VIII

Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, fand sie Kim auf Sternenstaubs Rücken sitzend - Ewigkeiten, wie es schien, von jener furchtbaren Lichtung im Wald entfernt, unter der er seinen Freund wiedergefunden und für immer verloren hatte. Es war schlimmer gewesen als alles, was Kim sich hätte vorstellen können.

Er war sehr müde - und so niedergeschlagen, wie kaum jemals zuvor in seinem Leben. Stunden hatte er weit vorgebeugt in Sternenstaubs Sattel gesessen und den Hengst einfach traben lassen; Kims Hände hatten die Zügel nur umklammert, um sich daran festzuhalten, nicht um das Tier in eine bestimmte Richtung zu lenken. Und dabei waren ihm die Tränen über das Gesicht gelaufen, bis seine Augen schließlich leer und trocken waren und nur noch brannten. Er erinnerte sich kaum, wie er hierhergekommen war - geschweige denn, wo er hier sein mochte. Vor Kim breitete sich ein sanft gewelltes Grasland im ersten Licht des Morgens aus, und nicht mehr sehr weit entfernt erkannte er den Schatten einer gewaltigen Felswand, die fast die Hälfte des Horizonts zur Rechten einnahm. Das Licht war von einer sonderbaren, grünlichen Farbe, die Kim sich nicht erklären konnte - und um die er sich auch nicht kümmerte. Er erinnerte sich nicht einmal, die Felswand von weitem gesehen zu haben, obwohl sie massiv und hoch genug war, so daß man sie selbst bei Nacht nicht übersehen konnte.

Er fühlte sich leer und niedergeschlagen, und alles, was Kim empfand, war Schmerz und Trauer über den Verlust seines Freundes. Erst jetzt spürte er, wie viel ihm Kelhim wirklich bedeutet hatte. Es war, als müsse man einen Freund erst verlieren, um zu begreifen, wie wertvoll er einem gewesen war.

»Dort vorne ist ein See«, piepste eine Stimme vor ihm. Kim riß sich mühsam zusammen, fuhr sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen und blickte auf das orange-rote Federbüschel herunter, das jetzt schön wie der Tag vor ihm auf Sternenstaubs Mähne saß.

»Du bekommst deinen Fisch, keine Sorge«, sagte Kim matt. Bröckchen blickte ihn aus seinen großen Rehaugen nachdenklich an und machte eine Bewegung, als wolle er ein menschliches Kopfschütteln nachahmen. »Ich meine nicht den Fisch - ausnahmsweise«, sagte es. »Dein Pferd braucht eine Rast - von dir ganz abgesehen.«

Kim wollte widersprechen, aber dann erschien ihm das viel 7U mühsam. Er seufzte nur, griff zum erstenmal seit dem vergangenen Abend nach Sternenstaubs Zügeln, um seine Richtung zu ändern, und bemerkte erst jetzt, daß der Hengst schon von selbst den bisherigen Pfad verlassen hatte und geradewegs auf das Blitzen von Silber im hohen Gras zustrebte. Offensichtlich war er durstig.

Der See war nicht besonders groß. Er lag in einer natürlichen, kreisrunden Senke, wie Wasser, das sich am Grunde eines erloschenen Vulkans angesammelt hatte. Aber es war kein Vulkankrater - im Gegenteil. Kim hatte niemals etwas Prachtvolleres gesehen. So weit er auch blickte, war das Seeufer von wunderbaren Blumen in allen nur vorstellbaren Farben und Formen gesäumt. Da gab es Rosen, Hyazinthen, Narzissen, Nelken, Tulpen und hundert andere Arten, deren Namen Kim nicht wußte und die er noch nie zuvor im Leben gesehen hatte, in Farben, als wäre ein Regenbogen vom Himmel gestürzt und hier erstarrt. Sie wuchsen in dichten Kreisen um den See herum, einige so nahe am Wasser, als beugten sie sich vor, um zu trinken. Kim brauchte eine ganze Weile, bis er eine Stelle fand, an der er Sternenstaub ans Wasser heranführen konnte, ohne die herrlichen Blüten dabei niederzutrampeln.

Während Sternenstaubs Kopf sich durstig zum Wasser senkte, kletterte Kim steifbeinig von seinem Rücken. Er konnte sich kaum bewegen. Erst jetzt spürte er allmählich, daß er viele Stunden ununterbrochen im Sattel gesessen haben mußte.

Verwirrt sah er sich um. Obwohl er noch immer traurig war, konnte er sich der Schönheit dieses Sees nicht entziehen. Es war, als hätte jemand alle nur vorstellbare Blumenpracht einer ganzen Welt herbeigeschafft, nur um diesen See zu schmücken. Das einzig Sonderbare war, daß nicht eine dieser prachtvollen Blumen duftete. Alles, was Kim roch, war der Morgentau und das Gras, durch das sie geritten waren. Er wartete, bis das Pferd genug hatte und sich davonmachte, um nun einige Schritte abseits am frischen Gras seinen Hunger zu stillen. Auch der Hengst trat dabei sehr vorsichtig auf und knickte nicht einen Blumenstengel, während er sich seinen Weg durch das Blütenmeer bahnte.

Ein lautstarkes Schlürfen und Schmatzen ließ Kim den Blick senken. Direkt zwischen seinen Füßen hockte ein buntes Federbündel und gab sich redliche Mühe, den ganzen See leerzutrinken. Kim geduldete sich, bis auch Bröckchen endlich seinen Durst gelöscht hatte, dann ließ er sich auf die Knie nieder und trank endlich selbst. Das Wasser war eiskalt- und es schmeckte köstlicher als alles, was er zuvor getrunken hatte.

