley in den nächsten paar Augenblicken denken konnte. Was für ein Narr er doch war, was für ein absolutes Arschloch. Die Gefahr hier war nicht pikant; sie war tödlich.

Und er zählte nun zu den Opfern.

Charles versuchte um Beauty Stuart zu trauern, aber die Tränen wollten nicht kommen. Als dienstältestem Brigadier hätte nun Hampton das Kommando über die Kavallerie zufallen müssen. Er erhielt sofort einen Großteil der Verantwortung, aber nicht die Beförderung. Charles und Jim Pickles und jeder andere Veteran kannten den Grund. Lee hielt Hampton für zu alt. War er fit genug, um die Belastungen des Kommandos ertragen zu können?

Charles hielt das für lächerlich. Hampton hatte schon seit langem bewiesen, daß er alles ertragen konnte, schlechte Witterung, lange Ritte und Feldzüge, die manchen um Jahre jüngeren Mann aus dem Sattel geworfen hätten. Charles hatte dabei das unangenehme Gefühl, daß die Verzögerung etwas damit zu tun hatte, daß Fitz Lee die Beförderung für sich selbst beanspruchen wollte.

Nach seiner Rückkehr von Richmond hatte Charles keine Chance mehr gehabt, Gus zu besuchen, obwohl er oft an sie dachte. Er hatte beschlossen, daß ihre Liebesaffäre zwar nicht vollkommen beendet, aber abgekühlt werden mußte. Der Krieg half dabei.

Als jedoch die heftigen Kämpfe in den Wäldern begannen, sorgte er sich, daß ihr etwas passieren könnte. Er wußte, daß die Bundestruppen Fredericksburg erneut überrannt hatten und viele der Einwohner geflohen waren. Eine Nachricht von Orry auf seine Anfrage hin besagte, daß sich Gus und ihre freigelassenen Neger nicht in Richmond befanden; zumindest hatten sie nicht bei Orry und Madeline Unterschlupf gesucht. Aus diesem Grund nahm Charles an, daß sie sich noch auf der Farm befand. Er wollte feststellen, ob mit ihr alles in Ordnung war, konnte es aber nicht.

Was war besser, zu wissen oder nichts zu wissen? Jim Pickles erhielt Briefe von Zuhause, und jeder deprimierte ihn mehr. Seine Mutter war krank. Ein Arzt vermutete Krebs und gab ihr kein Jahr mehr.

»Ich muß nach Hause«, verkündete Jim eines Tages.

»Das kannst du nicht«, sagte Charles sehr bestimmt.

Jim dachte eine Weile nach. »Schätze, du hast recht.« Aber wirklich überzeugt klang er nicht.

Die Bundestruppen standen im Begriff, sich mit Wagen, Ambulanzen und ungefähr achthundert Pferden davonzumachen. Calbraith Butlers Brigade kämpfte anderswo, also schickte Hampton Texas Tom Rosser los. Charles ritt mit Rossers Männern; dabei erspähte er den jugendlichen General, den er zuerst an seinem scharlachroten Halstuch erkannte. Charles feuerte einen Schuß ab, verfehlte ihn. Custer schoß zurück und ritt davon. Es war zweifelhaft, ob er Charles erkannt hatte, der mittlerweile eher einem bärtigen Banditen als einem Soldaten ähnelte.

Am nächsten Nachmittag kämpfte Charles zu Fuß hinter eilig errichteten Verschanzungen auf einer Seite der Virginia-Central-Schienen. Er und Jim waren wieder bei Butlers Kavalleristen. Jenseits der Eisenbahnschienen formte sich Sheridans Kavallerie, rückte zu Fuß vor, während Blechinstrumente dröhnend Garryowen spielten.

»Hast du je so ‘nen Krach gehört?« brüllte Jim und duckte sich, als eine Kugel knapp über ihm pfiff. Seine Bemerkung bezog sich nicht auf das Gewehrfeuer.

»Little Phil läßt immer mächtig aufspielen«, erwiderte Charles, leerte seinen Revolver und duckte sich dann, um nachzuladen. »Es heißt, er will damit die Rebellenschreie übertönen.«

»Das hier ist bestimmt der musikalischste Krieg, der je geführt wurde«, bemerkte Jim. »Eins ist sicher – es ist nicht die Art von Krieg, mit der ich gerechnet habe.«

»Niemand hat damit gerechnet«, sagte Charles und schoß einem Jungen ein Loch ins Bein.

Und weiter stürmten sie vor, mit ihren Gewehren aus der Hüfte schießend. Kurz vor Sonnenuntergang fand der letzte Angriff statt. Als er verebbt war, zog Sheridan seine Männer aus der Schlacht zurück. Während der Nacht zogen sie sich Richtung North Anna zurück. Charles und die anderen Scouts befanden sich an der Spitze der Verfolger. Deshalb entdeckten auch sie die Horrorszene.

Jim stieß zuerst darauf, in der Nähe eines verlassenen Bundescamps. Er galoppierte zu Charles und meldete, was er gefunden hatte. Dann kotzte er, bevor er sich weit genug zur Seite beugen konnte, über eine Schrotflinte, seinen Sattel und sein überraschtes Pferd.

Charles ritt zu der sonnigen Weide. Er roch das Gemetzel, bevor er es sah. Er hörte es auch – Aasfresser und Millionen von Fliegen. Mit zusammengepreßten Lippen ritt er Augenblicke später zum vorübergehenden Hauptquartier des Generals.

Hampton verlor seine charakteristische Gentleman-Haltung, als er zu der Stelle ritt. Eine Brise wehte durch seinen weißen Bart, während er die phantastischen Skulpturen der aufeinandergehäuften, fliegenbedeckten Pferde anstarrte. »Haben Sie gezählt?« flüsterte er.

»Es sind so viele, so dicht zusammen, es läßt sich kaum feststellen, General. Ich schätze, mindestens achtzig oder neunzig. Jim hat dort drüben bei den Bäumen noch mal soviel oder mehr entdeckt. Ich habe nach Verletzungen gesucht – ich meine Verletzungen, die nicht von den Kugeln stammen, mit denen sie getötet wurden. Ich hab keine gefunden. Die Yanks müssen zu dem Schluß gekommen sein, daß eine Pferdeherde ihren Rückzug verlangsamt.«

»Ich habe verletzte Pferde erschossen, aber noch niemals lahmende. Gesunde Tiere zu töten, mit voller Absicht, das ist noch viel schlimmer. Das ist eine Sünde.«

Und einen Nigger in Ketten zu legen ist keine Sünde? Laut erwiderte er: »Jawohl, Sir.«

»Gott verdamme sie«, sagte Hampton.

Angesichts dessen, was sich die Menschen bereits angetan hatten und was aus ihm selbst geworden war, hatte Charles das Gefühl, der General sei ein bißchen spät dran mit seiner Forderung. Gott hatte bereits für den größten Teil der Bevölkerung ordentliche Arbeit geleistet.

Cold Harbor ließ die Fenster von Richmond erneut erzittern. Nachts hielten sich Orry und Madeline eng umschlungen, unfähig, in diesem Kanonendonner Schlaf zu finden.

Jetzt tobten die Kämpfe um Petersburg. Nach viertägigen fruchtlosen Versuchen, die Befestigungen der alten Dimmock-Linie zu überrennen, hatte die Potomac-Armee ihre Attacke beendet und begonnen, Petersburg zu belagern.

»Lee sagte stets, daß wir erledigt sind, wenn die Belagerung beginnt«, erklärte Orry Madeline. »Wenn sie wollen, dann können die Bundestruppen über die Flußbasis bei City Point Männer und Nachschub bis zum Ende des Jahrhunderts heranbringen. Wir werden kapitulieren müssen.«

»Vor langer Zeit hat Cooper gesagt, das sei unvermeidlich, nicht wahr?«

»Cooper hatte recht«, murmelte er und küßte sie.

Nur noch wenige Blockadebrecher gelangten nach Wilmington. Der nationale Geldvorrat verwandelte sich immer schneller in wertloses Papier. Der Widerstand brach in sich zusammen. Die mächtigen Generäle waren gefallen: Orrys alter Klassenkamerad Old Jack; Stuart, der singende Kavalier. Und der Größte von allen, Bob Lee, konnte nicht siegen.

Eines Morgens nach Cold Harbor erschien Pickett im Kriegsministerium. Abgezehrt, mit stumpfen Augen, glich er einer wandelnden Leiche. Er trug sein parfümiertes Haar immer noch in schulterlangen Locken, aber überall mischten sich weiße Löckchen darunter.

In der staubigen Hitze teilte Orry dem Freund seine persönliche Unzufriedenheit mit. Pickett entgegnete: »In meinem Divisionsstab wird es immer einen Platz für dich geben, wenn die Zeit kommt, wo du dir ein Feldkommando wünschst.« Ein düsterer Unterton deutete an, daß Orry sich eine solche Entscheidung zweimal überlegen sollte. Dachte er an den fehlgeschlagenen Angriff bei Gettysburg, der ihn an einem einzigen Tag um Jahre hatte altern lassen?

»In letzter Zeit hab’ ich mir tatsächlich sowas gewünscht, George. Ich habe noch nicht mit Madeline darüber gesprochen, aber ich werde dein Angebot nicht vergessen. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«

Pickett sagte nichts, sondern hob lediglich seine Hand und ließ sie wieder fallen. Durch die schrägen Lichtbahnen der Sonne schlich er davon.

Mallory stattete einen Besuch ab, informierte ihn steif, daß Cooper aus dem Dienst geschieden war und erklärt hatte, er beabsichtige, Charleston zu verlassen und nach Mont Royal zurückzukehren.

»Er hat sich drastisch verändert«, sagte Mallory. »Ein abrupter und meiner Meinung nach tadelnswerter Wandel zu einer Position Frieden-um-jeden-Preis.«

Gereizt entgegnete Orry: »Sein Wandel zum Befürworter des Krieges war drastisch und tadelnswert, Mr. Mallory. Vielleicht ist der Bruder, den ich einst kannte, wieder zum Vorschein gekommen.«

Das gefiel dem Minister gar nicht, und prompt ging er hinaus. Orry war froh, daß Cooper nach Hause zurückgekehrt war. Doch die mögliche Bedeutung dieses Vorgehens beunruhigte ihn genauso wie ein Vorfall am nächsten Morgen.

»Wer ist diese Frau, die einen Paß beantragt hat?« fragte Orry einen Angestellten.

»Mrs. Manville. Kam ‘61 von Baltimore, um hier ein Freudenhaus zu eröffnen. Jetzt hat sie zugemacht.«

»Sie geht zurück nach Maryland?«

»Ja, sie versucht es irgendwie. Sie ist fest entschlossen, und wir haben keinen Anlaß, sie aufzuhalten.«

»Ist sie die erste Prostituierte, die einen Paß will?«

»Oh nein, Colonel. Mindestens ein Dutzend seit Cold Harbor.«

In der Marshall Street sagte er an diesem Abend zu Madeline: »Die sogenannten leichten Mädchen verschwinden. Es gibt keinen Zweifel, der Vorhang fällt.«

Ein persönliches Problem plagte Orry weiterhin: das Geheimnis der Verschwörung, die sich anscheinend in Luft aufgelöst hatte. Wann immer er Madeline gegenüber seine Frustration zum Ausdruck brachte, besänftigte sie ihn und bedrängte ihn, das Problem als unlösbar beiseite zu schieben. Seine Antwort war immer die gleiche: »Unmöglich.«

Seine Gefühle explodierten schließlich zu unerwarteter Zeit und an unerwartetem Ort: einem abendlichen Empfang im Finanzministerium zu Ehren von Minister Memminger, der nach Erledigung einiger wichtiger Aufgaben zurückzutreten gedachte. Im Juli sollte das der Fall sein.

Die Gästeliste schloß alle in Memmingers Ministerium Beschäftigten und die Leute aus seinem Heimatstaat ein. Auf Huntoon traf beides zu. Er brachte Ashton zu dem Empfang mit.

Orry brachte Madeline mit.

Orry, an einem Sandwich würgend, ließ Madeline im Gespräch mit einigen Damen zurück und schlenderte zu seiner Schwester hinüber. Natürlich war sie die einzige Frau in einer Gruppe von fünf Männern, wozu auch Huntoon gehörte, der mit dicken Krötenbacken der Erklärung eines älteren Beamten lauschte: »Zum Teufel mit Gouverneur Brown und seiner Meinung. Ich behaupte nach wie vor, daß wir nur mit farbigen Truppen diesen Krieg weiterführen können.«

Huntoon riß sich die Brille von der Nase, um seine eindeutige Haltung zu unterstreichen. »Dann ist es besser zu kapitulieren.«

»Lächerlich«, sagte ein anderer Mann. »Die Yankees sind nicht so pingelig. Bei Petersburg vagieren die Niggertruppen wie Fliegenschwärme herum.«

Ashton, die recht verhärmt aussah und sichtlich an Gewicht verloren hatte, entgegnete: »Was sonst könnte man von einer Bastard-Nation erwarten? Ich bin einer Meinung mit James. Besser alles verlieren als faule Kompromisse schließen.«

Wo stammte dieser Fanatismus her, fragte sich Orry. Von Huntoon? Nein, mit größerer Wahrscheinlichkeit von Powell.

Sie sah ihn und löste sich aus der Gruppe der Diskutierenden.

»Guten Abend, Orry. Ich sah dich und deine schöne Frau hereinkommen. Wie geht es euch?« Eine Routinefrage, weiter nichts.

»Den Umständen entsprechend gut. Und dir?«

»Oh, ich bin mit tausend Dingen beschäftigt. Hast du gehört, daß Cooper aus dem Marineministerium ausgeschieden ist?« Er nickte. »Es heißt, Minister Mallory sei empört gewesen. Wirklich, Orry, wir könnten genausogut die Sphinx zum Bruder haben. Die würde ich noch eher verstehen als Cooper.«

»So schwer ist das gar nicht zu verstehen. Cooper ist stets ein Idealist gewesen, hochherzig und grundsätzlich gegen jede Form von Demagogie. Und Betrug.«

Ashton war clever genug, um zu erkennen, daß hier ein Element ins Spiel kam, das mit dem bisherigen Gespräch nichts zu tun hatte.

»Soll das Wort Betrug eine Anspielung sein, die ich verstehen müßte?«

»Möglicherweise. Es könnte zum Beispiel auf deinen Geschäftspartner, Mr. Powell, passen.«

Sie hatte sich bei ihm untergehakt; jetzt ließ sie seinen Arm wie ein Stück faules Fleisch fallen. »Cooper hat’s dir erzählt? Paßt genau zu diesem Moralapostel.«

»Das hat mit Cooper gar nichts zu tun. Als ich Powell erwähnte, spielte ich damit nicht auf dein kleines maritimes Unternehmen an, sondern auf die Gruppe, die sich früher auf der Farm unten am Fluß traf.«

Vor lauter Überraschung zeigte ihre Fassade Risse, die sie schnell zu maskieren suchte. Er prellte weiter vor. »Sicher kennst du den Ort, von dem ich spreche. Wilton’s Bluff - wo die Scharfschützengewehre gelagert waren? Die .45 Kaliber-Whitworths?«

Ein verzweifeltes Lachen. »Wirklich, Orry, ich habe noch nie solch einen Unsinn gehört. Wovon um alles in der Welt sprichst du?«

»Es geht um diese Verschwörerbande. Ich war auf der Farm. Ich sah James dort, und ich sah dich.«

»Quatsch«, schnarrte sie durch ihr Lächeln hindurch, machte einen schnellen Schritt an ihm vorbei. »Da kommt Mr. Benjamin.«

Orry wandte sich um. Der rundliche, verbindliche kleine Mann war bereits von Bewunderern umgeben. Er schien mehr daran interessiert, Madeline zu begrüßen, und marschierte geradewegs auf sie zu.

Ashtons letzte Worte waren recht laut gewesen. Huntoon wurde aufmerksam, entschuldigte sich und näherte sich Orry von links. Ashton wirbelte zu ihrem Bruder zurück, rief: »Was du da sagst, ist absurd. Lächerlich.«

»Nenn es, wie du willst«, sagte er schulterzuckend. »Ich habe genug gesehen und gehört, um das Ziel dieser Versammlungen mitzubekommen. Gott weiß, wie du in sowas verwickelt werden konntest«, Huntoon blieb neben ihm stehen; die Augen quollen ihm heraus, als ihm klar wurde, worum sich das Gespräch drehte, »und ich habe durchaus bemerkt, daß ihr die Spuren verwischt habt. Aber das ist nur vorübergehend. Wir werden euch erwischen.«

Orry hatte seine Schwester unterschätzt. Er hätte niemals mit einem ernsthaften Gegenangriff gerechnet. Sie lächelte charmant.

»Falls wir dich nicht vorher erwischen, mein Lieber. Ich habe ohnehin auf eine günstige Gelegenheit gewartet, um mit dir über die Niggerin in deinem Haus zu sprechen. Oder ist es dein Schlafzimmer?«

Orrys Gesicht wurde eisig. Er blickte sich unauffällig um. Die Party wurde merklich leiser, als einige Gäste bemerkten, daß ein Streit im Gang war, obwohl außer Huntoon niemand wirklich etwas verstehen konnte. Er sah aus, als würde er in den nächsten paar Sekunden tot umfallen.

Ashton tippte mit ihrem Fächer gegen Orrys Handgelenk. »Machen wir ein Geschäft, lieber Bruder. Du bewahrst diskretes Schweigen, und ich ebenso.«

Eine Ader begann an Orrys Schläfe zu pochen. »Droh mir nicht, Ashton. Ich will wissen, wo sich Powell aufhält.«

Süßliches Gift: »Geh zum Teufel.«

Benjamin hörte das ebenso wie Madeline. Sie warf ihrem Mann einen überraschten, besorgten Blick zu. Köpfe drehten sich in jene Richtung.

»Ashton!« warnte Orry mit vor Zorn rauher Stimme. »Ich wollte dich fragen, Lieber«, trällerte sie, »wie du es geschafft hast, die ganze Zeit die Wahrheit so geschickt zu verbergen? Aber ein Captain Bellingham hat mir einen unwiderlegbaren Beweis gezeigt. Ein Porträt, das anscheinend früher in New Orleans in einem – «

Bellingham? Porträt? Der Name sagte ihm nichts, aber bei dem Porträt blitzte eine plötzliche Erinnerung auf und traf ihn wie ein Schlag. Madelines Vater Fabray hatte ihr vor seinem Tod erzählt, daß ein Gemälde ihrer Mutter existierte, auch wenn sie es selbst nie gesehen hatte.

Siegestrunken stellte sich Ashton auf Zehenspitzen, packte Orrys Unterarm und flüsterte: »Du siehst, ich weiß alles über sie. Deine süße Frau ist mehr als nur einmal kurz mit der Teerbürste gestrichen worden. Du warst ein Narr, mich zu beschuldigen.« Sie grub ihre Fingernägel in seinen grauen Ärmel, ließ dann los.

