Prolog. Aprilasche

Am letzten Tag im April, eine Stunde vor Mitternacht, brannte das Haus. Das ungestüme Läuten der fernen Feuerglocken weckte George Hazard. Er stolperte den dunklen Flur entlang, die Treppen hoch zum Turm des Wohnhauses und trat auf den schmalen Balkon hinaus. Ein kräftiger, warmer Wind fachte die Flammen an und verstärkte ihr Licht. Selbst von seinem Standort aus, hoch oben über der Stadt Lehigh Station, erkannte er das brennende Haus – das einzige ordentliche Haus, das in der schäbigen Gegend nahe beim Kanal noch übriggeblieben war.

Er rannte hinunter in sein schwach erleuchtetes Schlafzimmer und schnappte sich seine Kleider, ohne mehr als einen flüchtigen Blick darauf zu werfen. Er versuchte sich leise anzuziehen, konnte aber nicht vermeiden, daß Constance, seine Frau, aufwachte. Sie war beim Lesen der Heiligen Schrift eingeschlafen – nicht ihre eigene Douay-Version, sondern eine der Familienbibeln der Hazards, in die sie ihren Rosenkranz gelegt hatte, ehe sie das Buch geschlossen und George einen Gutenachtkuß gegeben hatte. Seit dem Fall von Fort Sumter und dem Kriegsausbruch hatte Constance mehr Zeit als üblich über der Bibel verbracht.

»George, wohin rennst du?«

»Es brennt in der Stadt. Hörst du nicht den Feueralarm?«

Immer noch schläfrig rieb sie sich die Augen. »Aber du springst doch nicht immer gleich an die Pumpen, wenn die Glocken läuten.«

»Das Haus gehört Fenton, einem meiner besten Vormänner. In seinem Haushalt hat es kürzlich Ärger gegeben. Vielleicht ist das Feuer kein Zufall.« Er beugte sich über sie und küßte ihre warme Wange. »Schlaf weiter. In einer Stunde bin ich wieder im Bett.«

Er drehte das Gaslicht aus und begab sich schnell nach unten zum Stall. Er sattelte sich selbst ein Pferd; das ging bei weitem schneller, als wenn er einen Stallknecht geweckt hätte. Die Besorgnis spornte ihn zur Eile an. Seine spontane Anteilnahme verwirrte ihn geradezu, denn seit Orry Mains Besuch vor genau zwei Wochen hatte sich George in einem merkwürdig dumpfen Zustand befunden. Er fühlte sich fern vom Leben um sich herum und vor allem fern vom Leben einer Nation, deren eine Hälfte sich losgelöst und die andere Hälfte angegriffen hatte. Die Union war abgetrennt; Truppen wurden zusammengestellt. Und George hatte sich in die Isolation zurückgezogen, als hätte das keinerlei Auswirkungen auf sein Dasein oder seine Gefühle.

Kaum im Sattel, galoppierte er weg vom Herrschaftshaus, das er auf den Namen Belvedere getauft hatte, die gewundene Hügelstraße hinunter auf das Feuer zu. Die starken Windstöße bliesen wie die fauchenden Öfen des Hazard-Eisenwerks; das Haus des Vormanns mußte sich in ein Inferno verwandelt haben. War die freiwillige Werksfeuerwehr schon am Schauplatz? Er betete darum.

Auf der holprigen Straße mußte er sein Pferd fest unter Kontrolle halten. Sein Weg führte ihn an den zahlreichen Gebäuden des Eisenwerks vorbei, wo selbst zu dieser Stunde noch Licht brannte und Rauch und Lärm aufstiegen. Hazard war rund um die Uhr in Betrieb und produzierte Schienen und Bleche für die gerade anrollenden Kriegsanstrengungen der Union. Jetzt jedoch waren Geschäfte das letzte, was der an den Terrassen der besseren Heime vorbeihetzende Mann im Sinn hatte. Durch die ebenen Straßen des Handelsviertels galoppierte er der grellen Hitze des Feuers entgegen.

Seit einiger Zeit schon wußte George von den Problemen in Fentons Haus. Für gewöhnlich hörte er immer, wenn ein Arbeiter Schwierigkeiten hatte. Er wollte es so. Gelegentlich war Disziplin nötig, aber er bevorzugte den Einsatz von Diskussion. Verständnis und Rat, erwünscht oder nicht erwünscht.