Seltsam.

Es dauerte einen Moment, bis Kim begriffen hatte, was er sah. Es war sein vertrautes Spiegelbild, das er mit den Lippen zu berühren schien, während er trank. Natürlich, es war sein Gesicht. Und doch wieder nicht. Etwas daran war...

Nein - er konnte es nicht in Worte fassen. Es schien, daß an diesem sonderbar verwandelten Spiegelbild nichts Böses oder Gefährliches war; ganz im Gegenteil. Kim mußte sich beherrschen, um nicht unentwegt hinzusehen. So verrückt es ihm vorkam - sein Gesicht war so schön, daß er den Blick nicht abwenden konnte.

Mit Macht riß er sich davon los und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen am Ufer nieder. Plötzlich spürte Kim wieder, wie müde er war. Sein Rücken schmerzte, und seine Glieder schienen Zentner zu wiegen. Wie gerne hätte er sich in dem Teppich aus Blumen ausgestreckt und die Augen geschlossen, um zu schlafen.

Aber das durfte er nicht. Eigentlich hätte er nicht einmal diese Rast einlegen dürfen, das wurde ihm plötzlich schmerzhaft bewußt. Ganz ohne Zweifel suchten Jarrn und sein eiserner Gefährte bereits wieder nach ihm - und wenn Kim daran dachte, wie rasch sie ihn in Kelhims Höhle aufgespürt hatten, dann war wohl Brokk gar nicht so langsam, wie er gedacht hatte.

Nicht zum erstenmal, seit sie den Wald verlassen hatten, fragte sich Kim, warum er Jarrn bei der Höhle zurückgelassen hatte, statt ihn, wie schon einmal, kurzerhand mitzunehmen. Kim war sicher, daß er recht bald alles aus dem Zwerg herausbekommen hätte, was er wissen wollte. Jarrn hatte zwar eine verdammt große Klappe, aber er war auch ein verdammt großer Feigling. Kelhim hatte versucht, Kim etwas zu sagen, etwas ungemein Wichtiges. Kim hatte nicht viel davon verstanden, aber so viel war klargeworden: Der Bär hatte etwas von Zwergen gesagt. Und trotzdem war Kim danach einfach aufgestanden und war an dem zu einem Bündel verschnürten Gnom vorbei aus der Höhle gegangen. Kelhims Tod hatte ihn Jarrn schlechterdings vergessen lassen ...

»Bist du hungrig?« unterbrach Bröckchen plötzlich seine Gedanken.

Kim schüttelte den Kopf, ohne hinzusehen.

Bröckchen kam nähergetrippelt und stieß Kim mit seiner weichen Schnauze an. Fast gegen seinen Willen mußte Kim lächeln. Er hob die Hand und streichelte die samtweichen Flaumfedern des Tierchens.

»Soll ich dir etwas fangen?« fragte Bröckchen besorgt. »Einen Fisch? Oder ein paar Wildschweine?«

»Ich bin nicht hungrig«, sagte Kim. »Danke.«

»Schon gut, ich weiß, du bist ein schwacher Esser«, beharrte Bröckchen. »Aber trotzdem - vielleicht nur ein Wildschwein?«

Kim fuhr zusammen, und in Bröckchens Augen trat ein schuldbewußter Ausdruck. »Entschuldige«, piepste es. »Ich wollte dich nicht ...« Es zögerte einen Moment, trippelte wieder zum Wasser und betrachtete nun seinerseits angelegentlich sein Spiegelbild. Kims Blick ging in dieselbe Richtung. Merkwürdig - das Gesicht, das ihm aus dem Wasser entgegenblickte, schien ganz sacht zu lächeln, obwohl Kim wußte, daß er ganz ernst dreinsah.

»Du trauerst sehr um deinen Freund, nicht wahr?« meinte Bröckchen leise.

Kim nickte. »Es war meine Schuld«, sagte er ernst.

»Deine Schuld? Quatsch! Der Eisenmann hat ihn erschlagen - nicht du.«

»Aber es war meine Schuld, daß Brokk dorthin gekommen ist. Ich habe ihn zur Höhle geführt. Und Kelhim hat ihn angegriffen, um mich zu schützen, verstehst du?«

»Nein«, gestand Bröckchen. »Er war doch ein wildes Tier.«

»Das war er nicht«, widersprach Kim heftig. »Etwas ... hat ihn erst dazu gemacht. Er war nicht immer so.«

»Du meinst, er war früher nicht so böse?«

Kim spürte, wie ihm schon wieder die Tränen in die Augen stiegen, aber diesmal kämpfte er sie nieder.

»Ich war schon einmal hier, in Märchenmond, weißt du«, erzählte er. »Damals war Kelhim ... er war ...« Kim suchte einen Moment nach Worten. »Ein Freund«, schloß er schließlich.

»Der Bär?« fragte Bröckchen zweifelnd.

»Damals war alles anders«, murmelte Kim. »Alles hier. Dieses ganze Land. Es war ...«

»Ja?« ermunterte ihn Bröckchen, als Kim nicht weitersprach.

Kim zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Anders eben.«

»Es ist doch nicht schlimm, daß sich etwas verändert.«

»Ich weiß. Aber das meine ich nicht.« Kim mußte plötzlich wieder an Brobings Worte denken: Es ist, als würden wir etwas verlieren. Und wir wissen nicht einmal, was es ist.

»Dies war einmal ein glückliches Land«, sagte er. »Mit fröhlichen Menschen, vielen Tieren, die sprachen, und Wäldern voller Blumen und Fabelwesen.«

»Ich spreche doch auch«, erinnerte ihn Bröckchen.