Ihre Röcke hochraffend, rannte Ashton den Gang entlang auf Madeline, Benjamin und den Kreis der Frauen zu und plapperte fröhlich drauflos: »Liebling, sag uns doch die Wahrheit. Als mein Bruder dich heiratete, wußte er da, daß deine Mutter eine Terzeronin aus New Orleans war?« Benjamin, der Madelines Hand gehalten hatte, ließ sie los. »Beschäftigt in einem Haus von schlechtem Ruf?«

Eine rechts neben Madeline stehende Frau trat stirnrunzelnd zurück. Madeline warf Orry einen weiteren Blick zu. Tränen schimmerten in ihren dunklen Augen. Nie hatte er sie so die Beherrschung verlieren sehen. Er hatte den Wunsch, an ihre Seite zu eilen und seine Schwester auf der Stelle umzubringen.

»Komm, Liebes«, beharrte Ashton. »Vertrau uns alles an. War deine Mutter nicht eine Niggerprostituierte?«

Orry packte Huntoon an der Schulter. »Bring sie hier raus, bevor ich sie verprügle.«

Mit seinem rechten Arm stieß er Huntoon den Gang hinunter. Huntoons Brille fiel zu Boden, beinahe wäre er darauf getreten. Ashton schäumte vor Wut; bis jetzt hatte sie die Bühne ganz allein für sich gehabt.

Mit schiefer Brille schwankte Huntoon auf sie zu. »Wir gehen.«

»Nein. Ich bin noch nicht fertig.«

»Wir gehen.« Sein Schrei wirkte wie ein Schock auf all die anderen. Er stieß Ashton an. Sie merkte, daß Huntoon sich in einem gefährlichen Zustand der Hysterie befand. Sie schenkte Orry ein schnelles, kaltes Lächeln, schüttelte Huntoons Hand ab und ging hinaus.

In Petersburg begann die Artillerie zu feuern. Der Kronleuchter schwankte. Memminger beobachtete Orry mit ausdruckslosen, berechnenden Augen, während Benjamin, schon wieder verbindlich lächelnd, Madeline tröstete.

»Nie zuvor hab’ ich ein derart schändliches Benehmen erlebt. Sie besitzen mein volles Mitgefühl. Ich setzte natürlich voraus, die Anschuldigung dieser flegelhaften jungen Frau entbehrte jeglicher Grundlage.«

Madeline zitterte. Orry eilte auf sie zu, angewidert von der Wandlung, die mit Benjamin vorging. Der Minister schlüpfte vollends aus seiner Freundesrolle in die eines Regierungsoffiziellen, indem er noch hinzufügte:

»Oder?«

Orry hatte seine Frau nie mehr geliebt oder bewundert als in dem Moment, wo sie sagte: »Herr Minister, erfordert das Gesetz, daß ich Ihre unhöfliche Frage beantworte?«

»Das Gesetz? Selbstverständlich nicht.« Benjamins Augen glichen denen einer pirschenden Katze. »Und ganz sicher wollte ich nicht unhöflich erscheinen. Aber eine Weigerung könnte von einigen als Eingeständnis gewertet werden.«

Eine Frau mit Muttermal zischte: »Ich zum Beispiel würde gern eine Antwort hören. Es wäre eine Schande, wenn ein Angehöriger unseres eigenen Kriegsministeriums mit einer Farbigen verheiratet wäre.«

»Schert euch doch mitsamt eurer verdammten Bigotterie zum Teufel«, rief Madeline. Die Frau fuhr zurück, als hätte sie einen Schlag bekommen. Orry griff nach seiner Frau; irgendwie schaffte er es, all die chaotischen Emotionen der letzten Minuten – Überraschung, Besorgnis, Zorn, schlichte Verwirrung – in den Griff zu bekommen. Mit ruhiger, starker Hand berührte er sie.

»Hier entlang, Liebling. Es ist an der Zeit, daß wir heimgehen.« Sanft legte er seinen Arm um sie. Er spürte, daß sie dicht vor dem Zusammenbruch stand.

Irgendwie kamen sie an den Frauen in ihren Abendkleidern vom letzten Jahr vorbei. Ein heißer Wind wirbelte Papierfetzen und anderen Abfall über den Capitol Square.

»Wie hat sie es herausgefunden?«

»Das weiß Gott allein. Sie sagte etwas über einen Captain Bellingham. Noch nie von ihm gehört. Ich werde in den Akten nachsehen, obwohl die in einem derartigen Durcheinander sind, daß wir nicht mal die Namen der Hälfte der jetzt Diensttuenden wissen. Aber du kannst sicher sein, daß ich’s versuchen werde. Den Bastard würde ich zu gern finden.«

»Ich mußte dem Minister nicht antworten. Er hatte kein Recht zu fragen!«

»Nein, das hatte er nicht.«

»Wird es dir im Ministerium schaden?«

»Natürlich nicht«, log er.

»War es ein Eingeständnis, als ich mich weigerte zu antworten?«

Als er schwieg, packte sie ihn und schüttelte ihn; ihre Haarnadeln lösten sich, ihre dunklen Locken flatterten, als sie gegen den Wind schrie: »War es das, Orry? Sag die Wahrheit. Die Wahrheit!«

Das Heulen des Windes füllte das Schweigen.

»Ja. Ich fürchte, das war es.«

Obwohl ihr langsam das Geld ausging, verlangte Virgilia eines der besseren Zimmer bei Willard’s. »Wir haben auch preisgünstigere Zimmer«, sagte der Angestellte am Empfang. »Mit kleineren Betten.«

»Nein, danke. Ich brauche ein großes Bett.«

Um zu sparen, ging sie an diesem Abend nicht in den Speisesaal. Hunger und Nervosität ließen sie nur schwer einschlafen. Am nächsten Morgen nahm sie kein Frühstück zu sich. Sie machte sich auf den Weg, viel zu warm angezogen für diesen Tag.

Sie war schweißgebadet, als sie die Stufen zum Kapitol hochstieg und in das Gebäude schlüpfte. Nach einigem Suchen entdeckte sie Sam Stout an seinem Schreibtisch im Erdgeschoß; die dünnen Beine weit ausgestreckt, sortierte er Dokumente.

Würde er kommen, fragte sie sich, als sie wieder hinausschlüpfte. Wenn nicht, dann war sie verloren.

Sie gab den versiegelten Umschlag in seinem Büro ab. Auf den Umschlag hatte sie seinen Namen und die Worte Vertraulich! Nur vom Empfänger persönlich zu öffnen geschrieben. Nervös spazierte sie auf der schäbigen Promenade eine halbe Stunde lang auf und ab. Schließlich kehrte sie zu Willard’s zurück und warf sich aufs Bett.

Gegen Mittag kaufte sie zwei alte Brötchen bei einem Straßenverkäufer. Eines davon aß sie als Mittagessen auf ihrem Zimmer. Gegen drei entkleidete sie sich und badete. Danach zog sie einen dunklen Rock und eine hübsche Leinenbluse an. Eine dreiviertel Stunde lang beschäftigte sie sich mit ihrer Frisur, dann aß sie das zweite Brötchen. Geräusche aus dem Nebenzimmer erregten ihre Aufmerksamkeit: ein quietschendes Bett, der stöhnende Aufschrei einer Frau, der sich rhythmisch wiederholte. Ihr Zimmer erschien ihr heiß wie ein Ofen. Mit einem Taschentuch tupfte sie sich die Oberlippe ab.

In ihrer Nachricht hatte sie ihn gebeten, um sieben zu kommen. Um halb zehn saß sie an dem kleinen Tisch, rieb sich mit der linken Hand langsam die Stirn. Ihre Hoffnung und ihre Energie waren der Verzweiflung gewichen. Sie war verrückt gewesen, anzunehmen –

»Was?« sagte sie; ihr Kopf fuhr hoch. Ihr Herz begann zu rasen. Sie erhob sich, zog hastig ihre zerknitterte Bluse über ihren Brüsten straff. Sie richtete ihre Frisur, eilte zur Tür. »Ja?«

»Schnell, laß mich rein. Ich möchte nicht gesehen werden.« Der Klang der tiefen Stimme machte sie ganz schwach. Endlich bekam sie die Tür auf.

Er hatte sich verändert. In dem weißen Gesicht wirkten die schweren Brauen immer noch wie schwarze Haken. Sein welliges Haar glänzte, als er sich unnötigerweise bückte, um durch die Tür zu treten; er betonte gern seine Größe.

»Ich entschuldige mich für meine Verspätung«, sagte er und schloß die Tür.

»Das brauchst du nicht, Samuel. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue.« Es fiel ihr schwer, ihn nicht zu berühren.

Sein Blick wanderte von ihrer Bluse zu ihrem Gesicht. »Ich wollte dich wiedersehen. Und in deiner Nachricht stand etwas von einem Notfall.«

Er setzte sich, schlug seine mageren Beine übereinander, lächelte ihr zu. Sie hatte vergessen, wie krumm seine Zähne waren. Trotzdem erschien er ihr wunderschön; die Schönheit der Macht.

»Ich bin so spät dran, weil das Komitee so hart arbeitet. Aber erzähl von deinem Notfall. Ist etwas in Aquia Creek passiert?«

»Falmouth. Ich – « Sie holte tief Luft; der Leinenstoff spannte sich noch mehr. Er spielte mit der Kette seiner Taschenuhr. »Ich muß ganz offen sein. Ich habe den Dienst verlassen. Sie brachten einen schwer verwundeten konföderierten Offizier in das Feldhospital bei Falmouth. Ich ließ ihn sterben. Absichtlich.«

Er zog seine Uhr hervor, öffnete sie und warf einen Blick darauf. Ließ sie wieder einschnappen, steckte sie weg. Das Schweigen wurde unerträglich.

»Ich dachte, ich würde unserer Sache einen guten Dienst erweisen! Er wäre zurückgekehrt, hätte noch mehr von unseren Jungs getötet – « Ihre Stimme brach.

»Erwartest du, daß ich dich verdamme?« Er schüttelte den Kopf. »Ich muß dich loben, Virgilia. Du hast richtig gehandelt.«

Sie eilte auf ihn zu, ließ sich neben seinem Stuhl auf die Knie fallen. »Aber sie wollen mich bestrafen.« Unbewußt streichelte sie seine Beine, während sie die Geschichte von Mrs. Neal und deren Drohungen heraussprudelte. Er hörte so ruhig zu, daß sie von Panik überwältigt wurde. Es schien ihn nicht zu interessieren.

Doch genau das Gegenteil traf zu. »Ist das alles, worüber du dich sorgst, die Witwe eines verdammten Südstaatensympathisanten? So eine Person wird keine Untersuchung in Gang bringen. Ich werde mit ein paar Leuten reden.« Seine Hand kroch in ihr Haar. »Vergiß die ganze Angelegenheit.«

»Oh, Sam, ich danke dir.« Sie legte ihre Wange auf seinen Oberschenkel. »Ich wäre dir so dankbar, wenn du mir diese Schwierigkeiten ersparen könntest.« Alles entwickelte sich genau so, wie sie es erhofft hatte. Bei der Planung war sie traurig gewesen, weil sie sich den Umständen entsprechend mit weniger zufrieden geben mußte, aber vielleicht konnte sie eines Tages den Kompromiß zu ihrem Vorteil ändern.

Er hob ihr Kinn an; sein Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. »Ich freue mich, helfen zu können, Virgilia. Aber ich bin immer noch ein verheirateter Mann. Auch wenn ich persönlich das gern ändern möchte, ist es unmöglich, wenn ich im Kongreß bleiben möchte. Und ich möchte bleiben – ich habe vor, Sprecher des Hauses zu werden, bevor ich abtrete. Wenn du also meine Unterstützung möchtest, dann zu meinen Bedingungen, nicht zu deinen.«

Einst hatte sie handeln wollen, aber nun war sie zur Aufgabe gezwungen. Nun, warum nicht? Sam Stout würde Karriere machen. Anteil an so einem Mann zu haben war besser als gar nichts.

Er tätschelte ihre Hand. »Nun? Wie ist deine Antwort?«

»Meine Antwort lautet ja, Liebling«, sagte sie, erhob sich und begann, ihre Bluse zu öffnen.

107

Nachdem sein Verhältnis bekannt geworden war, schrieb Stanley am nächsten Tag einen Brief an Jeannie Canary. Er teilte ihr mit, daß er wegen dringender Geschäfte die Stadt verlassen müßte, und legte ihr eine Bankanweisung über hundert Dollar bei, um ihren Kummer zu lindern. Dann flüchtete er nach Newport.

Zu seiner Verblüffung zeigte sich Isabel über sein plötzliches Auftauchen in Fairlawn kaum erstaunt. Sie fragte, wie er es geschafft habe, fortzukommen, und er sagte, er habe eine Geschichte erfunden, wonach sich einer der Zwillinge verletzt hatte. Die Geschichte konnte durchaus wahr werden: Draußen auf dem Rasen versuchten sie, sich gegenseitig mit Hufeisen den Schädel einzuschlagen. Mein Gott, wie er diese widerwärtigen Jungs haßte.

Während der Nacht erwachte er und sah Isabel an seiner Schlafzimmertür vorbeigehen, auf dem Weg zu ihrem Zimmer. »War da eben jemand unten an der Tür?«

»Ja. Jemand hat sich in der Haustür geirrt.« Ihre Stimme klang angestrengt.

Am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, reichte sie ihm seine Jacke. »Bitte mach mit mir einen Spaziergang zum Strand, Stanley.« Obwohl sie es höflich sagte, ließ ihr Tonfall ihm keine Wahl. Bald waren sie allein am Strand. Die Luft war kühl, das Wasser ruhig; Ebbe hatte eingesetzt.

Isabel sagte mit plötzlicher und überraschender Wildheit: »Ich würde gern mit dir über deine neue Freundin sprechen.«

Ein dümmliches Lächeln. »Was für eine Freundin?«

Sie zeigte die Zähne. »Dein Flittchen. Die im Varieté auftritt. Die Person, die letzte Nacht zum Haus kam, besaß die richtige Adresse.« Sie zog ein zusammengeknülltes Blatt aus ihrer Rocktasche. »Und dieses Telegramm.«

So schnell? »Mein Gott, wer – wer informierte –?«

»Das ist nicht wichtig. Ich habe seit Wochen über die Frau Bescheid gewußt und dazu auch keine Erklärung abgegeben. Soviel ich weiß, ist sie kaum talentiert genug, um Schauspielerin genannt zu werden, obwohl sie vermutlich andere, weniger öffentliche Talente besitzt.« Isabel blieb vollkommen beherrscht, wodurch ihr Angriff noch bedrohlicher wirkte.

Er biß sich auf die Fingerknöchel, marschierte im Kreis herum. »Isabel, wenn du es weißt, dann müssen es auch andere wissen. Wie viele?« Sie antwortete nicht. »Ich bin ruiniert.«

»Unsinn. Wie üblich begreifst du nicht, wie die Welt funktioniert. Du zitterst wegen nichts. Niemand kümmert sich darum, ob du eine Geliebte hast, solange du diskret und einigermaßen wohlhabend bist.« Sie entfernte sich einige Schritte von ihm. Mit leeren Augen schaute er zu, wie der Wind den Sand aufwirbelte. »Anderen ist es egal, und mir ist es egal. Du weißt, daß ich diesen Teil der Ehe sowieso verabscheue. Und jetzt möchte ich, daß du meinen nächsten Worten deine volle Aufmerksamkeit schenkst. Stanley!«

Sie hob eine Faust und senkte sie wieder, ehe sie fortfuhr: »Privat kannst du tun, was du willst. Aber wenn du dich jemals wieder mit diesem Flittchen in der Öffentlichkeit zeigst – eine Stunde nach deiner Parade mit ihr wußte die ganze Stadt Bescheid –, dann engagiere ich ein ganzes Regiment Rechtsanwälte und knöpfe dir den letzten Penny ab. Hast du das kapiert?«

Ein feiner Sprühregen aus ihrem Mund traf ihn. Mit dem Handrücken wischte er sich die Backe ab. Sie hatte ihn wütend gemacht.

»Ja, ich habe kapiert, wie die Dinge stehen. Ich bin dir vollkommen gleichgültig. Nur mein Geld hält dich. Mein Geld, meine Position – «

Trauer schien in Isabels Stimme mitzuschwingen, als sie mit einem Schulterzucken erwiderte: »Ja. Der Krieg hat viele Dinge verändert. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«

Er war zu erregt, um zu bemerken, wie unsicher sie ging, als sie ihn verließ. Sie hielt einen Moment inne, um zurückzuschauen, und das reflektierende Sonnenlicht ließ ihre Augen aufstrahlen.

»Als wir uns kennenlernten, habe ich dich gern gehabt.«

Stanley wanderte eine Weile am Strand auf und ab. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er seinen königsblauen Gehrock trug. Er griff in die große Innentasche – ah! Vor Erleichterung zitternd, zog er eine Taschenflasche hervor und entkorkte sie. Er stürzte die Hälfte des Bourbon hinunter, taumelte dann zu einem großen Felsen und setzte sich hin.

Es gab so viele Änderungen, daß er sie kaum alle aufzählen konnte. Sein Reichtum verschaffte ihm völlige Unabhängigkeit. Er war der Vertraute von Politikern, die innerhalb weniger Jahre die Nation beherrschen würden. Er war verliebt oder glaubte es zumindest. Er war als Ehebrecher entlarvt. Und er war auf dem besten Weg, ein Trinker zu werden, und kümmerte sich einen Dreck darum.

Er trank den restlichen Bourbon aus und schleuderte die Flasche ins Meer. Er mußte der Wahrheit ins Auge sehen. Er war unfähig, mit so vielen Veränderungen fertig zu werden. Er beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen verborgen, und begann zu weinen.

Stanley wäre überrascht gewesen, hätte er gewußt, daß seine Frau, die er für eiskalt und bösartig hielt, an diesem Morgen ebenfalls weinte. In Fairlawn, hinter verschlossenen Türen, weinte Isabel viel länger und heftiger als er. Als sich schließlich ihre Tränen erschöpft hatten, setzte sie sich hin, dachte nach und wartete darauf, daß ihre geröteten Augen wieder normale Farbe annahmen, damit sie sich vor dem Personal sehen lassen konnte.

Bis auf den Namen verband sie nichts mehr mit ihrem Mann. Nun gut, daran ließ sich nichts ändern. Sie hatte ihn als Instrument benutzt, um Reichtum anzuhäufen, und damit konnte sie ihren Aufstieg zu überwältigender gesellschaftlicher Bedeutung in Washington, ihrem Heimatstaat und der ganzen Nation finanzieren. Wie sehr sie ihre Phantasie auch strapazieren mochte, Stanley besaß einfach nicht die Fähigkeit, eine nationale politische Figur zu werden. Aber er besaß bereits genügend Geld, um solche Männer zu kaufen und zu verkaufen. Da sie stets seine Entscheidungen leiten würde, war in Wirklichkeit sie im Besitz der Macht.

Isabel schob ihren kurzen Abstieg in die Sentimentalität, der sie sich hier und am Strand hingegeben hatte, beiseite und dachte über all die glorreichen Tage nach, die vor ihr lagen. Sie war sicher, daß all das Wahrheit werden würde, wenn sie Stanley halbwegs nüchtern hielt und dafür sorgte, daß er weiterhin die Gunst der Republikaner genoß. Der Erfolg hatte ihn ruiniert, aus Gründen, die sie weder verstand noch benennen konnte.

Es spielte keine Rolle. Manche starke Königin hatte durch einen schwachen König regiert.

