XIV

Stunde um Stunde trugen Rangarigs Schwingen sie weiter nach Norden. Das Bild unter ihnen änderte sich nicht. Wo der unübersteigbare Fels des Schattengebirges gewesen war, an denen Märchenmond einst endete, da zog sich jetzt ein eiserner Fluß entlang, schnurgerade floß das Wasser, das klar wie Kristall, aber ohne jedes Leben war. Einmal glitten sie über ein buckliges schwarzes Schiff hinweg, das ohne Segel und gegen die Strömung auf dem Fluß fuhr und übelriechenden Qualm ausstieß.

»Was ist das?« schrie Kim über das Heulen des Windes und das Schlagen von Rangarigs gewaltigen Schwingen hinweg.

»Flußleute!« brüllte Priwinn zurück.

Seltsam, Kim hatte nie von ihnen gehört. Priwinn schien seine Ratlosigkeit zu spüren, denn er rief nach einer winzigen Pause - und in deutlich zornigem Ton: »Besser, man geht ihnen aus dem Weg. Es ist ein räuberisches Volk. Piraten! Niemand weiß genau, woher sie kommen, aber es heißt, daß es der Fluß ist, der sie verwandelt.«

»Du meinst, sie sind erst böse geworden, als sie -«

»- diesen Fluß betraten, richtig«, schrie Priwinn den Satz zu Ende. Sie hatten jetzt keine Kraft mehr, das Brausen und Rauschen rund um sie zu übertönen.

Dann und wann sahen sie jetzt sogar ein einsames Haus am Ufer des Eisenflusses, einen winzigen Hof, einmal sogar eine befestigte Stadt, deren graue Häuser sich hinter Wällen aus Eisen verbargen, obwohl es in dieser unwirtlichen Gegend rein gar nichts gab, wovor sich ihre Bewohner hätten fürchten müssen.

Kim schätzte, daß sie seit drei oder vier Stunden unterwegs waren, und sie mußten die Strecke, die Gorg, Priwinn und er damals unter der Erde in Tagen bewältigt hatten, schon fast hinter sich gebracht haben. Trotzdem war noch kein Ende des schnurgeraden Flußlaufes zu sehen. Rechts und links, so weit Kim auch blickte, war nichts als grauer Fels und scharfkantige, schwarze Lava. Der Gedanke, sich hier anzusiedeln, erschien ihm absurd - und falsch. Dieser Teil der Schöpfung war niemals dafür gedacht gewesen. Hier lag das schweigende Reich der Stille und der Einsamkeit, in der alles Leben nur zugrunde gehen konnte, auf die eine oder andere Art. Endlich begannen die Berge flacher zu werden. Der Fluß war noch immer da, und er strömte noch immer in einem Bett aus Eisen, aber aus den himmelstürmenden Lavanadeln zu beiden Seiten wurden allmählich flache Buckel, schließlich nur noch sanft gewellte Erhebungen und Hügel von brauner Farbe. Kims Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen. Sie näherten sich dem Land der Eisriesen, und bald mußte Burg Weltende in Sicht geraten. Dann würde sich alles entscheiden. Die Eisriesen würden wissen, was zu tun war; und wenn nicht sie, dann der Regenbogenkönig, der hinter dem großen Abgrund des Nichts lebte. Kim war schon einmal dort gewesen, und wenn es sein mußte, dann würde er den Weg noch einmal gehen, so schwer er auch war.

»Es ist zu warm«, rief Rangarig plötzlich.

Kim fuhr aus seinen Gedanken hoch und blinzelte verblüfft. Zu warm? Er fror erbärmlich, obwohl er sich in eine Decke gewickelt hatte, und Bröckchen, das wie immer unter sein Hemd gekrochen war, zitterte wie Espenlaub. Der Wind war so eisig, daß er Kim nicht nur die Tränen in die Augen trieb, sondern sie auch gleich auf seinem Gesicht gefrieren ließ.

»Also, mir ist es kalt genug!« brüllte er zurück. »Ich erstarre gleich zu einem Eiszapfen!«

»Du vielleicht«, knurrte Gorg hinter ihm. »Aber sieh hinab. Wo ist das Eis?«

Kim beugte sich leicht zur Seite, um an Rangarigs schuppigem Hals vorbei in die Tiefe blicken zu können. Unter ihnen zog sich eine schier endlose Einöde aus braunem Morast dahin, hier und da durchbrochen vom blinkenden Spiegel einer halbgefrorenen Pfütze. Kein Eis, so weit das Auge blickte.