»Stimmt.« Kim zuckte mit den Schultern. Sein Spiegelbild lächelte ihm immer noch zu, und es fiel ihm auf, wie sehr sich sein Gesicht in den letzten Tagen verändert hatte. Erschöpfung und Müdigkeit hatten ihre Spuren in seinem Antlitz hinterlassen. Und doch sah er nicht schlecht aus - im Gegenteil. Er sah erwachsener dadurch aus, fand Kim. Es fiel ihm jetzt immer schwerer, sich von seinem eigenen Anblick im Wasser loszureißen. Bröckchen schien es ebenso zu ergehen, denn während sie miteinander sprachen, blickten sie stets bloß das Spiegelbild des anderen an.

Plötzlich hörte Kim Schritte hinter sich, und noch bevor er sich herumdrehen konnte, sagte eine Stimme: »Ich an eurer Stelle würde nicht so lange in den See blicken. Es könnte euch schlecht bekommen.«

Kim fuhr hastig herum. Der Klang der Stimme hatte ihm zwar gleich verraten, daß es nicht Jarrn war, der da aufgetaucht war. Trotzdem war Kim vorsichtig.

Hinter ihnen stand ein Fremder. Er war sehr groß, sehr kräftig - und irgendwie knorrig. Kim fand keine andere Bezeichnung dafür. Seine Haut war dunkel - viel dunkler als die von Kim - und glich eher einer Baumrinde, dazu passend trug er eine Kappe aus geflochtenen Blättern auf dem Kopf. Seine Kleidung war grün und bestand ebenfalls aus Blättern, die so kunstvoll verarbeitet waren, daß sie wie gewachsen aussahen. So groß und rissig sein Gesicht auch aussah, das Lächeln, das in seinen Augen stand, wirkte echt und warm.

»Ihr solltet auf mich hören«, sagte der Mann, nachdem er Kim eine Weile Gelegenheit gegeben hatte, ihn zu begutachten. »Seht nicht zu lange hinein. Es tut nicht gut.«

»Wieso«, platzte Kim heraus.

Der Fremde lachte; ein angenehmer, warmer Laut, der Kim sofort für ihn einnahm. Jemand, der so lachte, konnte nicht gefährlich sein. »Du bist nicht von hier, wie?« fragte er. Kim schüttelte den Kopf, und der sonderbare Mann fuhr mit einer erklärenden Geste auf das Wasser fort: »Das ist kein harmloser See.«

Kim erschrak.

»Wir haben daraus getrunken!« kreischte Bröckchen aufgeregt, aber der Unbekannte machte sofort eine besänftigende Geste.

»Das macht nichts«, sagte er. »Das ist völlig ungefährlich. Ihr könnt sogar darin baden, wenn ihr wollt. Hauptsache, ihr schaut nicht zu lange hinein.«

»Aber wieso denn?« fragte Kim noch einmal.

»Geht erst ein paar Schritte fort vom Wasser«, sagte der Mann. »Dann erkläre ich es euch - bevor ich euch pflücken und zu Hause in die Vase stellen kann.«

Nun verstand Kim überhaupt nichts mehr. Aber er spürte, daß die Worte des Fremden wohlwollend und sehr ernst gemeint waren. Sie folgten ihm rasch, bis sie den Kreis aus Blumen durchschritten hatten.

»Du mußt von weit her kommen, wenn du noch nie vom See der Eitelkeit gehört hast«, sagte der Fremde.

»Der See der Eitelkeit?«

Der Mann deutete auf das Wasser. »Er ist verzaubert«, sagte er. »Sein Wasser heilt Wunden und gibt verlorene Kräfte zurück. Doch es ist auch gefährlich, denn es zeigt den, der hineinblickt, nicht so, wie er wirklich aussieht, sondern so, wie er gerne aussehen möchte. Verstehst du, was ich meine?«

Kim dachte daran, wie sehr ihm sein eigenes Spiegelbild gefallen hatte. Zögernd nickte er.

»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr der knorrige Fremde fort. »Blickt man zu lange hinein, dann kann man sich nicht mehr von seinem Spiegelbild lösen und wird schließlich in eine Blume verwandelt. Siehst du sie dort?«

Kim blickte schaudernd auf das bunte Blumenmeer, das den See umgab. »Sind das alles ...«, begann er.

Der Mann nickte. »Wer seid ihr beiden?« erkundigte er sich dann.

Kim hatte ein bißchen Mühe, dem plötzlichen Gedankensprung zu folgen. Zögernd sagte er: »Mein Name ist... Kim. Ich komme wirklich von weit her. Das da ist Bröckchen. Ein ... Freund.«

»Bröckchen? Ein seltsamer Name.«

»Den hat er mir gegeben«, rief Bröckchen. »Willst du wissen, warum?«

»Ich glaube nicht, daß das wichtig ist«, sagte Kim hastig. Mit veränderter Stimme fügte er hinzu: »Ich danke Euch für die Warnung. Aber wir müssen jetzt weiter.«

»He, he, nicht so schnell«, sagte der Blättermann und streckte die Hand aus. Kim bemerkte mit einer Mischung aus Erschrecken und Staunen, daß seine Haut wahrhaftig aus Holz bestand. Die Fingernägel waren kleine Stückchen aus dunklerer Baumrinde. Und seine Kappe war gar keine Kappe. Die Blätter wuchsen tatsächlich aus seinem Kopf! »Ich habe euch schon eine ganze Weile beobachtet. Ihr scheint ziemlich erschöpft. Vielleicht wollt ihr euch ein bißchen ausruhen. Ihr könnt mit mir kommen. Ich wohne ganz in der Nähe.«

»Das geht nicht«, antwortete Kim - eine Spur zu hastig, wie es schien, denn zwischen den Baumrinden-Augenbrauen des Fremden erschien verwundert eine steile Falte. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, fügte Kim mit einem verlegenen Lächeln hinzu. »Einen ziemlich weiten Weg sogar.«

»Wohin wollt ihr?«

»Nach Gorywynn«, antwortete Kim nach einigem Zögern. »Gorywynn, die Gläserne?« entfuhr es dem Mann.