108

Am Ende des Tages, an dem er seinen Dienst im Pionierbataillon wieder aufnahm, schrieb Billy in sein Journal:

16. Juni – Petersburg (4 Meilen entfernt). Dampferfahrt nach City Point ereignislos, aber sehr heiß. Sah die grandiose Pontonbrücke bei Broadway Landing. Ich wünschte, ich wäre rechtzeitig zurückgekommen und hätte bei der Erschaffung eines solchen Wunders helfen können. Maj. Duane, der mich bei meiner Ankunft in diesem Lager herzlich begrüßte, meinte, keine Armee der Welt habe je eine größere Pontonbrücke gebaut. Sie erstreckt sich fast über eine halbe Meile von Ufer zu Ufer; wo der Kanal verläuft, erlaubt eine Ziehbrückensektion die Passage von Kanonenbooten.

Kurz vor meiner Ankunft überquerte das Bataillon die Brücke. Unser Camp liegt beim Bryant House, dem gegenwärtigen Hospital der Zweiten Div. aber wir bleiben nicht hier. Wurde von vielen alten Kameraden herzlich begrüßt; alle wollten von meiner Flucht aus dem Libby hören. Ich sagte, unbekannte Unionssympathisanten hätten das arrangiert. Selbst jetzt noch könnte C. in irgendeiner Form durch die Wahrheit gefährdet werden; er ist so ein großartiger Freund & hat so viel riskiert, daß ich auf keinen Fall zulassen werde, daß ihm meinetwegen etwas zustößt.

Die Gedanken an C. stimmen mich traurig. Meine brüderliche Zuneigung bleibt davon unberührt, & ich stehe nun doppelt in seiner Schuld, weil er mir zweimal das Leben gerettet hat. Aber er ist nicht mehr der fröhliche Bursche, den ich zum erstenmal in Carolina getroffen & später in W.P. kennengelernt habe. Der Krieg hat ihn in irgendeiner Weise verletzt. Ich habe es überdeutlich gespürt. Wäre ich literarisch begabt, ich würde nach metaphorischen Wendungen suchen. Irgendein Zauber hat das Bärenjunge in einen Wolf verwandelt.

109

Diejenigen, die am Ashley wohnten und alt genug waren, um sich an den Mexikanischen Krieg und an Orry Mains Heimkehr zu erinnern, glaubten, die Geschichte würde sich mit Orrys älterem Bruder wiederholen. Orry hatte einen Arm verloren, Cooper einen Sohn. Kaum dasselbe, aber die Folgen waren fast die gleichen. Beide waren verändert, in sich gekehrt. Einige sprachen von ernsthafter geistiger Verwirrung.

Cooper zwang die gelegentlichen Besucher von Mont Royal nicht mehr, sich seine radikale Meinung anzuhören. Man nahm an, daß er immer noch solche Ansichten vertrat, obwohl man da nicht sicher sein konnte. Er beschränkte seine Gespräche mit Außenstehenden auf Allgemeinheiten. Und obwohl Shermans gewaltige Armee auf Atlanta zurollte, weigerte er sich, über den Krieg zu sprechen.

Aber der Krieg war ihm stets gegenwärtig, auch an diesem heißen Juniabend, als er sich nach dem Essen in die Bibliothek zurückzog. Obwohl der Sonnenuntergang die Zimmerwand noch orange färbte, zündete er eine Lampe an und saß bald schon an seinem Schreibtisch. Die Metallfeder kratzte so laut, daß er nicht hörte, wie sich die Tür öffnete. Judith trat mit einer Zeitung ein.

»Du mußt dir den Mercury anschauen, Liebster. Eine Nachricht aus Übersee, vorgestern über Wilmington hereingekommen.«

»Ja?« sagte er und blickte von dem Memorandum auf, das er an die Regierung zu schicken beabsichtigte. Er plädierte dafür, weitere Verluste an Menschenleben durch einen Waffenstillstand und sofortige Friedensverhandlungen zu vermeiden.

Er schien kein großes Interesse zu haben, seine Arbeit zu unterbrechen, also fuhr Judith fort: »Der Artikel betrifft die Alabama. Sonntag vor einer Woche fuhr sie durch den englischen Kanal. Ein Unionsschiff namens Kearsarge hat sie dort versenkt.«

Sofort erkundigte er sich: »Was ist mit der Mannschaft?«

»Diesem Artikel zufolge haben viele überlebt. Der Captain der Kearsarge fischte siebzig Mann aus dem Wasser, und eine britische Yacht, die den Hafen von Cherbourg verlassen hatte, um den Kampf zu beobachten, nahm weitere dreißig Offiziere und Matrosen auf.«

»Irgendwas über Semmes?«

»Er wurde von der Deerhound, der Yacht, gerettet.«

»Gut. Die Männer sind wichtiger als das Schiff.«

Er gab diese Erklärung mit so viel Gefühl ab, daß Judith gar nicht anders konnte, als zu ihm zu eilen und ihn zu umarmen.

»Cooper, ich liebe dich so sehr. Um uns herum nur Chaos, aber ich bin so dankbar und glücklich, mit dir zusammen hier zu sein.«

»Ich auch.«

»Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört. Ich dachte nur, die Nachricht über das Schiff würde dich interessieren.«

Er griff nach ihrer Hand. »Sie war ein wunderschönes Schiff. Aber sie diente den falschen Herren.«

Unvermittelt erhob er sich von seinem Stuhl und küßte sie lang und feurig. Seine Umarmung nahm ihr den Atem.

»Und wenn du mich wirklich liebst, Judith, dann läßt du mich jetzt wieder an meine Arbeit. Ich muß dieses Memorandum beenden, auch wenn unsere heroischen Gesetzgeber es in Fetzen reißen und darauf herumtanzen werden. Und diejenigen, die noch nie einen Kanonenschuß gehört haben, werden am heftigsten reißen und tanzen.«

»Sicher hast du recht. Und ich bin stolz auf dich, daß du es versuchst.«

Mit einem leichten, beschwingten Gefühl schloß Judith die Tür zur Bibliothek. Zum erstenmal seit Charleston empfand sie Gewißheit: Ihr geliebter Gatte war ein neuer, geheilter Mann.

Es war Benjamin, der mit Samthandschuhen das Messer schärfte. Aufgrund seines verbindlichen Diplomatenstils war er der geeignete Mann dafür. Einige Tage nach dem Empfang im Finanzministerium wurde Orry vorgeladen.

»Zuerst möchte ich zum Ausdruck bringen, daß ich stellvertretend für den Präsidenten spreche«, sagte Benjamin zu Orry, der steif vor dem Schreibtisch saß. »Er hätte sie gern persönlich empfangen, aber dringende Dienstgeschäfte – « Eine geschmeidige Geste beendete den Satz.

»Der Präsident möchte Ihnen seine tiefe Dankbarkeit für Ihre Sorge um sein Wohlergehen ausdrücken – vor allem wegen Ihrer Warnung vor einer möglichen Verschwörung gegen sein Leben.«

Orry spürte den Schweiß in seinen Kragen rinnen. Stimmen jenseits der geschlossenen Tür klangen schläfrig in der Sommerhitze.

»Die Verschwörung ähnelte zweifellos vielen anderen, von denen wir hören – Wunschdenken, angefeuert von Kneipenmut. Nichtsdestoweniger weiß Mr. Davis Ihre Loyalität zu schätzen. Er – stimmt etwas nicht?«

Orrys angespannter Gesichtsausdruck lieferte die Antwort. Die Regierung glaubte ihm immer noch nicht. In diesem Moment beschloß er, einen Schritt zu unternehmen, den er bis jetzt lediglich erwogen hatte. Aus eigenen Mitteln würde er einen Agenten zur Ausführung des Planes anheuern, den er im Sinn hatte. Sofort.

Er zwang sich zu sagen: »Alles in Ordnung. Fahren Sie fort.«

»Ich habe Ihnen sinngemäß die Botschaft des Präsidenten übermittelt. Jetzt habe ich noch einige Fragen persönlicher Natur. Sind Sie mit Ihrem Posten im Kriegsministerium zufrieden?« Als Orry zögerte, drängte Benjamin: »Seien Sie ganz offen. Es bleibt unter uns.«

»Nun, also – nein. Ich denke, wir kennen beide den wahrscheinlichen Ausgang dieses Krieges.« Er erwartete keine Zustimmung und erhielt auch keine. »Der Gedanke, während der letzten Monate Pässe für Prostituierte auszustellen und die Untaten eines Leuteschinders zu kontrollieren, ist mir verhaßt.«

»Ah, ja, Winder. Sie würden also einen Kampfeinsatz vorziehen?«

»Ich habe es erwogen. Generalmajor Pickett hat mir einen Posten in seinem Divisionsstab angeboten.«

»Armer Pickett. Ich habe nie erlebt, daß ein einziges Ereignis einen Mann so verändert hat.« Benjamin klang aufrichtig, fuhr aber gleich darauf im alten Stil fort: »Da ist ein weiteres Thema, das ich zu meinem Bedauern mit Ihnen besprechen muß. Die Anschuldigung Ihrer Schwester gegen Ihre bezaubernde Gattin.«

Die Worte glitten in ihn hinein wie ein Stilett. Er hatte darauf gewartet, daß die Angelegenheit in irgendeiner Form auf den Tisch kam. Er hatte mit sich gekämpft und war zu einer Entscheidung gelangt, die ihn schmerzte, weil sie sein Gewissen belastete. Aber Madeline war wichtiger.

Er saß sehr aufrecht, in fast herausfordernder Haltung da. »Ja? Was ist damit?«

»Um es ganz direkt auszudrücken – entspricht es der Wahrheit?«

»Nein.«

Benjamin zeigte weder Erleichterung noch sonst eine Reaktion. Er studierte weiterhin seinen Besucher. Bin ich solch ein miserabler Lügner? fragte sich Orry.

»Ihnen ist klar, daß mich die Regierung zu dieser Frage gezwungen hat«, sagte Benjamin. »Das Kabinett – im Grunde die gesamte Konföderation – befindet sich in einem schrecklichen Zwiespalt, was die Einberufung von Negern zur Armee anbelangt. Die bloße Erwähnung dieser Idee treibt einige unserer einflußreichsten Leute an den Rand der Unzurechnungsfähigkeit. Sie können sich die ungemein peinliche Lage vorstellen, wenn wir feststellen müßten, daß ein hoher Beamter unseres Kriegsministeriums – «

Mehr konnte er nicht ertragen. »Verdammt noch mal, Judah, und was ist mit Madelines peinlicher Lage?«

Ungerührt stellte sich Benjamin dem Angriff. »Ich kann ihr das durchaus nachfühlen. Aber diese Beschuldigung geht weit über den persönlichen Bereich hinaus. Würde sie stimmen, dann könnte dadurch die Glaubwürdigkeit der gesamten Regierung befleckt werden. Mr. Davis verweigert die Rekrutierung von nichtweißen – «

»Ich kenne die Einstellung von Mr. Davis«, sagte Orry und erhob sich. »Bei allem nötigen Respekt, es geht hier nicht um die Ansichten des Präsidenten, es geht um eine Beschuldigung, die meine Schwester nur aus einem einzigen Grund erhoben hat. Sie hegt seit langem einen Groll gegen mich.«

Wie ein Staatsanwalt fragte Benjamin: »Weshalb?«

»Das spielt keine Rolle. Es handelt sich um eine Familienangelegenheit.«

»Und Sie behaupten, daß dieser sogenannte Groll Mrs. Huntoons einziges Motiv ist?«

»Das ist richtig. Kann ich jetzt gehen?«

»Orry, beruhigen Sie sich. Es ist besser, wenn Sie schlechte Nachrichten von einem Freund hören. Ich bin Ihr Freund, bitte glauben Sie mir das.« Eine Handbewegung. »Setzen Sie sich wieder.«

»Ich bleibe stehen, besten Dank.«

Benjamin seufzte. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.

»Um für alle Betroffenen eine potentiell peinliche Situation zu entschärfen, verlangt der Präsident, daß Mrs. Main so bald wie möglich Richmond verläßt.«

Orrys Hand umklammerte den Besucherstuhl so fest, daß seine Knöchel kalkweiß wurden. »Damit die Regierung von der Teerbürste unberührt bleibt, nicht wahr? Sie glauben meiner Antwort nicht – «

»Ich glaube Ihnen. Aber ich bin ein Beamter dieser Regierung, und es ist meine Pflicht, den Wünschen des Präsidenten Folge zu leisten, und nicht, sie in Frage zu stellen.«

»Damit sie Ihren Job behalten und weiterhin Ihren Sherry genießen können, während die Konföderation zusammenbricht?«

Die olivfarbenen Wangen wurden fahl. Benjamins Stimme senkte sich, klang durch das kleine, kalte Lächeln hindurch noch tödlicher. »Ich werde so tun, als hätten Sie diese Bemerkung nie geäußert. Der Präsident erwartet, daß seiner Bitte innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne nachgekommen wird.«

»Seinem Befehl, wollten Sie sagen?«

»Es ist ein höflicherweise als Bitte formulierter Befehl.«

»Das dachte ich mir. Guten Tag.«

»Mein lieber Orry, Sie dürfen mich doch nicht persönlich verantwortlich machen – «

Die Tür knallte zu, bevor er den Satz beendet hatte.

Gegen Mittag legte sich Orrys wilder Zorn etwas. Er konnte wieder seinen Routineaufgaben nachgehen und Fragen seiner Kollegen einigermaßen zusammenhängend beantworten. Auf dem Weg zum Mittagessen kam Seddon an Orrys Schreibtisch vorbei, aber der Minister wich Orrys Blick aus. Er weiß, was Davis verlangt. Wahrscheinlich wußte er es schon, bevor Judah es mir sagte. Auf der Stelle entschloß sich Orry, auf Picketts Angebot zurückzukommen.

Madelines Reaktion stand für Orry außer Zweifel. Falls sie überhaupt über seine Entscheidung sprachen, durfte er nur vorsichtige Umschreibungen verwenden, mußte so tun, als wäre es noch längst nicht endgültig. An erster Stelle aber kam jetzt nicht seine Versetzung, sondern er mußte gegenüber Judah, Seddon, dem Präsidenten selbst den Beweis erbringen, daß die Verschwörung tatsächlich existierte.

Er blickte zu einem Eckschreibtisch hinüber, an dem ein junger Zivilist, Josea Pilbeam, saß, der einen Klumpfuß hatte. Pilbeam, ein Junggeselle, hatte im vergangenen Jahr einige Nachforschungen für das Ministerium durchgeführt. Orry ging hinüber, begrüßte ihn liebenswürdig und traf für den Abend eine Verabredung mit ihm. Außerhalb des Ministeriums.

Den restlichen Tag beschäftigte er sich mit der Forderung des Präsidenten. Seine erste, von gekränkter Ehre getragene Reaktion war, sich einfach zu weigern. Andererseits würde Madeline geächtet werden, wenn sie in Richmond blieb. Und nachdem sich Grant bei Petersburg festgesetzt hatte, war Richmond nicht mehr sicher. Orry wünschte keinesfalls, daß seine Frau hier war, wenn die Stadt kapitulierte. Und das konnte nicht mehr lange dauern.

So sehr es ihm auch zuwider war, er mußte zugeben, daß Madeline besser dran war, wenn sie die Stadt verließ.

Was ein weiteres Problem mit sich brachte. Wohin konnte sie gehen? Die nächstliegende Antwort schien ihm bei weitem nicht die beste oder einfachste Möglichkeit darzustellen. Sorgfältig dachte er darüber nach und hatte am späten Nachmittag einen Plan entwickelt, der das geringste Risiko zu beinhalten schien.

Bei Büroschluß verließen er und Josea Pilbeam gemeinsam das Gebäude. An einem ruhigen Tisch in der Spotswood-Bar kam Orry sofort zur Sache.

»Ich verdächtige meine Schwester Ashton – Mrs. James Huntoon – verräterischer Aktivitäten. Ich möchte, daß Sie ihr Haus in der Grace Street abends beobachten, ihr folgen und mir alles melden. Ich zahle gut. Zehn Dollars pro Nacht.«

Pilbeam trank einen Schluck Bier. »Danke für das Angebot, Colonel. Aber ich muß nein sagen.«

»Guter Gott, warum denn?«

»Wir wissen beide, was der konföderierte Dollar wert ist – ungefähr soviel wie der Spruch der Regierung, wir könnten immer noch den Krieg gewinnen. Ich erledige keinen Privatjob gegen Zahlung in unserer Währung.«

Erleichtert sagte Orry: »Ich besorge irgendwie U.S.-Dollars – vorausgesetzt, Sie beginnen morgen abend mit Ihrer Überwachung.«

»Abgemacht«, sagte Pilbeam und schüttelte ihm die Hand.

Zum Abendessen teilte Madeline einen kleinen Fisch zwischen ihnen auf und garnierte jeden Teller mit zwei winzigen, gekochten weißen Rüben. Heute sei nichts anderes zu kriegen gewesen, meinte sie.

Er berichtete ihr, er habe die Akten weiter nach einem Offizier namens Bellingham abgesucht. Nichts. »Ich würde sonstwas darum geben, ihn in die Finger zu kriegen.«

Nach dem Essen schlug sie vor, ein paar Gedichte zu lesen, aber Orry schüttelte den Kopf. »Wir müssen miteinander reden.«

»Oh, wie unheilvoll das klingt. Über welches Thema?«

»Über die Notwendigkeit für dich, Richmond zu verlassen, solange es noch möglich ist.«

Ein verletzter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Das sind die Folgen dieser Party.«

Tiefer in das Netz der Lügen – zu ihrem Besten. »Nein, da hat es lediglich einige hämische Bemerkungen gegeben, die ich überhört habe. Ich habe eigene Gründe, weshalb du abreisen mußt. Zwei Gründe. Erstens wird die Stadt fallen. Wenn nicht diesen Sommer, dann im Herbst oder nächsten Winter. Es ist unvermeidlich, und ich möchte nicht, daß du hier bist, wenn es geschieht. Ich verließ Mexiko, bevor unsere Armee in die Hauptstadt einmarschierte, aber George hat mir einige der Scheußlichkeiten beschrieben. Häuser werden geplündert. Männer werden getötet. Und Frauen – nun, du verstehst, daß ich dich dem nicht aussetzen möchte.«

Sie saß regungslos da und sagte: »Und der zweite Grund?«

»Den hab’ ich bereits erwähnt. Ich habe das Ministerium satt. Ich überlege mir, ob ich nicht um eine Versetzung in George Picketts Stab nachsuchen soll.«

»Oh, Orry – nein.«

Schneller Rückzug: »Langsam, langsam, nicht gleich so ernst. Ich sagte, ich überlege. Ich habe noch nichts unternommen.«

»Weshalb willst du dein Leben für eine verlorene Sache riskieren?«

»Die Sache hat nichts damit zu tun. Pickett ist ein Freund, und mir hängt die Schreibtischarbeit zum Halse hinaus. Außerdem besteht kein Anlaß zur Sorge – das ist ja alles erst Spekulation.«

»Hoffen wir, es bleibt dabei. Wie auch immer, was du mit mir vorhast, läuft jedenfalls auf eine Art Verbannung hinaus. Nun, ich danke dir, aber ich bin nicht der Feigling, für den du mich hältst.«

»Jetzt hör mal, ich habe niemals angedeutet – «

»Aber sicher hast du das. Nun, ich habe jedenfalls vor zu bleiben.«

»Ich bestehe darauf, daß du gehst!«

»Du wirst auf gar nichts bestehen!« Sie erhob sich abrupt. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muß deine Socken stopfen. In den Läden gibt es keine mehr.« Sie stürmte hinaus.