»Es ist viel zu warm!« rief Rangarig noch einmal. »Ich gehe runter und sehe mir das an.«

Kim konnte sich auf Anhieb ungefähr zehntausend Dinge vorstellen, die er lieber täte, als in diesem endlosen Matsch herumzuwaten, aber Rangarig hatte bereits die Flügel angelegt und ging fast im Sturzflug nach unten. Als er landete, spritzte der Morast so hoch, daß er sie alle besudelte. Kim schimpfte, fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht und spuckte Schlamm und schmutziges Wasser aus. Auch Bröckchen ließ eine Schimpfkanonade los. Schaudernd sah sich Kim um. Nichts außer braunem Morast und Schlamm. Es war kalt. So kalt, daß sie alle mit den Zähnen klapperten - aber nicht halb so kalt, wie es hätte sein müssen. Wo war der Fluß? Wo waren die Eisriesen? Und vor allem - wo war Burg Weltende, der gewaltige Eispalast der Weltenwächter?

»Steigen wir wirklich ab?« fragte Kim.

Priwinn blickte stirnrunzelnd auf den schlammigen Boden herab. Rangarig war bis an den Bauch im braunen Morast versunken, was sicher an seinem gewaltigen Gewicht lag. Aber auch sie würden sich darin nur mühsam bewegen können.

Zu Kims Erleichterung sagte Gorg: »Wozu? Hier ist nichts mehr, was zu sehen lohnt. Findest du Burg Weltende, Rangarig?«

»Wenn ich hoch genug fliege - vielleicht«, überlegte Rangarig. »Aber das wird verdammt ungemütlich für euch.«

»Dann warten wir hier«, sagte Priwinn. »Kommt.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang er von Rangarigs Rücken und versank sofort bis an die Knie in weichem Schlamm. Kim verzog angeekelt das Gesicht, fügte sich aber in sein Schicksal und folgte Priwinn. Eine Sekunde später machten sie beide einen erschrockenen Hüpfer zur Seite, als auch Gorg in den Morast hinabsprang und sie mit einer neuen Fontäne aus braunem, klebrigem Matsch überschüttete. Rangarig wartete, bis sie sich ein paar Schritte entfernt hatten, dann stieß er sich ab und verschwand mit einem gewaltigen Satz im Himmel.

Kim blickte ihm nach, bis aus dem gewaltigen Drachen ein winziges goldenes Funkeln geworden war, das schließlich ganz verschwand. Er zitterte, aber es war nicht nur die Kälte, die ihn erschauern ließ. Etwas in dieser öden Mondlandschaft aus Schlamm und halbgefrorenen Pfützen machte ihm angst.

»Was mag hier geschehen sein?« flüsterte er schaudernd. Priwinn blickte ihn nur betroffen an, und auch Gorg schwieg, aber plötzlich schob sich ein Teil eines rot-orange-farbenen Gesichtchens unter Kims Hemd hervor, und Bröckchen meldete sich angewidert: »Das waren sie.«

»Sie?«

»Zweibeiner.«

»Du meinst -«, begann Priwinn.

»Wer denn sonst?« Es war nicht Bröckchen, der ihn unterbrach, sondern Sheera. Der Kater, der unter Gorgs Hemd reiste, kletterte jetzt auf die Schulter des Riesen hinauf, wobei er rücksichtslos seine Krallen zu Hilfe nahm. Gorg schien es nicht einmal zu spüren. »Sie waren hier. Ist noch nicht lange her. Ich kann sie noch riechen.«

»Das ... glaube ich nicht«, widersprach Kim unsicher. »Wer wollte in einer Landschaft wie dieser leben?«

»Keiner«, sagte Bröckchen nun wieder. »Na und? Dann ändern sie sie eben. Das alles hier war einmal Eis. Jetzt ist es Schlamm. Bald wird es trocken und warm sein, und sie werden sich ausbreiten wie eine Krankheit, bis sie auch dieses Stück Welt zerstört haben.«

Der Zorn, den Kim in Bröckchens Stimme hörte, erstaunte ihn. Dergleichen hatte er von ihm noch nicht gehört. »Vielleicht ... gibt es ja noch eine andere Erklärung«, meinte Kim stockend. Er hoffte es jedenfalls.

»Die Bauern brauchen Land, um zu leben«, sprang Gorg ihm bei. Aber es klang nicht sehr überzeugend.

»Sie haben kein Recht dazu!« ereiferte sich jetzt Sheera. »Wieso regt ihr beide euch eigentlich so auf?« wollte Priwinn wissen. »Ich meine - wem wird geschadet, wenn ein paar Berge fruchtbar gemacht werden? Vielleicht werden hier bald Blumen und Bäume wachsen -«

»Weil es euch so gefällt?« unterbrach ihn der Kater. Seine Augen wurden zu schmalen, gelben Schlitzen. »Oh, und ich Narr dachte, du wärst anders als der Rest. Aber du bist genauso blind. Wieso muß die ganze Welt so aussehen, wie sie euch gefällt? Glaubt ihr, das alles hier hätte keinen Sinn? Denkt ihr, nur was euch nützlich scheint, dürfte existieren? Da irrst du, Prinz. Wüsten und Meere, unfruchtbare Berge und Eisböden, das alles wurde nicht ohne Zweck erschaffen. Was, wenn eines Tages ein Volk erscheint, das sich nur in trockener Wüste wohl fühlt. Was würdet ihr wohl sagen, wenn sie anfingen, eure Wälder zu roden?«

»Das ist ein Unterschied!« widersprach Priwinn. »Hier lebte schließlich niemand.«

»Und?« schnappte Sheera. »Glaubst du, daß Leben allein zählt? Was hältst du von dem Wort Schöpfung, Zweibeiner? Und vielleicht so etwas wie Respekt davor?«

»Hör auf«, knurrte Gorg. »Rangarig kommt zurück.« Er deutete schräg in den Himmel hinauf, wo ein winziges Funkeln aufgetaucht war.

