V

Sie holten den Tag noch einmal ein, als sie aus dem Schatten der Felswand herauskamen. Die Sonne hatte sich in einen roten Feuerball verwandelt, der nurmehr einen Fingerbreit über dem Horizont stand, und die Schatten waren länger geworden. Aber Kim hatte von der Riesentreppe aus aufmerksam die Landschaft unter sich beobachtet und gesehen, daß es ein kleines Gehöft ganz in der Nähe gab. Mit ein wenig Glück konnte er es bis Einbruch der Dunkelheit erreichen; spätestens kurz danach.

Er schritt schnell aus; vielleicht schneller, als nötig gewesen wäre, und es war wohl nicht nur seine Unruhe und die Sehnsucht, endlich Auskunft zu erhalten, die ihn zu dieser Eile trieben. Die Versammlung erstarrter, hohler Eisengestalten und die Anhäufung der rostigen Metallteile hatten ihn erschreckt; und sie verwirrten ihn zutiefst. Sie waren etwas, das einfach nicht in dieses Land paßte; so wenig, wie ein geflügelter Drache in Kims Heimat gepaßt hätte. Und je länger er darüber nachdachte, desto unheimlicher kam ihm auch die gewaltige Treppe an der Felswand vor. Wer in diesem Land sollte eine solche Treppe bauen - und vor allem: warum? Solange und sooft er auch darüber nachdachte, es ergab einfach keinen Sinn. Es wurde wirklich Zeit, daß er Themistokles und seine Freunde wiedersah, um ihnen Fragen zu stellen. Sehr viele Fragen.

»Was ist mit dem Fisch, den du mir versprochen hast?« drang Bröckchens Stimme in Kims Gedanken. Kim drehte im Gehen den Kopf und sah etwas Orange-Rotes, Flauschiges neben sich durch das wadenhohe Gras wuseln. »Es wird bald dunkel. Und so blind wie du bist, fängst du nachts ganz bestimmt nichts.«

Kim kramte einen Moment in seiner Erinnerung, dann besann er sich, aus der Höhe auch einen Bach gesehen zu haben, der sich unweit der Felswand durch das Gras schlängelte. Er war nicht sehr weit entfernt gewesen, nicht einmal auf halbem Wege zu dem Hof, auf den er jetzt zuging.

»Gleich«, sagte Kim. »Da sollte irgendwo ein Bach sein. Wir müssen einfach nur geradeaus gehen.« Ohne anzuhalten, griff er in die Tasche, zog seine Angelschnur und den improvisierten Haken heraus und wickelte alles vorsichtig auseinander.

Tatsächlich erreichten sie wenig später den Bach, und wie am Morgen begann die Leine in den Händen zu zucken, kaum daß Kim ihr Ende ins Wasser geworfen hatte. Der Fisch, den er diesmal herauszog, war noch größer als der erste, und der Federwusch stürzte sich mit einem begeisterten Schnauben darauf, kaum daß Kim seinen Fang vom Haken gelöst hatte. Zwar schien Bröckchen bei Tage weitaus bessere Tischmanieren zu haben als bei Dunkelheit - aber sein Appetit war um keinen Deut geringer. Unter Kims verblüfften Blicken vertilgte er den Fisch, der sein eigenes Körpergewicht um ein Mehrfaches übertreffen mußte, binnen kurzem. Erst als er fast bei der Schwanzspitze angekommen war, hielt er inne, sah auf und blinzelte Kim schuldbewußt an. »Oh«, murmelte er. »Jetzt habe ich dir gar nichts übriggelassen. Ich ... ich hatte ganz vergessen, daß du auch etwas davon haben wolltest. Entschuldige bitte.«

Kim winkte großzügig ab. Der Anblick des weißen Fischfleisches hatte ihn daran erinnert, daß er seit zwei Tagen nichts gegessen hatte. Sein Magen knurrte mittlerweile so laut, daß er durchaus bereit gewesen wäre, auch rohen Fisch zu essen. Aber es war nicht mehr weit bis zu dem Haus, das er gesehen hatte. Dort würde er sicher etwas zu essen bekommen.

»Das macht nichts«, sagte er. »Iß dich ruhig satt. Ich ... bin nicht so hungrig.«

»Du bist wirklich ein schwacher Esser«, murmelte Bröckchen und verschlang auch noch die Schwanzspitze und die Gräten des Fisches. Dann rülpste er. Aber etwas zurückhaltender als letzte Nacht. Eigentlich war es nur ein kleines Bäuerchen. »Gehen wir weiter?« fragte er, während er sich genüßlich mit der Zunge über die Lippen leckte.

Kim stand auf, zögerte aber, den Bach zu durchwaten, obwohl er kaum zwei Meter breit und allerhöchstens einen halben tief war. »Ich glaube, ich finde den Weg von hier aus allein«, sagte er. »Du mußt nicht weiter mitkommen - wenn du nicht willst«, fügte er etwas hastig hinzu.

Bröckchen blickte ihn fast vorwurfsvoll an, dann drehte er sich um und sah zur Felswand zurück. Sie war bereits in Dunkelheit gehüllt und nur noch als gewaltiger Schatten zu erkennen, hinter dem die Welt einfach aufzuhören schien. »Die Treppe wieder hoch?« murmelte er schaudernd. »Und noch dazu bei Nacht?« Er schüttelte sich. »Ich glaube, ich bleibe noch eine Weile. Eigentlich ist es ganz nett hier.«

»Vielleicht findest du ja später einen leichteren Weg zurück nach Hause«, meinte Kim. Er fühlte sich ... sonderbar. Ja, er hatte angefangen, Sympathie für dies seltsame Wesen zu empfinden. Und es war ihm im Grunde gleichgültig, in welcher Gestalt es vor ihm saß.