»Ihr kennt sie?«

»Nun - ich war niemals dort, wenn du das meinst, mein Junge. Niemand von uns war je dort. Aber natürlich haben wir davon gehört. Wenn ihr wirklich dorthin wollt, ist es um so besser, wenn ihr mit mir kommt.«

»Wie meint Ihr das?« erkundigte sich Kim, der mittlerweile doch ein bißchen Mißtrauen verspürte.

»Wie du sagst, habt ihr einen weiten Weg vor euch«, antwortete der Blättermann. Er deutete auf Sternenstaub. »Auch mit dem Pferd wirst du Wochen brauchen, ehe du die gläserne Burg erreichst; vielleicht sogar Monate. Besser, du sammelst ein wenig Kraft, ehe du weiterreitest.«

Kim blickte unschlüssig.

»Was ist?« drängte der andere. »Traust du mir nicht?«

»Doch, doch«, meinte Kim hastig.

»Ihr seid auf der Flucht, nicht wahr?«, sagte der Fremde plötzlich.

»Woher wißt Ihr das?« entfuhr es Kim - und sofort hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen.

Aber der andere lachte nur. »O Kim, hältst du mich denn für blind?« fragte er. »Ich sagte, ich habe euch beobachtet, dich und deinen kleinen hübschen Freund da. Wer ist hinter euch her? Trolle?«

Kim hatte bisher nicht einmal gewußt, daß es hier so etwas wie Trolle gab. Er schüttelte den Kopf. »Ein Zwerg«, sagte er.

»Ein Zwerg aus den östlichen Bergen?« Das dunkle Gesicht verdüsterte sich. »Wenn es so ist, gibt es einen Grund mehr für euch, eine Weile bei uns zu bleiben. Kein Zwerg hat es jemals gewagt, zu uns auf den Baum zu kommen. Und kein Zwerg wird es jemals wagen.«

»Wie meint Ihr das?«

»Wir sind nicht unbedingt ... Freunde«, erklärte der Mann. »Die Zwerge sind Geschöpfe der Nacht. Sie leben unter der Erde und hassen die Sonne, und sie hassen alles, was wächst und gedeiht. Auch fürchten sie die Höhe wie die Pest. Und unser Baum ist sehr hoch.«

Unser Baum? Kim verstand nur ungefähr die Hälfte von dem, was der Blättermann da sagte. Aber irgendwie vertraute er ihm. Die Düsternis, die er in seinen Augen gesehen hatte, als Kim den Zwerg erwähnte, war echt.

»Wir feiern heute abend ein Fest. Ihr seid herzlich eingeladen«, sagte der Mann, als Kim immer noch zögerte. »Mir ist nicht nach Feiern zumute«, erwiderte Kim traurig. »Er hat gerade einen guten Freund verloren«, ergänzte Bröckchen leise.

Der andere nickte mitfühlend. »Das tut weh«, sagte er. »Aber vielleicht lenkt es dich ein wenig ab. Und wenn nicht, dann haben wir immer noch ein Bett für dich, in dem du dich richtig ausschlafen kannst. Nun komm schon.«

Und nach einem letzten, kurzen Zögern willigte Kim ein. Oak, unter welchem Namen sich ihr neuer Freund vorstellte, erbot sich, Sternenstaub an einen sicheren Ort zu bringen, wo der Hengst bis zu ihrer Rückkehr warten konnte und auch gut versorgt war. Denn der See der Eitelkeit war auch für Pferde gefährlich. Leider, so fuhr Oak fort, war es für Sternenstaub nicht möglich, seinen Baum zu betreten. Kim stimmte zu, und Oak nahm den Hengst am Zügel und führte ihn fort. Sternenstaub folgte dem Mann gehorsam; ein weiteres Zeichen für Kim, daß sie dem Blättermann trauen konnten. Denn auf den Zwerg etwa hatte das Tier ebenso gereizt reagiert wie Kim oder Bröckchen.

Sie mußten nicht lange warten. Oak kehrte schon nach wenigen Augenblicken zurück und erklärte, daß er sie jetzt zu dem Baum bringen würde. Kims Neugier war mittlerweile wirklich geweckt - zumal er weit und breit keinen Baum sah. Büsche und Sträucher und prachtvolle Wildblumen, so weit das Auge blickte - aber nirgends etwas, das einem Baum auch nur ähnelte, obgleich Oak unentwegt davon redete.

Als Kim das sagte, lächelte Oak nur vielsagend und machte eine Handbewegung, ihm zu folgen. Bröckchen sprang mit einem Satz auf Kims Schulter, und so marschierten sie hinter Oak her durch das hüfthohe Gras. Auch in jener Richtung, in die Oak sie führte, konnte Kim beim besten Willen keinen Baum entdecken. Währenddessen gingen sie schnurstracks auf die Felswand zu, die Kim am frühen Morgen gesehen hatte.

Nach einer Weile erkannte Kim, daß die Wand längst nicht so eben war, wie es von weitem den Anschein gehabt hatte. Der Fels war überall geborsten und gerissen und von großen, anscheinend tief in den Berg hineinreichenden Höhlen durchzogen, deren Öffnungen wie schwarze Augen auf die Ankömmlinge zu starren schienen. Als sie noch näher kamen, sah Kim die Stufen einer gewaltigen Treppe, die in den Fels hineingeschlagen worden war und in schwindelerregenden Windungen und Kehren in die Höhe führte.

