Sie flogen auch dieses Mal nur ein kurzes Stück auf Rangarigs Rücken, aber jeder Verfolger zu Pferde oder gar zu Fuß hätte lange gebraucht, um sie einzuholen; vorausgesetzt er hätte gewußt, wo er sie zu suchen hatte.
Kim zitterte vor Ungeduld. Schon während des Fluges versuchte er, mit Priwinn und Gorg zu reden, aber der pfeifende Wind auf Rangarigs rasendem Flug machte eine Verständigung unmöglich. Kaum aber glitten sie vom breiten Rücken des Drachen herunter, fiel er über Priwinn her. Aber Priwinn antwortete nicht sofort auf die vielen Fragen, die Kim nahezu gleichzeitig hervorsprudelte. Hastig zog er Kim ein Stück von Rangarig fort. Der Drache war unruhig. Seine Krallen zerrissen den Boden, und sein zuckender Schweif entwurzelte Büsche und kleinere Bäume. Sein Kopf war erhoben und bewegte sich unablässig hin und her, als suche er den Himmel ab.
Als Priwinn endlich stehenblieb, fragte Kim: »Was hat Themistokles damit gemeint - er könne euch nicht länger schützen? Und was bedeuten die Worte des Zwerges: die Aufständischen, die in den Wäldern leben.«
»Alles Unsinn«, gab Priwinn zurück. »Ich habe doch schon gesagt - wir leben nicht in den Wäldern.«
Kim mußte sich mit aller Macht beherrschen, um nicht loszubrüllen. »Du weißt ganz genau, was ich meine«, sagte er gepreßt. »Also?«
Priwinn musterte ihn fast feindselig, und wieder war es der gutmütige Riese Gorg, der einlenkte.
»So ein großes Geheimnis ist es nicht«, sagte Gorg. »Es gibt schon viele, die wie wir nicht mit dem einverstanden sind, was hier vorgeht.«
»Ich verstehe«, murmelte Kim. »Und ihr wollt sogar mit Gewalt losschlagen, um die Eisenmänner und damit die Macht der Zwerge zu vernichten.«
»Wenn es sein muß.« Plötzlich wurde Priwinns Stimme fast flehend. »Du hast gesehen, was in Gorywynn vorgeht. Du hast Themistokles gesehen - reicht das denn immer noch nicht?«
»Doch«, antwortete Kim. »Aber ich habe auch gehört, was er erzählt hat. Die Zwerge -«
»Er weiß nicht mehr, was er sagt!« fiel ihm Priwinn ins Wort. »Kim, du hast es selbst erlebt! Er ist ein alter, schwacher Mann geworden. Jedes Kind könnte ihn täuschen. Hast du nicht selbst gesagt, daß die Zwerge etwas mit den Veränderungen in Märchenmond zu tun haben?«
Kim fühlte sich plötzlich hilflos. Er vertraute Priwinn und Gorg nach allem, was er gesehen hatte. Aber er vertraute auch Themistokles. War es denn möglich, daß es zwei Wahrheiten gab? Und daß beide Seiten recht hatten, jede auf ihre Art? Es war verwirrend. Man bekam Kopfschmerzen, wenn man zu lange über diese Frage nachdachte. »Ihr plant also so eine Art Rebellion«, vermutete Kim. Priwinn sah ihn unwirsch an.
»Nun, ja«, meinte Gorg.
Der Prinz schenkte ihm einen giftigen Blick. »Nun, ja«, wiederholte Gorg unbeirrt, »jetzt, wo du da bist...«
»Ich?« wunderte sich Kim.
»Natürlich du!« sagte jetzt Priwinn. Er schlug seinen Umhang zurück und legte die flache Hand auf den Brustharnisch der schwarzen Rüstung, die er darunter trug. »Die Leute hier haben nicht vergessen, was du für sie getan hast, Kim. Du hast unsere Welt schon einmal gerettet. Ich bin sicher, sie würden dir folgen, wenn du sie rufst. Zieh diese schwarze Rüstung an, stell dich an unsere Spitze, und wir jagen das Zwergenvolk dorthin, wo es hergekommen ist.«
»Ganz gleich, ob es schuldig ist oder nicht, wie?« gab Kim zurück.
Rangarig bewegte sich unruhig. »Wir sollten nicht zu lange hierbleiben«, knurrte er. »Ich glaube, jemand ... etwas kommt.«
»Nur einen Moment noch, Rangarig« rief Priwinn, ohne den Drachen auch nur anzusehen. »Das hier ist wichtig.« Er schaute Kim durchdringend an. »Also - wie entscheidest du dich?«
Kim schwieg. Er fühlte sich ratloser denn je. Und er empfand Priwinns Frage als unfair. Er konnte einen solchen Entschluß nicht innerhalb von Sekunden treffen.
»Ich kann das nicht entscheiden«, sagte er daher. »Nicht sofort.«
»Wann denn?« fragte Priwinn aufgebracht. »Wenn es zu spät ist?«
»Ich verstehe euch ja«, murmelte Kim. »Ihr ... ihr seid zornig. Ihr habt Angst, daß eure Welt zugrunde geht, und ihr stürzt euch auf den erstbesten, den ihr findet, und gebt ihm die Schuld.«
»Du hörst dich schon an wie Themistokles!« meinte Priwinn giftig.