»Vielleicht«, sagte Bröckchen. »Ich könnte dich ja noch ein Stück begleiten. Ich meine, nur um sicherzugehen, daß du auch wirklich an dein Ziel kommst.« Plötzlich kicherte er. »Vielleicht fängst du mir noch einen Fisch? Später, meine ich?«

Kim lachte. »Einverstanden. Und meine Angel schenke ich dir noch dazu. Vielleicht lernst du, damit umzugehen.« So brachen sie auf. Das Gelände, durch das sie marschierten, veränderte sich beständig - mal überquerten sie Wiesen voller bunter Wildblumen, mal kämpften sie sich mühsam ihren Weg durch stacheliges Unterholz oder tasteten sich halbblind durch kleine Waldstücke, in denen die Nacht bereits Einzug gehalten hatte. Dann wurde es endgültig dunkel, und als Kim sich das nächste Mal zu seinem Begleiter herumdrehte, da sah er statt eines orange-roten Federballes ein stacheliges Etwas hinter sich durch das Gras kriechen.

»Hör mal«, sagte er. »Wenn wir zu dem Gehöft kommen, dann wäre es vielleicht besser, wenn... ich meine ... du solltest vielleicht...«

»Ja?« erkundigte sich Bröckchen, als Kim vollends ins Stammeln geriet und schließlich abbrach.

Kim atmete hörbar ein. »Ich meine, es wäre vielleicht besser, wenn man dich nicht sieht«, sagte er. »Falls du verstehst, was ich meine.«

Bröckchen antwortete nicht darauf, aber nach einigen Augenblicken, in denen sie in unbehaglichem Schweigen nebeneinander hergegangen waren, sagte es deutlich hörbar: »Hunger.«

Kim blieb stehen. »Das ist doch nicht möglich«, antwortete er. »Du hast doch gerade erst einen Fisch verputzt, der -«

»Ich rede doch nicht von mir«, unterbrach ihn Bröckchen. »Ich meine den da!«

Die beiden letzten Worte hatte er schon geschrien, und als Kim herumfuhr und in den Wald hinter sich blickte, da schrie auch er vor Schrecken auf und riß unwillkürlich die Hände hoch.

Hinter ihnen erhob sich ein wahrhaft gigantischer Schatten. Zuallererst glaubte Kim, daß einer der Eisenmänner aus seiner Erstarrung erwacht und ihnen gefolgt wäre, aber dann erkannte er, daß der Umriß noch größer und wuchtiger war als diese und außerdem struppig. Das dumpfe Knurren, das eine Sekunde später an sein Ohr drang, wäre gar nicht mehr nötig gewesen, um ihn begreifen zu lassen, was da so plötzlich hinter ihnen aus der Dunkelheit aufgetaucht war.

Es war ein Bär!

Bröckchen kreischte und verschwand wie der Blitz im Unterholz. Darauf machte der Bär einen tolpatschig wirkenden Schritt und erhob sich mit einem wütenden Knurren auf die Hinterläufe. Kim sah, wie sich das Sternenlicht auf einem einzelnen, glitzernden Auge widerspiegelte.

Mit einem Entsetzensschrei prallte Kim zurück, als die gewaltige Bärentatze nach ihm schlug. Der Hieb verfehlte ihn, aber der bloße Luftzug riß ihn schon von den Füßen und ließ ihn ins Gras fallen. Rasch rollte er sich herum, warf schützend die Arme über den Kopf und sprang gleichzeitig wieder auf die Füße. Der Bär knurrte und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, daß Kim alle seine Rippen knacken hörte, und er wäre abermals gestürzt, hätte er sich nicht taumelnd an einen Baum festgeklammert.

Nicht für lange.

Er ließ seinen Halt sehr schnell wieder los, denn schon rissen die fürchterlichen Bärenkrallen fingertiefe Narben in die Baumrinde, und zwar genau dort, wo sich gerade noch Kims Gesicht befunden hatte.

Kim taumelte rückwärts gehend vor dem riesigen Schwarzbären davon, und das Tier folgte ihm, knurrend, mit ausgebreiteten Armen und seltsam wiegenden Schritten, die nicht halb so tolpatschig und langsam waren, wie sie aussahen.

Kims Fuß verfing sich. Er stolperte, kämpfte eine Sekunde lang mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht und torkelte rücklings zwischen den Bäumen hervor, ehe er der Länge nach hinschlug. Mit einem einzigen, gewaltigen Schritt holte ihn der Bär ein und riß das Maul auf. Fingerlange Zähne blitzten im Mondlicht wie kleine gekrümmte Dolche.

Da schoß plötzlich ein kleiner, stacheliger Ball aus der Dunkelheit heraus, landete im Nacken des Bären und fing an, diesen mit Zähnen, Krallen und Stacheln gleichzeitig zu bearbeiten. »Hunger!« brüllte Bröckchen. »Du bist zwar ein Riesenvieh, aber ich hab' auch einen Riesenhunger!« Der Bär brüllte vor Überraschung und Wut, richtete sich noch weiter auf und versuchte, den winzigen Stachelball in seinem Nacken mit den Pfoten zu erreichen. Es war klar, daß Bröckchen diesem gewaltigen Tier nicht gewachsen war - wahrscheinlich durchdrangen seine Krallen nicht einmal dessen dicken Pelz - aber der unerwartete Angriff hatte den Bären abgelenkt. Vielleicht fand Kim Zeit, davonzulaufen. Hastig sprang er auf die Füße, rannte ein paar Schritte weit und blieb wieder stehen. Der Bär versuchte noch immer, mit beiden Klauen seinen Nacken zu erreichen, wobei er so gewaltig brüllte, daß der ganze Wald zu zittern schien. Zornig trampelte er auf der Stelle herum. Jetzt, als Kim ihn deutlich im Mondlicht erkennen konnte, sah er, daß es wahrlich ein Untier war - größer als ein Grizzly und mindestens eine halbe Tonne schwer. Aber ...

