XXIII

Endlich näherten sie sich Gorywynn, dem gläsernen Herzen Märchenmonds. Mehr als einmal auf ihrem Flug vermeinte Kim weit entfernt über dem Horizont ein goldenes Blitzen zu sehen, aber es kam niemals näher, und Kim war auch nicht sicher, ob es wirklich dagewesen war, oder ob er es nur befürchtet hatte. Der Tatzelwurm blieb nervös und reizbar, aber sonst geschah nichts. Falls es Rangarig war, den Kim in der Ferne erblickte, so machte der Tatzelwurm jedenfalls keine Anstalten, seinen Kurs zu ändern und sich auf den verhaßten Feind zu stürzen; ob das aber auf Bröckchens vorlaute Predigt zurückzuführen war oder nicht, das wußte keiner.

Am späten Nachmittag des vierten Tages, seit sie vom Fuße des Schattengebirges aufgebrochen waren, sah Kim einen dunstigen Fleck am Horizont, und wenig später ein rotes Flimmern und Glühen wie von zahllosen Feuern. Auch Peer hatte es bemerkt und reckte den Hals. Selbst Jarrn fuhr aus dem Brüten auf, in das er seit einiger Zeit verfallen war, und beschattete die Augen mit der Hand, um besser sehen zu könne.

Kims Herz begann schneller zu schlagen. Schon seit einer Weile war ihm die Landschaft, über die sie hinwegglitten, immer vertrauter, und das konnte bedeuten - sie näherten sich der gläsernen Stadt. Aber was bedeutete der Feuerschein? Waren sie nun zu spät gekommen?

»Ist das Gorywynn?« fragte Peer, als hätte er Kims Gedanken gelesen.

Kim zuckte unglücklich mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er wider besseres Wissen.

Peer kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können. »Das muß Gorywynn sein«, meinte er. »Ich erkenne den Fluß, und diese Hügelkette da hinten. Aber wo kommt all der Rauch her?«

Die Antwort auf diese Frage kam schneller, als es Kim recht war. Es war die gläserne Stadt, der sich der Tatzelwurm näherte, aber die regenbogenfarbigen Wände und Türme waren kaum zu erkennen, denn sie waren hinter einem dichten Schleier aus Staub und Rauch verborgen, der alles verdunkelte. Das rote Funkeln entpuppte sich als der Schein zahlloser Feuer, die in weitem Umkreis brannten, und schon lange, bevor sie Gorywynn wirklich nahe kamen, hörte Kim ein dumpfes Dröhnen und Rauschen, wie das Grollen einer weit entfernten Meeresbrandung, die sich am Riff brach.

»Sie ... sie kämpfen!« flüsterte Peer entsetzt. »Das sind Priwinns Steppenreiter!« Er fuhr herum und starrte Kim aus angstgeweiteten Augen an. »Wir sind zu spät gekommen.« Kim antwortete nicht. Wie gebannt blickte er vom Tatzelwurm herab auf ein gewaltiges Heerlager. Es mußten Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Kriegern sein, die sich in zwei gewaltigen Armeen dort unten versammelt hatten. Aus der großen Höhe herab war es unmöglich festzustellen, wer Freund und wer Feind war, aber Kim sah, daß die beiden Armeen annähernd gleich groß waren. Die Entscheidungsschlacht hatte bereits begonnen!

Auf Kims Befehl ging der Tatzelwurm tiefer, so daß sie mehr Einzelheiten erkennen konnten. Kim sah jetzt, daß es genau umgekehrt war, wie er vermutet hatte - es waren Priwinns Steppenreiter und ihre Verbündeten, die Gorywynn belagerten, und die Flußleute und deren Vasallen, die die Stadt besetzt hatten und sich auf dem Feld davor zur Verteidigung formierten. Kim und Peer waren im rechten Moment gekommen, um den Beginn des entscheidenden Sturms auf die Stadt mitzuerleben.

»Nein«, flüsterte Kim verzweifelt. »Wir müssen sie aufhalten.«

Vergeblich versuchte er, in der ungeheuren Menge unter sich den König der Steppe auszumachen. Aber selbst wenn er ihn entdeckt hätte - was hätte er schon tun können? Priwinn würde sicherlich nicht das Schwert aus der Hand legen und seinen Truppen den Rückzug befehlen, nur weil ihn Kim darum bat, überlegte er verzweifelt.

Der Tatzelwurm war über das Schlachtfeld hinweggebraust und kehrte nun in einer weit ausholenden Schleife wieder zurück. Beim erstenmal waren sie so schnell darüber hinweggeflogen, daß man dort unten wohl nur den gewaltigen Schatten und das mächtige Rauschen der Drachenschwingen gewahrt hatte. Aber nun wandten sich mehr und mehr Blicke zum Himmel, und trotz des Lärms unter sich konnte Kim einen vielstimmigen, entsetzten Aufschrei hören, als die Soldaten beider Heere den Tatzelwurm erkannten. Bei seinem Anblick vergaßen sie für einen Moment sogar den Kampf, den sie ausfochten. Eine Woge aus Panik schien dem Schatten des Drachen zu folgen, sobald er nur auftauchte. Überall kam der Kampf zum Erliegen, und für Sekunden hörten sie nichts anderes als die gellenden Schreckenschreie der Krieger. Schon brausten sie schnell wie der Wind ein zweites Mal über die Heere hinweg, und Kim befahl dem Tatzelwurm, langsamer zu fliegen und gleichzeitig tiefer zu gehen.

Und als sie sich das dritte Mal dem Feld vor den gläsernen Mauern näherten, da sah Kim endlich, wonach er suchte - in der vordersten Front, dort, wo Reiter und Fußtruppen beider Heere mit unerbittlicher Wucht aufeinandergeprallt waren, entdeckte er die mattschwarze Rüstung des Freundes und unmittelbar daneben eine alles überragende, mit einer gewaltigen Keule bewaffnete Gestalt: Gorg.

Als wäre die abermalige Rückkehr des Drachens ein Signal gewesen, hob der Kampf plötzlich überall mit unverminderter Wucht wieder an. Die Heere prallten mit vernichtender Kraft aufeinander, und erneut hallte der weite Platz wider vom Klirren der Waffen, von Wutgeheul und Schmerzenschreien. Priwinns Armee schien die Oberhand zu haben. Langsam, aber beständig wurden die Flußleute und ihre Verbündeten weiter auf die gläsernen Wälle zurückgetrieben, so verbissen sie sich auch wehrten. Es waren nicht nur Steppenreiter, denen sie gegenüberstanden - zwischen den in braunes Leder gehüllten Männern aus Caival-Ion erkannte Kim auch die Mitglieder zahlreicher anderer Völker - zu seinem großen Erstaunen waren selbst Baumleute darunter. Wer hätte gedacht, daß dieses friedliebende Volk in der Lage war, zu kämpfen. Und doch entdeckte er mehr und mehr von ihnen, als wären sie alle gekommen, um den Tod ihres Baumes zu rächen. Und gerade dieser Anblick war es, der Kim besonders schmerzhaft klarmachte, wie hoch der Preis war, den die Völker Märchenmonds dafür zahlten, Priwinns Weg zu gehen.

Der Tatzelwurm kreiste dicht über dem Schlachtfeld. Manchmal traf ihn ein vereinzelter Speer oder ein Pfeil, prallte aber wirkungslos ab. Kim spürte, wie der Drache immer unruhiger wurde. Seine gewaltigen Krallen öffneten sich und schnappten in die leere Luft, seine Kiefer mahlten, als giere er danach, irgend etwas zu packen und zu zerreißen. Er wußte nicht, wie lange sich der Tatzelwurm noch beherrschen konnte. Er war schließlich ein Ungeheuer, das schlimmste und gefährlichste, das es in Märchenmond gab. Und daß sie bis jetzt Verbündete waren, hieß nicht, daß er ob all dieses Kämpfens und Tötens, all dieses Blutes und des Geruches des Schlachtfeldes nicht wieder zu seiner wahren Natur zurückkehren würde.