Immer wenn er wieder damit anfing, weigerte sie sich, ihm zuzuhören. Schweigend gingen sie zu Bett. Gegen drei Uhr schmiegte sie sich an seinen Rücken, rüttelte ihn sanft wach.

»Liebling? Ich fühle mich elend. Ich habe mich scheußlich benommen. Verzeihst du mir? Ich war wütend auf mich, nicht auf dich. Ich weiß, ich habe Schande über dich gebracht – «

Schläfrig, aber auf einmal mit leichtem Herzen rollte er sich herum und berührte ihre Wange. »Niemals. Ich liebe dich so, wie du bist. Ich möchte dich einfach in Sicherheit wissen.«

»Mir geht es mit dir genauso. Ich hasse die Vorstellung, daß du zu George Pickett gehst. Die Belagerungslinien sind gefährlich.«

»Ich sagte dir schon, ich habe lediglich daran gedacht. Andere Dinge kommen zuerst.«

»Du möchtest also, daß ich heim nach Mont Royal gehe?«

»Das wäre ideal, aber ich halte es für unpraktisch und riskant. Südlich von hier triffst du auf die gesamte Unionsarmee. Ich möchte, daß du in die andere Richtung gehst. Nach Lehigh Station.«

Es wirkte, als hätte er Konstantinopel oder Sansibar gesagt. »Orry, unser Zuhause ist South Carolina.«

»Einen Moment. Brett ist in Belvedere. Sie wäre sicher froh über deine Gesellschaft, und ich glaube nicht, daß du lange dort sein müßtest. Nicht mal ein Jahr, wenn ich die Anzeichen richtig deute.«

»Aber ich müßte durch die feindlichen Linien.«

»Das Land nördlich von Richmond ist Niemandsland. Als Grant Lee nach Petersburg jagte, nahm er fast seine gesamte Armee mit. Um Fredericksburg, so besagen unsere Berichte, gibt es beispielsweise kaum Truppen. Und nach Washington hineinzukommen wird nicht schwer sein. Du sagst einfach, du seiest eine Unionssympathisantin, und sie werden dich für eine Frau von schlechtem Ruf halten, die beschlossen hat – «

»Was für eine Frau?« Sie richtete sich auf, schaffte es, ihr Kichern mit vorgetäuschter Empörung zu überspielen.

»Na, na – das wirst du ertragen können. Schlimmstenfalls wirst du einige Beleidigungen und eine kurze Inhaftierung hinnehmen müssen. Ein oder zwei Stunden. Vielleicht wird der Busen, den ich so liebe, abgeklopft, um zu sehen, ob er klirrt.«

»Klirrt? Wovon redest du? Du hast den Verstand verloren.«

»Nein. Frauen, die, äh, weniger gut ausgestattet sind als du, nehmen Zuflucht zu metallischen Brustformen.«

»Seit wann bist du ein Fachmann für Metallbrüste geworden?«

»Seit jene Frauen, die diese Formen nicht ausfüllen können, darin Arzneien und Papiergeld schmuggeln.«

Er fühlte sich wie ein Schauspieler, der nur deswegen eine leichtherzige Rolle spielte, weil das Stück es verlangte.

»Vor allem«, fuhr er fort, »brauchst du die Reise nach Washington nicht alleine zu machen, wenn Augusta Barclay ihre Farm noch nicht verlassen hat. Ich besorge dir einen von Augustas freigelassenen Negern, der dich bis zu den Unionslinien bringt. Sie hat uns eine Gefälligkeit versprochen.«

»Wann willst du sie besuchen?«

»An diesem Wochenende.«

»Ein Colonel der Konföderierten kann nicht schnurstracks nach Fredericksburg reiten. Wenn du einer dieser Yankee-Einheiten begegnest?«

»Glaub mir, ich habe nicht die Absicht, jemanden wissen zu lassen, daß ich Colonel bin. Hör auf, dir Sorgen zu machen.«

»Leicht gesagt.«

Er kannte eine alte, konventionelle, aber ungemein angenehme Methode, um derartige Unterhaltungen zu stoppen und Ängste zu zerstreuen. Er begann, sie zu küssen. Dann liebten sie sich und schliefen anschließend ein.

Er ersetzte seine Uniform durch einen schwarzen Anzug und steckte sich Madelines Bibel in die Tasche, zusammen mit einem Paß, den er für sich ausgestellt hatte; das heißt, auf Reverend O.O. Manchester.

Mit einer gemieteten, mindestens zwanzig Jahre alten Schindmähre machte er sich auf den Weg. Orry hoffte, das Tier würde die über vierzig Meilen bis nach Fredericksburg schaffen.

Die Bibel deutlich sichtbar unter seinem Arm, erkundigte sich Orry bei einem älteren Mann nach dem Weg zu Barclays Farm. Eine Stunde später erreichte er sie, entsetzt von dem, was er vorfand. Charles hatte den Ort ziemlich genau beschrieben. Der Stall und die beiden Ahornbäume waren verschwunden; der Stall war abgerissen worden, von den Bäumen waren nur noch Stümpfe übriggeblieben.

Boz und Washington erkannten ihn und begrüßten ihn freudig, als er von dem zitternden Gaul stieg. Die beiden Neger versuchten ein zertrampeltes Feld zu pflügen. Washington führte den Pflug, Boz spielte das Ersatzpferd.

Er fand Gus in der Küche. Ihr schlichtes Kleid spannte sich über der Taille; sie war rundlicher, als er sie in Erinnerung hatte. Aber auch verhärmt, vor allem um die blauen Augen herum.

»Mehr als die halbe Stadtbevölkerung flüchtete, als die Yankees kamen«, erzählte sie, nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte. »Viele von denen, die blieben, nahmen verwundete Feinde auf. Ich ebenfalls. Ich hatte einen Captain hier, einen höflichen Burschen aus Maine, der von oben bis unten mit Bandagen bedeckt war, ansonsten aber recht munter schien. Er wollte sich von mir nicht beim Wechseln der Verbände helfen lassen. Ich ließ ihn von Boz beobachten. Er war gar nicht verwundet, sondern hatte sich lediglich die Verbände von irgend jemandem geborgt, um den Kämpfen auszuweichen. Ich warf ihn hinaus und nahm zwei echte Patienten auf. New Yorker Jungs. Iren – sanft und nett, noch nie zuvor in einer Schlacht gewesen. Einer ging nach acht Tagen. Der andere starb in meinem Bett.«

Sie seufzte. »Ich weiß nicht, warum wir hier weitermachen. Sturheit, denke ich. Und wenn ich gehe, wüßte Charles nicht, wo er mich finden könnte. Hast du – hast du ihn gesehen?«

»Einmal, bevor der Frühjahrsfeldzug richtig losging.« Er berichtete von Billys Flucht aus dem Libby-Gefängnis.

»Ja«, sagte sie, »solche Sachen passen zu Charles. Dem alten Charles.« Die seltsame Bemerkung verwirrte Orry. »Und seit dieser Flucht hast du nichts mehr von ihm gehört?«

»Nichts mehr. Aber ich bin sicher, daß es ihm gut geht. Ich beobachte die Verlustlisten sehr sorgfältig.« Kein Grund, ihr zu sagen, daß viele der Toten und Vermißten niemals identifiziert wurden.

»Weshalb ich hier bin, Augusta«, fing er an, »ich brauche deine Hilfe – das heißt, die Hilfe eines deiner Männer. Er soll Madeline nach Washington begleiten.«

»Washington? Hast du vergessen, auf welcher Seite wir stehen?«

»Nein.« Er erklärte ihr seinen Plan ausführlicher, und sie stimmte bereitwillig zu, bestand sogar darauf, daß Boz ihn zurück nach Richmond begleitete, um Madeline beim Packen zu helfen. Nachdem Orry ein Stück altes Brot und hausgemachten Käse gegessen hatte – die Eroberer hatten Gus gnädig erlaubt, eine Milchkuh zu behalten –, machten er und Boz sich zum Aufbruch bereit. »Zuerst reitest du, und ich laufe«, sagte Orry. »Diese Schindmähre kann uns beide nicht tragen.«

Es war sehr heiß. Orry wedelte sich mit dem Hut Kühlung zu. Er schüttelte Gus die Hand. »Ich komme mit Madeline zurück, sobald ich ihre Wegpapiere fertig habe. Es kann zwei Wochen dauern.«

Es dauerte nicht einmal eine. Die Mains und Boz brachen Ende Juni zu Barclays Farm auf, als die Kriegsnachrichten immer schlimmer wurden. Davis, ein ausgebrannter Mann, unterrichtete die Zeitungen davon, daß er Joe Johnston alle Verstärkungen geschickt hatte, die entbehrt werden konnten. Was immer nun an der Schwelle zu Atlanta passierte, fiel unter die Verantwortlichkeit des Generals, war die Schuld des Generals. Gleichzeitig versuchte Davis, die Journalisten und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß sich die Lage in Virginia gebessert hatte, weil Grant weder Lee zu vernichten noch Richmond zu erobern vermochte. Niemand glaubte ihm.

An einem Mittwoch, dem vorletzten Tag des Monats, sagten sich Orry und Madeline auf der Veranda des Farmhauses auf Wiedersehen. Das Wetter paßte sich der Gelegenheit an. Dunkle Wolken zogen hoch, Wind kam auf. Die ersten Tropfen klatschten in den Staub des Hofes. Orry konnte kaum an all das denken, was er schnell noch sagen wollte.

»– sobald du in Washington bist, benütze einige der Greenback-Dollars, um Brett zu telegraphieren.«

»Ja, das hatten wir schon, Liebling. Mehrmals. Boz wird mich sicher zu einer der Potomac-Brücken bringen.« Sie berührte sein Gesicht. »Irgendwie mußt du mich benachrichtigen. Ich werde ständig in Sorge sein.«

»Wenn möglich werde ich einen Kurierbrief schicken.« Sie trat dicht an ihn heran; Tränen standen in ihren Augen. »Weißt du, wie sehr ich dich vermissen werde? Wie sehr ich dich liebe? Ich weiß, weshalb du mich fortschickst.«

»Weil es unklug wäre, wenn du bleibst.«

»Tausende von anderen Frauen bleiben in Richmond«, unterbrach sie ihn. »Das ist nicht der Grund – du hast mich beschützt, und dafür liebe ich dich mehr denn je.« Staub wirbelte um sie herum. »Deine Vorgesetzten glauben Ashtons Anschuldigung. Mach dir nicht die Mühe, es zu leugnen; ich weiß, daß es so ist. Ein Beamter des Kriegsministeriums mit einer Negerin verheiratet – das ist unerträglich. Also muß man mich loswerden. Ich bin über meine Abreise nicht besonders traurig, außer daß ich dich ganz schrecklich vermissen werde.«

Sie gab ihm einen schnellen, innigen Kuß. Die Wolken öffneten ihre Schleusen, der Regen fiel schwer und heftig. Groß und düster funkelte er sie an. »Wer hat es dir erzählt?«

»Mr. Benjamin, als ich ihn vorgestern zufällig auf der Main Street traf.«

»Dieser schmierige, ehrlose – «

»Er sagte kein Wort, Orry.«

»Aber wie –?«

»Er schnitt mich vollkommen. Sah mich kommen und überquerte schnell die Straße, um mir auszuweichen. Ganz plötzlich begriff ich alles.«

Von Zorn und Kummer geschüttelt, schlang er die Arme um sie. »Gott, wie ich diesen verfluchten Krieg hasse und alles, was er uns angetan hat.«

»Laß ihn uns nicht noch Schlimmeres antun. Opfere ihm nicht noch dein Leben.«

»Ich werde vorsichtig sein. Du auch – versprichst du mir das?«

»Natürlich.«

Er umarmte sie und küßte sie fast eine halbe Minute lang voller Leidenschaft. »Ich liebe dich, meine Madeline.«

»Ich liebe dich, Orry. Wir werden es schaffen.«

»Da bin ich ganz sicher«, sagte er und lächelte zum erstenmal.

Sie blieb auf der Veranda stehen, bis der Einspänner im strömenden Regen auf der Straße nicht mehr zu sehen war.

Orry saß gerade seit zehn Minuten an seinem Schreibtisch, als ein Geräusch ihn aufblicken ließ. Josea Pilbeam kam auf ihn zugehinkt und flüsterte: »Ich muß Sie sprechen. Sofort. Es ist dringend.«

Nach dem Sturm war es dunkel und feucht im Treppenhaus. Pilbeam sagte: »Gestern verließen die Lady und ihr Gatte die Stadt für fast vier Stunden.«

»Wohin sind sie gegangen?«

»Zu der Örtlichkeit, die Sie mir beschrieben haben. Sie besprachen sich mit einem schwergewichtigen Mann, den ich noch nie gesehen habe.«

Sie benützten wieder die Farm. Seine Geduld hatte sich ausgezahlt. Er würde Seddon, Benjamin und der ganzen Bande zeigen, daß er kein Spinner war. Aufgeregt fragte er: »Haben Sie den Nachnamen des Mannes gehört?«

Pilbeam schüttelte den Kopf. »Keiner erwähnte ihn, solange ich lauschte.«

»Wo genau haben sie sich getroffen?«

»In dem Gebäude rechts am Rande der Klippe. Nach ungefähr einer Viertelstunde kam noch jemand dazu, den ich erkannte. Er ist oft genug in unserem Büro gewesen.«

»Wer war es?«

Die Marmorwände und Stufen schienen zu grollen und zu zittern, als Pilbeam sagte: »Winders Totschläger. Israel Quincy.«

110

So furchtbar einfach, dachte Orry, während er durch das Feld schlich, dem gleichen Weg folgend, den er beim erstenmal eingeschlagen hatte. Der Detektiv aus Winders Büro hatte keinen Beweis für eine Verschwörung gefunden, weil er selbst daran beteiligt war.

Der Abend war sehr still, kein Mond schien. Die Feuchtigkeit hing schwer in Orrys Kleidung; sein Hemd war bereits schweißgetränkt. Der Boden um ihn herum war erst kürzlich umgegraben und zertrampelt worden. Er erinnerte sich, daß bei seinem ersten Besuch das Feld unkrautbewachsen gewesen war. Dann war er ein zweitesmal hinausgeritten und hatte bemerkt –

Was? Er trieb seinen müden Geist voran, während er durch seine tropfende Nase mühsam Luft holte. Die Erkältung, die er sich auf der Rückfahrt von Barclays Farm geholt hatte, war schlimmer geworden. Er unterdrückte ein Niesen. Ganz deutlich erinnerte er sich an gepflügte Erde bei seinem zweiten Besuch. Merkwürdig, daß jemand das Feld einer verlassenen Farm bearbeitete.

Dumm. Dumm! Wieder so offensichtlich, und wieder war es ihm nicht aufgefallen. Er wußte, wohin die Whitworth-Gewehre und die Munition verschwunden waren. Sie waren direkt vor jedermanns Nase versteckt worden.

»Unter jedermanns Füßen«, korrigierte er sich flüsternd. Der Trick stammte geradewegs aus Poes berühmter Detektivgeschichte vom gestohlenen Brief. Als Poe-Anhänger fühlte er sich doppelt gedemütigt. Und ich möchte wetten, Mr. Quincy übernahm es, diesen Teil der Farm zu untersuchen. Mr. Quincy schlenderte über das frisch gepflügte Feld und bemerkte nichts Ungewöhnliches.

Hatte auch Powell sich während der ganzen Zeit irgendwo auf dem Grundstück verborgen? Orry steckte sein Taschentuch weg und zog den Navy-Colt aus dem Halfter, den er sich ans linke Bein gebunden hatte. Er spannte den Hammer und schlich vorsichtig weiter.

Er näherte sich demselben erleuchteten Spalt. Nahe am Geräteschuppen entdeckte er einen Einspänner und zwei Sattelpferde beim Haupthaus. Er preßte seine Wange gegen das Holz und biß sich voller Zorn auf die Unterlippe. Auf einer der dreckverschmierten Whitworth-Kisten thronte James Huntoon.

Er hielt ein großes Blatt Papier an den Rändern; eine Art Plan oder Diagramm. Er hielt es schräg, legte es fast auf seinen Bauch, damit die anderen es sehen konnten.

»Dürfte ich um eure Aufmerksamkeit bitten?« sagte eine Stimme. »Das ist der Plan, den Mr. Powell entwickelte, bevor er für einige Tage abberufen wurde, um sich um andere Details unserer Kampagne zu kümmern.« Orry runzelte die Stirn; er konnte den Sprecher nicht sehen, aber die Stimme klang ungemein vertraut.

Er kniete nieder, veränderte seinen Blickwinkel. Mit einem Strohhalm zwischen den Zähnen sah er rechts neben Huntoon den freundlichen Mr. Quincy. Orry begann vor Wut zu kochen.

Die Stimme seiner Schwester: »Sind Sie sicher, daß es funktionieren wird, Captain Bellingham?«

Bellingham? Hatte er den Mann gefunden, der ihr das Gemälde gezeigt hatte?

»Meine liebe Mrs. Huntoon, Höllenmaschinen, die von General Rains vom Torpedo Bureau stammen, haben eine bemerkenswerte Erfolgsstatistik aufzuweisen.«

Ein korpulenter Mann watschelte in sein Blickfeld. Nur sein Rücken war sichtbar, aber seine Kopfform kam Orry ebenso quälend bekannt vor wie seine Stimme.

Und dann identifizierte Orry die Stimme. Das heißt, er gab ihr einen Namen, den richtigen Namen, obwohl er es kaum glauben konnte. Zu seinem kochenden Zorn kamen Erinnerungen, die bis zu seinem ersten Sommer an der Akademie zurückreichten.

Israel Quincy gab ein kicherndes Geräusch von sich. »Die Bombe kann einen wirklich zum Narren halten, Captain. Niemand könnte sie von einem Stück echter Kohle unterscheiden.«

»Bis sie losgeht.« Er reichte Quincy die Höllenmaschine, dessen Hände unter dem Gewicht nach unten sackten. »Untersuchen Sie den Guß. Die Form, die perfekte Färbung des Eisens – genial.«

In diesem Moment sah Orry das Profil des früheren Unionsoffiziers, der irgendwie in eine konföderierte Verschwörung verwickelt worden war. Es bestand kein Zweifel – er hatte Elkanah Bent vor sich, alias Bellingham.

Hätte Orry nicht Bent erkannt, dann wäre alles andere vielleicht nicht geschehen; vielleicht wäre er zurück nach Richmond geritten und hätte eine ganze Kompanie Männer geholt. Aber die lebenslange Vendetta gegen Elkanah Bent öffnete eine Schleuse in Orrys Kopf.

Drei Mann waren im Inneren, aber in seiner Geistesverfassung hätte es auch keine Rolle gespielt, wenn es dreißig gewesen wären. Er hastete um die Ecke des Gebäudes. Den Navy-Colt im Anschlag trat er die Tür mit dem Stiefel ein. »Keiner bewegt sich.«

Ashton schlug die Hände vor den Mund, Huntoon ließ das Diagramm fallen. Bents Gesicht war voller Verwirrung, die schnell in entsetztes Erkennen überging. »Orry Main –?«

»Ich werd’ verrückt«, sagte Quincy, ganz ruhig und professionell, während seine rechte Hand blitzschnell unter seiner Jacke verschwand. Orry wirbelte herum und drückte ab. Die Kugel schleuderte Quincy zurück. Trotzdem zerrte er noch seinen Mehrschüsser heraus, riß immer wieder den Abzug durch; mit der letzten Kugel schoß er sich die linke Stiefelspitze weg, während er zur Seite kippte.