»Was nicht unbedingt das schlechteste ist«, bemerkte Gorg. Der Steppenprinz fuhr herum, als wolle er seinen Zorn nun auf den Riesen entladen, aber genau in diesem Moment knurrte Rangarig abermals tief und fast wütend: »Jemand kommt. Macht schnell!«
Sie zögerten nicht mehr länger. Ganz gleich, wie wichtig ihr Gespräch war - wenn sich Rangarig so benahm, dann taten sie besser, was er sagte.
Schon wollten sie zu dem Drachen hinübergehen, als sich Rangarig plötzlich mit einem markerschütternden Brüllen aufrichtete, die Flügel ausbreitete und mit einem gewaltigen Satz in die Höhe sprang. Wie ein goldener Blitz schoß er in den Himmel hinauf, und die Sturmwoge seiner peitschenden Schwingen riß nicht nur Kim und Priwinn, sondern selbst den Riesen von den Füßen und ließ sie alle meterweit davonkollern.
Kim zog den Kopf ein, als dem Sturmwind ein Hagel aus Erde, Steinen und zerfetztem Blattwerk und Ästen folgte. Erst nach einigen Sekunden wagte er es, die Hände herunterzunehmen und in den Himmel hinaufzublicken.
Rangarig kreiste über dem Wald, so hoch, daß er nur noch als goldfarbenes Funkeln sichtbar war. Und er war nicht allein.
Ein zweiter Schatten, riesig und mißgestaltet und ebenfalls nur als Schemen zu erkennen, näherte sich ihm. Seine Bewegungen waren sonderbar eckig und muteten schwerfällig an, aber sie wirkten nur so: Rangarig und der zweite Schatten umkreisten einander wie zwei gigantische Raubvögel, und keiner schien dabei merklich schneller als der andere zu sein.
»Was ist das?« flüsterte Kim entsetzt.
»Ich weiß es nicht«, gab Priwinn in der gleichen Tonlage zurück. »Aber wenn es etwas ist, das selbst Rangarig angst macht, dann...«
Der Rest seiner Worte ging in einem ungeheuerlichen Dröhnen und Krachen unter, als die beiden Schemen hoch über ihnen am Himmel zusammenstießen. Für Augenblicke schienen sie zu einem einzigen gigantischen Schatten aus peitschenden Schwingen und hackenden Krallen und wogender Schwärze zu verschmelzen. Sie konnten hören, wie Rangarigs Krallen auf Widerstand stießen und etwas den Drachen selbst traf. Funken stoben auf. Dann lösten sich die beiden formlosen Giganten wieder voneinander und fuhren fort, einander zu umkreisen.
»Ein Drache?« murmelte Kim fassungslos. »Ist das ... ein Drache?«
»Nein«, sagte Gorg überzeugt. »Es gibt nur Rangarig. Das muß etwas anderes sein.«
Aber was? Kim strengte seine Augen an, aber der fremde Schatten blieb riesig und fast körperlos, auch als Rangarigmit ihm ein zweites und drittes Mal zusammenprallte, daß das ganze Himmelsgewölbe zu erzittern schien. Rangarig brüllte vor Wut und Schmerz, und als sie sich das vierte Mal voneinander lösten, da sah Kim deutlich, daß die Bewegungen des Golddrachen viel an Eleganz und Kraft eingebüßt hatten. Aber auch sein Gegner war angeschlagen. Er torkelte nur noch über den Himmel - und plötzlich schwang sich Rangarig herum, gelangte mit einem einzigen, kraftvollen Flügelschlag über ihn - und stürzte wie ein herabstoßender Falke direkt auf den anderen herab. Wieder stoben Funken auf, und plötzlich löste sich etwas von den beiden ineinandergekrallten Gestalten und stürzte wie ein funkensprühender Meteor vom Himmel. Es schlug nur wenige Dutzend Schritte neben Kim und den anderen auf; so wuchtig, daß die Erde bebte.
Kim sprang auf und lief hin, während sich hoch über ihren Köpfen die beiden Gegner wieder voneinander lösten. Der Schatten ergriff die Flucht, aber Rangarig verfolgte ihn, wobei er immer wieder mit Krallen und Zähnen auf ihn einschlug. Der goldene Drachen hatte den Kampf gewonnen. Aber aus irgendeinem Grund war Kim nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte.
Kim blieb stehen und riß ungläubig die Augen auf.
Direkt vor seinen Füßen befand sich ein gut fünf Meter durchmessender Krater, der vorher noch nicht dagewesen war.
Die Erde rauchte, und im Herzen der Grube, die in den Waldboden getrieben worden war, lag eine abgerissene Klaue. Sie war größer als die Rangarigs, gebogen und messerscharf, und ihr zerfetztes Ende glühte in einem dunklen, drohenden Rot.
Sie bestand aus Eisen!
Kims Kopf flog mit einem Ruck in den Nacken. Der Schatten, noch immer von Rangarig verfolgt, war schon fast außer Sichtweite gekommen.