Plötzlich erblickte Kim etwas, was ihn seine Sorge um den Tatzelwurm schlagartig vergessen ließ: Das Heer der Steppenreiter hatte einen Keil gebildet, der sich verbissen auf Gorywynns Tore zuschob, wobei er die feindliche Armee spaltete. Aber was für die Reiter dort unten wie ein Zurückweichen der Flußleute aussehen mochte, das wirkte aus der Höhe betrachtet ganz anders. Kim sah deutlich, daß es nicht nur die ungestüme Wut des Angriffs war, der die Reihen der Flußleute wanken ließ. Vielmehr wichen sie Schritt für Schritt vor dem Feind zurück, nur um sich dicht hinter ihm wieder zu versammeln. Es war eine Falle, begriff Kim entsetzt. Offensichtlich hatten die Flußleute den Steppenkönig erkannt und versuchten nun, ihn in ihre Gewalt 2u bringen. Und es sah ganz so aus, als würde es ihnen gelingen. »Priwinn!« schrie Kim so laut er konnte. »Gib acht! Das ist eine Falle!«

Aber Priwinn hörte seine Worte nicht. Auch wären sie schon zu spät erschollen, denn die Piraten hatten ihre Zangenbewegung fast beendet - und die durchbrochene Schlachtreihe schloß sich endgültig hinter Priwinn und den Reitern, die in seiner Nähe waren.

Schon griffen die Flußleute rücksichtslos an, entschlossen, die Schlacht auf diesem Wege doch noch zu ihren Gunsten zu wenden. Priwinn und seine Begleiter wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Übermacht. Immer drei oder vier Gegner warfen sich auf einen der Steppenreiter, aber oft war es dieser, der den ungleichen Kampf gewann. Gorg wütete wie toll unter den Angreifern und mähte gleich Dutzende von ihnen mit seiner gewaltigen Keule nieder. Aber selbst der größte Mut und die größte Kraft mußten versagen, wenn die Übermacht zu gewaltig war - und das war sie. Für jeden besiegten Flußmann schienen drei neue aufzutauchen, und die Zahl der Männer, denen sich Priwinn und seine wenigen Kampfgefährten gegenübersahen, wuchs unaufhörlich. Aus allen Richtungen strömten sie herbei, um den Ring rund um den Steppenkönig zu verstärken. So verzweifelt sein Heer auch versuchte, die Reihen der Flußleute zu durchbrechen, um ihrem Anführer zu Hilfe zu kommen, es gelang nicht. Und einer nach dem anderen sanken Priwinns Begleiter aus den Sätteln. Schließlich waren es nur noch der Steppenkönig selbst und der Riese Gorg, die sich Rücken an Rücken verteidigten; Gorg durch seine übermenschlichen Kräfte und Priwinn durch seine schwarze Zauberrüstung geschützt.

Als Kim begriff, was geschehen würde, da schrie er gellend auf, warf sich nach vorn und trat dem Tatzelwurm in die Flanken wie einem Schlachtroß, das er zu größerem Tempo anspornen wollte. Und genauso reagierte dieser auch. Vielleicht war Kims Schrei nur noch der Befehl gewesen, auf den er gewartet hatte-denn er stieß ein ungeheures Brüllen aus, entfaltete die Schwingen zu ihrer vollen Größe und stieß mit geöffneten Klauen und gierigem Rachen auf die Armee der Flußleute herab!

Hinter Kim schrie Peer irgend etwas, das er nicht verstand, Bröckchen pfiff schrill vor Entsetzen und verkroch sich wieder unter Kims Hemd, und Jarrn kreischte vor Angst und zog sich seine Kapuze über das Gesicht. Aber Kim nahm von alledem nichts wahr. Der Tatzelwurm stieß wie ein angreifender Falke vom Himmel herab und fuhr unter die Flußleute. Seine Krallen schleuderten Männer und Pferde beiseite, und seine wirbelnden Schwingen fegten gleich Dutzende Reiter aus den Sätteln. Wie ein Sturmwind durch ein Kornfeld pflügte er durch die Armee der Piraten und auf Gorg und Priwinn zu. Die Flußleute flohen in heller Panik, aber der Tatzelwurm war schneller als sie und hinterließ eine Bresche aus Tod und Vernichtung in der auseinanderspritzenden Front der Krieger. Wie ein schwarzer Dämon fegte er kaum einen Meter über dem Boden dahin, schlug und biß und schnappte dabei um sich und riß allein mit dem Sturmwind seiner peitschenden Schwingen die aus den Sätteln, die seinen Klauen im letzten Moment entkommen waren.

Auch Gorg und Priwinn bemerkten jetzt den heranrasenden Drachen, und Kim sah, wie der Riese ungläubig die Augen aufriß, als er erkannte, wer auf dem Rücken der gewaltigen Bestie saß. Aber Kim sah auch, daß der Tatzelwurm nicht haltmachen würde. Sie waren schon ganz nahe, aber der Drache flog immer schneller. Er machte keinen Unterschied mehr zwischen Freund und Feind, sondern tötete und zerfetzte alles, was sich ihm in den Weg stellte.

»Zurück!« schrie Kim seinen Freunden zu. »Bringt euch in Sicherheit!«

Priwinn stand da wie gelähmt. Er hatte das Schwert sinken lassen und blickte dem rasenden Ungeheuer fassungslos entgegen. Erst im allerletzten Moment, als Kim schon glaubte, daß er einfach überrannt werden würde, brachte sich Priwinn mit einem verzweifelten Satz in Sicherheit und entkam den schnappenden Krallen um Haaresbreite.

Der Riese Gorg hatte weniger Glück. Auch er erwachte endlich aus seiner Erstarrung und versuchte auszuweichen, aber seine Bewegung war um eine Winzigkeit zu langsam. Eine der gewaltigen Drachenschwingen traf ihn, schleuderte ihn hoch in die Luft und warf ihn wuchtig gegen den Stadtwall. Der Drache beruhigte sich noch immer nicht. Im Gegenteil, er brüllte laut und wild, seine Schwingen schlugen stärker - und dann krachte er mit entsetzlicher Wucht gegen das geschlossene Stadttor. Der Anprall ließ die mannsdicken Bohlen zerbersten wie Streichhölzer, und krachend brach das Tor in sich zusammen, während Kim und Peer im hohen Bogen vom Rücken des Untiers geschleudert wurden. Und noch während Kim stürzte, sah er, wie der Drache sich aufbäumte und schüttelte, dann auf dem Boden aufschlug, hilflos dahinrollte und schließlich mit einem unsanften Ruck an der gläsernen Mauer zum Liegen kam. Benommen richtete sich Kim auf die Knie und hob die Hände. Sein Kopf schmerzte entsetzlich. Wie durch einen grauen Nebel sah er eine Gestalt auf sich zulaufen. Er hatte einen flüchtigen Eindruck von schwarzem Metall und Leder und Fell und sah das Blitzen eines Schwertes, und er spürte mehr, als daß er es wußte - es war einer der Flußleute. Bröckchen wuselte mit einem angsterfüllten Pfeifen unter seinem Hemd hervor und brachte sich in Sicherheit, und sein bloßer Anblick schien den heranstürmenden Piraten für eine Sekunde so zu verblüffen, daß er für die gleiche Zeitspanne stockte.

Aber wirklich nur kurz. Noch ehe Kim auch nur richtig Zeit fand, einen klaren Gedanken zu fassen, packte der andere sein Schwert fester und stürzte sich schon auf ihn. Sofort warf sich Kim mit einer kraftvollen Bewegung zur Seite, daß das Schwert des Flußmannes gegen die gläserne Wand in seinem Rücken prallte und Funken daraus schlug. Er kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und warf sich blindlings nach vorn.

Der Flußmann war größer und stärker als er, aber Kims Angriff schien ihn völlig zu überraschen. Aneinandergeklammert stürzten sie auf den Boden, rollten einige Meter dahin und trennten sich wieder.