Im vergangenen Jahr hatte Fenton seinen herumstreunenden Cousin aufgenommen, einen kraftstrotzenden Burschen, zwanzig Jahre jünger als er. Da ihm das Geld ausgegangen war, brauchte der junge Mann einen Job. Der Vorarbeiter verschaffte ihm einen bei Hazard, und der Neuankömmling führte sich einige Monate recht ordentlich.

Obwohl verheiratet, hatte Fenton keine Kinder. Seine gutaussehende, aber nicht mit besonderer Intelligenz gesegnete Frau stand altersmäßig dem Cousin näher als ihm. Bald schon bemerkte George, daß der Vorarbeiter an Gewicht verlor. Er schien seine Arbeit mit ungewohnter Gleichgültigkeit zu verrichten. Schließlich wurde George Bericht erstattet von einem teuren Fehler, der zu Lasten des Vorarbeiters ging. Und eine Woche später wiederholte sich das.

Letzte Woche hatte ihn George, sowohl um neuerliches Versagen zu verhindern als auch um dem Mann zu helfen, zu einem Gespräch geholt. Normalerweise locker und entspannt, sogar im Gespräch mit dem Besitzer, hatte Fenton nun einen kalten, angespannten, gequälten Ausdruck in den Augen und ließ sich nur ein Zugeständnis entlocken: Er hatte mit häuslichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Mehrfach betonte er die beiden Worte – häusliche Schwierigkeiten. George drückte sein Mitgefühl aus, stellte aber klar, daß die Fehler aufhören müßten. Fenton versprach, dafür zu sorgen, indem er die ›Schwierigkeiten‹ behob und den Cousin aus seinem Haus warf. Mit einem unbehaglichen Gefühl beließ es George dabei, da er die Natur der ›häuslichen Schwierigkeiten‹ ahnte.

Vor sich sah er nun Silhouetten, die vor den Flammen hin und her sprangen; Wasserstrahlen spritzten wirkungslos über das bereits eingestürzte Haus. Das rote Licht spiegelte sich im Metall der veralteten Pumpe und färbte die vier Pferde, die Pumpe und Schlauchwagen vor Ort gezogen hatten; wie schreckliche Bestien aus der Hölle scharrten sie mit den Hufen und schnaubten.

Als er aus dem Sattel sprang, hörte er einen Mann in der dunklen Straße links vom brennenden Haus brüllen. George drängte sich schnell durch die Zuschauer. »Bleib zurück, verdammt noch mal!« schrie der Freiwilligenchef durch seinen Schalltrichter, als George aus der Menge auftauchte. Der Chef liess seinen Arm sinken und entschuldigte sich sogleich: »Oh, Mr. Hazard, Sir. Hab’ Sie nicht erkannt.«

Was bedeuten sollte, daß er den reichsten Mann der Stadt, vielleicht des ganzen Tales, nicht erkannt hatte, bis er beinahe vor ihm stand; jedermann kannte den stämmigen George Hazard, der in diesem Jahr sechsunddreißig geworden war. Georges windzerzaustes Haar wies die ersten von der Sonne gebleichten Stellen auf, die es im Frühling und Sommer aufzuhellen pflegten; aber auch einige graue Strähnen zeichneten sich schon ab. Die Augen, eisfarben, wie es in der Hazardfamilie üblich war, widerspiegelten das Feuer von außen und Georges Besorgnis von innen. »Was ist hier passiert?«

Den Worten folgte eine gestammelte Zusammenfassung vom Chef, während die Freiwilligen, die sich vor Jahren den Namen ›Die Unentwegten‹ gegeben und ihr Motto, Officium Pro Periculo, auf jedes Ausrüstungsstück geprägt hatten, weiterhin an den Pumpen arbeiteten. Für das zerstörte Haus war das Wasser die pure Verschwendung. Man konnte nichts weiter tun als die nahegelegenen Schuppen und Hütten vor dem Funkenregen schützen. Deshalb hatte der Chef Zeit, sich mit dem wichtigsten Mann der Stadt zu unterhalten.