»Verdammt«, murmelte Gorg, der zusammen mit Priwinn neben Kim aufgetaucht war. Auch er starrte voller Unglauben hinunter auf die Stahlklaue. Priwinn sagte nichts. Aber Kim konnte sogar in der Dunkelheit erkennen, daß er leichenblaß geworden war.
Der Riese machte einen Schritt in den Krater hinein, beugte sich vor und hob die Kralle behutsam auf. Sein Gesicht zuckte, so heiß war ihr rotglühendes Ende, obwohl er es so weit von sich forthielt, wie er nur konnte.
Kim schauderte. Die Kralle war so groß wie seine Sense und zehnmal so scharf. Sich das dazugehörige Wesen vorzustellen, überstieg einfach seine Phantasie. Und selbst, wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er es ganz bestimmt nicht gewollt.
»Wirf ... das weg«, krächzte Priwinn.
Gorg gehorchte sofort. Beinahe angewidert ließ er die Kralle fallen und trat wieder aus dem Krater heraus.
»Was ist das?« flüsterte Kirn fassungslos. Aber schon keimte ein dunkler Verdacht in ihm. Allein die bloße Vorstellung war so schrecklich, daß er sich einfach weigerte, den Gedanken zu Ende zu denken.
Priwinn starrte ihn an, als wäre all dies hier Kims Schuld. »Die Zwerge«, sagte der Prinz. »Wir ... wir argwöhnen schon lange, daß sie an etwas in dieser Art arbeiten.«
»Du glaubst, sie ... sie haben einen eisernen Drachen gebaut?« keuchte Kim.
Plötzlich schrie Priwinn ihn an: »Wie viele Beweise brauchst du denn noch, du Narr? Frag doch Rangarig, wenn er zurückkommt!«
Kim schwieg. Er nahm dem Prinzen seine Entgleisung kein bißchen übel. Er wußte, daß der Steppenprinz innerlich vor Angst fast verrückt sein mußte. Kim selbst erging es ja nicht anders. Auch er hätte am liebsten irgend jemanden angeschrien oder sogar - geschlagen.
Dieser Gedanke ernüchterte Kim wieder.
Mit einem Male begriff er, was in Priwinn und den anderen vorging. Jetzt spürte er selbst diese schon fast körperlich schmerzende Hilflosigkeit, die einfach danach schrie, einen Schuldigen zu finden, einen, den man für alles büßen lassen konnte, ob er es nun verdiente oder nicht. Er billigte Priwinns Verhalten nicht - aber er verstand es plötzlich.
Und fast im gleichen Augenblick wußte Kim nun, was er zu tun hatte. Die Lösung war so einfach, daß er sich verblüfft fragte, warum er nicht gleich darauf gekommen war. »Ich werde euch helfen«, sagte er.
Priwinn riß die Augen auf. »Du wirst -«
»Ich werde bestimmt nicht diese Rüstung anziehen und an eurer Spitze in die Schlacht gegen eure Brüder reiten«, unterbrach ihn Kim rasch. »Aber ich werde euch helfen. Wie ich schon Themistokles sagte: Wir müssen noch einmal zum Regenbogenkönig! Wir müssen die Reise noch einmal machen! Er wird uns beistehen, er muß uns helfen, da bin ich ganz sicher!«
»Das ist verrückt!« entgegnete Priwinn, wenn auch nicht mehr ganz so heftig wie zuvor. »Noch einmal durch die Klamm der Seelen, wo der Tatzelwurm haust, und den unterirdischen Fluß entlang? Von Burg Weltende ganz zu schweigen! Das dauert zu lange!«
»Vielleicht«, sagte Kim. »Aber wie lange würde es dauern, jeden einzelnen Eisenmann zu zerschlagen und alle Zwerge in den östlichen Bergen aufzustöbern? Viel länger, da wette ich.«
Priwinn wollte erneut widersprechen, aber der Riese kam Kim zu Hilfe. »Er hat recht, mein Prinz«, sagte er. »Wir haben es einmal geschafft, und wir werden es wieder schaffen. Was den Tatzelwurm angeht...«
»Der Tatzelwurm lebt?«
»Aber ja doch. Weißt du denn nicht mehr? Nachdem der Zauberer Boraas besiegt war, kehrten alle, die wir totgeglaubt haben, wieder ins Leben zurück. Rangarig ist ihm damals entkommen, und er wird es auch noch diesmal schaffen. Der Rest findet sich.«
Priwinn war nicht überzeugt. Aber er widersprach nicht, sondern starrte einen Moment lang abwechselnd Gorg und Kim an, ehe er schließlich mit den Schultern zuckte. »Laßt uns hören, was Rangarig dazu meint«, sagte er.