Verblüfft drehte sich Kim vollends herum und sah genauer hin. Da, im gleichen Augenblick, in dem der zottige Riese sich endlich mit einem zornigen Schütteln des kleinen Quälgeistes auf seiner Schulter entledigt hatte, sah Kim, daß der Bär tatsächlich nur ein Auge hatte. Und ein Ohr fehlte auch. Bröckchen war in hohem Bogen ins Gebüsch geflogen, fuhr aber sofort wieder herum und raste mit gebleckten Zähnen auf seinen ungleichen Gegner zu. Dieser knurrte, beugte sich leicht vor und hob die rechte Tatze, um dem Winzling endgültig den Garaus zu machen. Kim schrie aus Leibeskräften: »Bröckchen! Hör auf!«

Das Tierchen verhielt tatsächlich mitten in der Bewegung und blickte verblüfft zu Kim hinüber, auch der Bär wandte den mächtigen Schädel und sah Kim aus seinem einzigen Auge an.

»Hör auf«, rief Kim noch einmal. »Er wird mir nichts tun. Und du, Kelhim«, fügte er lächelnd hinzu, »solltest dich schämen, uns so zu erschrecken. Hast du denn immer noch nicht gelernt, daß deine Art von Humor manchmal etwas derb ist?«

Lächelnd ging er auf den riesigen Bären zu, blieb vor ihm stehen und breitete die Hände aus, wie um ihn zu umarmen. Kelhim legte den Kopf auf die Seite und maß den Jungen mit einem langen, fast nachdenklichen Blick. Er rührte sich nicht, und für den Bruchteil einer Sekunde überkamen Kim nun doch Zweifel. Was, wenn er sich getäuscht hatte und wirklich einer wilden Bestie gegenüberstand, statt seines alten Freundes? Aber dann sah er noch einmal genau hin und erkannte, daß es tatsächlich Kelhim war. Kelhim, der sprechende Zauberbär, einst sein Gefährte im Kampf gegen Boraas' schwarze Horden und einer der besten Freunde, die er jemals gehabt hatte. Es gab gar keinen Zweifel.

»Du wirst wohl allmählich alt, wie?« fragte Kim spöttisch. »Vielleicht solltest du dir einmal etwas Neues einfallen lassen. Schon als wir uns das erste Mal gesehen haben, hast du so getan, als wolltest du mich auffressen.«

Bröckchen räusperte sich umständlich. »Entschuldige«, sagte es unsicher zu Kim. »Aber bist du sicher, daß du weißt, was du tust?«

»Ganz sicher«, antwortete Kim fest und trat noch näher an den riesigen Bären heran. Kelhim knurrte, hob die Tatze und senkte gleichzeitig den Kopf. Seine vernarbte Nase bewegte sich wie die eines schnüffelnden Hundes.

»Komm schon, alter Junge«, sagte Kim. »Sag was.«

Kelhim knurrte erneut, hob die Tatze noch ein wenig höher - und schlug zu.

Diesmal traf er.

Kim hatte plötzlich das Gefühl, von einem dahinrasenden Lastwagen gerammt zu werden. Der Hieb riß ihn von den Füßen und schleuderte ihn weit über die Lichtung, wobei er sich immer und immer wieder in der Luft überschlug. Daß er sich beim Aufprall nicht den Hals oder wenigstens einige Knochen brach, verdankte er einzig der Tatsache, daß er in einem Busch landete, der dem Sturz die ärgste Wucht nahm. Trotzdem blieb er benommen liegen und kämpfte sekundenlang gegen schwarze Bewußtlosigkeit, die seine Gedanken vernebeln wollte. Stöhnend wälzte er sich herum, wollte sich in die Höhe stemmen und sank mit einem Schmerzensschrei wieder zurück, als seine geprellte Schulter unter der Belastung einknickte. Schwarze und rote Schlieren tanzten vor seinen Augen. Wie ein verzerrtes Gespenst aus einem Alptraum sah Kim den Umriß des Bären auf sich zuwanken, noch immer auf die Hinterläufe erhoben und die Tatzen ausgestreckt. Ein tiefes, durch und durch böses Knurren drang an Kims Ohr.

»Kelhim«, stöhnte er. »Was ... was tust du da? Ich bin es -Kim!«

Da blieb der Bär für einen winzigen Moment stehen. Ein fast nachdenklicher Ausdruck erschien in seinem Auge, und für einen Augenblick glaubte Kim, so etwas wie Erkennen darin aufleuchten zu sehen. Aber dann erlosch es, und er blickte wieder in das Auge eines gierigen Raubtieres. »Kelhim!« keuchte Kim. »Nein!«

Der Bär brüllte, packte ihn mit einer Kralle, wobei er Kims Hemd und einen guten Teil der Haut darunter in Fetzen riß, und zerrte ihn in die Höhe. Das Maul klaffte auf, und stinkender, heißer Raubtieratem schlug Kim ins Gesicht. Ergeben schloß er die Augen und wartete auf den letzten, alles beendenden Schmerz.

Plötzlich ging ein heftiger Schlag durch den Leib des Bären, und Kim stürzte von hoch oben zum zweitenmal sehr unsanft auf den Boden herab.

Kelhim brüllte auf und wandte sich um. Dahinter konnte Kim nicht mehr als einen gewaltigen Schatten erkennen. Die gewaltigen Tatzen des Bären fuhren durch die Luft und trafen auf einen Widerstand, der unter den Hieben zu dröhnen begann wie eine Glocke.

Kim kroch hastig davon, richtete sich stöhnend auf und preßte die Arme gegen den Leib. Er bekam kaum noch Luft. Aus tränenerfüllten Augen sah er Kelhim an.

Der Bär rang verbissen mit jener schattenhaften Gestalt, die kaum weniger groß und massiv war als er. Immer wieder fuhren die gewaltigen Bärentatzen durch die Luft und trafen krachend den Körper des Gegners, aber der schien unverwundbar zu sein, denn er wankte nicht einmal unter den fürchterlichen Hieben. Dafür wurde Kelhim immer wieder getroffen - und er schien die Schläge sehr wohl zu spüren, denn sein Knurren klang jetzt immer schmerzerfüllter.