Und als sie schließlich dicht heran waren, da begriff er, daß der Berg gar kein Berg war; sowenig, wie die Stufen der Treppe in ihn hineingemeißelt worden waren. Vielmehr hatte man sie geschnitzt. Denn der Berg bestand nicht aus Stein, sondern aus Holz. Und es war kein Berg - es war ein Baum. Die Erkenntnis traf Kim so plötzlich, daß er wie erstarrt stehenblieb und fassungslos den Kopf in den Nacken legte. Erneut fiel ihm das sonderbar grüngefärbte Licht auf, und erst jetzt sah er, warum das so war: Auch der Himmel über ihnen war nicht das, wofür Kim ihn gehalten hatte. So weit das Auge reichte, spannte sich ein gewaltiges Blätterdach über ihren Köpfen, als wäre das gesamte Firmament mit Blättern und gewaltigen Ästen zugewachsen. Und als stünden sie am Grunde eines gewaltigen Waldes, der die ganze Welt umspannte; hell genug zwar, aber ohne Ausblick auf den Himmel. Nur daß das lebende grüne Dach über ihren Köpfen nicht aus den Wipfeln eines Waldes bestand, sondern aus der Krone eines einzigen, unendlich großen Baumes!

»Was hast du?« erkundigte sich Oak in beiläufigem Ton, konnte aber ein belustigtes Blinzeln nicht ganz aus seinen Augen verbannen. Offenbar wußte er ganz genau um die Wirkung, die dieser Anblick beim erstenmal hervorrief, und hatte sich wahrscheinlich einen Spaß daraus gemacht, Kim bisher im unklaren zu lassen.

»Ist das ... dein Baum?« krächzte Kim.

Oak nickte, und schüttelte in der gleichen Bewegung auch den Kopf. »Es ist nicht mein Baum«, sagte er mit Nachdruck. »Aber es ist der Baum, wenn du das meinst. Kennst du noch einen anderen?«

»Natürlich«, antwortete Kim verdattert. »Es gibt doch überall Bäume ... wenn auch nicht solche.«

»Ach die.« Oak grinste plötzlich wie ein Schuljunge, dem ein Streich gelungen war. »Die sind keine Bäume. Sie wollen vielleicht mal welche werden, aber da brauchen sie noch eine Menge Zeit.« Er lachte laut auf. »Entschuldige, wenn ich dich auf den Arm genommen habe. Aber ja, du hast recht - das ist der Baum. Und es gibt wirklich nur diesen einen.«

»Das glaube ich gerne«, flüsterte Kim. Es war ihm unmöglich, den Blick von dem mächtigen Stamm loszureißen. Oaks Worte und sein Verstand sagten ihm, daß es sich tatsächlich um einen Baum handelte, aber seine Augen behaupteten noch immer, daß es ein Berg war - der Durchmesser des Stammes war ungeheuer, und an seine vermutliche Höhe wagte Kim gar nicht erst zu denken, aus Angst, daß ihm schwindelig wurde. Doch schon winkte Oak ungeduldig mit der Hand, ihm zu folgen. Und tatsächlich ließ das Schwindelgefühl nicht lange auf sich warten, als Kim hinter seinem Führer die gewaltige Holztreppe hinaufstieg, die sich am Stamm des Riesenbaumes in die Höhe wand, zwar bequem und breit, aber sehr, sehr steil; und ohne die Spur eines Geländers. Tapfer hielt Kim den Blick auf den Rücken Oaks geheftet und hoffte, daß niemand sonst seine Angst bemerkte.

Er hörte auf, die Stufen zu zählen, als er bei vierhundert angelangt und der unterste der unglaublich dicken Äste noch nicht sichtbar näher gekommen war. Gut eine halbe Stunde lang stiegen sie in scharfem Tempo die Windungen und Kehren hinauf, ehe sie die Stelle erreichten, an der sich der Stamm des Baumes zum ersten Ast verzweigte - oder das, was Oak vermutlich als Ast bezeichnete. Für Kim war es eher eine Straße aus gewachsenem Holz, so lang, daß er ihr Ende auch nicht hätte sehen können, wenn es nicht im grünen Blätterdschungel verschwunden wäre.

Dafür sah Kim etwas anderes - weit entfernt erhoben sich aus dem Ast die Schemen kleiner weißer und grüner Häuser. Kim starrte die kleinen Farbtupfer aus hervorquellenden Augen an. Kein Zweifel - auf diesem gewaltigen Baum war wahrhaftig eine Stadt erbaut worden!

»Du staunst?« fragte Oak, dem Kims reichlich belämmerter Gesichtsausdruck nicht entgangen war.

»Das ... das ... das sind Häuser!« ächzte Kim.

»Natürlich sind das Häuser«, meinte Oak. »Wohnt ihr da, wo du herkommst, nicht in Häusern?«

»Doch«, gab Kim verwirrt zurück. »Aber ich dachte ... ich meine, ich habe geglaubt...«

Oak grinste. »Nun, ich zeige dir gern die Stadt, wenn du willst. Und die anderen Städte auch.«

»Andere?« Kim war fassungslos. »Das heißt, es ... es gibt noch mehr?«

»Sieben oder acht«, antwortete Oak beiläufig, »die Weiler nicht mitgerechnet, oben im Wipfel.«

»Ah ja«, sagte Kim tapfer. Er kam aus dem Staunen nicht heraus. Ein Baum, so groß wie ein ganzes Land, und Städte auf seinen Ästen!