Er sagte, es sehe so aus, als hätte Fenton am Abend zuvor seine Frau mit seinem Cousin im Bett überrascht. Der Vorarbeiter hatte ein großes Küchenmesser genommen und seine Frau und ihren Liebhaber niedergestochen, bevor er das Haus in Brand steckte. Während dieser Zeit hatte der tödlich verwundete Cousin es geschafft, das Messer gegen seinen Angreifer zu richten und ihm vier Stiche zuzufügen. Tränen füllten Georges Augen, und mit harten Fingerknöcheln rieb er drüber. Fenton war einer seiner umgänglichsten Männer gewesen; belesen, fleißig, intelligent, freundlich zu allen, die er beaufsichtigte.

»Der da brüllt, das ist er«, sagte der Chef. »Aber er glaubt selber nicht, daß er noch lange zu leben hat. Die anderen beiden waren tot, als wir ankamen. Wir haben sie rausgezogen und zugedeckt. Sie liegen dort drüben, wenn Sie einen Blick darauf werfen wollen.«

Wie unter Zwang ging George auf die beiden Leichen zu, die unter einer Plane mitten auf der Straße lagen; ein unangenehmer Geruch strömte von ihnen aus. Das Schreien hielt an. Der Wind fachte das Feuer an, verlieh ihm eine fauchende Stimme und wirbelte Funken und glühenden Schutt durch die Luft. Die Freiwilligen pumpten weiter mit aller Kraft; die genieteten Lederschläuche liefen quer durch den leeren Kanal zum Wasser des Flusses.

George stoppte einen Schritt vor der Plane und hob sie an. Unlängst hatte er sich über die Kosten einer modernen Latta-Dampfpumpe für die Stadt informiert, deshalb wußte er einigermaßen Bescheid über Brände und ihre Auswirkungen. Das aber reichte nicht aus, um ihn auf den Anblick des toten Liebespaares vorzubereiten.

Die Frau war schlimmer verkohlt als der Mann, ihre geschwärzte Haut war aufgebrochen und hatte sich an vielen Stellen zusammengerollt. Die versengte Kleidung des Cousins enthüllte Hunderte von Brandblasen, aus denen wie Tränen eine leuchtend gelbe Flüssigkeit sickerte, in der sich das Licht spiegelte. Die Gesichter, Hälse und heraushängenden Zungen der beiden Opfer waren in letzter qualvoller Agonie auf der Suche nach frischer Luft angeschwollen, als nur noch sengender Rauch in ihre Lungen drang. Während sich bei der Frau schwer sagen ließ, ob die Flammen sie getötet hatten oder ob sie erstickt war, bestand beim Cousin kaum Zweifel; seine Augen quollen vor, groß wie Äpfel.

George ließ die Plane fallen und schaffte es, sich nicht zu übergeben, als es ihm heiß in der Kehle hochstieg. Der Anblick hatte bei ihm nicht nur den Gedanken an Feuer heraufbeschworen. Tod. Leiden. Verlust. Und in letzter, alles überwältigender Konsequenz: Krieg.

Erschauernd ging er zurück zum Feuerwehrchef; tief in ihm kamen unerwartete Gefühle in Bewegung.

»Kann ich helfen, Tom?«

»Mächtig nett von Ihnen, Sir, aber es ist zu spät, noch irgendwas zu tun. Wir können bloß nebenan alles naß halten.« Ein Feuerwehrmann kam auf sie zugerannt, um zu sagen, daß Fenton gestorben sei. Wieder schauderte George; warum hörte er immer noch dieses Schreien? Er schüttelte den Kopf. Der Chef fuhr fort: »Es war schon zu spät, als wir kamen.«

George nickte voller Trauer und ging zurück zu seinem Pferd.

Was mit George geschah, als er, das Pferd im Schritt gehen lassend, den Schauplatz verließ, war nur als Reaktion auf den Schrecken zu erklären: Der Zustand dumpfer Betäubung, in den er in letzter Zeit abgetrieben war, löste sich endlich auf.