Schließlich geschah das Unfaßbare: Kim hätte niemals im Leben geglaubt, daß es jemanden gab, der dem gewaltigen Untier gewachsen war - aber am Ende war es Kelhim, der den Kampf verlor und sich Schritt für Schritt vor dem unbekannten Angreifer zurückzog!

Kim schwindelte. In seiner Schulter erwachte ein pochender Schmerz, und gleichzeitig machte sich ein Gefühl betäubender Lähmung in seiner ganzen linken Körperhälfte breit. Mit spitzen Fingern tastete er nach seiner Schulter, dort, wo ihn die Bärenpranke getroffen hatte. Er wimmerte vor Schmerz. Die Wunde selbst war nicht sehr tief und blutete noch nicht einmal heftig, aber Kim fürchtete, daß der Arm gebrochen war.

»Laß das, du Dummkopf!« sagte da eine Stimme hinter ihm. »Leg dich hin. Ich kümmere mich um deinen Arm.« Kim gehorchte - schon weil er sich einfach zu schwach fühlte, um noch einen weiteren Schrecken zu empfinden. Stöhnend ließ er sich zurücksinken, schloß die Augen und keuchte erneut vor Schmerz, als sich geschickte, aber nicht sehr sanfte Finger an seinem Arm zu schaffen machten.

»Das sieht nicht gut aus«, fuhr die Stimme fort. Sie kam Kim irgendwie bekannt vor, aber er wußte beim besten Willen nicht, woher. »Der Arm scheint nicht gebrochen zu sein, aber du wirst den größten blauen Fleck deines Lebens davontragen. Du mußt völlig verrückt sein, nachts und allein in dieser Gegend herumzulaufen, Junge.«

Kim öffnete endlich die Augen und blickte in ein bärtiges, sehr gutmütig aussehendes Gesicht. Wieder schien ihm, als sei es ihm irgendwann vertraut gewesen. Auch der Mann blickte Kim aufmerksam an.

»Glaubst du, daß du aufstehen und gehen kannst?« fragte er schließlich. »Mein Haus ist nicht sehr weit. Flier im Wald kannst du nicht bleiben. Brokk hat das Untier verjagt, aber es wird zurückkommen.«

»Kelhim ...«, stöhnte Kim. »Das war ... Kelhim.«

»Natürlich war das Kelhim«, sagte der Bärtige kopfschüttelnd. »Jeder hier weiß das. Allerdings sehen ihn die wenigsten von so nahe wie du und haben hinterher noch Gelegenheit, davon zu erzählen.«

»Aber wieso ... hat er mich angegriffen?« stöhnte Kim. Der Mann riß ungläubig die Augen auf. »Wieso er dich angegriffen hat, du törichter Kerl?« schnaufte er. »Jedermann weiß, daß Kelhim das schlimmste und gefährlichste Raubtier diesseits der Berge ist, und da fragst du, wieso er dich angegriffen hat? Woher kommst du? Vom -«

Und plötzlich brach er ab. Seine Augen quollen vor Unglauben schier aus den Höhlen, und sein Unterkiefer klappte herunter. »Kim?« flüsterte er. »Bist du ...« Er keuchte, starrte Kim eine weitere Sekunde lang fassungslos an - und fiel dann mit einer plötzlichen Bewegung vor ihm auf die Knie.

»Ihr seid Kim!« rief er aus. »Ihr seid es. Der Retter von Märchenmond.«

Und im gleichen Moment erkannte auch Kim ihn. »Brobing?« murmelte er. »Seid Ihr ... Brobing?«

Es war ihm unangenehm, daß der Mann vor ihm auf den Knien lag, und so streckte Kim trotz der großen Schmerzen den Arm aus und zupfte Brobing an der Schulter, damit er aufstand. Der Mann hob den Kopf, erhob sich aber nicht ganz.

»Ihr seid es!« stammelte er freudestrahlend. »Ihr seid zurückgekommen!«

Jetzt konnte auch Kim sich erinnern. Brobing war der Bauer, den er bei seinem ersten Besuch in Märchenmond zusammen mit Gorg, Rangarig, Prinz Priwinn - und Kelhim! - das Leben gerettet hatte. Damals, als Brobings Hof von einer Abteilung schwarzer Reiter angegriffen wurde. Daß Kim nun gerade auf ihn gestoßen war, mußte doch mehr als ein Zufall sein.

»Ihr seid zurückgekommen«, sagte Brobing noch einmal. »Oh, Ihr seid wieder da. Jetzt wird alles gut. Ich wußte, daß Ihr eines Tages erscheinen würdet. Wir alle wußten es!« Er machte Anstalten, sich schon wieder vor dem Jungen niederzuwerfen, aber diesmal hielt Kim ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte er. »Was ... was geht hier vor? Was tut Ihr hier, und wieso ... wieso hat Kelhim mich angegriffen?«

Brobings Gesicht verdüsterte sich. »Er ist ein wildes Tier geworden, Herr«, sagte er. »Und das ist nicht alles, was geschehen ist. Schlimme Dinge gehen in Märchenmond vor.« Er schien noch mehr sagen zu wollen, besann sich dann aber eines anderen und gab sich einen sichtbaren Ruck. »Aber das erzähle ich Euch alles später. Jetzt bringe ich Euch erst einmal ins Haus, damit wir uns um Euren Arm kümmern können. Versucht nicht, aufzustehen. Brokk kann Euch tragen.« Er wandte den Kopf und rief in die Dunkelheit hinein. »Brokk!«

Eine Gestalt trat aus der Nacht auf sie zu, und Kim fuhr mit einem erschrockenen Laut hoch.

Es war der riesige Schatten, der gegen Kelhim gekämpft und ihn schließlich besiegt hatte. Er war mehr als zwei Meter groß und so breitschultrig, daß er fast mißgestaltet wirkte. Sein Gesicht war eine flache, ausdruckslose Maske mit einem dünnen Schlitz als Auge, hinter dem ein unheimliches grünes Licht loderte, und sein Körper bestand ganz aus Eisen. Seine rechte Hand war wie die eines Menschen geformt, nur größer, während die linke eher einer Baggerschaufel ähnelte.