Bent hielt die Kohlen-Bombe, zitternd wie ein Kind, das mit einem gestohlenen Kuchen erwischt wird.

»Captain Bellingham, nicht wahr?« sagte Orry mit rauher Stimme. »Ich hab’ verdammt noch mal keine Ahnung, wie Sie hierher kommen, aber ich weiß genau, wo Sie hingehen, Sie und Ihre Freunde. Ins Gefängnis wegen versuchter Ermordung des Präsidenten.«

Bent faßte sich schnell; seine Augen nahmen einen verschlagenen Ausdruck an. Genau wie Orry begriff er nicht, wie es zu dieser erstaunlichen Konfrontation gekommen war, aber über die Konsequenzen war er sich durchaus im klaren.

Huntoon preßte eine Faust gegen seine Lenden und jammerte: »Guter Gott – er weiß es. Er weiß alles!«

»Genau wie Minister Seddon«, sagte Orry, »und der Präsident selbst. Du bist erledigt, James. Du ebenfalls, mein geliebtes, verräterisches Dreckstück von einer Schwe…« Huntoon packte die Laterne und schleuderte sie. Orry duckte sich. Die Laterne zersplitterte hinter ihm. Öltropfen bespritzten Wand und Boden. Verstreutes Stroh begann zu rauchen.

Orry hatte einen flüchtigen Eindruck von Huntoon, der von Ashton wie ein Kind an der Hand vorbeigezerrt wurde, konnte aber nicht weiter auf ihn achten, weil Bent auf ihn losstürmte, die Bombe in den erhobenen Händen. Mein Gott, er jagt uns alle in die Luft

Bent schlug nach Orrys Kopf. Orry wich aus; Metall scharrte über seine linke Schläfe. Die einzige Explosion war eine Schmerzexplosion. Erneut knallte Bent die Gußform gegen Orrys linke Schulter, den Stumpf seines amputierten Armes. Orry fiel auf ein Knie; Tränen des Schmerzes liefen ihm über die Wangen. An Bents Absicht bestand kein Zweifel: Das in der Falle sitzende Tier würde töten, um zu entrinnen. »Arroganter – South Carolina Bastard – «, keuchte Bent. Wieder hob er die Gußform, drehte sie, bis die scharfe Spitze auf Orrys Schädel zeigte. »Jahre hab ich darauf gewartet – «

Schemenhaft sauste die Gußform auf Orry nieder. Er hob den Colt und feuerte. Die Kugel traf Bents linkes Handgelenk; die Wunde ließ Bent aufschreien, die Gußform zur Seite reißen. Die Bombe streifte Orrys Armstumpf und landete neben dem Feuer, das in dem verstreuten Stroh hochzüngelte.

Haß trieb beide Männer voran. Nie in seinem Leben hatte Orry so intensiven Haß empfunden. Er stemmte sich hoch, drehte den Colt um und schlug Bent den Kolben über den Schädel. Bent kreischte auf.

Wieder schlug Orry zu. Blut spritzte aus Bents Nase. Er schwang den rechten, dann den linken Unterarm hoch, um sein Gesicht zu schützen. Orry fluchte innerlich, während er erneut zuschlug. Bent taumelte nach rechts. Noch einmal schlug Orry zu. Bent wankte – Das reicht; er ist fertig.

Durch das Prasseln der Flammen hörte er knirschende Räder, schnelle Hufschläge. Huntoon und Ashton flüchteten. Es spielte keine Rolle. Nur dieser fette, sich windende Feigling zählte – und Orrys grenzenlose Wut, die uralte wahnwitzige Feindschaft.

Bent schwankte stärker. Nimm ihn als Gefangenen; er kann sich nicht mehr wehren. Die schwache innere Stimme fand kein Gehör. Genauso wahnsinnig wie sein Gegenüber schlug Orry erneut zu.

»Ah-ha.« Bents Aufschrei hatte eine bizarre Ähnlichkeit mit Gelächter. »Jesus, Main – Jesus Christus, hab Gnade – «

»Wann hattest du welche?« kreischte Orry und rammte sein rechtes Knie in Bents Genitalien. Bent wankte zurück, ein taumelnder Schritt, noch einer, noch –

Zu spät sprang Orry vor, um ihn festzuhalten. Bents Rücken stieß gegen das Fenster, er fiel hindurch, eine Gesichtsseite von dem splitternden Glas aufgerissen. Im Fallen kreischte er, dann hörte Orry das dumpfe Geräusch eines aufschlagenden Körpers.

Orry streckte den Kopf zum Fenster hinaus. Bent war von einem Klippenvorsprung abgeprallt, fiel immer noch. Wieder und wieder schlug er auf, flog hinaus und landete mit mächtigem Klatschen im Wasser. Für einen kurzen Augenblick schäumte der Fluß auf, dann – nichts mehr.

Orry suchte krampfhaft die Wasseroberfläche nach Bents Körper ab, aber er blieb verschwunden, war bereits abgetrieben worden, auf die am Horizont aufzuckenden roten Lichter der explodierenden Granaten zu.

Er besaß zwei Beweisstücke für die Verschwörung. Orry legte die Kohle-Bombe auf den Boden und entrollte den Plan, den er vor den Flammen gerettet hatte. Im Schein des brennenden Gebäudes studierte er ihn. Zuerst ergab die Anordnung der kleinen Rechtecke innerhalb von größeren Rechtecken keinen Sinn. Dann erkannte er, daß er einen Plan mit den verschiedenen Stockwerken des Finanzministeriums vor sich hatte.

Er sah mit Tinte eingetragene, beschriftete Kreuze. Bei den Kreuzen im Keller stand KOHLE-BOMBEN. In verschiedenen Büros im zweiten Stock, gekennzeichnet durch die Buchstaben J.D. stand ZÜNDSPRENGSATZ. Die Ungeheuerlichkeit des Ganzen ließ ihn erschauern.

Die explodierende Munition erinnerte ihn daran, daß durch den Lärm und die Flammen Leute aufmerksam werden würden. Er wollte keine Zeit auf Erklärungen an Farmer und Militärpatrouillen verschwenden. Er zwang sich, seine durch den Schock erzeugte Lethargie zu überwinden, und ging auf das Farmhaus zu, wobei er merkte, daß er sich beim Kampf den linken Fußknöchel verstaucht hatte.

Trotzdem durchsuchte er schnell das Haus, entdeckte eine Mansarde mit einigen Möbelstücken und Kleidung. Israel Quincy mußte also das Haus durchsucht und dabei mit voller Absicht Powell oder sein Versteck übersehen haben. Hier fand Orry auch ledergebundene Exemplare mit Berichten über die Fortschritte der Sezessionsbewegungen von Georgia und South Carolina.

Orry wußte nicht, ob Powell gefaßt werden würde, aber er hatte nun ein zweitesmal die Verschwörung aufgedeckt; und, was noch wichtiger war, er konnte nun auch Beweise für deren Existenz vorzeigen.

Er hinkte die Stufen hinunter und zur Hintertür hinaus. Vom Geräteschuppen war nur noch Glut übriggeblieben. Jetzt, wo keine Munition mehr explodierte, hörte er von der Straße her Stimmen. So schnell er konnte, raffte er seine Beweisstücke zusammen und humpelte quer über das gepflügte Feld zu seinem Pferd, das er in dem Obstgarten zurückgelassen hatte. Orry zog den Kopf seines Pferdes herum und ritt auf Richmond zu.

Ein verschlafener Seddon in gestreiftem Nachthemd starrte den Mann an, dessen Gehämmer gegen die Tür ihn geweckt hatte. Orry drückte dem Minister eine schwere Papierrolle und einen Kohleklumpen in die Hand.

»Die Sachen hier beweisen die ganze Geschichte – und Quincys Leiche. Er war einer von ihnen. Wenn das Feuer erloschen ist, werden wir mit Sicherheit geschmolzene Teile der Whitworth-Gewehre finden. Ausreichende Beweise für jeden vernünftigen Menschen«, fügte er hinzu, unfähig, die Bitterkeit ganz aus seiner Stimme herauszuhalten.

»Das ist verblüffend. Sie müssen hereinkommen und mir genau berichten – «

»Später, Sir«, unterbrach Orry. »Ich muß noch eine Aufgabe erledigen, um diese Sache abschließen zu können. Gehen Sie mit diesem Kohleklumpen vorsichtig um. Wenn Sie ihn ins Feuer werfen, jagen Sie sich selbst in die Luft.«

Er hinkte davon, verschwand in der Dunkelheit.

Als er den leeren Navy-Colt vor der Tür des Hauses in der Grace Street zog, bemerkte Orry dunkle Flecken am Kolben. Bents Blut. Er packte den Lauf und schlug mit dem Colt gegen die Tür. Die Glocke hatte keine Reaktion gebracht.

»Wenn niemand öffnet«, brüllte er zum oberen Stock hoch, »schieße ich das Schloß auf.«

Die Vordertür ging auf. Orry rammte mit der Schulter dagegen, erwartete, Huntoons Gesicht vor sich zu sehen. Statt dessen stand Homer da, von der erhobenen Lampe teilweise beleuchtet.

»Sag ihnen, ich will sie sehen, Homer. Beide.«

»Mr. Orry, Sir, sie sind nicht – «

Er ignorierte den alten Mann und ging zur Treppe. »Ashton? Huntoon? Kommt runter, verdammt noch mal.«

Das wilde Echo zeigte ihm, wie dicht er daran war, erneut die Beherrschung zu verlieren. Oben tauchte ein Lichtschein auf. Huntoon näherte sich vorsichtig dem Treppenabsatz, gefolgt von Ashton, die die Lampe trug. Keiner von beiden war fürs Bett gekleidet.

Orry blickte auf; es war einer der seltenen Momente, in denen er eine verängstigte Ashton vor sich hatte.

»Eine alte Szene wiederholt sich, nicht wahr, Ashton? Ich habe dich einmal in South Carolina fortgeschickt, und jetzt tue ich es in Virginia. Diesmal allerdings sind die Einsätze höher. Du riskierst nicht nur meinen Zorn, wenn du bleibst. Du wirst verhaftet werden.«

Huntoon gab einen kleinen, würgenden Laut von sich und trat von der obersten Stufe zurück. Ashton packte ihn am Ärmel. »Bleib stehen, du verdammter Feigling. Ich sagte, bleib stehen!«

Sie beugte sich über das Geländer und spuckte die Worte förmlich aus: »Erzähl den Rest, lieber Bruder.«

Ein kaltes Achselzucken. »Einfach genug. Ich habe Mr. Seddon Beweise übergeben, die ausreichen, euch beide zu hängen. Ich beziehe mich auf die Kohlebombe und den markierten Plan mit den Büroräumen des Präsidenten. Dazu die Reste der Gewehre, Powells persönliche Habseligkeiten und Israel Quincys Leiche. Euer Informant, der sich Bellingham nannte – er ist ebenfalls tot. Im Fluß ertrunken.«

»Das hast du getan?« flüsterte Huntoon.

Orry nickte. »Lediglich euch beide habe ich noch nicht genannt. Ich weiß nicht, weshalb ich euch schonen sollte, bloß weil wir verwandt sind, aber ich tue es, wenn auch nicht für lange. Ihr habt eine Stunde, um die Stadt zu verlassen. Tut Ihr es nicht, dann klage ich euch bei Seddon des Verrates und des versuchten Mordes an. Viertel vor fünf bin ich wieder da.«

Er ging hinaus.

Um halb fünf fuhr er zurück zur Grace Street. Die Haustür war verschlossen, alles lag dunkel da. Er zerbrach ein Fenster und streifte durch sämtliche Räume. Leer.

In ihren Schlafzimmern – getrennte Zimmer, wie ihm auffiel – standen Schubladen offen, lag Kleidung verstreut. Merkwürdigerweise empfand er keine Befriedigung, nur Müdigkeit und Melancholie.

Welcher Dämon mochte Ashton besessen haben? Er würde es nie erfahren. Irgendwie war er dankbar dafür.

Er verließ das Haus, als die große Uhr Viertel vor fünf schlug.

Am folgenden Nachmittag kursierten mehrere Versionen der Geschichte in den Büros um den Capitol Square herum. Gegen vier Uhr kam Seddon auf Orrys Schreibtisch zu.

Er räusperte sich, lächelte und sagte: »Orry, ich habe wunderbare Nachrichten. Ich habe eben mit dem Präsidenten gesprochen, der Ihnen ein schriftliches Lob ausstellen möchte. Es ist das Äquivalent zu einer Auszeichnung für Tapferkeit im Kampf und wird auch ebenso behandelt. Veröffentlichung in zumindest einer Zeitung Ihres Heimatstaates und – «

Seddon zögerte. Orrys Gesicht drückte derart heftigen Abscheu aus, daß der Minister erschrak. Orrys Blick ausweichend, fuhr er weniger herzlich fort: »Mr. Davis möchte Ihnen morgen in seinem Büro die Belobigung verleihen. Können wir einen passenden Zeitpunkt vereinbaren?«

»Ich will diese verfluchte Belobigung nicht. Er hat meine Frau aus Richmond vertrieben.«

Seddon schluckte. »Wollen Sie damit sagen, Colonel, Sie wollen – die Ehre ablehnen?«

»Genau das. Was sicherlich einen weiteren Skandal verursachen wird, nicht wahr? Meine Frau und ich haben uns bereits daran gewöhnt.«

»Ihre Bitterkeit ist verständlich, aber – «

Orry unterbrach ihn. »Ich lehne ab, außer Sie und Mr. Davis versprechen mir sofortige Versetzung zum Stab von General Pickett. Ich habe dieses Büro satt, diese Arbeit, diesen Schweinestall von einer Regierung – «

Mit einer heftigen Armbewegung fegte er alle Papiere von seinem Schreibtisch. Während die Blätter zu Boden flatterten, stand er auf und ging hinaus.

Seddons Gesicht verlor seinen versöhnlichen, weichen Ausdruck. »Ich bin sicher, daß eine Versetzung möglich ist«, sagte er laut.

111

In der Folge des Falls Eamon Randolph begann sich Jasper Dills um sein Gehalt zu sorgen. Er hatte nichts mehr von oder über Elkanah Bent gehört. Er wußte, daß Starkwethers Sohn von Baker wegen Brutalität in der Randolph-Sache hinausgeworfen worden war. Das war alles.

Zur Zeit war Dills mit Arbeit überlastet. Obwohl einige seiner Klienten Demokraten waren, wünschte keiner, daß ein Friedenskandidat zum Präsidenten gewählt wurde; ein verkürzter Krieg bedeutete verminderte Profite. Nichtsdestoweniger beschloß er, dem Chef der Spezialabteilung einen Besuch abzustatten, was er dann auch Ende Juni tat. Bakers Antwort fiel knapp aus.

»Ich weiß nicht, was aus Dayton geworden ist. Es kümmert mich auch nicht. Ich folgte den Befehlen, entließ ihn und vergaß ihn dann.«

»Verdammt noch mal, Colonel, Sie müssen doch einige Informationen besitzen. Ist er noch in der Stadt? Wenn nicht, wo ist er dann? Wollen Sie mich zwingen, meine Fragen Mr. Stanton vorzulegen und ihm mitzuteilen, daß Sie mir Ihre Hilfe verweigert haben?«

Sofort zeigte sich Baker kooperativ. »Ich weiß aus sicherer Quelle, daß Dayton sich vor ungefähr einem Monat in Richmond aufhielt.«

»Richmond! Warum das?«

»Ich weiß nicht. Ich erfuhr lediglich, daß er gesehen wurde.«

»Hat er sich vielleicht auf die andere Seite geschlagen?«

Baker zuckte die Achseln. »Möglich. Er war ziemlich wütend, als ich ihn rauswarf. Ehrlich gesagt, ich wünschte, ich hätte ihn nie eingestellt. Ich kenne Ihren Ruf, Mr. Dills. Ich weiß, Sie haben eine Menge Freunde in dieser Regierung. Aber ich verstehe wirklich nicht, weshalb Sie sich so für Dayton interessieren. Was für eine Verbindung besteht da?«

Dills hatte mittlerweile entschieden, daß er sich an höhere Stellen wenden mußte. »Ich bin nicht in der Lage, Ihre Fragen zu beantworten, Colonel Baker. Guten Tag.«

Dills traf eine Verabredung mit Stantons Vertrautem, Stanley Hazard. Hazard war zwar nur Mittelmaß, aber er war reich und hatte sich irgendwie einen Kreis einflußreicher Freunde geschaffen; durch Kauf, wie Dills vermutete, was die übliche Art und Weise darstellte. Allein seine Fähigkeit, bei den wilden Schwankungen der Parteipolitik die Balance zu halten, zeichnete Hazard aus. Angesichts der Geschichten, die über ihn verbreitet wurden, war Stanley Hazards Überleben doppelt bemerkenswert, vor allem, wenn man das Gerücht berücksichtigte, daß er bereits morgens um halb zehn betrunken war.

Auf winzigen Füßen stieg der Anwalt die Stufen zu Stanleys Büro hoch. In einer Ecke stand ein Messinggefäß, in dem Weihrauchwürfel verbrannt wurden. Um den Alkoholduft zu maskieren?

Dills setzte sich. »Ich weiß, daß Sie ein vielbeschäftigter Mann sind, Mr. Hazard, also lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Erinnern Sie sich an einen Mann, den Sie an Colonel Baker weiterempfahlen? Ein Mann namens Ezra Dayton?«

Stanley richtete sich etwas auf. »Das tue ich tatsächlich. Sie haben ihn empfohlen, aber er wurde entlassen. Höchst unzulänglich – «

»Das bedaure ich zutiefst. Ich konnte das nicht voraussehen. Was mich zu Ihnen führt, ist die Notwendigkeit, etwas über Daytons Aufenthaltsort zu erfahren. Als Gegenleistung wäre ich bereit, einem politischen Kandidaten Ihrer Wahl eine großzügige Spende zukommen zu lassen. Einem Mann der republikanischen Seite, wie ich hoffe.«

»Selbstverständlich.« Stanley zuckte bei diesem Angebot mit keiner Wimper. »Mal sehen, ob wir was haben.« Er rief einen Assistenten, der für zehn Minuten verschwand, bei seiner Rückkehr etwas in Stanleys Ohr flüsterte und wieder hinausging.

Stanley seufzte.

»Absolut nichts, fürchte ich. Es tut mir sehr leid. Ich hoffe, das wird Ihr Versprechen nicht beeinträchtigen, da ich Ihr Angebot guten Glaubens angenommen habe.« Dills spürte die Drohung hinter dem widerlichen Lächeln. Er zuckte zurück, als Stanley hinzufügte: »Tausend wären sehr großzügig.«

»Tausend! Ich dachte an wesentlich – « Hastig schluckte Dills. Wie konnte so eine aufgedunsene, blasse Kreatur so viel Macht besitzen? »Aber sicher doch. Ich werde die Anweisung morgen schicken.«

Stanley schrieb etwas auf ein Stück Papier. »Zahlbar auf dieses Konto.«

Bent war verschwunden – und diese Information hatte ihn tausend Dollar gekostet. In übler Stimmung verließ Dills das Gebäude und ging hinüber zum Park, wo seine Kutsche wartete. Doch trotz seines Ärgers erheiterte ihn die Vorstellung des behenden Mr. Hazard. Hinter dem Weihrauchduft hatte Dills eindeutig Whiskey gerochen. Was für ein verblüffender Balanceakt.