Er hatte gewußt, daß in diesem Land ein Bürgerkrieg tobte. Aber Wissen hieß nicht Verstehen. Er hatte alles gewußt und nichts verstanden, obwohl er einstmals in Mexiko gekämpft hatte. Aber der Mexiko-Feldzug lag weit zurück. Als er langsam den Hügel hochritt, während der Wind Asche über ihn hinwegtrieb, holte ihn endlich die Realität ein. Die Nation befand sich im Krieg. Sein jüngerer Bruder Billy, ein Offizier des Pionier-Corps, war im Krieg. Sein bester Freund und Klassenkamerad in West Point, Kamerad in Mexiko, war im Krieg. Er erinnerte sich nicht mehr an den Schriftsteller, aber er erinnerte sich an die Zeilen: Niemand ist eine Insel …

Er ließ seine Gedanken über die letzten zwei Wochen zurückschweifen, versuchte, in der nationalen Stimmung eine Erklärung für seine eigene zu finden. Nach drei Jahrzehnten der Spannung war für viele, vielleicht für die meisten Bürger des Nordens, die Bombardierung von Fort Sumter ein willkommenes, wenn nicht freudiges Ereignis gewesen. George hatte diese Gefühle nicht teilen können; die Waffen bedeuteten, daß Männer guten Willens es nicht geschafft hatten, ein schmerzvolles menschliches Problem zu lösen, das am ersten Tag entstanden war, an dem weiße Händler Neger und Negerinnen an der Küste des wilden Amerikas verkauft hatten.

Ein Problem, das schon seit so langer Zeit unlösbar erschien – und zum Schluß nicht einmal mehr analysiert werden konnte, so dicht umgab der rhetorische Stacheldraht die gegnerischen Stellungen. Andere, die stets nur an sich dachten und für sich sorgten, nahmen die ganze Angelegenheit weniger tragisch; sie fanden es nicht bedrohlich, für sie war es lediglich ein Ärgernis, das zu umgehen war – so wie man schlafenden Bettlern in der Gosse auswich.

Aber in den Jahren, in denen der Kriegskessel zum Kochen gebracht worden war, hatte Amerika nicht nur aus zwei Klassen bestanden, den Fanatischen und den Gleichgültigen. Es gab auch Männer und Frauen mit anständigen Absichten. George zählte sich dazu. Hätten sie den Kessel umstoßen, die glühenden Kohlen löschen und ein Konzil der Vernünftigen einberufen sollen? Oder klafften so tiefe Abgründe, daß die Heißsporne auf beiden Seiten das niemals zugelassen hätten? Wie auch immer die Antwort lauten mochte, die Männer guten Willens hatten sich nicht durchsetzen können, hatten den anderen das Kommando überlassen, und die gespaltene Nation befand sich im Krieg.

Trauer. Orry Main hatte sie geteilt, als er Lehigh Station besuchte. Das war gerade zwei Wochen her. Auf seiner mutigen Reise von South Carolina nach Pennsylvania hatte er sich zahlreichen Bedrohungen ausgesetzt; sein Aufenthalt selbst war extrem gefährlich geworden, als eines Nachts Georges Schwester Virgilia, eine heftige Gegnerin der Sklaverei und besessene Hasserin von allem und jedem, was aus dem Süden kam, einem aufgebrachten Pöbel Orrys Anwesenheit verraten hatte. Nur mit gezogener Waffe hatte George seinen guten, aufrichtigen Freund aus der Stadt bringen können.

Danach war – was gekommen? Nicht Apathie, nicht ganz. Er hatte sich mit den täglichen Problemen befaßt: Vertragsangebote; Unbehagen über Fentons häusliche Schwierigkeiten; hundert Dinge, große und kleine. Bis heute nacht hatte er sich vor der Bedeutung des Krieges gleichsam hinter einer Mauer versteckt. Feuer und Messer hatten diese Mauer zerstört und ihm wieder eine grundsätzliche Lektion ins Gedächtnis gerufen. Zum Teufel mit den Narren, die ganz fröhlich ›nur‹ einen Neunzig-Tage-Konflikt voraussagten. Für Tod und Ruin reichten kurze Augenblicke aus.