Kim versuchte sich herumzuwerfen, aber der Flußpirat war viel schneller als er. Mit einem triumphierenden Schrei riß er sein Schwert in die Höhe, und Kim sah das Blitzen der tödlichen Klinge, in einer Bewegung, die viel zu schnell war, als daß er darauf hätte reagieren können.

Aber der tödliche Schlag kam nicht. Statt dessen schoß ein roter Federball auf den Mann zu, prallte mit einem sonderbar weichen Geräusch gegen seinen Nacken und biß sich darin fest.

Der Flußpirat taumelte, mehr vor Überraschung, als daß Bröckchens Angriff ihn etwa wirklich aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, griff nach hinten und zerrte das Wertier mit einem Schrei von sich herunter, um es in hohem Bogen von sich zu schleudern.

Aber diese Ablenkung hatte gereicht. Kim sprang in die Höhe und versetzte dem Mann einen Stoß, der ihn vollends aus dem Gleichgewicht brachte. Der Krieger schrie auf, stürzte und ließ sein Schwert fallen. Noch bevor er sich wieder in die Höhe stemmen konnte, zischte ein gelb- und grüngefiederter Pfeil dicht über Kims Rücken hinweg und durchbohrte den Flußpiraten.

Kim wandte sich hastig um und hielt nach Bröckchen Ausschau. Das kleine Wertier trippelte taumelnd heran. Es war unverletzt, wirkte aber ein bißchen benommen.

»Alles in Ordnung?« erkundigte sich Kim.

»Klar«, antwortete Bröckchen. »Da muß schon mehr kommen als so ein Kerl von einem Fischfresser, um mir Angst einzujagen.«

Der Kampf war bereits wieder in vollem Gange. Der Angriff des Tatzelwurms hatte jedoch das Blatt gewendet. Wohin Kim auch blickte, drehten sich die Flußleute um und suchten ihr Heil in der Flucht. Priwinns Reiter verfolgten sie und machten sie erbarmungslos nieder, wo immer sie ihrer habhaft werden konnten. Was als ein verbissenes Ringen um den Zugang zur Stadt begonnen hatte, das wurde jetzt zu einem panischen Gerenne. Die gewaltige Armee der Flußpiraten begann sich in alle Richtungen aufzulösen. Und plötzlich, beinahe gegen seinen Willen und ohne daß er es recht begriff, hielt auch Kim ein Schwert in der Hand und fand sich inmitten des Kampfgetümmels. Der Tatzelwurm tobte wieder wie ein schwarzer Dämon unter den Flußleuten. Rechts und links, davor und dahinter und sogar unter ihm wogte die Schlacht mit unverminderter Wut. Kim wehrte den Schwerthieb eines Flußmannes ab, der unvermittelt aus dem Rauch vor ihm aufgetaucht war, versetzte dem Angreifer einen schmerzhaften Schnitt in den Oberschenkel und schleuderte ihn mit einem Fußtritt zu Boden, als der andere seine Waffe fallen ließ und sich krümmte. Wild sah sich Kim nach Priwinn und dem Riesen um, konnte sie aber in dem allgemeinen Durcheinander nirgendwo entdecken, und so arbeitete er sich abwechselnd kämpfend und hakenschlagend in Richtung des zertrümmerten Tores vor, wo der Kampf mit der größten Verbissenheit entbrannt war.

Die Flußleute, die nicht hatten fliehen können, versuchten sich hinter die Mauern zurückzuziehen, aber ihre Verfolger setzten ihnen nach. Das gläserne Torgewölbe hallte wider vom Schreien und Waffenklirren. Kim mußte sich heftig seiner Haut wehren, doch viel mehr erfüllte ihn der Gedanke mit kaltem Grauen, daß nun sie es waren, die mit der Waffe in der Hand zum Sturm auf Gorywynn ansetzten. Alles schien auf den Kopf gestellt zu sein. Die Guten waren böse geworden, die Bösen gut - und wer wußte noch, was Recht war und Unrecht.

Dann entdeckte er Priwinn. Dieser hatte sein Schwert wieder aufgehoben und befand sich abermals an der Spitze seiner Leute, die die zurückweichenden Feinde Schritt für Schritt verfolgten.

Kim schrie mehrmals Priwinns Namen, aber seine Stimme ging im Lärm des Kampfes unter, und obwohl er bald jede Rücksicht fahren ließ und ebenso wild darauf losdrosch wie die anderen, gelang es ihm nicht, sich Priwinn zu nähern, denn die Flußleute hatten sich jenseits der Mauern zu einem letzten, verzweifelten Widerstand formiert, so daß davor ein heilloses Gedränge entstand.

Endlich wurde die Abwehr der Flußmänner schwächer, und die Angreifer stürmten unter dem triumphierenden Geschrei aus Hunderten von Kehlen nach Gorywynn hinein, wobei Kim einfach mitgerissen wurde.

Eine innere Stimme warnte ihn, daß das, was sie taten, falsch war, daß sie die Schwerter fortwerfen und versuchen sollten, diesen Kampf zu beenden. Doch ein anderer Teil in ihm verspürte plötzlich einen rasenden Zorn auf die Flußleute und ihre Verbündeten, und dieser Teil war im Augenblick ungleich stärker als die Stimme der Vernunft. Schon fand sich Kim wie Priwinn in vorderster Linie kämpfend wieder, und er schwang das Schwert so gekonnt und sicher und schnell wie einst in der Schlacht gegen die schwarzen Reiter des Zauberers Boraas.

Natürlich war es ein Zufall - aber der Widerstand zerbrach endgültig in genau dem Moment, als Kim neben dem Steppenreiterkönig anlangte und sich an seine Seite stellte. Alle seine Hemmungen waren wie weggefegt. Er spürte keinerlei Bedenken mehr, ja es kam ihm nicht einmal in den Sinn, daß er in diesem Kampf verletzt oder gar getötet werden könnte. Das Schwert in seiner Hand gab ihm ein Gefühl von Macht und Unverwundbarkeit, das gleiche, ebenso berauschende wie trügerische Gefühl von Sicherheit, das all die Männer rings um ihn herum verspürt haben mochten, als die Schlacht begann; auf beiden Seiten.

Priwinn wehrte einen feindlichen Schwerthieb ab, verschaffte sich mit einem gewaltigen, beidhändig geführten Schlag seiner Zauberwaffe Luft und klappte das Visier seines Helmes hoch. Sein Gesicht wirkte erschöpft und glänzte vor Schweiß, aber in seinen Augen stand ein strahlendes Lächeln, als er Kim ansah. »Ich wußte, daß du kommen wirst«, sagte er.

»Wo ist Gorg?« schrie Kim anstelle einer Antwort zurück. »Lebt er noch?«

Priwinn machte eine Bewegung, die eine Mischung zwischen Nicken und Achselzucken war. »Ich denke schon«, antwortete er. »Dem kann so bald nichts anhaben.«

»Ich sehe mal nach!« schrie Bröckchen, hüpfte von Kims Schulter herunter und verschwand im Kampf getümmel, ehe dieser ihn zurückhalten konnte. Fast im gleichen Moment löste sich da ein schwarzer Schatten mit gelben Augen von Priwinns Gestalt: Es war Sheera, der sich dem Freund anschloß. Wieder wurden sie angegriffen, und sie mußten sich Schulter an Schulter mit erbitterter Kraft ihrer Haut wehren. Die Gegner hatten wohl eingesehen, daß die Schlacht für sie verloren war, aber sie schienen entschlossen, so viele ihrer Feinde mit in den Untergang zu reißen, wie sie nur konnten. Sie griffen nun ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben an und verlangten den langsam vorrückenden Steppenreitern einen furchtbaren Blutzoll ab. Es gab jetzt keine Schlachtordnung mehr wie anfangs, als die beiden Heere aufeinanderprallten, sondern unzählige Grüppchen, die in verbissene Handgemenge verstrickt waren. Kim versuchte mehrmals, Priwinn zum Stehenbleiben zu bewegen, damit er mit ihm reden konnte, aber der hörte ihm gar nicht zu. Er kämpfte wie in einem Rausch. Sein Schwert schnitt durch Rüstungen und Stoff, zerschmetterte Waffen und Schilde und Panzer, und Kim verspürte jetzt wieder einen wachsenden Schrecken bei diesem Anblick. Es war das zweite Mal, daß sie Seite an Seite in einer Schlacht kämpften, in der es um nichts weniger als die Rettung Märchenmonds ging, und doch war es diesmal anders, auf furchtbare Weise anders. Der Kampf gegen Boraas' schwarze Reiter war nicht minder ernst und tödlich gewesen als dieser, und trotzdem hatte es einen grundlegenden Unterschied gegeben: In der Schlacht um Gorywynn waren sie damals die Verteidiger gewesen gegen das Böse, jetzt aber ...