Und doch war es so. Je näher sie kamen, desto mehr sah Kim von der Baumstadt - und es war wahrhaftig eine Stadt. Manche der Häuser hatten fünf oder sechs Stockwerke, und eines war so groß, wie unten auf der Erde eine Burg. Die Leute hier schienen grüne und rote und gelbe Kleider zu tragen, aber es waren keine Kleider, sondern eine natürlich gewachsene Blätterhaut. Sie gingen auf richtigen Straßen, die, eingekerbt in die Rinde des Astes, von zahllosen Füßen in Jahrtausenden glattpoliert worden waren, so daß sie wie glänzender Asphalt aussahen. Hier und da lugten zwischen den Gebäuden Gewächse hervor, die Kim bei näherem Hinsehen als kleinere Seitentriebe des riesigen Astes erkannte, die aber so groß wie sonst ausgewachsene Bäume waren. Oak hätte das natürlich abgestritten - aber für Kim blieben es Bäume. Ziemlich stattliche sogar. »Das ist unglaublich«, stöhnte Kim, während er Oak durch die breiten Straßen der Baumstadt folgte und unentwegt neue Wunder entdeckte. »Und ihr ... ihr lebt wirklich hier oben? Ihr geht niemals nach unten?«

»Oh, dann und wann schon«, antwortete Oak mit sanftem Spott. »Wäre es nicht so, hätte ich dich schwerlich am See treffen können, nicht wahr? Aber du hast natürlich recht - wir leben hier und verlassen den Baum nur selten. Er ist unsere Heimat.«

Er deutete auf ein kleines, aber sehr schmuckes Häuschen zur Rechten. »Wir sind da. Meine Frau ist nicht zu Hause - sie hilft bei den Vorbereitungen für das Fest heute abend. Aber sie wird sich freuen, euch zu sehen. Wir haben gerne Gäste.«

Er bückte sich unter dem Eingang hindurch, der ein wenig zu niedrig für ihn war, und machte eine einladende Geste. »Tretet nur ein.«

Kim zögerte - aber nicht aus Angst, sondern weil ihn dieses Gebäude ebensosehr verblüffte wie alles andere hier. Es stand nicht, wie es zuerst ausgesehen hatte, auf dem gewaltigen Ast, es war organischer Teil des Baumes. Seine Wände wuchsen direkt aus dem Boden heraus, und das Dach bestand aus lebendem, grünem Blattwerk. Türen und Fenster schienen nicht ins Holz hineingeschnitten worden zu sein, sondern waren von dicken Wülsten umrandete, halbrunde Öffnungen, wo das Holz einfach aufgehört hatte, zu wachsen.

Und so wie das Äußere war auch das Innere des Hauses. Es gab Möbel wie in jedem Haus, das Kim kannte - Tische, Stühle, Schränke und Betten. Aber sie waren nicht einfach hingestellt worden, sondern schienen aus Boden und Wänden herauszuwachsen. Als hätte sich der Baum angestrengt, seinen Bewohnern ein möglichst bequemes Heim zu bieten. Es gab sogar einen Herd: ein quadratischer Holzblock, dessen schwarze Oberfläche hart wie Stein war und dem das Feuer offensichtlich nichts auszumachen schien.

Oak gab seinen Besuchern Zeit, sich umzusehen, während er bereits eine Mahlzeit vorbereitete: einen grünen, süß riechenden Brei, über den er Krauter und getrocknete Gewürzblätter streute, und dazu etwas, das wie Honig duftete, aber dünnflüssiger war. Für Bröckchen stellte er eine kleine Schale auf den Tisch, und als er die Speise auftrug, staunte er nicht schlecht, als der Federwusel im Nu seine eigene wie auch die für Kim gedachte Portion vertilgt hatte und Oak dann mit hungrigen Augen ansah. Erst nachdem Bröckchen einen geradezu gewaltigen Nachschlag bekommen hatte, füllte der freundliche Blättermann auch Kims Teller wieder auf.

»Ihr seid also auf der Flucht vor einem Zwerg«, begann Oak, nachdem Kim zu Ende gegessen hatte und Bröckchen mit seinem dritten Nachschlag beschäftigt war.

Kim zögerte mit der Antwort. Es war keineswegs so, daß er Oak gegenüber noch Mißtrauen empfand - aber er mußte plötzlich wieder an seinen Freund denken. Er konnte es drehen, wie er wollte: Er fühlte sich schuldig, weil er Kelhim gezwungen hatte, sich in seinen Streit mit Jarrn zu mischen und Kelhim daran gestorben war.

»Ja«, sagte er. »Er hat einen ... Freund von mir getötet.«

»Getötet?« Oak sah auf, aber es war nicht gewiß, ob sein Stirnrunzeln dem Wort getötet, oder Kims unmerklichen Zögern vor dem Wort Freund galt.

»Nicht eigenhändig«, schränkte Kim ein. »Jemand, der... bei ihm war.«

Oak sah ihn eine ganze Weile durchdringend an. »Du willst nicht darüber sprechen«, stellte er fest.

»Nein.« Kim schüttelte den Kopf.

»Gut«, sagte Oak. »Wir kümmern uns hier nicht allzusehr um die Angelegenheiten der Leute da unten. Aber falls du doch noch darüber reden willst, bin ich immer für dich da. Wenn nicht, dann eben nicht.« Höflich wechselte er das Thema. »Übrigens gibt es ein Rennen heute abend. Willst du nicht mitmachen? Du siehst aus, als wärst du ein guter Läufer - wenn du ein paar Stunden geschlafen hast, heißt das.«

Als wären seine Worte ein Auslöser gewesen, konnte sich Kim plötzlich eines Gähnens nicht mehr erwehren. Oak lächelte, stand auf und ging ins Nebenzimmer, und auf ein Winken hin folgte ihm Kim.