Sein Herz hämmerte. Ihm war schlecht. Jenseits der niedergerissenen Mauer erkannte er die Drohung, der er sich in den vergangenen beiden Wochen zu entziehen gesucht hatte. Die Bedrohung betraf das Leben jener, die ihm am meisten auf dieser Welt bedeuteten, das langsam und sorgfältig geschmiedete Band zwischen seiner Familie und der Familie der Mains in South Carolina. Das Feuer hatte ihm gezeigt, wie zerbrechlich dieses Band war. Zerbrechlich wie Fenton und die anderen beiden und das Haus, das sie mit all ihren Leidenschaften, Unzulänglichkeiten und Träumen beherbergt hatten. Von all dem war nur Asche übriggeblieben, die der Wind um ihn herumwirbelte.

Wie er so nach Mitternacht am 1. Mai diesen Hügel in Pennsylvania hochritt, da konnte er der Glut einer kleinen, bald vergessenen häuslichen Tragödie den Rücken zuwenden – ein Klischee in ihrer Häufigkeit und Gewöhnlichkeit; und so gottverdammt erschreckend und herzzerbrechend, wenn man es vor Augen hatte. Physisch konnte er sich abwenden, aber nicht psychisch. Seine Vision griff über die vergangenen zwei Wochen hinaus und umfaßte zwei Dekaden.

Die Hazards, Eisenhüttenbesitzer aus Pennsylvania, und die Mains, Reispflanzer aus South Carolina, hatten ihre ersten Bande geknüpft, als sich je ein Sohn aus jedem Haus an einem Sommernachmittag des Jahres 1842 auf einem Pier im New Yorker Hafen begegneten. An diesem Tag schlossen George Hazard und Orry Main Bekanntschaft, auf einem Schiff, das den Hudson River Richtung Norden hochfuhr. Als sie an Land gingen, wurden aus ihnen Kadetten in West Point.

Dort erlebten und überlebten sie so vieles, was ihr spontanes Zusammengehörigkeitsgefühl verstärkte. Da war einmal die Kopfarbeit – leicht für George, der keine große Sehnsucht nach einer militärischen Karriere hatte; schwer für Orry, der nichts anderes anstrebte. Sie schafften es, die Schindereien eines hinterlistigen – einige behaupteten: verrückten – Studenten in höherem Semester namens Elkanah Bent zu ertragen, sie erreichten sogar nach einer Serie besonders abscheulicher Taten, die er begangen hatte, seinen Rausschmiß. Doch Washingtoner Einfluß hatte Bent wieder auf die Militärakademie zurückgebracht, und bei seiner Graduierung hatte er George und Orry versprochen, daß er nichts vergessen und ihnen ihre sämtlichen Sünden zurückzahlen werde.

Die Mains und die Hazards lernten einander kennen, während die lange Zündschnur des Partikularismus zum Pulver der Sezession niederbrannte. Besuche waren abgestattet worden, Bündnisse hatten sich geformt – auch Haß hatte es gegeben. Selbst George und Orry hatten ernsthaft miteinander gestritten. George weilte gerade zu Besuch auf der Main-Plantage, Mount Royal, als ein Sklave flüchtete, der gefaßt und auf Befehl von Orrys Vater grausam bestraft wurde. Der anschließende Streit stellte die größte Belastungsprobe ihrer Freundschaft dar, und beinahe wäre sie durch die Entzweiung, die wie ein langsam wirkendes Gift in den Blutkreislauf des Landes sickerte, zerstört worden.

Der Mexikanische Krieg, bei dem die beiden Freunde im gleichen Infanterieregiment als Lieutenants dienten, trennte sie schließlich auf unerwartete Art und Weise. Captain ›Butcher‹ Bent schickte George und Orry an der Churubusco Road in den Kampf, wo ein Bombensplitter Orrys linken Arm wegriß und seine Träume von einer militärischen Laufbahn zerstörte. Kurz darauf rief George die Nachricht vom Tode von Hazard senior heim, weil seine Mutter, mit gesundem Instinkt ausgestattet, Georges älterem Bruder Stanley nicht zutraute, das gewaltige Familiengeschäft vernünftig zu lenken. Bald nachdem er das Kommando bei Hazard übernommen hatte, entriß George seinem ehrgeizigen, verantwortungslosen Bruder die Führung über die Eisenwerke.