Es dauerte noch eine geraume Weile, bis der Drache zurückkam. Er setzte nicht sofort zur Landung an, sondern kreiste ein paarmal über dem Wald, wobei seine Klauen wütend in die leere Luft oder nach den Wipfeln der Bäume schlugen und sie zerfetzten. Als er schließlich landete, da bewegte er sich so unruhig weiter, daß sie es nicht wagten, in Reichweite seiner Schwingen und des zuckenden Schweifes zu kommen. »Rangarig!« schrie Priwinn. »Was war das? Hast du es zerstört?«
»Zerstören!« brüllte der Drache. »Ja. Zerfetzen. Zerreißen. Zerstören. Reißen. Fetzen. Töten. Töten. Töten! Jaaaaa!« Rangarig gebärdete sich wie wild. Seine Krallen packten einen Baum und zerknickten ihn, wie Kim einen dürren Ast zerbrochen hätte. Schaum troff aus seinem Maul. »Zerreißen!« Er war schaurig.
»Rangarig - bitte wach auf!« keuchte Kim. »Wir sind es. Deine Freunde!«
Rangarigs Kopf ruckte herum. Seine gewaltigen Augen fixierten Kim, und für eine Sekunde sah Kim darin nichts anderes als das, was er auch im Blick des Bären gesehen hatte: Es war der Blick eines wilden, mordlüsternen Ungeheuers. »Zerreißen«, knurrte Rangarig. »Töten. Jaa!«
Kim machte einen Schritt auf den Drachen zu. Priwinn stöhnte entsetzt und wollte ihn zurückreißen, aber Kim wich seiner Hand aus und ging weiter auf Rangarig zu. Sein Blick blieb unablässig auf die riesengroßen Drachenaugen gerichtet.
»Komm zurück!« rief Priwinn verzweifelt. »Er bringt dich um!«
Kim ging weiter. Er war ganz und gar nicht sicher, ob Priwinn nicht recht hatte. Er fürchtete sich. Sein Herz jagte, und seine Knie zitterten so heftig, daß er Mühe hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Aber er wußte, daß er nicht mehr zurück konnte. Wenn er jetzt versuchte, sich herumzudrehen und davonzulaufen, das war klar, dann würde Rangarig ihn unweigerlich töten.
»Bitte, Rangarig«, flüsterte Kim. »Komm zu dir! Ich bin es, Kim. Wir sind deine Freunde. Bitte, erinnere dich!« Der Drache war immer noch im Taumel. Seine Krallen rissen Gräben in den Boden. »Zerfetzen. Töten. Ja, ja, jaaaaaaa!«
»Nein«, murmelte Kim. »Das ist falsch. Wir sind nicht deine Feinde. Du bist kein böser Drache, Rangarig. Erinnere dich! Wach auf! Komm zu dir, bitte!«
Und langsam, ganz, ganz langsam, erlosch das mörderische Feuer in Rangarigs Augen. Es dauerte lange, sehr lange, während Kim mit klopfendem Herzen und zitternden Händen und Knien dastand und dem Drachen zusah, wie dieser unendlich mühevoll wieder zu dem wurde, was er einst war: Rangarig, der Golddrache aus Gorywynn, Freund und Beschützer Märchenmonds.
Kim seufzte erleichtert auf, machte einen letzten Schritt und schlang die Arme um Rangarigs mächtigen Hals. Zitternd preßte er sich gegen das schuppige Gesicht des Drachen und stand einfach da mit geschlossenen Augen. »Oh, Rangarig«, schluchzte er. »Ich ... ich dachte schon, wir hätten dich verloren.«
Der Drache antwortete nicht, aber plötzlich benetzte etwas Warmes Kims Gesicht und seine Hände, und als er aufsah, da erkannte er, daß es eine dicke Träne war, die aus Rangarigs Augenwinkel rollte. Der Drache weinte.
»Bald, mein kleiner Freund«, flüsterte er. »Bald werde ich dein Feind sein. Geh, solange du es noch kannst.«
»Niemals«, antwortete Kim. »Ich bleibe bei dir, wir alle bleiben bei dir. Zusammen werden wir es schaffen. Wir ... wir werden dieses eiserne Ungeheuer besiegen. Wir alle zusammen. Du hast es doch schon vertrieben!«
»Es ist stärker als ich«, antwortete Rangarig. »Sie haben es nur zu früh losgeschickt, es ist noch nicht fertig. Aber bald werde ich es nicht mehr besiegen können. Und wenn, dann wäre ich nach dem Sieg nicht mehr ich selbst.« Er stieß Kim sanft mit der Schnauze an, so daß dieser ein paar Schritte zurücktorkelte.
»Ich muß euch verlassen«, sagte er. »Jetzt.«
»Nein!« rief Kim verzweifelt. »Du täuschst dich, Rangarig. Du hast diese fliegende Bestie besiegt, und du wirst sie wieder besiegen!«
»Begreifst du denn nicht, daß es nicht dieses Monstrum ist, gegen das ich kämpfe?« brummte Rangarig. Die Tränen waren versiegt, und für einen winzigen, schrecklichen Moment blitzte wieder diese Wut in seinen Augen auf, die Kim so sehr erschreckt hatte. »Es ist nicht allein der Stahldrache! Ich selbst bin es, den ihr fürchten müßt! Solange ich bei euch bin, wird er euch verfolgen. Und er wird mich besiegen, um danach euch zu töten. Oder ich werde ihn besiegen. Aber dann werde ich es sein, den ihr fürchten müßt. Es läßt sich nicht ändern. Ich muß gehen.«
»Noch einen Moment!« flehte Kim. »Bitte, nur noch einen Augenblick. Ich weiß, wie ich euch helfen kann!«
Der Drache hatte bereits halb die Flügel gespreizt, hielt aber jetzt noch einmal inne.