»Schlaf ein paar Stunden«, sagte Oak. Er deutete auf ein niedriges, mit Blättern und lebendem Laub gedecktes Lager, das neben der Tür aus dem Boden wuchs. »Du wirst mit meinem Bett vorliebnehmen müssen«, sagte er in einem Tonfall, der fast nach einer Entschuldigung klang. »Ich baue gerade ein neues Haus, weißt du. Dort werde ich auch ein Gästezimmer haben. Aber es ist noch nicht fertig.«

Kim hörte gar nicht mehr richtig zu. Der bloße Anblick des Bettes ließ seine Augenlider plötzlich schwer wie Blei werden. Ohne ein weiteres Wort ließ er sich auf das Bett sinken und schlief mitten in dem Gedanken ein, wie sonderbar es doch war, in einem Bett zu liegen, dessen Decke von selbst über seinen Körper kroch, um ihn zu wärmen ... Er erwachte mit einem Schrei.

Kims Herz raste. Er war am ganzen Leib in Schweiß gebadet, und er hatte sich so abrupt aufgesetzt, daß ein paar der dünnen Zweige, die ihn zudeckten, glattweg abgerissen waren. Die zerrissenen Enden zogen sich hastig zurück, und die ganze Decke begann sich zu bewegen und glitt dann raschelnd von ihm herunter.

Mit klopfendem Herzen sah sich Kim um. Er war allein. Das Licht im Zimmer hatte sich irgendwie ... geändert, ohne daß er sagen konnte, wie. Niemand war hier außer Bröckchen, das erschrocken hochgefahren war und Kim verdattert anblickte. Und doch war er sicher, für einen Moment eine riesige, kantige Gestalt gesehen zu haben, die ihn aus einem unheimlichen, grünleuchtenden Auge anstarrte.

Die Ereignisse der vergangenen Nacht verfolgten ihn wohl noch immer. Natürlich, das war die Erklärung. Er war eingeschlafen und hatte phantasiert. Doch jetzt hörte er wieder etwas - rasche, schwere Schritte, die sich der Tür näherten, bis kurz darauf Oaks knorrige Gestalt darin erschien. »Ist etwas geschehen?« fragte er erschrocken. »Du hast geschrien!«

Kim schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, um den Schweiß abzuwischen. »Ich ... hatte schlecht geschlafen«, sagte er. »Es ist schon gut.« Ein wenig verlegen fügte er hinzu: »Ich glaube, ich habe etwas kaputtgemacht. Ein paar Zweige -«

Oak winkte ab. »Das macht nichts. Ich sagte dir doch - wir ziehen bald um. Es kommt nicht mehr darauf an.« Er legte den Kopf schräg und musterte Kim besorgt. »Bist du ausgeschlafen?«

Ausgeschlafen? Nein, das war Kim keineswegs, aber er schauderte bei dem bloßen Gedanken, noch einmal die Augen schließen und womöglich die Fortsetzung jenes Alptraums zu erleben, aus dem er gerade erwacht war.

»Meine Frau ist zurück und hat das Abendessen gerichtet«, sagte Oak. »Danach beginnt das Fest.«

Kim sagte nichts darauf, aber er stand auf. Sein Magen knurrte schon wieder. Und auch Bröckchen schnüffelte begierig, während sie beide hinter Oak in die Stube traten. Am Herd stand jetzt Oaks Frau. Ihr Blätterkleid war etwas heller als das ihres Mannes, aber sie hatte das gleiche knorrige Gesicht und bis auf die Schultern fallendes, geringeltes Blätterhaar. Oak schien ihr von den beiden Besuchern erzählt zu haben, denn sie lächelte ihnen wissend und freundlich zu. Dann deutete sie auf den Tisch, auf dem bereits drei Teller mit dem süßen, grünen Brei bereitstanden - und ein großer Trog, in den sich Bröckchen mit einem erfreuten Pfiff kurzerhand hineinstürzte, um ihn in atemberaubender Geschwindigkeit leerzufressen. Oak lächelte amüsiert, während die Augen seiner Frau vor Staunen groß wurden. Nachdem sie fertiggegessen hatten, stopfte sich Oak eine Pfeife und plauderte mit Kim. Auch seine Frau setzte sich dazu. Es dauerte eine ganze Zeit, bis Kim auffiel, daß sie in dem Gespräch alles vermieden, was ihren Gast irgendwie in Verlegenheit bringen könnte. Es schien wirklich so zu sein, wie Oak gesagt hatte - die Baumleute interessierten sich nicht sonderlich für das, was außerhalb ihrer Blätterwelt geschah.

Endlich stand Oak auf, reckte sich, daß seine Arme knarrten wie Holz - und sie waren ja aus Holz - und deutete auf die Tür. »Es wird Zeit«, sagte er. »Wir müssen los, wenn wir den Beginn des Festes nicht verpassen wollen. Es wäre schön, wenn ihr mitkommen wolltet.«

Kim lehnte mit einem Kopfschütteln ab. Er war dankbar für das Angebot, aber ihm war wirklich nicht zum Feiern zumute. Es wäre ihm schäbig vorgekommen, sich in eine fröhliche Runde einzureihen, nach allem, was mit Kelhim passiert war.

»Nein«, sagte er. »Ich danke Euch, aber -«

Und dann brach er mitten im Satz ab und starrte aus entsetzt aufgerissenen Augen durch die offene Haustür nach draußen.