Priwinn runzelte die Stirn. »Das ging aber schnell. Ich hätte nicht gedacht, daß er so bald wieder zurückkommt.«

»Ja«, fügte Kim hinzu, im gleichen, nachdenklichen Tonfall. »Und außerdem kommt er aus der falschen Richtung«, stellte er erstaunt fest.

»Das ist kein Wunder«, bemerkte Bröckchen trocken. »Weil es nämlich nicht Rangarig ist - RENNT!!!«

Das letzte Wort hatte es so laut gebrüllt, daß Kims Ohren klingelten. Mit einem gewaltigen Satz befreite sich Bröckchen aus seinem Hemd, sprang in den Morast hinab und versank sofort in der braunen Brühe. Sheera stieß ein erschrockenes Fauchen aus und sprang mit einem Satz hinter ihm her.

Aus dem Funkeln am Himmel wurde ein riesiger, grausilberner Umriß, der rasend schnell näher kam. Nein, das war nicht Rangarig.

Aber es war ein Drache!

Er war riesig, viel größer als Rangarig, und er sah auf schwer zu beschreibende Weise böser aus, ein Maschinenungeheuer mit stählernen Schwingen und Zähnen aus blitzendem Chrom. Seine Bewegungen wirkten eckig und ungelenk wie die einer Marionette, deren Spieler noch nicht völlig die Kontrolle über sie gefunden hatte. Und wo Rangarigs Flug vom mächtigen Rauschen seiner Schwingen begleitet wurde, da hörte man nun ein unablässiges Knarren und Ächzen und etwas wie das rhythmische Stampfen eines ungeheuerlichen, eisernen Herzens. Aus den Nüstern des Stahldrachens quoll grauer Dampf, und seine Augen, die aus Glas und zehnmal so starr wie die einer Schlange waren, leuchteten in einem unheimlichen, drohenden Grün. Vier oder fünf in schäbige schwarze Umhänge gekleidete Gestalten hockten im metallischen Nacken des Ungeheuers: Zwerge. Selbst über die noch große Entfernung hinweg konnte Kim ihre triumphierenden Schreie hören, als sie ihre wehrlosen Opfer unter sich erblickten.

Endlich erwachten Kim und die anderen aus ihrer Erstarrung. Gorg war der erste, der herumfuhr und mit Riesensätzen davonzustürmen begann. Und er war es auch, der aus Leibeskräften schrie: »Verteilt euch! Jeder in eine andere Richtung, damit er uns nicht alle auf einmal erwischen kann!«

Kim hatte dem Riesen automatisch folgen wollen, wirbelte aber jetzt auf der Stelle herum und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Auch Priwinn stob davon, ebenso Bröckchen und der Kater, und kaum eine Sekunde später verdunkelte ein gewaltiger Schatten den Himmel. Kim spürte einen harten Schlag, als ihn der Sturmwind der peitschenden Stahlschwingen traf.

Ihr Manöver hatte den Angreifer aus dem Konzept gebracht. Statt dreier winziger, eng beieinanderstehender Opfer, die er wahrscheinlich mit einem einzigen Krallenhieb hätte vernichten können, sah er plötzlich drei in verschiedene Richtungen und noch dazu im Zickzack auseinanderrennende Gestalten. Sein Angriff ging ins Leere. Kim hörte einen mißtönenden, zornigen Schrei, als die stählernen Klauen des Ungeheuers nichts als Morast ergriffen. Dann rauschte das fliegende Ungeheuer so dicht über ihn hinweg, daß ihn der Windzug glatt von den Füßen riß und meterweit durch den Schlamm kollern ließ.

Der weiche Morast dämpfte den Aufprall, aber Kim bekam mit einemmal keine Luft mehr, und für Sekunden war er blind. Als er sich hustend und würgend wieder aufrichtete und sich den Dreck aus den Augen rieb, da hatte der Drache bereits wieder an Höhe gewonnen und schwenkte zu einem neuen Angriff herum.

Kim war nicht besonders überrascht, als er den Kurs der Stahlbestie in Gedanken verlängerte und begriff, daß die nächste Attacke ihm galt. Hastig sprang er auf die Füße, rannte ein paar Schritte und schlug einen Haken nach rechts, wieder ein paar Schritte, dann nach links, und schließlich drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte geradewegs in die Richtung, aus der er gekommen war. Und er hatte noch einmal Glück. Die zupackenden Klauen des Drachen verfehlten ihn bei diesem Angriff nur um einen knappen Meter, aber dicht vorbei war schließlich auch daneben, und diesmal war Kim auf den Faustschlag des Windes vorbereitet und blieb auf den Füßen, als der Drache über ihn hinwegglitt.