Vor ihnen stand einer der eisernen Riesen, wie Kim und Bröckchen sie am Fuße der Treppe gefunden hatten. »Brobing!« keuchte Kim entsetzt. »Paß auf!«

Brobing wandte den Blick, sah zuerst den Eisenmann und dann mit leichtem Staunen Kim an.

»Ihr müßt nicht erschrecken, Herr«, lächelte er. »Das ist nur Brokk. Ein guter Freund.«

Der Weg zum Haus des Bauern war weiter, als es nach Brobings Worten geklungen hatte. Tapfer hatte Kim versucht, aufzustehen und aus eigener Kraft zu gehen, aber dieser Versuch war kläglich gescheitert: nicht wegen der Schmerzen, sondern weil seine ganze linke Körperhälfte einfach taub war, und sowohl der Arm als auch das Bein versagten Kim den Dienst. So hatte er es zugelassen, daß Brokk ihn trug, obwohl ihm schon die bloße Berührung des Eisenmannes unangenehm war. Brobing schien das zu spüren, denn obwohl Kim keinerlei Bemerkung gemacht hatte, versuchte der Bauer selbst zuerst, Kim zu tragen. Aber es wurde ihm bald beschwerlich; Brobing war gewiß kein Schwächling, aber Kim war ein für sein Alter hochgewachsener Junge, und der Weg war weit. Brokk hingegen schien Kims Gewicht nicht einmal zu spüren. Und er trug ihn angesichts seines kantigen harten Äußeren mit erstaunlicher Behutsamkeit. Nur sein ruckhafter, abgehackter Gang führte bald dazu, daß Kim auch noch übel wurde. Gottlob erreichten sie Brobings Hof, ehe es wirklich schlimm wurde.

Es war ein einfaches, aber weitläufiges, weißes Gebäude mit zwei Stockwerken und einem fast bis auf die Erde reichenden, strohgedeckten Dach. Dahinter, in der Nacht nur undeutlich zu erkennen, erhoben sich die Stallungen und Scheunen, und über den klirrenden Schritten des Eisenmannes hörte Kim die Geräusche von Kühen und Schweinen, dann das Gekläff eines Hundes, der ihnen knurrend entgegengesprungen kam. Als er die Ankömmlinge erkannte, wandelte sich sein Bellen in ein erfreutes Winseln und Schwanzwedeln. Offensichtlich hatte Brobing, der damals Haus und Hof verloren hatte, sich ein neues, schönes Zuhause geschaffen. Und ein sehr viel größeres dazu. Als Kim ihn darauf ansprach, nickte der Bauer stolz: »Es hat sich viel geändert, seit Ihr fortgegangen seid, junger Herr. Es geht uns jetzt sehr viel besser - wenigstens in mancher Beziehung.«

Kim kam nicht dazu, den Bauern zu fragen, was er mit diesen rätselhaften Worten meinte, denn auf das Gebell des Hundes hin war im Haus eine Tür aufgegangen, und plötzlich hörte er einen spitzen Schrei. Eine Gestalt, die er nach wenigen Augenblicken als Brobings Frau wiedererkannte, rannte mit wehenden Haaren auf sie zu. »Torum!« rief sie. »Hast du -«

Jäh blieb sie stehen, blickte zuerst Kim, dann ihren Mann und dann wieder Kim an, der noch immer hilflos in den Armen des Eisenmannes lag, und etwas in ihrem Gesicht veränderte sich. Kim hatte eine wilde, fast verzweifelte Hoffnung in ihren Augen gesehen, als sie herangestürmt gekommen war. Jetzt erlosch diese Hoffnung und machte einem Ausdruck tiefer Enttäuschung und Trauer Platz. »Jara!« rief Brobing. »Schau, wen wir gefunden haben! Erinnerst du dich nicht?«

Die Frau sah erneut Kim an, und er las in ihrem Blick, daß sie ihn sehr wohl erkannt hatte, sogar schneller als ihr Mann vorhin. Aber Kim las keine Wiedersehensfreude in ihren Augen. Nur diese tiefe, qualvolle Enttäuschung, die er sich nicht erklären konnte.

»Das ist Kim!« sagte Brobing aufgeregt. »Brokk hatte recht, als er glaubte, den Bären zu hören! Wir kamen gerade noch zurecht, um Kim vor Kelhim zu retten. Der Bär hätte ihn getötet. Aber so ist er mit dem Schrecken davongekommen.«

»Das ... ist gut.« Jara versuchte, Kim anzulächeln, aber er sah dabei Tränen in ihren Augen schimmern. »Seid Ihr verletzt, Herr?«

»Nur ein Kratzer«, meinte Kim.

»Er hat einen ziemlichen Hieb abbekommen«, stellte Brobing die Dinge richtig. »Geh ins Haus und bereite Wasser und frische Tücher vor, damit wir seine Schulter kühlen können. Und sei ein wenig freundlicher zu unserem Gast. Du tust ja gerade so, als würdest du dich überhaupt nicht freuen, ihn wiederzusehen.«

»Doch«, erwiderte Jara hastig. »Es ist nur ...« Sie suchte einen Moment nach Worten, und wieder sah Kim, wie schwer es ihr fiel, die Tränen zurückzuhalten. »Als ich dich sah und Brokk, der einen Jungen auf den Armen trug, da dachte ich im ersten Moment, es wäre ...«

Ihre Kräfte versagten endgültig. Sie brach mit einem kleinen, schluchzenden Laut ab, fuhr auf der Stelle herum und rannte fast so schnell ins Haus zurück, wie sie herausgekommen war.