Da erlahmte langsam auch dieses letzte Aufflackern des Kampfes. Durch das zerschmetterte Tor drangen mehr und mehr Steppenreiter mit ihren Verbündeten herein und überrannten den Feind. Und endlich konnte Kim keuchend sein Schwert senken und stehenbleiben. Sein Herz raste. Er war in Schweiß gebadet, und er blutete aus einem Dutzend zwar harmloser, aber doch schmerzhafter Schnitte und Stiche, die er sich eingehandelt hatte, ohne sie bisher überhaupt zu bemerken. Schwäche stieg in seinem Körper empor und schien seine Glieder in Blei zu verwandeln.

Aber es war noch nicht vorbei. Er wollte sich erschöpft an Priwinn wenden, aber der schnitt ihm einfach das Wort ab. »Themistokles!« rief der Steppenreiter erregt. »Wir müssen zu ihm. Wenn sie ihn gefangennehmen, dann war alles umsonst!«

So sehr der Gedanke, daß der Kampf noch nicht vorbei sein sollte, Kim auch entsetzte - er sah ein, daß Priwinn recht hatte. Zweifellos würden die Flußleute versuchen, Themistokles in ihre Gewalt zu bringen. Denn obwohl alt und schwach geworden in letzter Zeit, galt er noch immer als mächtiger Zauberer, der zu einer Gefahr für sie werden konnte. Und zweifellos wußten sie auch, daß er ihr letztes Unterpfand sein mochte, ein Druckmittel, mit dem sie sich zwar nicht den Sieg, aber günstige Bedingungen für den Rückzug erzwingen konnten. Ja, Themistokles schwebte in großer Gefahr. Deshalb schloß sich Kim den Steppenreitern an, um in die stolze Burg Gorywynn zu stürmen.

Hinter dem Tor und wohl auch auf dem Feld davor war der Kampf beendet, aber je tiefer sie in die verwinkelten Gassen eindrangen, desto öfter stellten sich ihnen noch vereinzelte Kämpfer in den Weg und versuchten, sie aufzuhalten. Es war vor allem Priwinn, der, durch seine Rüstung geschützt und beinahe unverwundbar, den Weg für sie ebnete, aber sie waren nicht mehr vollzählig, als sie den Palast erreichten. Hier kam es noch einmal zu einem letzten, erbitterten Ringen, als sich ihnen gut zwei Dutzend Flußpiraten entgegenwarfen. Dann hatten sie auch dieses letztes Hindernis überwunden. Kim stürmte mit Priwinn die gläserne Treppe zum Turm des Zauberers hinauf. Kim hatte damit gerechnet, noch einmal auf erbitterten Widerstand zu stoßen, aber das gewaltige Burgschloß schien wie ausgestorben. Hier und da sahen sie Spuren der Flußleute - ein achtlos weggeworfenes Schwert, ein vergessenes Kleidungsstück, einmal einen Schuh, der mitten auf der Treppe lag, aber nichts rührte sich und niemand behinderte sie auf ihrem Weg hinauf in den Turm.

Das sollte sich aber ändern, als sie die Turmkammer erreichten, in der sie Themistokles vor so langer Zeit zurückgelassen hatten.

Vor der Tür standen zwei Flußmänner mit gezückten Waffen, und zwischen ihnen, wie ein kantiger Alptraum aus poliertem Stahl, stand die gigantische Gestalt eines Eisenmannes. »Keinen Schritt weiter!« sagte der eine. Sein Blick wanderte einen Moment unentschlossen zwischen Kim und dem Steppenkönig hin und her, dann wandte er sich an letzteren. »Keinen Schritt weiter, König Priwinn, sonst werden wir den Zauberer töten.« Und der andere fügte kalt hinzu: »Falls Ihr uns nicht glaubt: Seht her!«

Er stieß die Tür auf, so daß sie in den dahinterliegenden Raum blicken konnten. Und was sie sahen, das entrang ihnen einen entsetzten Aufschrei.

Themistokles saß aufrecht auf seinem Stuhl neben dem Fenster, aber sie erkannten ihn kaum wieder. Ein uralter, zitternder Greis mit faltigem Gesicht und trübe gewordenen Augen, dessen Haar in langen Strähnen über seine Schultern und vor dem Gesicht herabfiel, und der kaum noch die Kraft zu haben schien, sich auf dem Sitz zu halten. Er war mit einer dünnen, schwarzen Kette aus Zwergenstahl angebunden. Hinter dem Stuhl stand ein Eisenmann, und seine gewaltige Linke war in einer drohenden Geste nach Themistokles ausgestreckt. Das unheimliche grüne Auge schien spöttisch zur Tür zu funkeln.

»Was soll das?« fragte Priwinn scharf, senkte aber gehorsam das Schwert. »Ihr wißt, daß ihr verloren habt.«

»Das mag sein«, antwortete einer der Männer ruhig.

»Oder auch nicht, wie Ihr seht.«

Er zuckte mit den Schultern und fuhr im gleichen, fast gelassenen Tonfall fort: »Es hängt davon ab, was Euch das Leben des Zauberers wert ist.«

Kim trat einen halben Schritt zurück und zur Seite, so daß er unmittelbar hinter Priwinn stand. Der Krieger sah ihn einen Moment lang mißtrauisch an, konzentrierte sich aber dann wieder ganz auf Priwinns Gesicht, und Kim brachte das Kunststück fertig, Priwinn ins Ohr zu flüstern, ohne dabei auch nur im mindesten die Lippen zu bewegen: »Halt sie irgendwie hin. Ich bin gleich zurück.«

Dann wich er, Schritt für Schritt rückwärts gehend, zurück, bis er unter den Füßen die erste Stufe der Treppe spürte, fuhr herum und rannte, immer zwei, drei, ja sogar vier Stufen auf einmal nehmend, wieder den Turm hinunter und aus dem Palast hinaus.

So schnell er nur konnte, hetzte er den Weg zurück, den sie gekommen waren, und erreichte schließlich das Tor. Er war so erschöpft, daß er mehrmals stolperte und stürzte, und es fiel ihm schwer, wieder aufzustehen und weiterzurennen. Sein Herz hämmerte so hart, daß es weh tat, und er fürchtete schon, in wenigen Augenblicken einfach zusammenzubrechen. Trotzdem - jede Sekunde war kostbar und konnte über Leben und Tod des alten Magiers entscheiden. Dabei waren es weniger seine Bewacher, die Kim fürchtete. Es war Priwinn! Er hatte den Ausdruck in seinen Augen gesehen, als er den gefesselten Magier anblickte. Kim wußte, der Steppenkönig würde eine Menge tun, um Themistokles' Leben zu retten. Aber er würde nicht den Sieg dafür hergeben!

Mehr torkelnd als rennend schoß Kim aus dem Stadttor und sah sich um. Zu seiner unendlichen Erleichterung entdeckte er den Tatzelwurm fast genau dort, wo er ihn zuletzt gesehen hatte.