Die Amputation seines linken Arms versetzte Orry zeitweilig in brütende, einsiedlerische Stimmung. Aber nachdem er erst einmal gelernt hatte, mit einer Hand Arbeiten auszuführen und die Plantage zu leiten, stand er dem Leben wieder optimistischer gegenüber, und seine Freundschaft mit George erneuerte sich von selbst. Orry war Trauzeuge, als George Constance Flynn heiratete, das römisch-katholische Mädchen, das er auf dem Weg nach Mexiko in Texas kennengelernt hatte. Dann beschloß Georges jüngerer Bruder Billy, die Akademie zu besuchen, während Orry, verzweifelt auf der Suche nach einer Möglichkeit, seinen verwaisten Cousin Charles vor dem Leben eines Taugenichts zu bewahren, diesen überredete, sich bei der Akademie zu bewerben. Bald schon entsprach die Freundschaft von Charles Main und Billy Hazard, die sich zuvor schon gekannt hatten, derjenigen der beiden älteren West-Point-Absolventen.

In der letzten Friedensdekade blieben viele Nord- und Südstaatler persönliche Freunde, trotz der immer heftiger werdenden Rhetorik, den immer schärferen Drohungen der politischen Führer auf beiden Seiten. Auch diese beiden Familien hielten es so. Mains kamen nach Norden, Hazards reisten gen Süden – allerdings in keinem Fall ohne Schwierigkeiten.

Georges Schwester Virgilia, deren leidenschaftliche Sklavenbefreiungsideen längst die Grenze zum Extremismus überschritten hatten, hätte beinahe das Band der Freundschaft gelöst, als sie während eines Hazard-Besuches auf der Plantage einem Main-Sklaven zur Flucht verhalf.

Orrys wunderschöne, aber charakterlose Schwester Ashton hatte eine Zeitlang an Billy Gefallen gefunden, aber bald schon erkannte dieser die Güte und Aufrichtigkeit von Ashtons jüngerer Schwester Brett. In vielerlei Hinsicht ebenso halsstarrig und verrückt wie Virgilia, hatte die zurückgewiesene Ashton auf ihren Moment der Rache gewartet; sie zettelte eine Verschwörung an, um Billy in einem an den Haaren herbeigezogenen Duell ermorden zu lassen, keine zwei Stunden nach seiner Hochzeit mit Brett in Mont Royal. Cousin Charles hatte das Komplott in seiner direkten Kavallerieoffiziersart angepackt – das heißt, ziemlich gewalttätig –, und Orry hatte Ashton und ihren Mann, den extremistischen Südstaatler James Huntoon, für immer vom Land der Mains verbannt.

Virgilias schwarzer Geliebter, der Sklave, bei dessen Flucht sie geholfen hatte, war als Mitglied von John Browns mörderischer Bande bei Harpers Ferry erschossen worden. Virgilia, die das miterlebt hatte, war voller Panik nach Hause geflohen und befand sich deshalb in jener Nacht, in der Orry seinen gefährlichen Besuch abstattete, auf Belvedere. Dieser Besuch und die Umstände, die dazu geführt hatten, gingen einem nachdenklichen George durch den Kopf, als er das letzte steile Straßenstück nach Belvedere hochritt.

Orrys bilderstürmender älterer Bruder Cooper war für gewöhnlich anderer Meinung gewesen als die meisten Südstaatler, wenn es um ihre ganz spezielle Institution ging. Als Gegenbeispiel einer auf Landarbeit basierenden Ökonomie, die den Besitz von Menschen erforderlich machte, hatte er den Norden angeführt keineswegs perfekt, aber ein Schritt in das neue, weltweit angebrochene Zeitalter der Industrialisierung. Im Norden strebten freie Arbeiter unter dem Dröhnen der Maschinen einer blühenden Zukunft entgegen, ohne die Last überalterter Methoden und Ideologien, die so schwer waren wie Handschellen und ebenso hinderlich. Was die traditionelle Ausrede von Coopers Staat und Region anbelangte, daß die Sklaven mehr Sicherheit besaßen und deshalb glücklicher waren als die Fabrikarbeiter in den Nordstaaten, die mit unsichtbaren Ketten an riesige, hämmernde Maschinen geschmiedet waren, so lachte er nur darüber. Ein Fabrikarbeiter konnte tatsächlich bei dem Lohn verhungern, den die Unternehmer ihm zahlten. Aber er konnte weder gekauft noch verkauft werden wie gewöhnliches Hab und Gut. Er konnte jederzeit gehen, und niemand würde ihn verfolgen; kein Arbeiter würde wieder eingefangen, ausgepeitscht und am Schwungrad seiner großen Maschine aufgehängt werden.