Brobing blickte ihr einen Moment lang kopfschüttelnd nach, ehe er sich mit einem entschuldigenden Lächeln wieder an Kim wandte. »Ihr müßt verzeihen, Herr«, sagte er. »Aber meine Frau weint um Torum, unseren Sohn. Er ... verschwand vor einem halben Jahr. Sie muß geglaubt haben, daß er es ist, den wir gefunden haben.«

»Verschwand?« Kim horchte auf. »Was meinst du damit?«

»Er ist fort«, antwortete Brobing traurig. »Wie so viele. Er war fast in Eurem Alter, wißt Ihr. Er sah Euch sogar ein bißchen ähnlich.« Er seufzte tief, gab sich einen sichtbaren Ruck und fuhr sich verstohlen mit dem Handrücken über die Augen, ehe er in verändertem Ton fortfuhr: »Aber gehen wir doch ins Haus. Drinnen redet es sich besser. Und ich kann mir vorstellen, daß Ihr auch hungrig und durstig seid. Ihr seht jedenfalls so aus, als wärt Ihr es.«

Kim widersprach nicht. Sein knurrender Magen war zwar im Moment das, was ihn am wenigsten interessierte, aber er begriff sehr wohl, daß Brobing auf seine Art ebenso litt wie Jara und es ihm schwerfiel, darüber zu sprechen. Brokk trug Kim ins Haus, wobei er sich bücken mußte, um mit seinem gewaltigen eisernen Schädel nicht gegen den Türsturz zu prallen. Die hölzernen Dielen knarrten unter seinem Gewicht, und er war so breitschultrig, daß es Kim nicht weiter verwundert hätte, wäre er einfach wie ein Korken im Flaschenhals im Türrahmen steckengeblieben. Aber der Eisenmann wand sich geschickt durch die Tür hindurch, trug Kirn zu einer hölzernen Bank und setzte ihn behutsam ab.

Kim atmete hörbar auf, als sich die eisernen Klauen zurückzogen. Brokk genoß sichtlich Brobings uneingeschränktes Vertrauen, und er hatte Kim zweifellos das Leben gerettet. Ja, auch wenn Kim es nicht verstand - Kelhim hätte ihn getötet, wären Brobing und sein schauriger Begleiter nicht im letzten Moment aufgetaucht.

Der Bauer schien Kims Unbehagen zu spüren, denn er sah erst Kim und dann den Eisenmann stirnrunzelnd an, ehe er auf die Tür deutete und sagte: »Geh hinaus, Brokk. Halte Wache. Der Bär war ziemlich nahe am Haus. Ich möchte nicht, daß er uns im Schlaf überrascht.«

Wortlos und gehorsam wandte sich der rostrote Riese um und stampfte aus dem Raum. Das ganze Haus schien unter seinen Tritten zu wanken.

»Ich fand ihn auch unheimlich, als ich ihn das erste Mal sah«, meinte Brobing lächelnd, nachdem Brokk draußen war. »Aber Ihr müßt keine Angst vor ihm haben. Er kann niemandem etwas tun; nicht einmal, wenn er es wollte. Und er ist sehr nützlich.« Der Mann sah Kim an, als erwarte er an diesem Punkt, daß Kim eine ganz bestimmte Frage stellte. Aber Kim schwieg. Er war froh, daß Brokk gegangen war, und wollte ganz bestimmt nicht über ihn reden. Es gab Wichtigeres zu besprechen. Kim brannten tausend Fragen auf der Zunge, und er las auf Brobings Gesicht, daß es dem Bauern ebenso erging.

Bevor er jedoch dazu kam, auch nur eine einzige dieser Fragen zu stellen, kamen die Bäuerin Jara und zwei Dienstmägde herein, hoch beladen mit Schüsseln voller dampfendem Wasser und sauberen weißen Tüchern. Und sie gingen zuerst einmal daran, sich gründlich um Kims geprellte Schulter und all die anderen kleinen Kratzer und Schrammen zu kümmern, die er sich während seiner Wanderung durch das Sumpf land zugezogen hatte.

Kim war dieser Aufwand peinlich, und doch genoß er es insgeheim, daß sich jemand um ihn sorgte. Seine Schulter wurde mit einem wohlriechenden Öl eingerieben und dann so fest verbunden, daß die Verbände erst mehr schmerzten als die Prellung. Auch all die anderen kleinen Verletzungen wurden versorgt. Als die Behandlung endlich fertig war, fühlte sich Kim merklich wohler als zuvor. Schließlich brachte Jara noch frische Kleider: ein kurzes, ärmelloses Hemd aus seidenweichem Leder, das lose über dem Gürtel getragen wurde, Hosen aus dem gleichen Material, nur widerstandsfähiger, und wadenhohe, weiche Stiefel, die so perfekt paßten, als wären sie für Kim gemacht. All dies erinnerte ihn an den jungen Steppenreiter - und damit an den eigentlichen Grund, aus dem er überhaupt hier war.

»Gefallen Euch die Kleider nicht?« fragte Jara, die seinen Blick bemerkte, aber offensichtlich falsch gedeutet hatte. »Sie passen doch, oder?«

»Wie angegossen«, versicherte Kim. »Und sie sind wirklich sehr schön.« Wieder sah er diese Trauer in Jaras Gesicht.

»Haben sie Eurem Sohn gehört?« fragte er leise. Jara nickte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber diesmal wandte sie sich nicht ab, sondern sah Kim weiter an und antwortete: »Ja. Ich selbst habe sie ihm genäht, im letzten Winter. Er war ... fast so groß wie Ihr, als er verschwand.«

»Wann war das?« fragte Kim.

»Vor einem halben Jahr, Herr.« Jara begann, die Tücher und Schüsseln und Kims zerfetzte Hose und Pullover wegzuräumen, während eine der Mägde bereits Teller und Besteck für das Essen auftrug. Es war zubereitet worden, während die Bäuerin sich um Kim gekümmert hatte. »Er ging... zur Nordweide, um nach den Tieren zu sehen. Das war seine Aufgabe, und er erfüllte sie gerne.«

»Und was ist geschehen?« erkundigte sich Kim.