»Ich werde es noch einmal tun«, sprudelte Kim hervor. »Ich gehe zum König der Regenbogen. Er wird uns helfen. Er hat Märchenmond schon einmal gerettet! Aber ich schaffe es nicht dorthin ohne dich. Der Weg ist zu weit. Bitte!« Der Drache überlegte. Sein Blick glitt über Kims Gesicht, dann sah er zu seinen beiden Freunden hinüber, und schließlich wieder zu Kim. »Du kennst die Gefahren, die auf dem Weg dorthin lauern«, sagte er schließlich.
»Sie sind nicht größer als die, die hier auf uns warten«, antwortete Kim. »Bitte, Rangarig! Bring uns hin.«
Noch einmal zögerte der Drache. Wieder blickte er Priwinn und Gorg an, und obwohl Kim nicht hinsah, spürte er, wie der Riese nickte.
»Also gut«, meinte Rangarig endlich. »Bis zur Klamm der Seelen und dem See des Tatzelwurms. Du kennst die Spielregeln.«
In Kims Hals saß plötzlich ein bitterer, stacheliger Kloß. O ja, und ob er die Spiekegeln kannte. Es gab nur einen Weg, den schrecklichen Tatzelwurm zu überwinden, der den Eingang des unterirdischen Flusses bewachte: nämlich den, daß ihn ein gleichwertiger Gegner zum Kampf herausforderte. Es war nun einmal so.
Und auch das gehörte zu den Regeln: daß kaum einer den Kampf mit dem Tatzelwurm überlebte.
Mit einem Gefühl tiefen, unendlich tiefen Schmerzes wurde sich Kim der Tatsache bewußt, daß Rangarig soeben diese Todesgefahr auf sich genommen hatte.
Da der Weg weit und Rangarig erschöpft und verletzt war, brauchten sie mehr als eine Woche, um die Berge zu erreichen, in denen die Klamm der Seelen lag. Vieles gab es auf dieser Reise, das Kim zutiefst erschreckte.
Das Land, über das sie hoch am Himmel hinwegglitten, war nicht mehr zu erkennen. Zuerst war die Veränderung noch geringfügig und kaum sichtbar: eine neue Straße, eine Stadt, die Kim nicht kannte, ein künstlich begradigter Fluß, ein Feld, das etwas größer war als früher. Aber sie wurde größer, je weiter sie nach Norden kamen, bis selbst Kim die Augen vor der Wahrheit nicht mehr verschließen konnte. Die Städte waren groß und finster, und manche, die wie kleine Spielzeugdörfer unter ihnen hinwegglitten, sahen aus, als wären sie völlig aus Eisen erbaut. Es gab Straßen, die so breit waren, daß sie wie Flüsse aus schwarzem Metall unter ihnen lagen, und auf denen zehn Wagen nebeneinander fahren konnten. Die Flüsse zwängten sich jetzt in linealgeraden Betten aus Eisen, in denen rostbraunes Wasser sprudelnd dahinschoß, alles mit sich reißend, was versuchte, auf den metallenen Böschungen Fuß zu fassen.
Und dann gab es die Feuer.
Sie sahen sie in der ersten Nacht, in der sie ihr Lager aufschlugen: ein blasser, rötlicher Glanz weit hinter ihnen, gerade, daß er über den Horizont strahlte. Sie sahen sie auch in der Nacht darauf und in der nächsten - überhaupt in jeder, bis sie die Berge erreichten. Und manchmal, wenn der Wind günstig stand, wehte er das Echo von klingenden Hammerschlägen zu ihnen. Irgend jemand verbrachte die Nächte damit, etwas Bestimmtes zu schmieden und zu hämmern, während Rangarig seine Wunden leckte, die er im Kampf mit dem Stahldrachen davongetragen hatte. Manchmal konnte Kim sehen, wie Rangarig den Kopf schräg legte und lauschte. Auch Priwinns Gesichtsausdruck war von tiefer Sorge gezeichnet, wenn er abends dastand und nach Süden blickte. Und - so schien es - die Feuer kamen immer näher. Jede Nacht nur ein bißchen. Ganz langsam, aber unerbittlich.
Die letzte Nacht, bevor sie die Klamm der Seelen erreichten, verbrachten sie noch einmal auf einem Hochplateau; einem kargen, völlig unzugänglichen Stück Fels, das schon zum Schattengebirge gehörte. Keiner von ihnen schlief sehr gut in dieser Nacht, und als Kim lange vor Sonnenaufgang erwachte, stellte er fest, daß alle anderen bereits aufgestanden waren.