Nicht vorbereitet war er aber auf den kaum einen Meter großen Körper, der plötzlich in seinen Nacken stürzte und ihn der Länge nach in den Schlamm fallen ließ.

Instinktiv rollte sich Kim herum, stampfte sein Anhängsel dabei durch sein Gewicht metertief in den Morast und rappelte sich wieder hoch. Hastig fuhr er sich mit den Händen über die Augen, um wenigstens etwas sehen zu können. Eine dürre Hand griff nach seinem Fußgelenk und zerrte daran. Kim riß sich los, aber plötzlich waren zwei weitere Kletten da, die sich auf ihn stürzten, und noch während er versuchte, sich ihrer zu erwehren und dabei sein Gleichgewicht auf dem schlüpfrigen Boden zu halten, tauchten aus dem Schlamm rechts und links von ihm zwei, drei weitere winzige, dürre Gestalten auf: Zwerge, die alle vom Rücken des Drachen heruntergesprungen waren.

Und ein halbes Dutzend davon war selbst für Kim zuviel. Er packte zwei, drei von ihnen und schleuderte sie von sich, aber sie kamen mit phantastischer Schnelligkeit wieder auf die Füße, und sie kämpften wie die Besessenen. Kim duckte sich unter einem wahren Hagel von Hieben und Tritten, und sein Gesicht war bald von Blut besudelt. Es fiel Kim immer schwerer, den wütenden Schlägen auszuweichen, und er spürte, wie seine Kräfte nachließen. Sein Versuch, das Land der wahrgewordenen Träume und Märchen ein zweites Mal zu retten, hätte wahrscheinlich schon in diesem Moment ein unrühmliches Ende gefunden, wäre nicht plötzlich eine hünenhafte Gestalt über ihm aufgetaucht und hätte die Zwerge von ihm heruntergepflückt wie Fallobst.

Gorg schleuderte die Gnome meterweit davon. Einem besonders heimtückischen Zwerg, der plötzlich ein Messer zog und versuchte, damit auf Kim einzustechen, entrang er die Waffe und zerbrach sie vor seiner Nase in zwei Teile, woraufhin der Zwerg mit einem entsetzten Kreischen die Flucht ergriff. Dann riß der Riese Kim auf die Füße.

»Los!« brüllte er. »Nichts wie weg!«

Aber sie kamen nur wenige Schritte weit. Mit einem ungeheuerlichen Brüllen stürzte der Stahldrache vor ihnen vom Himmel, landete mit gespreizten Krallen im Morast und breitete die Schwingen aus, so daß er plötzlich wie eine unüberwindliche, eiserne Wand vor ihnen aufragte. Eine Wand mit Klauen und Zähnen, die drohend gebleckt waren.

Gorg schrie vor Schrecken auf, warf sich nach links und zerrte Kim einfach mit sich - und prallte mitten in der Bewegung zurück, als ein dünner, vielfach verästelter blauer Blitz aus dem Maul des Drachen brach und dicht vor seinen Füßen den Schlamm explodieren ließ. Eine Woge aus kochendem Morast und brühheißem Dampf überschüttete sie beide, so daß sie vor Schmerz aufbrüllten.

Trotzdem wechselte Gorg blitzschnell die Richtung und versuchte ein zweites Mal davonzustürmen. Diesmal verfehlte ihn der blaue Feueratem des Drachen nur um Haaresbreite, und Kim hörte, wie der Riese vor Schmerz stöhnte, als die Hitze seine Haut versengte.

»Das reicht jetzt, ihr Narren!« schrie eine unangenehme Stimme hinter ihnen. »Wollt ihr wirklich hier sterben?« Kirn erkannte die Stimme, noch bevor er sich herumdrehte und in Jarrns Gesicht sah. Der Zwerg war fast bis an die Hüften im Morast versunken, und sein Gesicht war über und über mit Schlamm besudelt. Trotzdem gab es keinen Zweifel: Es war Jarrn, der Zwerg, mit dem alles begonnen hatte. »Ihr habt die Wahl«, sagte dieser böse. »Ihr müßt aufgeben, oder er wird euch auf der Stelle vernichten. Mir ist es gleich.«

Gorg funkelte ihn zornig von oben an: »Ich habe keine Angst vor dem Sterben!«

Jarrn bedachte ihn mit einem abfälligen Blick. »Dumm genug dazu bist du. Aber von dir will ich gar nichts.« Er deutete auf Kim und versuchte sich weiter aufzurichten, aber der klebrige Morast hielt ihn zurück. »Wir wollen nur ihn. Übergebt ihn uns, und euch wird nichts geschehen!«

»So einen Vorschlag kann auch nur ein Zwerg machen.« Das war Priwinn, der hinter Jarrn aufgetaucht war, eigentlich nahe genug, um den Zwerg mit einem Satz zu erreichen und zu packen. Aber zwischen ihm und Jarrn hatten sich drei weitere Zwerge aufgebaut, die drohend ihre Waffen gezückt hatten. »Du glaubst doch nicht, daß wir einen von uns opfern, damit die anderen davonkommen?«

Jarrn würdigte den Prinzen nicht einmal einer Antwort. Der Blick seiner kleinen verschlagenen Augen bohrte sich in den Kims.