»Das weiß ich nicht«, flüsterte Jara. Ihre Tränen versiegten so rasch, wie sie gekommen waren, aber ihr Blick blieb leer, wie auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet. »Er kam eines Abends einfach nicht zurück. Wir haben ihn überall gesucht, wochenlang. Mein Mann und Brokk waren sogar in Kelhims Höhle -«

Kim sah aus den Augenwinkeln, wie Brobing seiner Frau einen erschrockenen Blick zuwarf, aber seine Frau reagierte gar nicht darauf, sondern fuhr mit tonloser Stimme fort: »- weil sie dachten, der Bär hätte unseren Jungen vielleicht geholt.«

»Kelhim?« Kim konnte es immer noch nicht glauben. »Er hat viele von uns getötet, Kim«, meinte Brobing ernst. »Ich sagte Euch schon - er ist ein wildes Tier geworden.« Auch er seufzte, und sein Gesicht verdunkelte sich, als ihn die Erinnerung übermannte. »Wir fanden viele Tote, aber Torum war nicht dabei. Ich glaube nicht, daß Kelhim unseren Sohn geholt hat. Glaubte ich das, dann wäre dieser verdammte Bär schon tot, und wenn es das letzte wäre, was ich in meinem Leben tue.«

Seine Worte - und vor allem der Ton, in dem er sie aussprach - ließen Kim schaudern. Rache? dachte er verwirrt. Das ... das war ein Wort, das nicht hierher in diese Welt paßte. Aber er sagte nichts, sondern wartete geduldig, bis Brobing sich wieder soweit in der Gewalt hatte, daß er weitersprechen konnte.

»Torum ist nicht der erste, der auf diese Weise verschwand, Herr.«

»Ich dachte es mir«, murmelte Kim.

Brobing sah überrascht auf, und auch seine Frau blickte Kim erschrocken an. Kim hätte sich am liebsten selbst auf die Zunge gebissen, aber es war zu spät, die Worte zurückzunehmen.

»Ihr wißt davon?« flüsterte Brobing. Eine wilde Hoffnung flammte in seinen Augen auf.

»Ich glaube, das ist der Grund, aus dem ich hier bin«, sagte Kim vorsichtig.

»Dann habt Ihr vielleicht von Torum gehört?« fragte Jara. »Wißt Ihr, wie es ihm geht? Wo er ist?«

Kim hätte gerne geantwortet und ihr gesagt, daß es ihm gut ginge und sie sich keine Sorgen zu machen brauchten - aber er konnte es nicht. Märchenmond war kein Land, in dem eine Lüge lange Bestand hatte, nicht einmal aus Barmherzigkeit. Und es wäre eine Lüge gewesen. Er wußte nicht, wo Torum war - der Junge im Krankenhaus hat das Wappen Caivallons getragen und war bestimmt nicht Jaras Sohn. Auch hatte Kim die Worte des Professors nicht vergessen: Sie werden vielleicht sterben, wenn wir nicht herausbekommen, was ihnen fehlt, Kim.

»Nein«, antwortete er traurig. »Ich habe Euren Sohn nicht gesehen.«

Jara blickte ihn einen Moment lang traurig an, dann lächelte sie, aber während sie es tat, begannen wieder Tränen über ihr Gesicht zu laufen, und nach einer Welle stand sie auf und verließ das Zimmer.

Kim schwieg bekümmert.

Auch auf Brobings Gesicht hatte sich Schmerz ausgebreitet. »Sie war früher ein so fröhlicher Mensch«, sagte er. »Ihr habt sie gekannt. Aber seit Torum verschwunden ist, lacht Jara nicht mehr. Manchmal habe ich Angst, daß ihr das Herz bricht und ich sie auch noch verliere.«

»Ich glaube, daß Torum noch lebt«, sagte Kim jetzt, um den Mann zu trösten. Er war nahe daran, Brobing zu erzählen, was er wußte, aber er tat es nicht. Es hätte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.

»Habt Ihr vergessen, daß wir nicht um unsere Toten trauern?« fragte Brobing. »Denn wir bewahren sie in unseren Herzen auf, und sie leben in uns und unserer Erinnerung weiter. Doch jemand, der einfach verschwindet - das ist etwas anderes. Niemand weiß, was mit Torum und den anderen geschehen ist. Ob sie noch leben, oder wo sie sind. Ob man sie gefangenhält, ob sie Sklaven sind oder freie Menschen...«

Er sprach nicht weiter, aber das war auch nicht nötig, denn Kim hatte sehr wohl begriffen, was er meinte. Es war nicht nur der Schmerz über den Verlust ihres Sohnes, der ihm und seiner Frau das Herz brach - es war die Ungewißheit, was mit ihm geschehen war. Gab es etwas Schlimmeres, als hilflos dazusitzen und sich alle möglichen Schrecknisse vorzustellen, die einem geliebten Menschen widerfahren konnten?

»Wie viele sind es, die verschwunden sind?« fragte er. Brobing blickte ernst. »Sehr viele«, bestätigte er. »Sie gehen einfach weg und kommen nicht wieder. Oder sie legen sich zum Schlaf nieder und sind nicht mehr da, wenn die Sonne aufgeht. Niemand weiß, was mit ihnen geschieht. Und es werden immer mehr. Manche sagen, daß bald alle Kinder verschwunden sein werden.«

»Aber es muß doch eine Erklärung dafür geben«, beharrte Kim.

Brobing sah ihn an und schwieg. Und plötzlich begriff Kim, daß er selbst es war, von dem man hier eine Antwort auf diese Frage erwartet hatte, und nicht umgekehrt.

»Wann hat es angefangen«, fragte er, »und wo?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Brobing. »Wir leben hier weit von den Städten und Burgen entfernt, Herr. Nachrichten dringen nur spärlich zu uns, und langsam. Doch ich habe erfahren, daß überall im Lande Kinder zu verschwinden beginnen.«

»Und niemand tut etwas dagegen?« fragte Kim zweifelnd.