Auf der Straße vor dem Haus sah er eine Menge von Baumleuten in verschiedenen Farben - aber das war nicht alles. Zwischen ihnen stampfte eine hünenhafte, kantige Gestalt einher. Eine Gestalt aus rotbraunem Eisen, mit einem einzigen grünleuchtenden Auge!

»Was hast du?« fragte Oak alarmiert.

»Brokk«, flüsterte Kim. Er begann am ganzen Leib zu zittern. »Das ... das ist Brokk! Er ist hier!«

Oaks Blick folgte dem Kims, und in seinen Augen stand ein Ausdruck tiefer Verwirrung, als er sich wieder zu ihm umwandte. »Aber das ist doch nur ein Eisenmann!«

»Ich hätte nicht hierherkommen sollen«, stammelte Kim. »Er wird Euch auch -« Und erst dann begriff er eigentlich, was Oak gerade gesagt hatte. Fassungslos starrte er ihn an. »Soll das heißen, es gibt noch mehrere hier?«

»Eisenmänner?« Oak lachte unsicher. »Aber natürlich, Dutzende. Sie helfen uns, die neue Stadt zu bauen, in der wir bald wohnen werden. Ohne sie würden wir die Arbeit gar nicht schaffen!«

Kims Blick blieb wie hypnotisiert auf den Eisenmann gerichtet, der sich mit schweren, stampfenden Schritten zwischen den Baumleuten bewegte. Nur am Rande nahm er wahr, wie die gewaltigen Eisenfüße dabei kleine Splitter aus dem Holz des Astes rissen.

»Sie sind sogar hier?« ächzte er. »Aber ... wißt Ihr denn nicht, woher sie kommen?«

Oaks Verwirrung nahm sichtlich zu. »Selbstverständlich«, antwortete er. »Die Zwerge schmieden sie in ihren Höhlen.«

»Aber Ihr habt mir doch gesagt, die ... die Zwerge und Ihr wärt... Feinde.«

»Nicht Feinde«, verbesserte ihn Oak. »Sie sind nicht unsere Freunde - aber das heißt nicht, daß sie unsere Feinde sind. Wir haben keine Feinde, so wie wir niemandes Feind sind.«

Er stand auf, ging zur Tür und schloß sie, wie um Kim auf diese Weise vom Anblick des Eisenmannes zu befreien. »Was ist daran so schlimm?« fragte er, als er zurückkam.

Kim antwortete nicht, aber Bröckchen sagte leise: »Es war ein Eisenmann, der seinen Freund erschlagen hat.« Kim schluckte. Die bloße Erinnerung trieb ihm schon wieder die Tränen in die Augen.

»Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst«, sagte Oak sanft. »Es tut mir leid. Hätte ich davon gewußt, dann hätte ich dafür gesorgt, daß du ihn nicht zu Gesicht bekommst.«

»Ihr müßt sie wegschicken«, flüsterte Kim. »Sie sind gefährlich!«

»Nein«, entgegnete Oak lächernd. »Das sind sie nicht.« Er setzte sich wieder an den Tisch, streckte die Finger aus und berührte Kims Hand. Obwohl seine Haut hart und knorrig wie alte Baumrinde aussah, fühlte sie sich weich und warm an.

»Ich glaube, das weiß ich besser«, murmelte Kim, der noch immer mit den Tränen kämpfte. »Ich war dabei, als er Kelhim erschlug.«

»Sie sind nur Werkzeuge«, antwortete Oak. Er zog ein Messer aus dem Gürtel und legte es vor Kim auf die Tischplatte. »Auch das hier kommt von den Zwergen. Das und alle anderen Werkzeuge, die wir benutzen. Wir können hier kein Eisen schmelzen, sowenig, wie sie in ihren Höhlen die Früchte heranzüchten können, die wir ihnen verkaufen. Wir sind keine Freunde, aber wir handeln miteinander, weil der eine hat, was dem anderen fehlt. Was ist falsch daran?« Er hob die knorrige Hand, als Kim widersprechen wollte, und fuhr mit ganz leicht erhobener Stimme fort: »Auch mit diesem Messer kannst du töten, Kim. Trotzdem fürchtest du es nicht, nur weil es da ist. Die Eisenmänner sind nicht anders als dieses Messer: Werkzeuge. Du brauchst sie nicht zu fürchten. Fürchten muß man nur die, die sie für falsche Ziele nutzen.«

»Das glaube ich nicht«, flüsterte Kim. »Sie ... sie sind mehr. Ich weiß es. Ich spüre es. Sie machen mir angst.«

»Aber das brauchen sie nicht«, seufzte Oak. »Auch hier bei uns gibt es ein paar, die so denken wie du - aber sie irren sich. Die Eisenmänner sind sehr nützlich.«

Kim lachte bitter auf.

»Morgen«, fuhr Oak fort, »wenn das Fest vorüber ist, zeige ich dir unsere neue Stadt. Sie ist zehnmal größer und schöner als diese hier. Tja, wenn wir die Eisenmänner nicht hätten... Du wirst sehen, es gibt keinen Grund, sie zu fürchten. Und nun komm.«

»Wohin?« fragte Kim mißtrauisch.

»Nach oben«, antwortete Oak. »Ich möchte, daß du am Fest teilnimmst. Du brauchst etwas, um auf andere Gedanken zu kommen, Kim. Wenn du allein hier zurückbleibst, rennst du am Ende noch kopfüber in die Nacht hinein, nur weil du einen Eisenmann siehst.« Er ließ Kims Hand los, stand auf und lächelte aufmunternd.

Und Kim folgte ihm tatsächlich. Wenn auch aus einem ganz, ganz anderen Grund, als Oak auch nur ahnen mochte.

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