Der Drache hatte aufgehört zu toben und saß starr und wie gelähmt da. Seine feuerroten Augen blickten haßerfüllt auf die Menschen herab, die ihn in einem weiten, respektvollen Kreis umgaben und mit einer Mischung aus Furcht und Neugier auf ihn starrten. Nur manchmal stieß er ein tiefes, grollendes Knurren aus und bleckte die Zähne.

Kim stolperte abermals, fiel auf die Knie und blieb keuchend und mit geschlossenen Augen hocken, bis er überhaupt die Kraft fand, aufzustehen. Wie ein Betrunkener hin- und herschwankend, kämpfte er sich durch die Gaffer. Eine Hand griff nach ihm und wollte ihn zurückreißen, als er sich ganz vorne zwischen ihnen hindurchzwängte, um auf den Tatzelwurm zuzulaufen, aber Kim entschlüpfte ihr, lief weiter und ließ den Chor aus entsetzten Stimmen hinter sich.

Der Kopf des Drachen ruckte herum. Für einen Moment flammte in seinen Augen pure Mordlust auf, aber dann erkannte er Kim, und aus dem bodenlosen Haß in seinem Blick wurden Zorn und Verwirrung - und so etwas wie ein Vorwurf, den Kim nicht verstand, der ihm aber sehr weh tat. Als er näher kam, sah er, daß der Drache verletzt war. Selbst seine dicke Haut hatte dem Bombardement aus Steinen und Speeren und Pfeilen auf Dauer nicht standhalten können. Er blutete aus zahllosen Wunden, von denen einige sehr schwer zu sein schienen. Eine seiner riesigen Schwingen hing herab, als hätte er nicht mehr die Kraft, sie an den Körper zu falten. Aber Kim achtete im Moment darauf nicht weiter, sondern lief direkt zwischen den Vorderpfoten des Tatzelwurms hindurch, sprang mit einem Satz auf seinen Rücken hinauf und beugte sich über das wimmernde Bündel, das sich im Nacken des Riesendrachen zusammengekrümmt hatte.

Kim spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust, als er sah, in welch erbärmlichem Zustand sich der Zwergenkönig befand. Anders als Peer und Kim war er nicht heruntergeschleudert worden, denn er war ja noch immer mit der Kette an seinen Hals gebunden. So hatte er die ganze, fürchterliche Wucht des Anpralls mitbekommen, mit dem der Tatzelwurm das Stadttor zerschmettert hatte. Zuerst fürchtete Kim schon, der Zwerg wäre tot, denn er regte sich gar nicht, als er ihn auf den Rücken drehte und seine Kapuze zurückschlug. Dann aber öffnete Jarrn mühsam die Augen, blinzelte Kim an, ohne ihn wirklich zu erkennen, und gab ein leises, gequältes Stöhnen von sich.

»Es tut mir leid«, murmelte Kim, und er meinte diese Worte wirklich ernst. Denn obwohl Jarrn einen guten Teil zu dem Unglück hier beigetragen haben mochte, so hatte Kim doch gleichzeitig das Gefühl, daß der Zwergenkönig von allen vielleicht noch der Unschuldigste war. Er verscheuchte diesen sonderbaren Gedanken, griff unter den Gürtel und suchte den Schlüssel heraus. Seine Hände zitterten leicht, als er die Kette an Jarrns Fußgelenk löste, und der Zwerg stöhnte vor Schmerz, als er ihn auf die Arme hob und behutsam aufrichtete.

»Es wird schon wieder gut, Jarrn«, sagte er, während er vorsichtig den Rücken des Tatzelwurms entlangbalancierte und nach einer Stelle suchte, an der er hinuntersteigen konnte, ohne mit dem Gewicht des Zwerges auf den Armen das Gleichgewicht zu verlieren. »Wir werden dich verarzten. Aber zuerst mußt du uns helfen.«

»Helfen?« stöhnte Jarrn. »Du bist... tatsächlich ... so bescheuert ... wie ich immer gedacht habe. Wobei sollte ich dir noch helfen?«

Kim ersparte sich eine Antwort, kletterte vorsichtig vom Rücken des Tatzelwurms herab und lief den Weg zurück. Die Reihen der Umstehenden teilten sich vor ihm, als er mit dem Zwerg auf den Armen auf sie zustürmte, und verwunderte Blicke und Ausrufe folgten ihm. Diesmal versuchte niemand, Kim aufzuhalten. Unbehelligt erreichte er das Tor, überquerte den großen Platz dahinter und machte sich zum zweitenmal auf den Weg zum Burgschloß.

Er war nun am Rande der Erschöpfung und trug noch dazu den Zwergenkönig auf seinen Armen. Einige Male übermannte ihn die Schwäche mit solcher Macht, daß er sich gegen eine Wand lehnen mußte, um neue Kräfte zu schöpfen. Einmal ließ er Jarrn sogar fallen. Der Zwerg prallte mit einem dumpfen Laut auf dem gläsernen Straßenpflaster auf und begann sofort, in altgewohnter Manier zu schimpfen. Keuchend hob ihn Kim wieder hoch und taumelte weiter. Als er den Eingang des Palastes erreichte, trat ihm ein Steppenreiter entgegen und wollte ihm grimmig den Zwerg abnehmen, aber Kim schüttelte nur den Kopf und ging an ihm vorbei. Stufe für Stufe quälte er sich die gewaltige Wendeltreppe zur Turmkammer hinauf und blieb erst stehen, als er dicht unterhalb der letzten Windung angelangt war; noch zwei oder drei Stufen, und er war da. Schon konnte Kim die Stimmen hören. Er verstand die Worte nicht, aber es klang nach einem scharfen Wortwechsel. Behutsam lud er Jarrn ab, ließ sich neben ihn auf die gläserne Stufe sinken und verbarg erschöpft für einen Moment das Gesicht zwischen den Händen.

»Und jetzt?« fragte Jarrn.

Etwas am Klang seiner Stimme ließ Kim aufblicken. Der Zwerg stand aufrecht und grinsend vor ihm, und er wirkte mit einem Male recht quicklebendig und gar nicht schwach. Sein Mantel hing in Fetzen, aber damit hatte er sich wenig verändert zu früher, und seine Haut war zerschunden und zerkratzt. Aber das hämische Grinsen auf seinem Gesicht war beinahe fröhlich, und seine dunklen Augen musterten Kim mit boshafter Schadenfreude.

»Du ... kannst laufen?« flüsterte Kim matt.

»Natürlich kann ich laufen«, antwortete Jarrn. Er hüpfte auf der Stelle und hob beide Arme über den Kopf, um es zu beweisen. »Mir fehlt nichts. Ich fühl' mich prima. Um mich umzubringen, muß schon mehr kommen als so eine größenwahnsinnige Nacktschnecke.«

»Und dann läßt du dich das ganze Stück tragen?« murmelte Kim. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, zornig zu sein. »Warum hast du nicht gesagt, daß du laufen kannst?«

»Du hast mich nicht danach gefragt, oder?« gab Jarrn schnippisch zurück. »Ich dachte, es macht dir Spaß.« Kim schluckte die ärgerliche Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Es war auch egal, Jarrns kurze Beine wären ohnehin zu langsam gewesen.

»Ich brauche deine Hilfe, Jarrn.«

»Meine Hilfe?« Jarrn kicherte. »Ich habe es dir ja schon gesagt - du spinnst.«

»Ich meine es ernst, Jarrn«, fuhr Kim fort. »Themistokles' Leben steht auf dem Spiel.«

Der Zwerg blinzelte. »Sein Leben?«

»Die Flußleute haben ihn in ihrer Gewalt.« Kim deutete mit einer Kopibewegung nach oben. »Sie wissen, daß sie nicht mehr entkommen können. Sie sind verzweifelt. Und ich glaube, sie werden etwas Verzweifeltes tun, wenn Priwinn nicht nachgibt.«

»Das wird er nicht«, sagte Jarrn plötzlich sehr ernst.