»Aber was sollte man denn tun?« erwiderte Brobing traurig. »Oh, natürlich hat man sie gesucht - lange und überall. Themistokles hat all seine Zauberkraft aufgeboten, sie aufzuspüren, und andere Zauberer haben ihm geholfen. Aber es war zwecklos. Sie haben das ganze Land abgesucht, und ich habe gehört, daß Rangarig, der goldene Drache, über ganz Märchenmond bis hin zu den brennenden Ebenen geflogen ist, um eine Spur von den Kindern zu finden. Sie sind nicht entführt worden, wenn es das ist, was Ihr glaubt. Niemand hätte einen Zauberer wie Themistokles täuschen können. Sie sind einfach ...« Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus, »... fort.«

Kim blickte lange und sehr düster an Brobing vorbei ins Leere. Und für einen Moment glaubte er die Antwort auf alle Fragen zu wissen. Aber der Gedanke entglitt ihm so rasch, wie er gekommen war.

»Und das ist nicht alles, was geschehen ist, nicht wahr?« fragte er leise. Er hatte die Worte des Bauern nicht vergessen. Brobing seufzte. »Nein. Aber ich kann Euch nicht sagen, was es ist, Herr. Etwas ... geschieht. Alle merken es, aber niemand weiß, was es ist.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Die Menschen verändern sich, Kim«, erklärte Brobing. »Sie lachen weniger. Viele sind hart und verbittert geworden. Es gibt Streit, und im letzten Jahr berichtete ein Reisender, daß ein Krieg ausgebrochen wäre.«

»Krieg?« entfuhr es Kim ungläubig. »Krieg in Märchenmond?!«

Brobing hob besänftigend die Hand. »Kein großer Krieg, wie damals, gegen den bösen Zauberer Boraas und seine schwarzen Reiter«, sagte er. »Aber es gab Gefechte - ich weiß nicht, warum - zwischen den Steppenreitern von Caivallon und dem Herrn des Sumpflandes im Osten, dem Tümpelkönig. Viele wurden verletzt, einige sogar getötet. Hätte Themistokles nicht schlichtend eingegriffen, wäre es -wohl noch viel schlimmer gekommen.«

Es fiel Kim schwer, das zu glauben. Er kannte den Herrn von Caivallon, und er kannte erst recht den Herrn der östlichen Sümpfe: Der Tümpelkönig war alles mögliche - aber ein Mann des Krieges war er nicht!

»Es ist als ... als würden wir etwas verlieren«, murmelte Brobing hilflos. »Und wir wissen nicht einmal, was.« Kim dachte plötzlich an das Bild zurück, das er kurz vor Sonnenuntergang gesehen hatte: den erstarrten Eisenmann, der am Fuße der Leiter stand und die Hand über das Land ausstreckte, als wolle er es an sich reißen.

»Sind es ... die Eisernen?« fragte er. .

Brobing schien ehrlich überrascht. »Die Eisernen?« Er schüttelte den Kopf und hätte beinahe gelacht. »Oh nein, Herr, da täuscht Ihr Euch. Sie sind unsere Freunde und Diener. Ohne sie wäre alles noch viel schlimmer, glaubt mir.«

»Als ich das erste Mal hier war«, antwortete Kim, »verschwanden keine Kinder. Und es gab noch keine Eisenmänner.«

»Es ist leicht, einen Sündenbock zu finden«, erwiderte Brobing, »aber nicht richtig.«

Noch bevor Kim antworten konnte, schoß ein dumpfer Schmerz durch seinen bandagierten Arm, und er preßte mit einem Stöhnen die Zähne zusammen.

»Ist es schlimm?« Brobing sah ihn besorgt an.

Kim schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Wimmern. »Nein«, sagte er gepreßt. »Oh verdammt - ich verstehe einfach nicht, was in Kelhim gefahren ist.«

»Ich sagte Euch bereits - er ist zum wilden Tier geworden.«

»Es fällt mir so schwer, das zu glauben«, antwortete Kim. »Auch, wenn ich es am eigenen Leib gespürt habe. Er hat... viele getötet, sagst du?«

»So ist es«, bestätigte Brobing traurig. »Er ist ein Raubtier. Manche Bauern sind weggezogen, aus Furcht vor ihm. Hätten wir Brokk nicht, dann wären auch wir längst geflohen, denn unser Hof liegt sehr nahe bei seiner Höhle. Wüßten unsere Nachbarn, wie nahe sie ist, wären sie längst dorthin gegangen, um Kelhim zu erschlagen. Seit langem versuchen sie, ihn zu stellen, aber in den Wäldern, außerhalb der Höhle, ist er ihnen überlegen, ganz egal, wie viele sie sind.«

Kim dachte an den raschen, erschrockenen Blick zurück, den Brobing vorhin seiner Frau zugeworfen hatte. »Ihr wißt, wo seine Höhle ist, und habt es ihnen nicht gesagt?« vergewisserte er sich.

Brobing schüttelte den Kopf. »Ich müßte es tun, ich weiß«, sagte er schuldbewußt, »aber ich kann es nicht. Einst hat er zusammen mit Euch und Euren Freunden unser aller Leben gerettet. Ich kann ihn jetzt nicht ausliefern, auch wenn er gefährlich ist.«

»Das verstehe ich nicht.« Kim konnte es nicht fassen. »Kelhim ein blutrünstiges Ungeheuer! Wie ist das gekommen?«

»Auch das gehört zu den Veränderungen, von denen ich sprach, Herr«, antwortete Brobing. »Die Tiere beginnen das Sprechen zu verlernen, viele werden gefährlich. Die Wälder sind nicht mehr sicher. Niemand geht noch nach Dunkelwerden und ohne Waffen aus dem Haus.«

Was hatte Brobing im Wald gesagt: Es gehen schlimme Dinge im Land vor? Kim fröstelte.

»Ich werde herausfinden, was hier geschehen ist, Brobing«, versprach er. »Gleich morgen früh werde ich nach Gorywynn aufbrechen, um Themistokles zu finden.«

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