Cooper versuchte in Charleston eine Schiffsbauindustrie zu etablieren und hatte sogar mit der Konstruktion eines gewaltigen Eisenschiffs begonnen, entworfen nach den Plänen, die der geniale britische Konstrukteur Brunei ausgearbeitet hatte. George hatte Geld in das waghalsige Unternehmen gesteckt, mehr um ihrer Freundschaft willen und weil er Coopers Glauben teilte, als um eines schnellen Profits willen, für den die Aussichten gering waren.

In den letzten Tagen von Fort Sumter, als der Krieg zur Gewißheit wurde, hatte Orry Hypotheken auf den Familienbesitz aufgenommen und soviel Bargeld wie nur möglich zusammengekratzt. Die Summe belief sich auf sechshundertfünfzigtausend Dollar, einen Bruchteil der ursprünglich von George investierten Million und neunhunderttausend Dollar. Trotz seines deutlichen Südstaatenakzents hatte Orry es auf sich genommen, das Geld in einer kleinen, unscheinbaren Tasche per Zug nach Lehigh Station zu bringen. Das Risiko war gewaltig, aber er kam trotzdem. Aus Freundschaft und weil es um eine Ehrensache ging.

In der Nacht, in der sich die beiden Freunde trafen, hatte Virgilia heimlich den Mob zusammengetrommelt – mit ziemlicher Sicherheit, um den Besucher lynchen zu lassen. Aber der Versuch war fehlgeschlagen, Orry konnte sich mit dem Spätzug in Sicherheit bringen und befand sich nun – wo? South Carolina? War er sicher nach Hause gelangt, so besaß er wenigstens eine Chance, glücklich zu werden. Madeline LaMotte, die Frau, die Orrys Liebe besaß, wie sie ihn trotz ihrer Gefangenschaft in einer unheilvollen Ehe liebte, war nach Mont Royal geeilt, um vor einer Verschwörung gegen Billy zu warnen. Einmal dort, blieb Madeline gegen den Willen ihres Mannes, der sie seit Jahren systematisch gequält hatte.

Der Fall von Fort Sumter erzwang neue Entscheidungen. Charles hatte sich, nach seinem Ausscheiden aus der Armee der Vereinigten Staaten, der Kavallerie von South Carolina angeschlossen. Sein bester Freund, Billy, blieb bei den Pionieren der Union. Und Billys in den Südstaaten geborene Frau Brett lebte in Lehigh Station. Die persönliche Welt der Mains und der Hazards befand sich in einem höchst unsicheren Gleichgewicht, während sich massive, bedrohliche, unvorhersehbare Gefahren zusammenbrauten.

Das war es, was George während der vergangenen vierzehn Tage verdrängt hatte. Das Leben war eine zerbrechliche Angelegenheit. Freundschaft ebenso. Vor ihrer Trennung hatten er und Orry sich geschworen, daß der Krieg niemals das Band zwischen ihnen zerschneiden könnte. Als er sich an die Schrecken dieser Nacht, an die Schmerzensschreie und Glutkaskaden erinnerte, fragte sich George, ob sie sich nicht naiv verhielten. Ein fast wildes Gefühl durchpulste ihn, daß er etwas unternehmen mußte, um sich selbst seine Hingabe an die Verteidigung ihrer Freundschaft zu bestätigen.

Er brachte sein Pferd in den Stall und ging direkt in die Bibliothek von Belvedere, ein geräumiges Zimmer mit dem Geruch von Leder und Papier.

Als er auf seinen Schreibtisch zuging, sah er aus den Augenwinkeln ein Erinnerungsstück, das auf einem ansonst stets leeren Tisch aufbewahrt wurde. Es war ein konischer Gegenstand, aus grobem Material, ungefähr fünfzehn Zentimeter hoch. Die dunkelbraune Farbe deutete auf schweres Eisenerz hin.