»Das fürchte ich auch«, antwortete Kim müde. »Er hat sich so verändert, Jarrn. Er ist hart geworden. Oft erkenne ich ihn kaum wieder.«

»Und was kann ich dabei tun?« erkundigte sich Jarrn. »Die Flußleute gehorchen mir sowenig wie dir. Sie sind nicht unsere Freunde - hast du das schon vergessen?«

»Nein«, erwiderte Kim. »Aber sie haben zwei Eisenmänner bei sich. Wie kommt das?«

»Eisenmänner?« Jarrns linke Augenbraue rutschte überrascht fast bis auf die Mitte seiner Stirnglatze hinauf. »Sie haben Eisenmänner?«

Der Zwerg wirkte erschrocken und ziemlich verwirrt, auch ein bißchen besorgt, fand Kim. Und erst jetzt, als er das Erstaunen auf Jarrns Gesicht sah, wurde ihm klar, daß er im ganzen Heer der Flußleute nicht einen einzigen Eisenmann gesehen hatte. Dabei hätte einer dieser stählernen Kolosse hundert von Priwinns Reitern aufgewogen.

»Bitte hilf uns, Jarrn«, bat Kim. »Ich verspreche dir die Freiheit. Ich lasse dich gehen, sobald Themistokles in Sicherheit ist. Darauf hast du mein Wort.«

»Ich schätze, dein Wort ist im Moment nicht viel wert«, meinte Jarrn schnippisch. »Warum sollte ich dir helfen? Weißt du, was ,du angerichtet hast? Weißt du, wieviel Schaden du uns zugefügt hast? Mehr als dieser verrückte Grasfresser und all seine Freunde zusammen.«

Kims Augen füllten sich beinahe mit Tränen vor Verzweiflung. »Bitte, Jarrn«, flehte er. »Du ... du kannst verlangen, was du willst. Meinetwegen begleite ich dich wieder als dein Gefangener, und ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich nicht wieder zu fliehen versuche. Aber hilf uns! Rette Themistokles. Von allen hier ist er am wenigsten euer Feind.«

Lange, lange blickte Jarrn ihn auf eine Art an, die Kim schaudern ließ. Er durchschaute diesen Zwerg einfach nicht. Meist benahm er sich samt seinen Untertanen gehässig und kindisch, oder er schien der Inbegriff der Bosheit zu sein - und dann wieder entdeckte Kim auf Jarrns Zügen etwas völlig anderes: Weisheit, wenn auch von einer Art, die er vielleicht niemals begreifen würde.

»Also gut«, stimmte Jarrn schließlich zu. »Aber ich tu' es nicht für dich und schon gar nicht für diesen rasenden Grasfresser dort oben. Ich tu' es nur für Themistokles, und danach bin ich frei und gehe meiner Wege.«

»Darauf hast du mein Wort«, bestätigte Kim. Er stand auf und wollte weitergehen, aber Jarrn schüttelte den Kopf und rief ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Warte einen Moment hier«, sagte er. »Ich muß ... auf einem anderen Weg gehen. Wenn sie mich sehen, werden sie sofort begreifen, was los ist, und den Zauberer töten. Ich kenne diese Flußleute. Sie sind ein gemeines, niederträchtiges Volk. Es ist ihre Art, das zu zerstören, was sie nicht haben können.«

Kim nickte müde. »Ich warte hier«, sagte er. »Ich werde langsam bis dreißig zählen - reicht das?«

»Besser bis fünfzig«, sagte Jarrn nach kurzem Überlegen. »Falls du so weit zählen kannst.«

»Ich kann es ja mal versuchen.« Kim rang sich ein müdes Lächeln ab - und riß erstaunt die Augen auf, als Jarrn plötzlich verschwunden war. Es war, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst. Erst nach einigen Augenblicken begriff Kim, daß sich der Zwerg so schnell bewegt hatte, daß sein Auge ihm einfach nicht mehr hatte folgen können. Er bot wirklich ständig neue Überraschungen.

Kim schüttelte verblüfft den Kopf, starrte die Stelle an, an der Jarrn eben noch gestanden hatte. Dann begann er zitternd vor Ungeduld, aber mit erzwungener Ruhe bis fünfzig zu zählen. Als er fertig war, gab er noch zwei, drei Atemzüge hinzu, straffte die Schultern und ging so ruhig er konnte die Treppe hinauf.

Seit er zurückgelaufen war, um den Zwerg zu holen, hatte sich das Bild nicht im mindesten geändert. Die beiden Flußleute und der Eisenmann standen noch immer vor der Tür, und Priwinn - der inzwischen von acht oder zehn seiner Steppenreiter umgeben war - stand auf der anderen Seite des Ganges und funkelte sie haßerfüllt an. Als er Kims Schritte hörte, wandte er den Blick und brach mitten im Wort ab. Er runzelte fragend die Stirn, und auf seinem Gesicht erschien ein verärgerter Ausdruck, als Kim nicht darauf reagierte. Dann wandte er sich mit einem Ruck wieder an die beiden Flußmänner und hob fordernd die Hand. »Also - entscheidet euch. Freies Geleit für euch und für die, die sich noch innerhalb der Mauern befinden: wenn ihr all eure Waffen abgebt und uns die Eisenmänner ausliefert. Wir verlangen die Zerstörung sämtlicher Maschinen, die die Zwerge für euch gebaut haben.«

»Niemals«, antwortete der Flußmann. »Mit Verlaub, König Priwinn - Ihr habt nur die Schlacht gewonnen, nicht den Krieg.«

»Du verlangst, daß wir euch gehen lassen und eurem Wort vertrauen, daß ihr nicht zurückkommt und versucht, die Niederlage wettzumachen?« Priwinn lachte hart. »Du bist verrückt! Gebt eure Waffen ab und liefert uns diese Kreaturen aus, und ihr dürft gehen. Sonst nicht.«

»Dann stirbt der Zauberer«, antwortete der Flußmann ernst.

»Vielleicht«, antwortete Priwinn sehr ernst. »Aber ich werde nicht das Schicksal meines ganzen Volkes aufs Spiel setzen, um ein Leben zu retten. Und wäre es mein eigenes, würde ich nicht anders entscheiden.«

Kim hörte diesen Worten mit kaltem Schrecken zu. Das war nicht mehr der fröhliche, stets zu Scherzen aufgelegte Junge, den er kennengelernt hatte. Priwinn war zum Mann geworden. Aber er war ein harter, ein allzu harter Mann. »Eure Frist läuft ab«, fuhr Priwinn fort, als die Flußmänner nicht antworteten. »Entscheidet euch, oder -«

»Oder?« fragte der Flußmann lauernd.

Priwinn zog langsam das Schwert aus dem Gürtel, und alle seine Begleiter taten es ihm gleich, so daß sich die beiden Flußmänner plötzlich einem Dutzend gezückter Klingen gegenübersahen. Im gleichen Moment glaubte Kim eine schattenhafte Bewegung in dem Raum hinter der Tür wahrzunehmen. Er beherrschte sich mit aller Macht, um nicht erschrocken zusammenzufahren oder zu auffällig dorthin zu blicken, aber er war sicher, sie gesehen zu haben. Einen Augenblick später sah er sie noch einmal. Und dann erblickte er Jarrn, der lautlos wie ein Schatten hinter Themistokles' Stuhl hervorgetreten war und den Eisenmann anstarrte, der den Alten bewachte.

Da schien sich etwas in dem grünen Auge zu ändern. Für einen Moment flackerte es, dann beugte sich die eiserne Gestalt vor, packte mit der linken, kräftigen Hand die Kette, mit der Themistokles angebunden war, und riß mit aller Gewalt daran.

Nicht einmal seine Kräfte reichten aus, die Kette aus Zwergenstahl zu zerbrechen; wohl aber den Stuhl, auf dem der Zauberer saß. Krachend brach das Möbel zusammen, und Themistokles stürzte schwer zu Boden.

Die beiden Flußmänner vor der Tür fuhren erschrocken herum, auch ihr eiserner Begleiter hob sein Schwert. Und mit einemmal ging alles so schnell, daß Kim nicht einmal alles mitbekam.