Kims Gedanken rasten. Der Drache ragte wie ein Berg aus Stahl hinter ihnen auf, bereit, jeden von ihnen auf einen einzigen Wink Jarrns hin zu vernichten. Und er las in den Augen des Zwerges, daß dieser wild entschlossen war, diesen Wink zu tun, wenn es sein mußte.

»Es ist gut, Priwinn«, sagte Kim leise. »Ich werde tun, was er verlangt.«

Priwinn keuchte. »Du bist wahnsinnig! Sie werden dich umbringen!«

Das hätten sie längst gekonnt, wenn sie es wollten, dachte Kim. Aber aus irgendeinem Grund wollten sie ihn lebend. Er sprach jedoch nichts davon aus, sondern blickte den Zwerg nur durchdringend an und fragte dann: »Gibst du mir dein Wort, daß du die anderen in Frieden läßt, wenn ich mit euch komme?«

»Sicher«, bestätigte Jarrn. »An ihnen liegt mir nichts.«

»Tu das nicht!« Priwinn trat beschwörend auf Kim zu, aber sofort vertraten ihm die Zwerge den Weg und hoben drohend ihre Waffen.

»Ich komme mit«, sagte Kim noch einmal. »Ich ... werde keinen Widerstand leisten, das verspreche ich.«

Er streckte die leeren Hände aus und bewegte sich einen Schritt auf Jarrn zu - da stürzte er schon wieder der Länge nach in den klebrigen Schlamm, als der Stahldrache sich ohne Warnung in die Luft emporschwang und dabei einen Sturmwind entfesselte, der sie allesamt von den Füßen riß. Am Himmel über ihnen erglänzte jetzt ein goldener Schatten, der sich mit einem schrillen Schrei auf den stählernen Drachen stürzte. Das mechanische Ungeheuer versuchte an Höhe zu gewinnen und sich gleichzeitig herumzuwerfen, um sich seinem Gegner zu stellen. Aber der Golddrache war zwar kleiner als er, dafür aber ungleich schneller. Seine gewaltigen Schwingen trafen den metallenen Leib des anderen und wirbelten ihn herum wie ein welkes Blatt. Sekunden später gruben sich die goldenen Klauen in den Rücken des stählernen Ungeheuers, daß die Funken schlugen. »Rangarig!« schrie Priwinn. Er fuhr herum und machte einen drohenden Schritt in Jarrns Richtung. »So, kleiner Mann - ich denke, jetzt sieht die Lage vielleicht etwas anders aus.«

Jarrn schluckte ein paarmal. Unter der Kruste aus halb erstarrtem Matsch verlor sein Gesicht jedes bißchen Farbe. »Nun«, begann er unsicher. »Vielleicht können wir ja noch einmal in aller Ruhe -«

Weiter kam er nicht. Priwinn stürzte sich mit ausgebreiteten Armen auf ihn, und im gleichen Moment packte auch Kim einen der völlig überraschten Zwerge am Kragen und entwand ihm mit der anderen Hand seine Waffe. Gorg streckte fast gemächlich die Arme aus und ergriff gleich zwei der häßlichen Gnome, und die beiden restlichen suchten ihr Heil in der Flucht.

Sie kamen nicht sehr weit. Aus dem Schlamm schössen plötzlich zwei wendige, matschverklebte Körper, und die beiden Zwerge gingen kreischend zu Boden, als Sheera und Bröckchen mit Zähnen und Klauen über sie herfielen. Der Kampf - soweit man das entstehende Gerangel und Geschubse überhaupt so nennen konnte - dauerte nur kurz, dann waren die Zwerge allesamt entwaffnet und in sicherem Gewahrsam. Kim packte den Gnom, den er sich gegriffen hatte, wickelte ihn kurzerhand in dessen eigenen Mantel und trug ihn dorthin, wo auch Priwinn und Gorg ihre Gefangenen abgeladen hatten. Bröckchen trieb einen sehr verschüchtert wirkenden Zwerg vor sich her, während der Kater noch immer auf der Brust des anderen hockte und fauchend Reißzähne bleckte, die nicht viel kürzer als die Finger seines Gefangenen waren. »Laß es gut sein, Sheera«, sagte Gorg. »Der Kampf ist vorbei.«

»Sie schmecken sowieso nicht«, meckerte Bröckchen. Kims Blick glitt in den Himmel. Die beiden Giganten kreisten dort noch immer, wobei sie unentwegt mit Zähnen, Krallen, Schwänzen und Flügeln aufeinander einschlugen. Sie hatten sich ein gutes Stück entfernt, aber der Lärm ihres wütenden Ringens war noch immer so gewaltig, daß Kim und die anderen schreien mußten, um sich zu verständigen. »Er schafft es!« rief Priwinn. »Rangarig besiegt ihn! Seht doch!«

»Da wäre ich nicht so sicher«, keifte Jarrn und verstummte erschrocken, als Priwinn ihm einen drohenden Blick zuwarf.