Priwinn und Gorg hatten ein Feuer entzündet, um das sie herumsaßen und sich mit gedämpften Stimmen unterhielten, zwei völlig ungleiche Schatten, die sich zum Schutz vor der Nachtkälte eng nebeneinandergesetzt hatten und die Hände über den Flammen rieben. Auf der anderen Seite des Feuers saßen zwei kleinere, auch völlig unterschiedliche Schatten - Bröckchen und Sheera, unzertrennlicher denn je, die aber mit jeder Stunde, die sie sich der Klamm der Seelen näherten, auffallend ruhiger und ernster wurden.
Kim fühlte sich plötzlich sehr einsam.
Umständlich wickelte er sich aus der Decke, in die er sich am vergangenen Abend eingerollt hatte, stand auf und wollte zum Feuer hinübergehen, denn die Kälte biß wie mit gläsernen Zähnen in seine Haut. Aber dann streifte sein Bück das Gesicht des Drachen, und er sah, daß Rangarig ebenfalls schon wach war, und er zögerte. Priwinn hob den Kopf und sah zu Kim herüber, aber Gorg machte eine abwehrende Bewegung, als der Prinz etwas sagen wollte. Kim blieb eine Weile völlig reglos stehen, und als er sich dann endlich in Bewegung setzte, ging er auf Rangarig zu und nicht zum Feuer, obwohl die Kälte immer grausamer wurde.
»Guten Morgen, kleiner Held«, begrüßte ihn der Drache. Nach der knurrigen, unwirschen Art, in der er sich die letzten Tage benommen hatte, waren dies recht ungewöhnliche Worte.
»Hai ... lo«, sagte Kim verlegen. Plötzlich schien sein Kopf wie leergefegt. Er erinnerte sich an nichts mehr von alledem, was er hatte sagen wollen. Es erschien ihm alles so überflüssig.
»Ich ... ich wollte dir noch etwas sagen, Rangarig«, versuchte es Kim stockend; und obwohl er all seine Willenskraft aufbot, war es ihm plötzlich nicht mehr möglich, dem Blick der riesigen Drachenaugen standzuhalten.
»Ich höre.«
»Du mußt nicht mitkommen«, sagte Kim. »Ich meine, zum Verlorenen See. Du ... du hast uns bis hierher gebracht, und vielleicht ... vielleicht bringst du uns noch bis zur Klamm der Seelen, aber danach können wir allein weitergehen.«
»Du weißt genau, daß ihr das nicht könnt«, brummte Rangarig.
»Wieso? Nur weil -«
»Weil es nun einmal so ist«, unterbrach ihn der Drache, »daß die Fahrt über den See des Tatzelwurms mit Blut erkauft werden muß. Er verlangt ein Leben, um den Weg freizugeben. Versucht ihr, ihn um seinen Lohn zu betrügen, so wird er euch alle töten.«
»Aber wieso muß es ausgerechnet deines sein?« fragte Kim verzweifelt.
»Das muß es nicht«, antwortete der Drache. Kim blickte ihn überrascht an, und Rangarig machte eine Kopfbewegung zum Feuer hin. »Wen deiner Freunde willst du opfern? Priwinn? Gorg? Den komischen kleinen Kerl, der bei dir ist? Oder den Kater?«
»Das ... das ist nicht fair«, stammelte Kim.
»Fair?« Rangarig gab ein Geräusch von sich, das ein Lachen sein mochte - oder auch das genaue Gegenteil. »Wer hat jemals behauptet, daß das Leben fair ist?« fragte er. »Also - wen willst du opfern? Dich vielleicht?«
»Hör auf!« schrie Kim. »Du ... du weißt, daß ich das nicht gemeint habe.«
»Natürlich«, sagte Rangarig. »Und du weißt, daß es nur einen Weg vorbei am Tatzelwurm gibt.« Er lachte grollend. »Ich habe ihn schon einmal verdroschen, hast du das schon vergessen? Ich werde ihm einen Knoten in seinen schmutzigen Hals machen. Ich denke, das hält ihn lange genug auf, daß ihr vorbei kommt.«
»Aber du wirst sterben«, murmelte Kim.
Plötzlich wurde der Drache sehr ernst. »Das mag sein. Doch ich sterbe für euch. Für Märchenmond.«
Als ob das ein Trost wäre! Der Tod war schlimm, dachte Kim, und der Tod eines Freundes war doppelt schlimm. Aber ihn als Preis für etwas zu bezahlen - das war entsetzlich.
»Ich werde ohnehin sterben«, sagte Rangarig plötzlich. »Hast du vergessen, was mit mir geschieht? Den Rangarig, den du kennst, kleiner Held, den wird es bald nicht mehr geben, so oder so. Ich spüre es. Etwas Wildes erwacht in mir, Kim. Bald schon, vielleicht in wenigen Tagen, werde ich nicht mehr das sein, was ich bisher war.«
»Aber du wirst leben!«
»Werde ich das?« fragte Rangarig. »Dann sag mir eines, kleiner Held. Wo liegt der Unterschied, ob ich sterbe, weil mein Körper zerstört wird oder meine Erinnerung. Bin ich nicht so gut wie tot, wenn ich eines Morgens die Augen aufschlage und nicht mehr weiß, wer ich bin? Wenn ich dich vergessen habe und Priwinn und den Riesen und alle, die ich kannte? Mein Körper wird leben, und in ihm wird ... etwas sein. Ein neuer Rangarig. Aber sag mir - wer werde ich sein, wenn ich an jenem Morgen erwache?«
Kim hatte keine Antwort auf diese Frage, und wie sollte er auch? Sonst hätte er gewußt, was Leben bedeutet, und wer wußte das schon.