Ihm wurde klar, weshalb seine Aufmerksamkeit erregt worden war. Irgendjemand – möglicherweise das Hausmädchen – hatte den Gegenstand aus seiner gewohnten Position gerückt. Er nahm den Meteoriten in die Hand und hielt ihn fest, während er den Ort vor sich sah, wo er ihn vor langer Zeit gefunden hatte in den Hügeln um West Point während seiner Kadettenzeit.

Was in seiner Hand lag, war der Splitter eines Meteoriten, der aus unvorstellbaren Fernen durch die bestirnte Finsternis gekommen war. Sternen-Eisen, so nannten es die alten Männer seines Fachs, seine Vorfahren. Als die Pharaonen ihr Reich am Nil regiert hatten, war es bereits bekannt gewesen.

Eisen. Der mächtigste Stoff des Universums. Das Rohmaterial für den Aufbau und die Zerstörung von Zivilisationen. Daraus wurden die gewaltigen Todeswaffen geschmiedet, die George aus einer ganzen Reihe von Gründen zu produzieren beabsichtigte: Patriotismus, Haß auf die Sklaverei, Profit, ein väterliches Verantwortungsgefühl für jene, die bei ihm arbeiteten.

Was hier in seinen Händen lag, war, in gewissem Sinne, Krieg. Schnell legte er das Stück auf den Tisch zurück, genau an die Stelle, wo es hingehörte.

Er zündete das Gaslicht über seinem Schreibtisch an und öffnete die untere Schublade, in die er die kleine, einfache Tasche getan hatte zur Erinnerung. Eine Weile betrachtete er die Tasche. Dann, aus einem tiefen Gefühl heraus, tauchte er die Feder ein und schrieb mit großer Geschwindigkeit:

Mein lieber Orry,

als Du diese Tasche zurückgabst, hast du eine Tat von höchstem Mut und Anstand vollbracht. Es ist eine Tat, die ich eines Tages hoffentlich wiedergutmachen kann. Falls ich es nicht tue – nicht tun kann –, so nimm diese Worte hier, damit Du meine Absichten kennst.

Vor allem sollst Du wissen, daß ich unbedingt das Band der Zuneigung zwischen unseren beiden Familien bewahren möchte, das seit so vielen Jahren gewachsen und immer stärker geworden ist. Das ist mein aufrichtigster Wunsch, und danach habe ich gestrebt, trotz Virgilia, trotz Ashton, trotz der Lektionen über die Natur des Krieges, die ich einst in Mexiko gelernt, aber bis heute nacht vergessen hatte.

Ich weiß, daß Du an den Wert dieses Bandes ebenso glaubst wie ich. Aber es ist so zerbrechlich wie ein Weizenhalm vor der Eisensense. Sollte es uns nicht gelingen, das zu bewahren, was so sehr Bewahrung verdient oder falls ein Hazard oder Main fällt, was, möge Gott Erbarmen mit uns haben, durchaus der Fall sein kann, wenn dieser Konflikt länger andauert –, so wirst Du wissen, daß ich unsere Freundschaft über alles andere stellte und sie nie aufgegeben habe. So, wie ich weiß, daß Du es auch tun wirst. Ich bete darum, daß wir uns sehen, wenn alles vorbei ist, doch falls nicht, so rufe ich Dir – aus meinem tiefsten Herzen – ein liebevolles auf Wiedersehen zu. Dein Freund –

Er wollte gerade den ersten Buchstaben seines Vornamens schreiben, doch dann schrieb er statt dessen mit einem feinen, traurigen Lächeln seinen Spitznamen von West Point: Stumpf.

Langsam faltete er die Blätter; langsam legte er sie in die Tasche und schnallte sie zu; langsam schloß er die Schublade und erhob sich, begleitet von einigen irritierenden Geräuschen seiner Gelenke. Wegen der warmen Nacht standen die Fenster überall in Belvedere offen. Er roch den schwächer werdenden Brandgeruch, den der Wind herbeitrug. Ihn fror, und er fühlte sich alt, als er das Gaslicht ausdrehte und müde die Treppe hochstieg.

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