Ah, es gab viele solcher Balanceakte in Washington. Es war, das hatte ihn die Erfahrung gelehrt, eine Stadt der Raubtiere, in der Verkleidung von Patrioten.

In Lehigh Station wurden neue Gräber ausgehoben, die ankommenden Frachtzüge brachten neue Särge, ankommende Wagen gelegentlich Verwundete oder auf Dauer Verstümmelte. Ab und zu war in der Stadt auch ein gesunder Mann zu sehen, der gerade jetzt nicht zu Hause sein sollte. Brett wohnte lange genug hier, um solche Männer zu erkennen.

Sie beschloß, der örtlichen Feier am 4. Juli fernzubleiben, und widmete sich statt dessen neun Stunden lang Scipio Browns Kindern. Es war eine Zeit drückender Hitze, sinkender Moral, plötzlicher Alarmmeldungen. Jubal Earlys Armee hatte Washington eingekreist und alle Bahn- und Telegraphenlinien nach Baltimore unterbrochen. Jubal Earlys Armee hatte Silver Spring erreicht, in Sichtweite der Unionsbefestigungen entlang Rock Creek. Jubal Earlys Armee hatte fast schon Washington in der Tasche gehabt, bevor sie nach Pennsylvania abgedrängt worden war. Wie weit mochten die Rebs diesmal in den Staat vordringen?

Es war eine Zeit der allgemeinen Kriegsmüdigkeit, voller Zynismus. Aber all das spielte in Bretts Leben nur eine untergeordnete Rolle. Mit Charles Mains Hilfe war Billy aus dem Libby-Gefängnis entkommen, hatte das Feindesland durchquert und während der titanischen Schlacht bei Spotsylvania die Unionslinien erreicht. Eine Kugel hatte ihm eine harmlose Beinwunde zugefügt, aber in seinen Briefen schrieb er, daß er sich vollkommen erholt hatte und zu seiner Einheit bei Petersburg zurückgekehrt war.

Diese Wendung machte sie froh und glücklich. In geringerem Maße taten das auch die Besuche von Scipio Brown, der jede zweite oder dritte Woche mit einem neuen Kind erschien. Die Räumlichkeiten waren längst hoffnungslos überfüllt. Aber Brown brachte weiterhin kohlschwarze oder kaffeebraune Kinder, und sie verliebte sich sofort in jedes einzelne von ihnen.

Constance beobachtete all das verblüfft und amüsiert. »Ich sage dir, Brett, am Tag vor Scipios Ankunft bist du jeweils viel glücklicher als am Tag seiner Abreise.«

»Tatsächlich?« Ein Lächeln, ein Schulterzucken. »Ja, ich glaube auch. Ich mag ihn.«

Constance nickte; beide Frauen wußten, daß dies die einzig nötige Erklärung war. Doch in ihren Briefen an George schrieb Constance von einem bemerkenswerten Wandel.

Dann traf als große Überraschung eine telegraphische Bitte von Madeline Main ein. Sie befand sich in Washington.

»Orry wollte nicht, daß sie nach South Carolina geht«, sagte Constance, nachdem sie die Nachricht ein zweitesmal gelesen hatte. »Mit Hilfe eines Schwarzen von Fredericksburg erreichte sie Fort Du Pont und überquerte die Linien. Einen Tag hielt man sie zum Verhör fest, dann wurde sie entlassen. Sie bittet um Erlaubnis, herkommen zu dürfen.«

Sofort sagte Brett: »Ich glaube, jemand sollte nach Washington fahren, um ihr behilflich zu sein. Ich bin bereit.«

»Das überlasse ich dir nicht allein. Wir fahren beide.«

Und so unternahmen die beiden Frauen die lange, schmutzige Bahnfahrt, während es mit der Belagerung von Petersburg nicht voranging und Sherman vor Atlanta zum Stillstand zu kommen schien. Die Hälfte der Passagiere warf ängstliche Blicke zum Fenster hinaus, aber zwischen Lehigh Station und Washington sahen sie keinen einzigen Rebellen. In einem kleinen, dunklen Zimmer auf der Insel begrüßte sie Madeline. Sie wirkte etwas matronenhafter, war aber immer noch eine Schönheit, wie Brett feststellte, bevor sie sich umarmten.

»Wie schön, dich zu sehen«, sagte Constance. »Ich bin froh, daß Orry dich in diese Richtung anstatt nach Süden geschickt hat, wo so viele Gefahren lauern.«

»Wir werden gut für dich sorgen«, versprach Brett. »Du siehst erschöpft aus.«

Madelines Gesichtsausdruck wechselte. »Bevor wir fahren, möchte ich euch sagen, weshalb ich Richmond verlassen mußte. Andere Leute haben erfahren, was Orry wußte, seit ich von Resolute flüchtete. Ich – «

Sie schwieg einen Moment, schien mit der Last zu kämpfen. »Ich habe Negerblut in mir. Meine Mutter war eine Terzeronin.«

Brett saß ganz still, wagte aus Angst, Madeline zu beschämen, keine Bewegung. Ruhig fuhr Madeline fort: »Ihr wißt, was das in der Konföderation bedeutet. Ein Tropfen schwarzen Blutes, und du bist ein Schwarzer.« Sie hielt inne. »Wird das auch in Lehigh Station so sein?«

Constance antwortete zuerst. »Ganz sicher nicht. Du hättest es uns nicht zu erzählen brauchen.«

»Oh doch, dazu fühle ich mich verpflichtet.«

Brett war sich nicht sicher, was sie empfand. Widerstreitende Gefühle, in ferner Kindheit eingepflanzt, tobten in ihr.

»Seid ihr überzeugt davon, daß es keinen Unterschied macht?« fragte Madeline.

»Keinen«, sagte Brett und wünschte, es wäre so.

»Wäre ich auf der Straße am Fluß geblieben, dann hätten sie mich sicher erwischt«, sagte Andy. »Sie kamen zwischen den Palmen hervor – zwei davon auf Mulis –, aber ich kenne ein paar Schleichpfade, und sie nicht.«

»Setz dich erst mal, ruh dich aus«, sagte Philemon Meek und gab ihm seinen eigenen Stuhl. »Ich bin froh, daß dir nichts passiert ist.«

Die schwere Luft des Juliabends füllte das Büro der Plantage. Meek marschierte auf und ab. Wie alt er geworden ist, dachte Cooper.

Meek hatte darauf bestanden, daß sie sich hier berieten, damit niemand vom Hauspersonal etwas hörte. Er wollte nicht, daß sie auch noch fort rannten. Cooper gab sich da geringeren Illusionen hin als der Verwalter. Das Hauspersonal wußte, daß die Guerillabande in der Nähe lagerte, und die Reihen lichteten sich.

Meek hörte auf, seine Brille herumzuwirbeln. »Eins möchte ich ganz klar wissen. Du hast diesmal weiße Männer gesehen?«

»Ja. Zwei im Grau der regulären Armee, drei in zimtfarbenen Uniformen.«

»Wenn weiße Deserteure sich den Reihen der Neger anschließen«, sagte der Verwalter, »dann haben wir doppelten Grund zur Furcht.« Er wandte sich Cooper zu. »Ich zweifle kaum daran, daß sie uns angreifen werden, Mr. Main. In diesem Bezirk ist das hier die größte noch in Betrieb befindliche Plantage. Ich meine, wir sollten einige der Sklaven bewaffnen – vorausgesetzt, wir finden irgendwelche Waffen.«

»Ist das der einzige Weg?« schnappte Cooper. »Kampf?«

Nach einigen Sekunden der Verblüffung sagte Meek: »Wenn Sie einen anderen Vorschlag haben, dann würde ich ihn nur zu gern hören.«

Die Stille wurde nur von Insektengeräuschen unterbrochen. Oben beim Haus summte eine Frau die Melodie einer Hymne. Andy spähte angestrengt zum Fenster hinaus.

Cooper wußte, daß er geschlagen war, und seufzte. »In Ordnung. Ich fahre nach Charleston und schaue, ob ich einige gebrauchte Waffen auftreiben kann.«

Brüsk und drängend sagte Meek: »Bald, ja?«

In Richmond packte Orry am nächsten Tag die letzten persönlichen Sachen, mit denen er und Madeline die Räume in der Marshall Street ausgestattet hatten, in eine Kiste. Dann nagelte er sie zu und brachte sie in ein Lagerhaus.

Er stopfte Uniformen und Ausrüstung in einen zerschlissenen Koffer, für den er einen horrenden Preis gezahlt hatte. Als der Abend dämmerte, zog er seine beste graue Uniform an, verschloß die Wohnung und gab der Vermieterin den Schlüssel. Dann bestieg er den Versorgungswagen, der ihn die siebeneinhalb Meilen Richtung Süden nach Chaffin’s Bluff brachte. Dort hielt Picketts Division das rechte Ende der innersten Verbindungslinie, einen der fünf Verteidigungsringe der Stadt.

Trauer lag über George Picketts Gesicht, als der General Orrys Salut erwiderte und ihn im Divisionshauptquartier willkommen hieß.

»Es tut gut, dich endlich doch noch begrüßen zu können.«

»Es tut gut, hier zu sein, Sir.«

Ein melancholisches Lächeln. »Ich hoffe, du bist noch der gleichen Meinung, wenn du einige Wochen in nächster Nachbarschaft zu deinem alten Bekannten aus West Point hinter dir hast. Diesmal stehen wir einem Mann gegenüber, der entweder nicht weiß, wann er geschlagen ist, oder dem es egal ist, ob er eine gesamte Armee beim Versuch, uns zu schlagen, verliert. Es gibt keine wirkungsvolle Möglichkeit, diesem Typ Mann lange zu widerstehen.«

Es gibt eine, dachte Orry. Aber er wollte nicht mit dem Thema der schwarzen Rekruten ihr Wiedersehen und seine ersten Momente im Kriegsgebiet verderben.

112

Drei Frauen speisten. Constance hatte Kerzen entzündet, um eine gemütliche Atmosphäre für das Abendessen zu schaffen. Das war auch gelungen, aber nach ihrem ersten Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen, spielte das kaum noch eine Rolle.

»Nun, da sitzen wir«, sie hob ihr Weinglas ihren Gästen entgegen, »drei Kriegswitwen.«

»Ich wünschte, du würdest sowas nicht sagen«, rief Brett.

»Oh, meine Liebe, es tut mir leid. Es war ein ungeschickter Versuch, eine leichte Bemerkung zu machen. Ich entschuldige mich.«

»Das ist viel zu ernst, um darüber zu scherzen«, sagte Brett, als Bridget und ein weiteres Küchenmädchen die falsche Schildkrötensuppe auftrugen.

»Ich verstehe, was du gemeint hast«, sagte Madeline zu Constance, »aber ich muß Brett recht geben.« Sie probierte die Suppe und versuchte Constance mit einem Lächeln zu trösten. »Das ist köstlich.«

Genauso bemüht: »Ich danke dir.«

Danach steuerte Constance das Gespräch auf sicheres Gebiet. Sie lachte und sprach über ihr Gewichtsproblem, in der Hoffnung, daß Scherze auf eigene Kosten ihre Gedankenlosigkeit vergessen lassen würden. Sie bemerkte kaum ein Anzeichen des Erfolgs.

Sie beantwortete Madelines Fragen nach ihrem Vater, der in Los Angeles damit beschäftigt war, sein Spanisch zu verbessern, damit er auch einheimische Mandanten vertreten konnte.

»Und Virgilia?«

»Wir haben nichts mehr von ihr gehört. Ich nehme an, sie ist noch beim Schwestern-Corps.«

»Sie könnte ruhig etwas dankbarer sein für die Unterkunft und die Hilfe, die du ihr gegeben hast«, sagte Brett. »Zumindest ein gelegentlicher Brief wäre ein schlichtes Gebot der Höflichkeit.«

Constance griff zum Messer und begann lächelnd das heiße, frische Brot zu schneiden. »Ah, ich glaube nicht, daß Dankbarkeit zu den Tugenden meiner Schwägerin zählt.«

»Besitzt sie überhaupt welche?« konterte Brett, und danach senkte sich grimmiges Schweigen über den Tisch.

Guter Gott, dachte Constance, hat meine dumme Bemerkung all das ausgelöst? Es schien so zu sein.

Madeline spürte die Spannung und sagte zu Brett: »Erzähl mir von dieser Schule für schwarze Waisenkinder, ja?«

»Wenn du magst, nehme ich dich morgen mit hoch.«

»Oh ja, gern.«

Auch Brett schämte sich ihres Ausbruchs. Angst war die Hauptursache dafür. Sie haßte das Wort Witwe in Verbindung mit sich selbst.

Doch sie mußte ehrlich sein; noch etwas irritierte sie: Madelines Enthüllung. Brett hatte zu ihrer eigenen Verblüffung unerwartet emotional reagiert. Madeline hatte Bretts Respekt und ihre aufrichtige Zuneigung besessen. Jetzt – sie konnte nicht dagegen ankämpfen – betrachtete sie Orrys Frau mit anderen Gefühlen.

Madeline war sich Bretts neuer Zurückhaltung durchaus bewußt. Das Gespräch an diesem Tisch heute abend war teilweise unerfreulich gewesen. Drei Kriegswitwen. Sie verstand die Bemühung um leichte Konversation, fand es aber trotzdem störend. Gott sei Dank hatte Orry nichts unternommen, um sich Picketts Stab anzuschließen. Er sollte in Richmond relativ sicher sein, bis die Stadt fiel. Danach würde er vielleicht für eine Weile interniert werden, aber das würde er bestimmt überleben; er war ein starker, tapferer Mann.

Die Kerzen brannten nieder, die Unterhaltung schleppte sich dahin. Constances Antworten klangen immer gezwungener, ihre Scherze verkrampft. Als sie ihren Nachtisch beendeten, sagte sie abrupt: »Ich glaube, ich gehe noch auf eine Stunde in die Stadt.«

Madeline fragte: »Soll ich dich begleiten?«

»Danke, nicht nötig. Ich gehe in die Kirche.«

Sie mußte nicht erklären, daß sie es nötig hatte. Ihr Gesicht machte das offensichtlich.

Da sitzen wir. Drei Kriegswitwen.

Seit dieser Bemerkung hatte sie eine Vorahnung befallen: Für eine der drei Frauen am Tisch würden diese Worte wahr werden.

113

Während der ersten zehn Julitage litt Charles unter einem schlimmen Anfall von Ruhr. Am elften Tag stand er auf, obwohl er in seinem geschwächten Zustand immer noch ins Bett gehörte, ließ sich einen Paß ausstellen und machte sich auf den gefährlichen Ritt westlich um Richmond herum, dann weiter nordöstlich nach Fredericksburg. Nur sein Revolver und seine Schrotflinte konnten für seine Sicherheit garantieren.

Es würde sein letzter Abstecher zu Barclays Farm sein. Das hatte er während der Tage im Bett beschlossen. Der Süden würde kämpfend untergehen, und er würde mit untergehen. Das war jetzt seine einzige Pflicht. Er konnte nicht leugnen, daß er Gus liebte, aber sie verdiente einen Mann mit besseren Zukunftsaussichten. Jeden Tag wurden die Chancen, von einer Kugel tödlich getroffen zu werden, größer. Auf kurze Sicht würde er ihr weh tun, aber wenn sie dann einen besseren Mann gefunden hatte, würde sie ihm dankbar sein.

Es hörte gerade zu regnen auf, als er die Farm erreichte. Es war halb sechs abends.

»Major Charles!« Washington sprang auf die Füße, als Charles angeritten kam. »Der Herr steh’ uns bei – der alte Sport schaut fast genauso verhungert aus wie Sie. Hatten ‘ne Weile nicht mit Ihnen gerechnet. Warten Sie, ich sag Miz Augusta – «

»Ich sag’s ihr selber.« Ohne zu lächeln riß Charles die Hintertür auf. »Gus?« Die Küche war leer. Er rief: »Gus, wo zum Teufel steckst du?«

Sie kam den Flur entlanggerannt, die Haarbürste in der Hand. Bei seinem Anblick leuchtete ihr Gesicht auf. Sie warf die Arme um seinen Hals. »Liebling!«

Er preßte seine bärtige Wange gegen die ihre, löste sich aber aus der Umarmung, als sie anfing, ihn zu küssen. Er schwang ein Bein über eine Stuhllehne und setzte sich, suchte in seinem Hemd nach Streichhölzern und einem Zigarrenstummel. Sein Mangel an Gefühl ängstigte sie.

Mit einem langen Holzlöffel rührte sie die Suppe auf dem Ofen um, dann wandte sie sich widerstrebend ihm zu.

»Darling, du siehst krank aus.«

»Ich habe mir wieder die Ruhr eingefangen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, auf einem Feldbett zu liegen und sich zu wünschen, die Gedärme sollten einem rausfallen, oder mit General Hampton durch halb Virginia zu reiten.«

»Ist es so schlimm gewesen?«

»Wir haben mehr Männer und Pferde verloren, als du für möglich halten würdest. Wenigstens drei Kompanien der South Carolina Sixth sitzen ohne Ersatzpferde im Camp.«

Sie blickte zum Fenster hinaus. »Du hast immer noch Sport.«

»Was von ihm übriggeblieben ist.« Er klopfte zweimal auf den Tisch.

Sie strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es bricht mir das Herz, so dünn und blaß wie du bist. Und entmutigt.«

»Was sonst kannst du heutzutage erwarten?« Er wurde zunehmend nervöser. Ursprünglich hatte er die Nacht über bleiben wollen, hatte mit ihr schlafen wollen, aber jetzt stellte er fest, daß er ihr das nicht antun konnte; außerdem fehlte ihm die Kraft, es selbst zu ertragen. Abrupt entschied er sich für ein schnelles Ende.

Er biß in den Zigarrenstummel, entzündete das Streichholz am Stuhl. »Die Farm ist total runtergekommen.«

»Den Yankees sei Dank. Kaum ein Tag vergeht, an dem Boz oder Washington nicht einen Warnschuß auf einen herumschleichenden Deserteur abgeben müssen.«

»Du hättest nicht hierbleiben sollen. Du solltest jetzt nicht hier sein. Wie kannst du was anbauen? Wie könnt ihr überleben, du und die Nigger?«

»Charles, du weißt, daß ich das Wort nicht ausstehen kann, vor allem in Verbindung mit meinen Männern.«

Er zuckte mit den Schultern. »Hab’ ich vergessen. Tut mir leid.« Es hörte sich nicht so an.

Sie zupfte an der straff gespannten Taille ihres Kleides. Charles hatte den Kopf gesenkt, den Blick auf das Streichholz an der Zigarre gerichtet.

Verängstigt sagte Gus: »Du klingst, als möchtest du einen Streit vom Zaun brechen.«

Er nahm die Zigarre aus dem Mund. »Jetzt hör mal zu. Es war ein verdammt weiter Ritt hier hoch.«

»Niemand hat dich darum gebeten, vergiß das nicht.« Der alte Schutzpanzer war wieder da. Es schmerzte ihn, aber Schmerz war notwendig für das, was er tun mußte.