Aber auch Kim war nicht so zuversichtlich wie der Steppenprinz, was den Ausgang des Kampfes anging. Die beiden tobenden Giganten umkreisten einander unentwegt wie kämpfende Raubvögel. Rangarigs Krallen trafen den Stahldrachen immer wieder und schlugen Funken aus dessen Leib; einmal glaubte Kim, etwas aus ihm herausbrechen und weit entfernt zu Boden stürzen zu sehen, und schließlich fetzten Rangarigs Krallen ein gewaltiges Stück aus einer metallischen Schwinge, was Priwinn zu einem begeisterten Aufschrei veranlaßte.

Doch auch der Golddrache wurde immer und immer wieder getroffen. Seine Bewegungen waren längst langsamer geworden und jetzt fast so holprig wie die seines Gegners. Und Kim sah, daß es ihn immer mehr Mühe kostete, sich in der Luft zu halten.

Plötzlich stieß der Stahldrache einen dünnen, blauweißen Blitz aus, der Rangarig wie eine Nadel aus Licht direkt in die Brust traf. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte Kim sehen, wie die goldenen Schuppen rot aufglühten. Rangarig brüllte vor Schmerz, breitete die Schwingen aus und versuchte sich in die Höhe zu katapultieren. Aber seine Kräfte reichten nicht. Einen Moment lang schien er vollkommen reglos in der Luft zu hängen, wie ein großer Papierdrache, der an unsichtbaren Fäden hängt, dann kippte er nach hinten und torkelte hilflos dem Boden entgegen. Gorg sog entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein, und auch Kim schrie auf, als er sah, daß der Drache wie ein Stein stürzte. »Nein!« schrie er. »Rangarig - nein!«

Und das Wunder geschah.

Im letzten Moment, als schon alle glaubten, der Drache müsse auf dem Boden zerschmettern, breitete Rangarig die Flügel aus, warf sich herum und fing seinen Sturz mit einer gewaltigen Kraftanstrengung wieder auf. Kaum einen Meter über dem Boden glitt er dahin, stieß plötzlich wieder in die Höhe und schraubte sich mit einer schier unmöglich erscheinenden Bewegung an seinem Gegner vorbei und über ihn. Als die Drachenmaschine die Bewegung nachvollziehen wollte, schoß eine gewaltige Feuerlohe aus Rangarigs Maul und hüllte sie ein.

Kim schloß geblendet die Augen, als das mechanische Ungeheuer in einem grellorangefarbenen Blitz explodierte. In weitem Umkreis regnete es Asche und weißglühende Trümmerstücke zu Boden.

»Er hat es geschafft!« jubelte Priwinn. »Er hat ihn vernichtet! Kim! Gorg! Wir sind gerettet!« Jubelnd sprang er herum, umarmte Kim und machte sogar Anstalten, einen der Zwerge an sich zu drücken, ehe er im letzten Augenblick begriff, wen er da vor sich hatte, und den Gnom angewidert wieder in den Schlamm stieß.

Kim war nicht ganz so freudig gestimmt wie der Steppenprinz. Voller Sorge betrachtete er Rangarig.

Der Golddrache torkelte. Seine Bewegungen wurden immer unsicherer. Er verlor an Höhe, drohte abermals abzustürzen und kam mit einem schwerfälligen Flügelschlagen noch einmal hoch. Aber er konnte seinen Kurs nicht mehr halten und beschrieb einen kren Zickzack am Himmel. Kim konnte sehen, daß aus seinen Schwingen große Stücke herausgerissen waren. Und überall zwischen seinen goldenen Schuppen waren große, blutige Wunden.

Priwinn wurde plötzlich wieder ernst und sagte an Jarrn gewandt: »Und jetzt - wie sagtest du gerade so treffend? Vielleicht können wir ja noch einmal über alles reden?« Jarrn starrte ihn haßerfüllt an. »Was willst du?« fauchte er. »Ich habe keinen Streit mit dir.«

»Aber ich mit dir«, antwortete Priwinn. »Und ich rate dir, mach keine Schwierigkeiten, sonst wirst du gleich erfahren, wie sich dein Blechfreund da oben gefühlt hat.«

»Ich fürchte, das erfahren wir gleich alle«, rief Bröckchen. Priwinn betrachtete ihn eine Sekunde lang stirnrunzelnd - und dann flog sein Kopf mit einem Ruck in den Nacken, als er begriff, was das Tierchen meinte.