Rangarig lachte leise. »Oh, ihr Menschen! Ihr seid so klein und so tapfer. Ihr lebt nur kurz, verglichen mit einem Wesen wie mir, und doch vollbringt ihr in dieser kurzen Spanne wahre Wunderdinge; manchmal wenigstens. Wenn es euch in den Kram paßt, dann fordert ihr selbst die Götter heraus. Aber so etwas Natürliches wie der Tod bringt euch zur Verzweiflung. Es ist nichts Schlimmes daran, zu sterben. Ohne den Tod gibt es kein Leben.«
Kim schwieg sehr lange. Er hatte noch nie über diese Fragen nachgedacht.
»Weil du jung bist«, sagte Rangarig mitten in Kims Gedanken hinein. »Und nun geh. Geh zu deinen Freunden ans Feuer, wärme dich und iß etwas, wir haben einen langen und anstrengenden Weg vor uns.«
Sie flogen immer weiter nach Norden, und das Land unter ihnen wurde mit jedem Flügelschlag, den Rangarig tat, karger und unwirtlicher. Kim vermied es, so gut er konnte, nach unten zu blicken, denn jeder Fußbreit Boden hier war mit schmerzlichen Erinnerungen getränkt. Hier hatte er seinen größten Kampf gekämpft. Nie hatte er einen größeren Triumph und niemals größere Trauer verspürt.
»Irgend etwas stimmt hier nicht«, rief da Rangarig. Er war der einzige, der mit seiner mächtigen Drachenstimme das Heulen des Windes übertönen konnte; allen anderen wurden die Worte von den Lippen gerissen, kaum daß sie sie ausgesprochen hatten. »Zu viele Leute.«
Kim blickte verwundert nach unten. Sie flogen so hoch, daß er Mühe hatte, auch nur irgend etwas auszunehmen - geschweige denn einzelne Gestalten. Aber Rangarig hatte ja schon oft genug bewiesen, daß er über weitaus schärfere Sinne verfügte als sie.
Aber jetzt ging der Drache tiefer und flog langsamer. Tatsächlich entdeckten sie nun hier und da eine Hütte, einen kleinen Hof und einmal sogar ein ganzes Dorf mit einem Dutzend gedrungener, aus schwarzem Eisen erbauter Häuser. Dazwischen schlängelten sich Straßen dahin wie metallene Schlangen, und machmal blieb eine der winzigen Gestalten darauf stehen und blickte zu ihnen hoch.
Seltsam, bisher war Kim der Meinung gewesen, daß es so weit nördlich keine Ansiedlungen mehr gab. Die Nähe der Klamm der Seelen machte jedem angst. Niemand kam hierher, wenn es sich vermeiden ließ - und niemand wohnte hier. Wenigstens war das so gewesen, als sie das letzte Mal hierher kamen ...
Sehr viel langsamer als bisher und kaum in Höhe der Baumwipfel, glitt der Drache weiter. Sie schlugen einen großen Bogen um die Häuser, die sie aus der Höhe heraus betrachtet hatten, aber natürlich war es unvermeidlich, daß Rangarig trotzdem gesehen wurde. Kim war nicht wohl bei dem Gedanken, daß irgend jemand wußte, wohin sie reisten. Aber eigentlich, versuchte er sich zu beruhigen, spielte das jetzt keine Rolle mehr.
Wenn sie erst einmal am Verlorenen See und am Tatzelwurm vorbei waren, würden ihre Verfolger sich schon etwas verdammt Schlaues einfallen lassen müssen, um weiter auf ihrer Spur zu bleiben.
Endlich kam die Klamm der Seelen in Sicht. Kim erschauerte unwillkürlich, als er den klaffenden Riß im Boden erblickte, der das Land wie ein vielfach verästelter Blitz spaltete. So tief, daß sein Grund nicht mehr zu sehen war, und von einer Schwärze erfüllt, die wie ein eisiger Hauch seine Seele berührte. Deshalb auch der Name dieser Schlucht: Sie war die Heimat der Angst. Nichts und niemand, ganz gleich, ob groß oder klein, stark oder schwach, mutig oder feige, vermochte sich ihrem schwarzen Atem zu entziehen. Als sie das erste Mal hiergewesen waren, da hatte selbst Rangarig vor Angst geschlottert.
Diesmal tat er es nicht.
Es sollte noch eine Welle dauern, bis Kim begriff, daß sich auch dieser Teil Märchenmonds verändert hatte. Er spürte zwar ein gewisses Unbehagen, aber das kam wohl eher aus der Dunkelheit unter ihnen und aus Kims Erinnerung. Aber diese fürchterlich Angst, gegen die weder Mut noch Verstand ankamen, die fühlte er nicht. Die Schlucht unter ihnen war einfach nur bedrohlich wie jede tiefe Schlucht, nicht mehr und nicht weniger.