Er sah die ärgerliche Verwirrung in ihren blauen Augen und wäre beinahe schwach geworden. Dann fiel ihm Ab Woolner ein und Sharpsburg und – so viele Ereignisse, daß sie kaum in einem Zeitraum von drei Jahren Platz zu haben schienen. Oder daß irgendein Mann sie hatte ertragen können. Er hatte es geschafft, aber er trug die Narben in sich.

Sanfter fragte sie: »Wie lange kannst du bleiben?«

»Wenn’s dunkel ist, muß ich mich auf den Rückweg machen.«

»Möchtest du –?« Die nicht beendete Frage und ihre leichte Drehung zur Schlafzimmertür hin färbten ihre Wangen rot.

»Ich muß Sport Wasser geben und ihn ausruhen lassen«, sagte er; jede Faser in ihm sehnte sich danach, mit ihr ins Bett zu gehen. Sie verstand die unausgesprochene Ablehnung.

»Ich mache dir was zum Abendessen, wenn du fertig bist.«

Mit einem Kopfnicken ging er hinaus.

»Schmeckt gut, die Suppe«, sagte er ohne Überzeugung und schob die Schüssel zurück. Jetzt! Zögere es nicht hinaus!

»Was ich sagen wollte, Gus«, er räusperte sich, »wo die Dinge so schlecht stehen, ich weiß nicht, wann ich wieder vorbeikommen kann.«

Gus hob den Kopf, eine schnelle, stolze Bewegung, wie die Reaktion auf einen Schlag. Bitter sagte sie: »Nächste Woche oder nie mehr, das liegt an dir. Ich – « Sie verstummte, schüttelte den Kopf.

»Red weiter.«

Ihre Stimme wurde kräftiger. »Ich hoffe, du erwartest auf deine Ankündigung hin keine Tränenflut. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich in deiner gegenwärtigen Verfassung hier haben will. Die Feststellung, daß der Krieg schrecklich ist, ist nicht gerade neu. Und du scheinst zu vergessen, daß die Männer nicht die gesamte Last tragen. Glaubst du, es ist leichter, eine Frau mit einem Sohn oder einem Mann in der Armee zu sein? Ich weiß, der Krieg hat dir schlimme Dinge angetan. Es steht in deinen Augen geschrieben, liegt in dem, was du sagst, was du tust. Du scheinst von einem Zorn erfüllt zu sein – «

Er stieß den Stuhl zurück, stand auf, die Zigarre zwischen den Zähnen. Nach dem Essen hatte er sich eine neue Zigarre angezündet und beschlossen zu gehen, sobald er sie zu Ende geraucht hatte. Vielleicht sollte er eher gehen.

»Mach dir nicht die Mühe, mir deine Rohheit vorzuführen«, zischte Gus wütend. »Ich habe genug davon erlebt. Was gibt dir das Recht, länger und schwerer zu leiden als wir anderen? Ich liebe dich, blöd wie ich bin. Du tust mir leid. Aber ich lasse mich nicht wie irgendein dumpfes Tier behandeln, das nicht brav war. Ich lasse mich nicht treten, Charles. Falls du dich entschließen solltest, wieder herzukommen, dann als der Mann, in den ich mich verliebt habe. Er ist derjenige, den ich will.«

Die Sekunden tickten weg. Er nahm die Zigarre aus dem Mund.

»Dieser Mann ist gestorben.«

Sie erwiderte seinen starren Blick. Leise, ohne jeden Zorn, sagte sie: »Ich glaube, du gehst besser.«

»Ich glaube auch. Danke für das Essen. Paß auf dich auf.«

Er marschierte hinaus, schwang sich auf Sport und ritt in die Nacht hinein.

Sie fühlte sich wie in der Nacht, in der ihr Mann gestorben war. Sie konnte kaum glauben, wie sehr es schmerzte. Hätte sie alles anders machen sollen? Hätte sie sich weigern sollen, ihn zu lieben? Ihre Antwort bestand aus einem spontanen, überzeugten Nein. Aber bei Gott, es tat so weh.

Doch trotz allem empfand sie Stolz, daß sie eine selbständige Frau war. Sie hatte diesen elenden Krieg ertragen, und sie würde ihn weiterhin ertragen. Sie würde auch den Schmerz ertragen, solange er dauerte. Und sie wußte, wie lange das sein würde – bis zur Stunde ihres Todes.

Egal. Sie würde alles ertragen, weil es immer, auch unter den schlimmsten Umständen, einen Grund zum Überleben gab. Ihren eigenen Grund kannte sie nur zu gut und wünschte bloß, sie wäre in der Lage gewesen, es ihm zu sagen. Aber das wäre ein grausamer, egoistischer Einsatz der Wahrheit gewesen.

Zart legte sie ihre Hand auf den Bauch. Dann, als die Uhr Mitternacht schlug, ließ sie sich auf die Knie sinken und begann den Fußboden zu schrubben.

114

In der Nacht nach der Krater-Schlacht schrieb Billy:

Sonntag, 31. Juli. Routinemäßige Kompanieinspektion. Nach den gestrigen Verwüstungen alles ruhig an der Belagerungsfront.

Samstag wurden wir um zwei Uhr nachts geweckt, marschierten dann nach Ft. Meikel, von wo aus wir die Detonation von 8.000 Pfund Pulver in dem T-förmigen Minenschacht miterlebten, der von Lt. Col. Pleasants 48th Pennsylvania Volunteers über eine Länge von ungefähr 600 Yards bis unter die Stellungen der Rebellen gegraben worden war. Die Ladung ging mit solch elementarer Gewalt hoch, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Der Plan war ein voller Erfolg, bis Gen. Burnsides IX. Corps in den rauchenden Krater vormarschierte.

Aus noch unbekannten Gründen stockte der Vormarsch; am Grunde des Kraters saßen die Männer in der Falle, während weitere Truppen hineindrängten – und sich wie auf dem Präsentierteller dem feindlichen Gewehr- und Artilleriefeuer darboten. Das forderte gewaltige Verluste & bereitete den Boden für Gen. Mahones Gegenangriff vor, der den brillanten Plan in eine Niederlage verwandelte.

Die Belagerung hält ohne großen Erfolg an. George ist nun in City Point beim RR Corps stationiert, mit der Aufgabe, unsere Bahnversorgungslinien in Gang zu halten. Ich möchte ihn besuchen, bin aber bis jetzt noch nicht dazu gekommen; täglich scheinen neue Aufgaben auf das Bataillon zu warten. Ein Großteil unserer Arbeit wird in nächster Nähe der Rebellenstellungen erledigt, was äußerste Vorsicht und Heimlichkeit notwendig macht. Häufig führen wir unsere Aufträge nachts durch, vollkommen lautlos, sofern das möglich ist. Jeder einzelne Mann weiß, daß ein unbedachter Laut das feindliche Feuer auf uns ziehen kann, wodurch der Krieg für manchen um eine beträchtliche Zeitspanne eher beendet sein könnte als bei der offiziellen Kapitulation. Kein Wunder, daß wir eine tägliche Ration Whiskey ausgeschenkt bekommen. Unser Job ist hart & gefährlich. Ich zögere nie, meinen Whiskey zu trinken. Ich habe viele Gründe, mein Bestes zu geben, um jeden neuen Tag zu überleben. Viele Gründe, aber einer überragt alle anderen. Dieser Grund bist du, meine geliebte Frau. Wie sehr sehne ich mich danach, dem Töten zu entrinnen und dich wieder in meinen Armen zu halten.

Mit den farbigen Blättern brachte der Herbst bessere Nachrichten nach Lehigh Station. Am 2. September hatte Sherman Atlanta eingenommen. Das und die erfolgreichen Heldentaten von Little Phil erregten den ganzen Norden.

Der Herbst brachte auch Scipio Brown ein letztesmal nach Belvedere. Überschwenglich wie ein Junge drehte er sich vor Brett, um seine hellblauen Hosen mit den breiten, gelben Streifen und die dunkelblaue Jacke ohne Insignien vorzuführen – wodurch sich Junior-Lieutenants von Senior-Lieutenants unterschieden.

»Lieutenant Brown, Second United States Colored Troops, Kavallerie. Ich ersetze einen Offizier, der bei einem Scharmützel des Regiments bei Spring Hill eine Verwundung erlitt.«

»Oh, Scipio – genau das haben Sie sich doch gewünscht. Sie schauen einfach großartig aus.«

Constance und Madeline waren der gleichen Meinung. Die drei Frauen hatten sich im Wohnzimmer versammelt, um Brown zu begrüßen und mit Sherry und kleinen Kuchen zu verwöhnen.

Er verbeugte sich vor den Damen. »Die Erfrischungen waren köstlich, aber es ist bereits halb sechs vorbei. Mein Zug fährt um sechs. Ich muß mich beeilen.«

Auf Belvederes Veranda stand Brett ihm schließlich allein gegenüber. Brown räusperte sich. »Ich weiß nicht, wie ich mich verabschieden soll. Sie waren mir eine so große Hilfe.«

»Nur zu gern. Ich brauche keinen Dank. Ich liebe jedes dieser Kinder.«

»Wenn Sie ebensoviel Liebe für einen Erwachsenen der gleichen Hautfarbe empfinden werden, dann sind Sie den ganzen Weg gegangen. Aber für Sie ist es bereits ein weiter Weg gewesen. Eine unglaubliche Strecke. Sie sind«, ein ganz untypisches Zögern, »Sie sind eine wunderbare Frau. Ich kann verstehen, weshalb Ihr Mann so stolz auf Sie ist.«

Ohne nachzudenken streckte Brett die Hand aus, berührte ihn. »Sie müssen gut auf sich aufpassen. Schreib uns!«

Er trat einen Schritt zurück, löste seinen Ärmel von ihrer Hand. Erst jetzt merkte Brett, was sie getan hatte.

»Natürlich werde ich das, wenn es die Zeit erlaubt.« Plötzlich klang er steif und förmlich. »Ich muß gehen, sonst verpasse ich den Zug.«

Er band sein Mietpferd los, schwang sich leichtfüßig in den Sattel und trabte davon. Im Westen flammte das Licht noch einmal über den Dächern auf, darunter lag alles im Schatten. Bald schon hatte sie den Reiter aus den Augen verloren.

Jetzt erst begriff sie, weshalb sie ihn berührt hatte. Emotionen hatten sie überwältigt: tiefe Besorgnis, Zuneigung und, am verblüffendsten von allem, eine ungemeine Anziehungskraft. Sie konnte es kaum glauben, konnte aber die Erinnerung daran auch nicht leugnen. Einsam und innerlich leer durch Billys lange Abwesenheit, hatte sie sich für einen winzigen Augenblick nach diesem großgewachsenen Mann gesehnt.

Und dabei hatte es nicht das geringste ausgemacht, daß Scipio Brown ein Neger war.

Dieses Gefühl hatte sich unterdessen verflüchtigt, die Erinnerung daran würde ihr immer bleiben. Sie war Billy untreu gewesen, wenn auch nur ganz kurz, und ihr Moralgefühl erzeugte Scham. Mit Billys Hautfarbe hatte das allerdings nichts zu tun. Er war die Liebe einer jeden Frau wert.

Wenn Sie für einen Erwachsenen der gleichen Hautfarbe ebenso viel Liebe empfinden, dann haben Sie es geschafft.

»Oh«, flüsterte sie, drehte sich um und rannte ins Haus. »Madeline? Madeline!« Sie rannte durch die Zimmer, bis sie Madeline, Gedichte lesend, gefunden hatte. Als Madeline aufstand, warf Brett die Arme um sie und fing an zu weinen.

»Na, na, was ist denn?« begann Madeline mit vorsichtigem Lächeln.

»Madeline, es tut mir leid. Verzeih mir.«

»Was soll ich dir verzeihen? Du hast nichts Unrechtes getan.«

»Oh doch, das habe ich. Verzeih mir.«

Das Weinen hielt an, und Madeline streichelte die jüngere Frau, um sie zu trösten. Erst fühlte sie sich dabei unbehaglich, aber dann legte sich das. Eine ganze Weile hielt sie ihre Verwandte in den Armen, im Bewußtsein, daß Brett Absolution brauchte, auch wenn sie den genauen Grund dafür nicht kannte.

115

Granaten hatten das Schanzwerk teilweise zerstört. Billy führte den Reparaturtrupp; sie arbeiteten in höchster Eile, damit das Schanzwerk wieder bemannt werden konnte.

Für Oktober war es noch sehr heiß, und Billy schuftete ohne Hemd. Billys Arbeiter gehörten zu einem Zug von Schwarzen, die er in den vergangenen Wochen häufig beaufsichtigt hatte. Der Schwarze, der Billys Männer unmittelbar kommandierte, war ein schwergewichtiger, sanft wirkender Sergeant namens Sebastian, mit einer Haut so hell wie Milchkaffee, einer gewaltigen Hakennase und leicht geschlitzten Augen, die nicht zu seinen anderen Gesichtszügen paßten. Er schonte sich nicht und erwartete das gleiche von den Männern seines Zuges.

Während Billy Seite an Seite mit ihm schwitzte, erkundigte er sich: »Wo leben Sie, Sergeant Sebastian?«

»In Albany, New York, aber früher, da ist mein Opa von einer Farm in South Carolina weggerannt, wo er der einzige Sklave war. Opa war – «

Eine scharlachrote Explosion im Himmel über Petersburg zerschnitt die Unterhaltung. Flüche schallten der heranheulenden Granate entgegen. Billy brüllte ein überflüssiges Kommando, in Deckung zu gehen. Die meisten Männer lagen schon auf dem Boden, als die Granate direkt in die teilweise reparierte Brustwehr einschlug.

Billy schützte seinen Kopf mit beiden Armen. Irgendjemand schrie: »Sergeant Sebastian? Lieutenant Buck ist verwundet oder tot.«

Buck war der Zugoffizier. Sebastian verschwendete keine Zeit. Er kroch hoch, während weiter entfernte Batterien das Feuer eröffneten. »Ich hole ihn rein.«

»Aber es ist nicht sicher während des Bombardements – «

»Zum Teufel mit der Sicherheit. Buck ist verwundet oder tot.«

Geduckt rannte Sebastian am Schanzwerk entlang. Billy hatte seinen Einwand aus Überlegung, nicht aus Feigheit gemacht, aber er wußte, daß Sebastian ihm das nicht glaubte. Er sprang auf und rannte hinter dem Sergeant her.

»Reich ihn runter, Larkin.« Sebastian stand aufrecht, mühte sich, das zerfallende Schanzwerk zu erreichen, wo der schwarze Offizier lag. Billy, der sich geduckt vorwärtsschob, konnte nicht erkennen, was vor sich ging, aber es schien Schwierigkeiten zu geben.

Billy rief: »Können Sie ihn erreichen, Sergeant?«

»Nein.«

»Ich versteh’ nicht. Haben Sie ihn?«

»Ich sagte nein«, brüllte Sebastian, worauf ein Schütze der anderen Seite einen Schuß auf ihn abgab. Sebastian zuckte zusammen, stöhnte auf und krallte sich in die Erde. Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete er sich wieder auf.

Mit vor Angst trockenem Mund trat Billy neben den Sergeant. »Corporal Larkin?«

»Hier, Sir.«

»Wo ist der Lieutenant getroffen?«

»In der Brust.«

»Versuchen wir’s noch mal. Lassen Sie ihn mit den Füßen zuerst runter. Ich weiß, daß Sie verwundet sind, Sebastian. Sie gehen auf der Stelle zurück.«

»Sie können ihn nicht allein tragen. Ich bin ganz in Ordnung.« Es hörte sich nicht so an.

Langsam manövrierten sie den verwundeten Lieutenant herunter in eine horizontale Position, dann trugen sie ihn auf die Schützengräben zu.

»Da wären wir«, flüsterte Billy, als die Holzverschanzung auftauchte. »Ihr Männer da unten, nehmt ihn. Vorsichtig – vorsichtig! Ja, so ist’s gut – oh, verdammt – « Er spürte, wie Bucks Oberkörper fiel, als Sebastian bewußtlos umkippte.

Billy befahl einem schwarzen Soldaten: »Klettere hinten raus, und besorge Männer mit zwei Tragbahren. Schnell, verflucht noch mal!«

Die halbe Mühe war verschwendet. Die Ärzte holten eine Kugel aus Lieutenant Bucks Brust und flickten ihn mit Erfolg zusammen, aber Sebastian starb bei Tagesanbruch.

An diesem Nachmittag schrieb Billy einige Gedanken in seinem Tagebuch nieder:

Kein weißer Mann könnte sich der Gefahr tapferer stellen als die farbigen Truppen. Während des Granatfeuers zeigte Sebastian untadeligen Mut. Welch ein Fehler, daß ich Soldaten seiner Rasse als mir unterlegen betrachtete. Der Tod des Sergeants läßt mich an all dem, an das ich bisher glaubte, heftig zweifeln.

Der Versorgungszug ratterte südwestwärts. George fuhr, in seinen Mantel gehüllt, auf einem offenen Waggon. Es war ein grauer Samstag; Montag würde der 1. November sein. Die Luft roch nach Schnee und danach, daß die Belagerung nach dem fehlgeschlagenen Vorstoß vom letzten Donnerstag wieder zu einschläfernder Ruhe übergehen würde.

Der Zug nahm eine Biegung; die von Granaten zerfetzten Bäume blieben zurück, ein überfülltes Camp kam ins Blickfeld. Auf gefrorenem Boden wurde schwarze Infanterie gedrillt, während George und sein mürrischer Begleiter vorbeifuhren.

»Schauen Sie sich dieses Spektakel an«, sagte der Colonel. »Vor fünf Jahren hätte kein anständiger Christ das für möglich gehalten.«

George hob eine Augenbraue, was der Colonel für Interesse hielt. Hitzig fuhr es fort: »Eine einzige Verschwörung, um den weißen Mann dem Nigger zu unterwerfen. Ich werd’ Ihnen sagen, was dabei herauskommt. Blut in den Straßen. Mehr Blut, als je in diesem Krieg vergossen worden ist, denn die Weißen werden nicht zulassen, daß man sie versklavt.«

»Tatsächlich?« sagte George. »Ich dachte, die Sklaverei hört auf, und nicht, sie fängt an. Ich danke Ihnen für die Aufklärung, Sir.«

»Bei Gott, Sie lachen über mich. Ihr Name, Major?«

»Harriet Beecher Stowe«, sagte George und sprang vom Waggon.

Mittlerweile hatte es stärker zu schneien begonnen. Düster gestimmt trampte er auf das Camp des Pionierbataillons zu.

Das Camp hallte von Axtschlägen wieder. Der plötzliche Kälteeinbruch hatte den Bau von Hütten beschleunigt.

Der Adjutant im Hauptquartier sagte, Billy sei in einem Arbeitsschuppen am Rande des Lagers. Als Billy seinen Bruder eintreten sah, grinste er und winkte ihm zu. Er war sehr dünn geworden. Schau ich auch so schrecklich aus? fragte sich George. Vermutlich.

Die Brüder umarmten sich. Billy grinste breit: »Wie geht’s dir? Beim Gedanken, daß du kommst, konnte ich letzte Nacht nicht schlafen.«

Sie gingen zur Messe und begannen zu erzählen. Billy berichtete von einigen seiner Gefängniserlebnisse.