Rangarig hatte aufgehört, wie betrunken in der Luft herumzutorkeln. Er schoß wie ein Pfeil heran, die Schwingen eng an den Körper angelegt, mit aufgerissenem Maul und weit geöffneten Krallen! »Zerreißen!« brüllte er. »Töten! Ja! Jaaa!«

Wahrscheinlich war es einzig der Umstand, daß der Drache zu Tode erschöpft und halb von Sinnen vor Schmerz und Zorn war, der ihnen allen das Leben rettete. Die Freunde stürzten in verschiedene Richtungen davon, und auch die Zwerge suchten kreischend das Weite, soweit ihre Fesseln dies zuließen, aber Rangarig war viel zu schnell, als daß dies noch irgend etwas genutzt hätte. Kim hatte noch nicht einmal richtig begriffen, was überhaupt geschah, da war der Drache auch schon über ihnen.

Entsetzt warf sich Kim in den Schlamm und schlug die Arme über den Kopf. Eine grellweiße Feuerlohe waberte über ihn hinweg und verwandelte ein fußballgroßes Stück des Morastes in Dampf. Eine brüllende Explosion aus Wasser und Schlamm schoß hoch und hüllte den Drachen ein. »Jaaaaaa!« brüllte Rangarig. »Tööööööten!«

Hustend stemmte Kim sich auf Hände und Knie hoch, sah aus tränenden Augen eine Bewegung neben sich und kroch hin.

Es war einer der Zwerge. Er war gestürzt und aufs Gesicht gefallen, und da er an Händen und Füßen gefesselt war, drohte er an dem Matsch zu ersticken, der seinen Mund und die Nase verklebte. Kim riß ihn in die Höhe, säuberte sein Gesicht hastig mit den Händen und schüttelte ihn solange, bis er keuchend wieder zu atmen begann. Erst dann erkannte Kim, daß es Jarrn war. Und Jarrn erkannte wohl auch ihn, denn er dankte ihm seine Lebensrettung damit, daß er versuchte, ihm in den Finger zu beißen. Kim schubste ihn in den Matsch zurück (wobei er aber darauf achtete, daß er nicht wieder mit dem Gesicht in den Schlamm fiel) und sah sich hastig nach Rangarig um. Der Drache hatte sich torkelnd ein Stück weit entfernt. Er versuchte, seine Höhe zu halten und gleichzeitig kehrtzumachen, aber seine Kräfte schienen endgültig erschöpft: Er wankte, kippte plötzlich zur Seite und krachte schwer aus der Höhe zu Boden.

Fast ohne es zu wollen, sprang Kim auf die Füße und watete durch den knietiefen Morast auf Rangarig zu, so schnell er konnte. Hinter sich hörte er Priwinn aufschreien, und auch der Riese brüllte ihm nach, zurückzukommen. Aber Kim hörte gar nicht zu, sondern rannte weiter, so schnell ihn seine Beine nur trugen. Sein Herz hämmerte zum Zerspringen, als er den Drachen endlich erreichte, und seine Kehle brannte, als hätte er versucht, gemahlenes Glas zu atmen.

Rangarig lag auf der Seite. Eine seiner gewaltigen Schwingen schien gebrochen zu sein, denn er brachte es nicht fertig, sie zu entfalten. Aus seiner Brust drangen rasselnde, mühsame Atemzüge. Kim stöhnte auf, als er die fürchterlichen Wunden sah, die der stählerne Feind Rangarig zugefügt hatte.

Dann fiel sein Blick auf das schuppige Gesicht, und er erstarrte.

Das war nicht mehr Rangarig. Sein Gesicht war blutig und zerschlagen wie sein ganzer Körper, aber das war nicht das Schlimme; Rangarig war ein gewaltiges Wesen, das selbst diese Verletzungen überleben würde. Jedoch seine Augen waren nicht mehr die des goldenen Drachen, den sie kannten und mochten.

Es waren die Augen eines Ungeheuers.

Sein Blick fixierte Kim, und alles, was darin stand, war Mordgier und Haß. Ein zielloser, unbändiger Haß auf alles, was lebte und sich bewegte; die Raserei eines Monsters, das zu nichts anderem als zur Vernichtung erschaffen worden war. Die zerschlagenen Kiefer öffneten sich, Blut und Schaum troffen in den Morast, und tief, tief in Rangarigs Kehle sah Kim ein unheimliches Feuer aufglühen. Ein Hauch wie der Atem der Hölle kam daraus hervor.

»Bitte, Rangarig«, flüsterte Kim. »Bitte, komm doch wieder zu dir!«

Der Drache knurrte. Mühsam hob er eine Tatze und versuchte nach Kim zu schlagen, aber nicht einmal mehr dazu reichten seine Kräfte. Seine gewaltige Brust hob und senkte sich in schweren, unregelmäßigen Stößen, und der Schlamm färbte sich in weitem Umkreis um seinen Körper rosarot, weil er aus zahllosen Wunden blutete.