Priwinn stürzte mit einem gellenden Schrei vor und durchbohrte den Eisenmann mit seinem magischen Schwert. Seine Begleiter fielen so rasch über die beiden Flußleute her, daß diese sich gar nicht wehren konnten. Binnen kurzem lagen sie hilflos und von starken Armen niedergehalten am Boden, während Priwinn und dicht hinter ihm auch Kim über den gestürzten Eisenmann hinwegsetzten und auf Themistokles zurannten.

Das hieß - Kim rannte auf ihn zu. Priwinn riß mit einem abermaligen gellenden Schrei sein Schwert in die Höhe und stürzte sich auf den zweiten Eisenmann. Der Zwergenkönig riß erschrocken die Arme in die Höhe und wollte ihm den Weg vertreten, aber Priwinn rannte ihn einfach über den Haufen, schwang seine Klinge und enthauptete den stählernen Koloß mit einem einzigen, gewaltigen Hieb. Polternd stürzte die Gestalt zu Boden und blieb reglos liegen.

Indessen kniete Kim hastig neben Themistokles nieder. Der alte Mann stöhnte leise, aber er schien sich bei dem Sturz vom Stuhl nicht ernsthaft verletzt zu haben. Er war nur schwach und unendlich müde. Seine Augen blickten Kim voll Erschöpfung und Trauer an, als wüßte er, daß seine Lebenszeit endgültig abgelaufen war. Der Anblick brach Kim fast das Herz. Es war nicht das, was die Flußleute Themistokles angetan hatten: Es war so, wie Rangarig vor so langer Zeit gesagt hatte: Der Zauber dieser Welt erlosch, und mit ihm lief auch die Zeit ihres ältesten und mächtigsten Magiers ab.

»Was ist mit ihm?« fragte Priwinn gehetzt. »Ist er verwundet? Haben sie ihm etwas getan?«

»Nein«, flüsterte Kim. Er schüttelte langsam den Kopf, erhob sich wieder und beugte sich dann noch einmal herab, um Themistokles aufzuhelfen. Priwinn wollte ihm beistehen, aber Kim wehrte seine Hand ab und hob den zerbrechlichen Körper des alten Mannes ganz allein in die Höhe. Themistokles schien fast nichts mehr zu wiegen. Obwohl er einst hochgewachsen war, spürte Kim sein Gewicht jetzt nicht halb so schwer wie das des Zwerges auf den Armen. Kims Augen füllten sich mit Tränen, als er sich umdrehte und Themistokles behutsam zu dem einfachen Bett neben der Tür trug, um ihn daraufzulegen, »Was ist mit ihm?« fragte Priwinn noch einmal. Seine Stimme klang scharf, und als Kim auch diesmal nicht antwortete, da riß er ihn grob an der Schulter herum.

Kim schlug seine Hand beiseite und funkelte ihn an. »Er stirbt, du Narr!« sagte er wütend. »Siehst du das nicht?« Priwinn wurde kreidebleich und beugte sich vor, um dem Zauberer ins Gesicht zu sehen. Und auch Kim trat an sein Lager heran.

Themistokles öffnete die Augen und lächelte ganz schwach. Seine Stimme war so leise, daß sie einem Flüstern glich, und doch war sie klar und deutlich zu verstehen. »Noch nicht, kleiner Held«, sagte er lächelnd. »Meine Zeit läuft ab, aber noch ist es nicht soweit. Unsere Welt stirbt, und ich mit ihr, doch es gibt eine Rettung. Du hast uns einmal geholfen, Kim. Tu es noch einmal.«

»Aber wie?« fragte Kim verzweifelt. »Ich ... ich habe alles versucht! Ich würde mein Leben geben, wenn es etwas nützte.«

»Manchmal ist ein Leben zuwenig«, flüsterte Themistokles traurig. »Hilf ihnen, Kim. Du bist vielleicht der einzige, der es jetzt noch kann. Ich bin zu schwach dazu.«

Und damit schloß er die Augen. Seine Atemzüge wurden flacher und ruhiger; er war in einen tiefen, tiefen Schlaf gesunken, aus dem er vielleicht nie wieder erwachen würde.

Obwohl die Schlacht entschieden war, tobten noch Scharmützel die ganze Nacht hindurch. Überall in den Gassen hatten sich noch Gruppen der Flußleute verschanzt, die sich mit erbitterter Kraft verteidigten, obwohl sie längst eingesehen haben mußten, daß sie nichts mehr gewinnen konnten. Aber nach und nach wurde das Klirren der Waffen und das Schreien und Rufen leiser, und die Stadt füllte sich mit anderen, nicht minder falschen Geräuschen: dem Klappern von Pferdehufen auf dem gläsernen Pflaster, dem Lachen und Singen der Männer, die ihren Sieg feierten, dem Prasseln großer Feuer, die überall im Freien entzündet worden waren, denn das Heer war viel zu gewaltig, als daß die Männer allesamt in den Häusern Unterkunft hätten finden können. Auch die Burg hallte bald wider von Schritten und Stimmen, denn Priwinn und seine Heerführer hatten sie zu ihrem Hauptquartier erkoren.

Kim bemerkte von all dem nicht viel. Er saß an Themistokles Bett, hielt die schmale faltige Hand des Alten in der seinen und wartete gebannt darauf, daß der Zauberer erwachte. Manchmal war er allein, manchmal waren Steppenreiter oder auch Baumleute bei ihm, und ein- oder zweimal kam Priwinn herein und sprach ihn an, bekam aber niemals eine Antwort.

Erst lange nach Mitternacht fuhr Kim aus seinem Brüten hoch, als er Lärm von der Tür her hörte und einen Moment später der Steppenkönig hereinkam, gefolgt von einer mehr als doppelt mannshohen, breitschultrigen Gestalt, die einen zappelnden Zwerg in der linken und einen lautstark schimpfenden Jungen in der rechten Hand trug, als wären sie Puppen.

Ein roter Federball saß auf seiner rechten Schulter, und zwischen seinen Beinen glitt die schwarze schlanke Gestalt Sheeras ins Zimmer.

»Gorg!« rief Kim erleichtert. »Du lebst!«

»Na ja«, meinte Bröckchen, vorlaut wie immer. »War knapp. Wäre ich nicht rechtzeitig gekommen, hätten sie ihn erwischt.«

Der Riese grinste. Er setzte den Jungen - bei dem es sich um niemand anderen als Peer handelte - vor Kim auf den Boden. »Natürlich lebe ich«, sagte er. »Was hast du denn gedacht?«

»Der Bursche da behauptet, er gehört zu dir«, sagte Priwinn und deutete auf Peer. »Ist das wahr?«

»Er ist mein Freund«, bestätigte Kim.

Peer starrte den Steppenkönig haßerfüllt an, und plötzlich fiel Kim wieder ein, was er ihm erzählt hatte an ihrem ersten Abend in den Höhlen der Zwerge. Er warf Peer einen fast beschwörenden Blick zu und stand auf. »Er hat mir bei der Flucht geholfen«, fuhr er fort. »Ohne ihn hätte ich es kaum geschafft.«

Der Blick, mit dem Priwinn den Jungen musterte, war gleichfalls alles andere als freundlich. Offensichtlich beruhte die Abneigung auf Gegenseitigkeit, dachte Kim. Und dann fiel ihm etwas anderes ein. Er drehte sich herum und blickte zu Gorg hinauf, der noch immer den zappelnden Zwerg in der linken Hand trug, als hätte er ihn dort glattweg vergessen. »Laß ihn herunter, Gorg«, bat er.

Der Riese sah ihn erstaunt an und tauschte einen fragenden Blick mit Priwinn, ehe er tat, was Kim verlangte. Er setzte Jarrn auf den Boden, hielt aber weiter dessen Schulter fest. Der Zwerg spuckte Gift und Galle und versuchte, die Finger des Riesen aufzubiegen, natürlich ohne den mindesten Erfolg.