»Ich glaube, wir können für eine ganze Menge dankbar sein«, sagte Billy. »Ich hätte im Gefängnis sterben können. Ohne Charles wäre ich wahrscheinlich auch tot.«

»Irgendeine Ahnung, wo er steckt?«

Billy schüttelte den Kopf. »Wade Hampton hatte hier in der Gegend einige hitzige Gefechte.« Er schaute nachdenklich drein. »Ich kann keine Begeisterung mehr fürs Soldatspielen aufbringen. Ich glaube nicht, daß ich bei der Armee bleiben möchte, falls ich je heil heimkomme.«

»Als ich Herman Haupt das letztemal sah, sprach er über den Westen. Er meint, nach dem Krieg würden da draußen wie verrückt Eisenbahnen gebaut werden. Die Idee der Transkontinentallinie wird zweifellos wieder aufleben. Er meint, für fähige Ingenieure bieten sich da großartige Möglichkeiten.«

»Da kann man mal drüber nachdenken.« Billy nickte. »Vorausgesetzt, wir bringen Bob Lee jemals zur Kapitulation.«

»Die Belagerung zieht sich sicher noch eine Weile hin«, stimmte George zu. »Scheußliche Sache. Es heißt, die Rebellen seien am Verhungern. Eine Handvoll Mais pro Tag, wenn überhaupt. Ich weiß, sie haben den ersten Schuß abgefeuert. Ich weiß, sie müssen geschlagen werden, bis sie aufgeben. Aber es gibt Tage, da fühle ich mich so deprimiert wie noch nie in meinem Leben.«

Billy starrte in seine leere Blechtasse. »Mir geht es ebenso.«

George war der ältere der Brüder, und aus irgendeinem Grund hatten nun mal ältere Brüder klug und stark zu sein. Er machte einen ziemlich fadenscheinigen Versuch.

»Wir schaffen es, wir kommen durch, mach dir nur keine Sorgen.«

In den Augen seines Bruders entdeckte George traurige Skepsis. Billy glaubte kein Wort von dem, was er eben gesagt hatte.

Nun, er selbst glaubte es auch nicht. Er hatte zuviel von Washington und Petersburg gesehen. Er hatte die Feuerglocken im April läuten hören, vor langer Zeit schon.

116

Das Kratzen ihrer Feder und das Rauschen des Meeres – das waren die einzigen Geräusche in der vollgestopften, schäbigen Kabine.

Ashton beugte sich über das Rechnungsbuch auf dem winzigen Tisch unter der flackernden Lampe. Huntoon lag in der unteren Koje und betrachtete sie mürrisch. Nach ihrer Abfahrt von Hamilton, Bermuda, hatte er den ganzen ersten Tag mindestens jede halbe Stunde einmal in einen Eimer erbrochen. Am zweiten Tag schaffte er es bis zur Reling, aber der Gestank hielt sich in der Kabine.

Ashton wog neun Pfund weniger als am Tag, an dem Orry ihr Mordkomplott aufgedeckt und sie fortgejagt hatte. Sie sehnte sich nach einer Gelegenheit, sich an ihrem Bruder zu rächen. Im Moment aber hatte sie wichtigere Ziele. Überleben. Montreal erreichen, dann den Südwesten. Ihre Schönheit wieder herstellen; im Augenblick sah sie gräßlich aus.

Ihr dringlichster Wunsch aber war, wieder bei Powell zu sein.

Schwere Brecher schüttelten die Royal Albert durch. Es war der Abend des Wahltags im Norden. November, die Zeit der rauhesten See im Nordatlantik.

Von seiner Koje aus röchelte Huntoon: »Wie spät ist es?«

Zahlen niederschreibend sagte Ashton: »Schau auf deine Uhr.«

Er gab pathetische Geräusche von sich, um die damit verbundene Anstrengung zu demonstrieren. »Fast elf. Willst du die Lampe nicht löschen?«

»Erst, wenn ich fertig bin.«

»Was tust du?«

»Unsere Zinsen ausrechnen.« Die Nassau-Bank, in der ihre Profite deponiert waren, würde nicht wissen, wohin sie ihre Quartalsberichte schicken sollte, bis Powell die neue Regierung etabliert hatte.

Schnell rechnete sie die Zahlen zusammen. »Fast eine Viertelmillion Dollar. Das entschädigt uns zumindest einigermaßen für dieses Elend.«

Huntoons runde Brillengläser beschlugen; er schwitzte. »Möglicherweise fordert Lamar einiges von diesem Geld.«

»Oh nein. Er bekommt keinen Penny, bis die neue Regierung im Amt ist, und vielleicht nicht mal dann. Bei diesem Abenteuer riskiert er das Gold aus seiner Mine – wir riskieren unser Leben.«

»Ich opfere lieber unser Bankkonto als unser Leben«, entgegnete er weinerlich. »Aber wenn du ehrlich bist, dann riskiert auch Powell mehr als nur sein Gold. Ich meine, er geht die gleichen physischen Gefahren ein wie wir.«

»Das sollte er auch. Es ist sein Plan.«

Ashton liebte Powell, sah aber in ihrer Einstellung keinen Widerspruch. Ein Plan war fehlgeschlagen; es konnte auch ein zweitesmal passieren. Merkwürdigerweise hatte der Fehlschlag Powell nicht verbittert, obwohl er sich wochenlang in dieser dreckigen Mansarde hatte verstecken müssen, bevor er nach Wilmington geflohen war.

Auf Ashtons Betreiben hin hatte Huntoon eine Nachricht in einer von Powells Lieblingskneipen hinterlegt. So hatte er erfahren, was passiert war, und war via Nassau in Hamilton wieder zu ihnen gestoßen. Entdeckung, Flucht, Angst vor Verfolgung, all das hatte seine Entschlossenheit nur noch verstärkt. Ashton war überzeugt, daß Powell diesmal Erfolg haben und eine neue Nation ins Leben rufen würde.

Während der Zeit hier an Bord drängte sie ihn gelegentlich, ihr Einzelheiten über den neuen Staat mitzuteilen. Wo und auf wieviel Land? Wieviele Siedler erwartete er, und von wievielen Bewaffneten sollten sie verteidigt werden? Er behauptete, über sämtliche Antworten zu verfügen, sie aber lieber für sich behalten zu wollen – ein weiterer Grund, weshalb Ashton ihm ihren Körper, aber nicht ihr Geld geben wollte.

»Ohhh.« Huntoon umklammerte seinen Bauch. »Ich glaube, ich sterbe.«

Nur zu, dachte Ashton. Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Ich werde noch verrückt, wenn du nicht mit deinem kindischen Gejammer aufhörst.«

»Aber ich fühle mich so schrecklich elend.« Seine Augen waren feucht und schwächlich. »Ich will wieder zurück nach South Carolina – ich will mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben.«

»Das geht nicht.« Er zuckte vor der Verachtung in ihrer Stimme zurück. »Es wird eine neue Konföderation geben, und wir werden eine sehr wichtige Rolle dabei spielen.«

»Ashton, ich weiß einfach nicht, ob ich den Mut habe.«

»Oh doch, du hast.« Sie schüttelte ihn an den Schultern, spuckte ihm fast ins Gesicht. »Bei Gott, du wirst den Mut haben, oder du bist nicht mehr mein Mann. Jetzt schlaf. Ich brauche ein bißchen frische Luft.«

Sie schnappte sich einen Umhang, blies die Lampe aus und knallte die gebrechliche Tür hinter sich zu. Sie fluchte vor sich hin, als sie ihn weinen hörte.

Sie fand Powell an der Reling. Sein Lächeln, als er ihren Kopf an seine Schulter zog, sah sie nicht.

»Ich ertrage das nicht mehr, Lamar«, sagte sie. »James macht mich mit seinem ewigen Gejammer verrückt. Ich kann nicht allein in deine Kabine kommen. Ich kann dich nicht küssen, dich nicht mal berühren.« Halb krank und von Liebe überwältigt, griff sie mit der Hand nach unten, klammerte sich fest. »Das ist es, was ich will. Allein damit hast du mich an dich gekettet, wie ein Niggermädchen auf einer Plantage. Ich kann nicht mehr schlafen, ich habe jedes Gefühl für Anstand verloren, ich will nur noch das. Du hast mich zu seiner Sklavin gemacht, und dann hast du ihn mir weggenommen.«

Der geflüsterte Ausbruch entzückte ihn. Sie merkte, was sie getan hatte, und senkte den Kopf. Abrupt ließ sie los. Fast onkelhaft tätschelte er ihren Arm.

»Ich habe ihn dir, wie du es so entzückend formuliert hast, aus reiner Notwendigkeit weggenommen. Was regt dich so auf?«

»Ich will dich!«

»Sonst nichts? Geduld«, murmelte er. »Nur Geduld. Wir brauchen James noch eine Weile. Ich benötige mindestens einen Mann, der mich nach Virginia City begleitet und mir beim Transport des Goldes von der Mine hilft.«

Powell warf einen schnellen Blick über Deck, dann beugte er sich vor und küßte sie, seine Zunge zwischen ihre Lippen schiebend. Sekunden vergingen, dann löste er sich lächelnd.

»Wovon du vorhin geredet hast, Liebes, wonach es dich so heftig gelüstet, das wird bald wieder dort sein, wo es hingehört.«

Einige Tage später kehrte Cooper aus Charleston zurück. Sein Besuch in der belagerten Stadt konnte kaum als Erfolg bezeichnet werden. Er hatte nicht mehr als zwei alte, rostige Hawkens auftreiben können. Munition vom .50-Kaliber für die Vorderlader hatte es keine gegeben. Dafür hatte er eine Gußform und ein paar Bleibarren entdeckt, die in der nächsten Woche mit dem Dampfer den Ashley hochtransportiert werden würden. Pulver gab es nirgendwo; sie mußten mit dem kleinen Restvorrat auf Mont Royal auskommen.

Auf dem alten Klepper, den er sich von einem Nachbarn geliehen hatte, ritt Cooper die Flußstraße entlang. Durch das plötzlich aufsteigende Krähengeschrei hindurch hörte er eine körperlose Stimme. »Mist’ Cooper?«

Er riß die Taschenpistole aus seiner Jacke. »Wer ist da?«

»Könn’ mich nich’ sehen, Mist’ Cooper. Ich seh’ Sie gut.«

Schreck zeigte sich auf Coopers Gesicht, als er die Stimme erkannte.

»Cuffey? Bist du das?«

Das rauhe Gekrächz hallte über die leere Straße. Dann ertönte wieder die Stimme.

»Heißt, Sie sind wieder da. Will Ihnen was sag’n. Das Unterste wird bald oben sein.«

»Wenn du ein Mann bist, Cuffey, dann zeig dich.« Schweigen. »Cuffey?«

CuffeyCuffeyCuffeyCuffey – der Schrei rollte in düstere Ferne. Das Pferd scheute; Cooper zog scharf am Zügel.

»Was ganz unten wird oben sein. Was oben iss’, wird kaputtgemacht, zerhackt, niedergebrannt. Für immer, kannst dich drauf verlass’n – « Die unsichtbare Stimme verklang, bis nur noch ein Echo zu hören war.

Mit angeekeltem Gesicht stieß Cooper die Pistole zurück in seine Tasche. Im Galopp trieb er den alten Klepper die Flußstraße entlang. Die Krähen kreischten. Weshalb hörte es sich wie Gelächter an?

117

Graue Wölfe schlichen sich in diesem Herbst in die Gräben der Petersburgfront. Mit Zähnen und Klauen gruben sie sich knurrend ihren Peinigern entgegen.

Graue Wölfe, die von gebranntem Mais lebten, noch mehr aber nach einem oder zwei Schluck Blut dürsteten. Mit zwanzig hatten sie die uralten Augen, die man von hundert Jahren Töten bekommt.

Das kältere Wetter bleichte viele Gesichter; andere blieben vom Sommer sonnengerötet. Ob weiß oder rot, sie sahen bösartig, sie sahen tödlich aus.

Mit Blechtasse, Decke, Patronenschachtel, Gewehr hatten sie sich kreuz und quer über die Landkarte des Staates gekämpft – Plantagenjungs, Farmerjungs, Stadtjungs. Auf der dicken Hornhaut ihrer nackten Füße waren sie zur letzten Stellung marschiert, in Vogelscheuchenklamotten und mit knurrenden Mägen. Sie duckten sich in die Gräben, nur noch mit ihrem Mut bewaffnet und einem Ruf, der größer war als sie alle zusammen. So groß, daß er all die Sprüche und Slogans überdauern würde, an die sie sich gar nicht mehr erinnern konnten.

Graue Wölfe; sie waren bereits zur Legende geworden, als der erste Schnee fiel. Sie waren die Armee von Nordvirginia.

»Haben Sie das gehört?« fragte Orry. Seine Hand ruhte auf dem Knauf des Solingen-Degens. Er und zwei Adjutanten kehrten auf der Straße östlich von Richmond vom Hauptquartier des Ersten Corps zurück, als das Geräusch, laut genug, um die Geräusche der Pferde zu übertönen, sie zum Halten brachte.

Wachsame Blicke huschten von Baum zu Baum; die beiden Adjutanten, junge und unerfahrene Virginier aus Montagues Notbrigade, nickten. »Ein Hilferuf«, sagte der eine. »Zumindest glaube ich, das Wort Hilfe gehört zu haben.«

»Sollen wir nachsehen, Sir?« fragte der andere.

Orrys Instinkt sagte nein. Sie waren bereits zu spät dran, und der Nebel war geradezu ideal für einen Hinterhalt. Er versuchte, sich ganz genau an den Laut zu erinnern; er glaubte, Schmerz herausgehört zu haben.

»Ich gehe voran«, sagte er.

Orry atmete tief durch. Ein plötzliches Wiehern erschreckte sein Pferd. Er zügelte durch und ritt, den Revolver im Anschlag, um den nächsten großen Baum; dahinter lag ein gefallener Kavalleriewallach mit einer großen, blutenden Rißwunde an der Seite. Er hob den Kopf und schlug schwach mit den Hufen. Ein Unionspferd, kein Zweifel.

»Wo sind Sie?« rief er in den Nebel.

Schweigen. Feuchtigkeit tropfte aus den Bäumen.

Dann: »Hier.«

Orry trieb sein Pferd voran. Über die Schulter sagte er: »Das Pferd ist erledigt. Erschießt es.«

Das Echo des Schusses rollte davon, dann wieder Stille. Hinter einem weiteren Baum entdeckte Orry ihn; ein blaues Bein mit gelbem Streifen, das andere abgeknickt, um sich gegen die nasse Borke des Baumes zu stemmen. Ihre Blicke trafen sich. Seine Augen waren voller Schmerz, jedoch vorsichtig, fast kalt. Der Kavallerist war ein zäh wirkender, stoppelgesichtiger junger Mann mit schweren Brauen. Seine linke Hand ruhte auf der durchbluteten Taille seines dunkelblauen Waffenrocks. Am linken Oberarm hatte er einen dunkelbraunen, fleckigen Verband.

»Hab’ ihn gefunden«, sagte Orry, ohne sich umzudrehen. Die Adjutanten ritten heran. Der halb bewußtlose Yank beobachtete sie aus düsteren Augen. »Nehmt ihm den Säbel ab.«

Der Adjutant nahm seinen Revolver in die linke Hand. Der Säbel glitt mit einem stählernen Laut aus der Scheide. Der Adjutant hustete. »Mein Gott, ist der dreckig. Eiter und Läuse und Gott weiß was noch.« Er wandte sich Orry zu. »Üble Wunde, Colonel. Schaut nach Bauchwunde aus.«

»Dein Name und deine Einheit, Billy Yank?« wollte der andere Adjutant wissen.

»Dafür ist später auch noch Zeit«, sagte Orry.

Der zweite Adjutant stieg aus dem Sattel. »Könnten ihn genausogut erschießen, oder, Sir? Mit der Verwundung hat er kaum eine Chance.«

Das stimmte. Bauchwunden waren für gewöhnlich tödlich.

Es würde ihren vielbeschäftigten Ärzten Zeit und Mühe ersparen, wenn er jetzt einfach dem Soldaten eine Kugel durchs Herz jagte. Das wäre humaner, als ihn leiden zu lassen. Außerdem traute Orry dem Ausdruck in den Augen des jungen Kavalleristen nicht.

Scham überwältigte ihn. Zu was für einem Monster entwickelte er sich, um so etwas überhaupt in Erwägung zu ziehen?

»Wir sollten die Ärzte entscheiden lassen, wie seine Chancen stehen«, sagte er zu den Virginiajungs. Er trat zu dem Verwundeten, der keinerlei Dankbarkeit, keinerlei Emotion zeigte. Seine Vorsicht verwandelte sich in kühles Mitleid. Orry trat zwei Schritt zurück, drehte sich den beiden Adjutanten zu. »Mal sehen, ob wir aus diesen Ästen und einer Satteldecke eine Tragbahre bauen können. Dann – «

Er hörte die Geräusche hinter sich, sah im gleichen Augenblick Schock und Angst auf dem Gesicht des einen Adjutanten. Orrys hochgewachsener Körper hatte den jungen Männern für einen Moment den Blick auf den verwundeten Yank verwehrt, der die Gelegenheit benutzt hatte, um einen verborgenen Colt unter seinem rechten Oberschenkel hervorzuziehen. Er zielte auf Orrys Hinterkopf und drückte ab.

Der Schuß dröhnte; die Kugel fetzte den Oberteil von Orrys Schädel weg. Während er, bereits tot, auf die Knie sank, feuerten die fluchenden, schreienden Adjutanten Schuß um Schuß in den Yank. Die Kugeln rissen ihn in die eine, dann in die andere Richtung, wie eine wahnsinnige Marionette. Als das Schießen aufhörte, legte er sich mit einem seltsamen, friedlichen Seufzer nach rechts, als würde er schlafen.

An diesem Tag verließ Madeline wenige Minuten vor der Mittagszeit Belvedere, um einen Spaziergang durch die Hügel zu machen. Im ganzen Haus herrschte eine Art Jubelstimmung, ausgelöst durch Neuigkeiten, die über den Telegraphen gekommen waren und sich innerhalb von zwei Stunden in Lehigh Station ausgebreitet hatten. Drei Tage zuvor hatte General Sherman dem Präsidenten eine unerwartete Grußbotschaft geschickt.

Ich bitte darum, Ihnen als Weihnachtsgeschenk die Stadt Savannah präsentieren zu dürfen.

Madeline konnte die Feiertagsstimmung nicht teilen. Vor allem Constance verstand das und hielt sich mit ihren Bemerkungen über Shermans unglaublichen Vormarsch auf die Küste zurück.

Vom Hügel oben hörte sie Kirchturmläuten. Nach und nach fielen die anderen Kirchenglocken ein, um die guten Nachrichten zu feiern. Mit gesenktem Kopf wandte sich Madeline ab, nur von einem einzigen Gedanken besessen: Wenn doch Orry nur zu Weihnachten hier wäre.

Sie mußte ihre Abneigung gegen das Glockenläuten aufgeben, sie mußte sich darüber freuen. Jeder Unionssieg brachte den Tag näher, an dem Orry Richmond verlassen und zu ihr nach Mont Royal kommen konnte. So betrachtet enthielten die Glocken eine Hoffnungsbotschaft.

Der Friede der Jahreszeit erfüllte sie langsam und zeigte ihr Visionen vieler anderer Weihnachten, die sie mit ihrem geliebten Orry erleben würde. Sie war glücklich, als sie sich wieder auf den Weg nach unten machte.

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