Da legte Rangarig die Schwingen an und stieß direkt in den schwarzen Schlund hinab. Als seine Krallen den Boden berührten, fröstelte Kim. Aber nur, weil es eiskalt hier unten war. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, daß ihre wärmenden Strahlen den Grund der Schlucht hätten erreichen können.
»Was ist hier geschehen?« flüsterte Gorg. »Es ... es ist weg. Ich spüre überhaupt nichts.«
»Ich auch nicht«, murmelte Priwinn. »Es ... es ist fort. Was immer diesem Ort innegewohnt hat, ist nicht mehr da.«
»Und was ist schlecht daran?« fragte Kim, dem selbst jetzt noch die Erinnerung an ihre letzte Durchquerung der Klamm in den Knochen saß. »Seid doch froh!«
Priwinn und auch Gorg blickten ihn an, als hätte er etwas unsagbar Dummes gesagt, und Rangarig sagte leise: »Auch die Angst hat ihren Platz in der Welt, Kim.«
»Also, ich komme ganz gut ohne sie aus«, meinte Kim. »Und wie willst du jemals mutig sein, wenn du keine Angst kennst?«
Darauf wußte Kim keine Antwort mehr.
Sie machten sich auf den Weg, und zumindest eines war gleichgeblieben - Kim wußte hinterher nicht mehr zu sagen, wie lange sie durch die Schlucht marschiert waren - es mochte eine Stunde gewesen sein, vielleicht aber auch nur wenige Minuten oder ein halber Tag. Endlich liefen sie um die letzte Biegung, und vor ihnen lagen der Verlorene See, wo der Tatzelwurm hauste, und die Grotte, in die der Fluß verschwand.
Besser gesagt: der Ort, an dem beides einmal gewesen war. Der See war noch da, aber es war nicht mehr der wilde, von zerschrundenen Felsnadeln gesäumte See des Ungeheuers, sondern ein flacher, kreisrunder Spiegel, der von schwarzem Eisen eingefaßt wurde. Sein Wasser war so klar, daß man bis auf den Grund hinab sehen konnte, obwohl dieser sicherlich hundert Meter unter der Oberfläche lag. Nichts regte sich in dem kristallklaren Wasser, kein Fisch, keine Pflanze - und schon gar kein Tatzelwurm.
Und das allein war noch nicht das schlimmste. Dort, wo früher der Verschwundene Fluß begonnen hatte, war - nichts mehr.
In den einst unübersteigbaren Felsen am gegenüberliegenden Flußufer klaffte jetzt eine gewaltige, dreieckige Bresche. Ihre Flanken bestanden aus schwarzem Eisen, und an ihrem Grund glitzerte dasselbe, von allem Leben verlassene Wasser, das auch den See füllte. Diese gewaltige künstliche Schlucht erstreckte sich so weit, wie das Auge reichte, ehe sie in grauer Entfernung verschwamm.
»Wo ... wo ist er?« flüsterte Kim fassungslos.
»Vielleicht ist er tot?« murmelte Priwinn.
»Nein«, antwortete Rangarig. »Der Tatzelwurm lebt.« Priwinn sah ihn groß an: »Woher willst du das wissen?«
»Weil ich lebe«, erklärte Rangarig. »Wäre er tot, wäre ich es auch. Er ... muß geflohen sein. Die Eisenmänner haben ihn wohl vertrieben.«
»Der Tatzelwurm soll vor diesen ... Kreaturen geflohen sein?« fragte Priwinn. »Das glaube ich nicht!«
Kim starrte ihn an. Es war zu absurd. Der Tatzelwurm war die schlimmste aller Bestien, die er wie kein anderes Geschöpf Märchenmonds gefürchtet hatte - aber plötzlich fühlte Kim fast so etwas wie Mitleid mit ihm. Mühsam, als koste ihn die Bewegung gewaltige Kraft, drehte er sich herum und deutete auf die Stelle, an der einst der Eingang zum Verschwundenen Fluß gelegen und sein unterirdischer Lauf begonnen hatte. Kim hatte plötzlich das Gefühl, von einer unsichtbaren eisigen Hand berührt zu werden. Der Anblick der schnurgeraden, wie mit einem Messer gezogenen Bresche erfüllte ihn mit Angst. Er glaubte, Brobings Worte noch einmal zu hören: Sie können Berge versetzen. Er hatte es nicht geglaubt. Aber jetzt sah er es mit eigenen Augen.
»Warum haben sie das getan?« flüsterte Kim. Aber er wußte die Antwort. Brobing hatte sie ihm gegeben, lange bevor Kim die Frage überhaupt gekannt hatte: Es gibt neues Land. Und die Menschen brauchen neues Land.
Schließlich war es Prinz Priwinn, der als erster aus dem Bann erwachte, in den sie alle der fürchterliche Anblick geschlagen hatte. Mit einem erzwungenen Lächeln wandte er sich an Rangarig und sagte: »Ich fürchte, du kannst dich doch nicht so einfach davonschleichen, alter Freund. Wir brauchen deine Dienste dringend.«