»Laß ihn gehen«, sagte Kim.

»Wie bitte?« wiederholte Priwinn ungläubig.

Kim nickte und deutete mit einer Kopfbewegung auf Jarrn. »Ich habe ihm die Freiheit versprochen«, sagte er. »Wenn er nicht gewesen wäre, dann wäre Themistokles jetzt vielleicht tot.«

»Unsinn!« behauptete Priwinn. »Wir hätten diese Lumpen schon irgendwie überwältigt. Bist du verrückt, ihn freilassen zu wollen? Weißt du, wer das ist?«

»Ja«, nickte Kim. »Der König der Zwerge.«

»Eben!« rief Priwinn in fast triumphierendem Tonfall. »Einen wertvolleren Gefangenen können wir uns kaum wünschen. Es war sehr klug von dir, ihn mitzubringen. Er wird uns noch von großem Nutzen sein.«

»Ich habe ihm mein Wort gegeben«, sagte Kim traurig. »Das war vielleicht etwas voreilig«, meinte Priwinn kalt. »Es tut mir leid - aber er bleibt hier. Es ist noch nicht vorbei, Kim. Der Flußmann hatte recht, wir haben eine Schlacht gewonnen, aber nicht den Krieg.«

»Wie meinst du das?«

»Wir haben Gorywynn zurückerobert und das Heer der Piraten vertrieben«, antwortete Priwinn, »aber das heißt nicht, daß wir gesiegt haben. Im Gegenteil.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Ich fürchte, das Schlimmste steht uns noch bevor.«

Kim warf einen erschrockenen Blick in das Gesicht des Zwerges. Jarrn musterte den Steppenkönig kalt, aber Kim gewahrte auch ein dünnes, böses Lächeln in seinen Augen. Priwinn hatte recht - es war noch nicht vorbei. Und plötzlich erinnerte er sich auch wieder an die scheinbar unerklärliche Fröhlichkeit und Gelassenheit, mit der Jarrn sowohl ihre Flucht als auch seine Gefangennahme hingenommen hatte. »Du meinst, sie werden wiederkommen?« fragte er.

»Die Flußleute?« Priwinn schüttelte den Kopf. »Kaum. Sie haben sich blutige Nasen geholt und werden eine ganze Weile brauchen, um sich davon zu erholen. Aber unsere Späher berichten seit Tagen von einem Heer, das sich auf dem Weg hierher befindet. Wenn kein Wunder geschieht, so wird es spätestens bei Sonnenaufgang eintreffen.«

»Was für ein Heer?« fragte Peer.

Priwinn sah ihn an, als überlege er allen Ernstes, ob es der Junge überhaupt wert sei, eine Antwort zu erhalten. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte - allerdings nicht zu Peer, sondern in Kims Richtung gewandt: »Eisenmänner.«

»Eisenmänner?!« Kim fuhr zusammen wie unter einem Hieb und blickte Jarrn aus weit aufgerissenen Augen an. »Ist das wahr?« flüsterte er.

Jarrn grinste hämisch. »Hast du gedacht, wir sehen zu, wie ihr alles zerschlagt, was wir aufgebaut haben, Blödmann?«

»Wie viele sind es?« Kim erschauerte.

»Tausende«, fiel Gorg ein. Und Priwinn fügte hinzu: »Alle, die uns entkommen sind. Und vermutlich alle, die sie noch in ihren Schmieden gefertigt haben. Du bist dagewesen, Kim. Du solltest besser wissen als wir, wie viele es sind.« Aber Kim schüttelte nur den Kopf. »Ich habe keinen einzigen von ihnen gesehen«, sagte er. »Sie müssen sie weggeschafft haben. Oder sie stellen sie an einem anderen Ort her.«

In den Augen des Zwerges erschien ein Ausdruck, als hätte Kim etwas ungemein Lustiges gesagt. Er grinste noch breiter als sonst, sagte aber kein Wort. »Dann war alles umsonst«, flüsterte Kim niedergeschlagen.

Priwinn schüttelte heftig den Kopf. »Keineswegs«, sagte er. »Wir haben die erste Schlacht gewonnen, und jetzt, wo du da bist, werden wir auch die zweite gewinnen. Und wenn es dir gelingt, den Tatzelwurm weiter im Zaum zu halten, dann steht unsere Sache gut.«

Kim hatte ihm erzählt, was zwischen ihm und dem Tatzelwurm vorgefallen war. Aber offensichtlich hatte Priwinn gar nicht verstanden, was er gesagt hatte. Kim zweifelte, daß sie siegen konnten. Zwar war der Tatzelwurm mit seinen ungeheuerlichen Körperkräften ein wertvoller Verbündeter, aber selbst dieser Gigant war nicht unverwundbar, wie die Schlacht heute bewiesen hatte. Schließlich hatten die Eisenmänner ihn schon einmal besiegt.

Traurig sah er auf das Bett mit dem schlafenden Zauberer herab. Wäre Themistokles doch nur wach. Würde er doch nur noch einmal die Augen öffnen, um ihm zu sagen, was zu tun war. Alles war so verwirrend.

Niedergeschlagen blickte Kim den Zwerg an. »Bist du deshalb so guter Dinge?« fragte er.

Gorg verstärkte seinen Griff um Jarrns Schulter, und der Zwerg verzog schmerzhaft das Gesicht. »Was ist? Antworte.« Jarrn kicherte böse, obwohl er sich gleichzeitig unter Gorgs kräftigem Händedruck wand. Aber er schwieg wohlweislich. Priwinn ballte zornig die Faust und machte einen Schritt auf den Zwerg zu. »Freu dich nur nicht zu früh, Zwerg«, sagte er und machte eine befehlende Geste in Gorgs Richtung. »Sperr ihn irgendwo ein, Gorg. Und stell zwanzig der besten und tapfersten Krieger zu seiner Bewachung bereit.«

Der Riese ging, um zu tun, was Priwinn ihm befohlen hatte. Für eine Weile wurde es danach sehr still in der Turmkammer, und es war ein Schweigen von unbehaglicher Art, das sich ausbreitete. Priwinn sah Kim an, und Kim spürte, daß der Freund auf etwas wartete, darauf, daß er etwas ganz Bestimmtes sagte oder tat. Er wußte auch, was es war. Aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Es war ein Moment der Entscheidung. Und wenn Kim sich jetzt falsch entschied ... Priwinn band den Schwertgurt ab und legte ihn vor Kim auf den Tisch, zögerte noch einmal und stellte schließlich seinen Helm daneben. »Das gehört dir«, sagte er. Kim schüttelte den Kopf.

»Aber du hast dich doch längst entschieden«, sagte Priwinn mit einem dünnen, beinahe traurigen Lächeln. Er kam näher, legte Kim die Hand auf die Schulter und sah ihm ernst in die Augen. »Glaube nicht, daß ich dich nicht verstehe. Auch mir bricht es das Herz, die Waffe gegen mein eigenes Volk erheben zu müssen. Aber es bleibt keine andere Wahl.«

»Ich kann das nicht«, murmelte Kim. Aber ganz überzeugt war nicht einmal mehr er selbst von seinen Worten. »Du hast es bereits getan«, anwortete Priwinn. »Heute abend in der Schlacht um Gorywynn - hast du da nicht mitgekämpft? Und als du und dein Freund hier aus den Höhlen der Zwerge geflohen seid, habt ihr euch euren Weg in die Freiheit nicht erkämpft?«

»Das war etwas anderes«, murmelte Kim.

»War es das?« fragte Priwinn leise. »War es das wirklich?« Kim wußte keine Antwort darauf. Und nach einer Weile drehte sich der Steppenkönig wortlos weg, legte auch den Rest seiner schwarzen Rüstung ab und legte ihn auf den Tisch neben das Schwert und den Helm. »Es gehört dir«, sagte er noch einmal. »Morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, wirst du es tragen und uns in die letzte Schlacht führen.«

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