»Zerrissen«, grollte er. »Ich habe ihn ... zerrissen. Jaaaaaa.«

»Das hast du«, sagte Kim. »Du hast ihn besiegt. Niemand ist dir gewachsen, Rangarig. Du hast uns allen das Leben gerettet.«

»Zerrissen«, wiederholte Rangarig. Sein Blick flackerte. Für einen Moment glaubte Kim so etwas wie Erkennen darin zu sehen, das aber sofort verging, und Rangarigs Augen waren wieder die eines Killers, der ihn nur aus dem einzigen Grund noch nicht umgebracht hatte, weil er im Moment einfach nicht die Kraft dazu hatte. Kim begriff plötzlich, daß ihm vielleicht nur noch Sekunden blieben, um davonzulaufen. Aber statt dessen trat er einen weiteren Schritt auf den Drachen zu. »Komm zu dir, Rangarig - ich flehe dich an! Du mußt mich doch erkennen!«

»Geh«, flüsterte Rangarig heiser. »Rette dich!«

»Du erkennst mich?!« Kim jubelte innerlich. Er hatte Rangarig einmal zur Vernunft gebracht, und es würde ihm wieder gelingen. »Du erkennst mich!« sagte er noch einmal. »Jetzt wird alles wieder gut!«

»Erkennen, jaaaa«, stöhnte Rangarig. »Mensch. Hasse ... alle. Geh, ehe ich dich ... zerreiße. Zerreißen, jaaaaa. Töten. Alles töten. Jaaaaaa.«

Jemand trat hinter Kim, aber er drehte sich nicht einmal herum, bis Gorg ihm die große Hand auf die Schulter legte und leise sagte: »Komm jetzt. Du kannst nichts mehr für ihn tun.«

»Nein!« schrie Kim. Er versuchte, Gorgs Hand abzustreifen, aber der Riese hielt ihn fest gepackt.

»Wir müssen weg hier«, sagte Gorg. »Wir müssen verschwinden, ehe er wieder zu Kräften kommt. Er wird uns alle töten!«

»Töten, jaaaaa«, grollte es aus Rangarig.

»Rangarig ist mein Freund!« protestierte Kim. »Er würde mir nie etwas tun!«

Der Riese schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Kim«, sagte er. »Das war er einmal. Jetzt ist er nicht mehr der alte Rangarig. Dieser Drache ist jetzt unser Feind.«

Und Kim wußte, daß Gorg die Wahrheit sprach.

Kim hatte sich geirrt, obwohl Rangarig es ihm vorausgesagt hatte.

Sie alle hatten sich geirrt, was den Ausgang des Kampfes anging. Rangarig hatte seinen Feind vernichtet. Aber am Ende schien doch der Drache aus Stahl und Feuer den aus Fleisch und Blut besiegt zu haben.

Mit ein paar aus ihren kleinen Mänteln herausgerissenen Stoffstreifen hatten sie die Zwerge aneinandergebunden, so daß sie zwar gehen, aber nicht ernsthaft an eine Flucht denken konnten. Dann waren sie allesamt in großer Eile losgelaufen; in keine bestimmte Richtung, sondern zuerst einmal nur fort, um so viel Entfernung wie nur möglich zwischen sich und den Drachen Rangarig zu legen. Es war schwer, in dieser monotonen Einöde aus Morast und Wasserlöchern eine Entfernung zu schätzen, und noch schwerer, ein Zeitgefühl zu behalten.

Der Schlamm war klebrig wie Sirup und manchmal so tief, daß Km bis an die Hüften versank, ehe seine Füße auf Widerstand stießen. Jeder Schritt schien doppelt soviel Kraft wie der vorhergehende zu kosten.

Sie waren nicht länger als eine halbe Stunde gelaufen, aber als sie schließlich haltmachten, da war nicht nur Kim mit seinen Kräften am Ende. Die Zwerge schleppten sich nur noch mühsam vorwärts, und mehr als einmal hatten die Freunde die kleinen Gestalten an Haaren oder Armen aus dem Morast ziehen müssen, in dem sie zu ertrinken drohten. Auch Priwinn wankte mehr, als er ging, und selbst Gorgs Atem hatte sich beschleunigt. Schließlich erreichten sie eine Art Insel1 inmitten des Schlammozeans, der das verschlungen hatte, was einst die Eisigen Einöden gewesen waren. Es war ein kleiner, fast kreisrunder Fleck halbwegs trockenen Bodens, auf dem sie anhalten und sich ausruhen konnten. Nur für einen Moment, hatten sie gedacht, aber es wurde fast eine halbe Stunde, und sie alle, die Gefangenen eingeschlossen, lagen völlig erschöpft da, während Gorg Wache hielt.

Das erste, was Kim sah, als er nach einer Welle die müden Augen öffnete und sich sein Blick etwas klärte, war Jarrns Gesicht. Der Zwerg hockte mit angezogenen Knien dich neben ihm und blickte mit einer Mischung aus Zorn und Verachtung auf Kim herab. Kim seinerseits musterte den anderen sehr aufmerksam; vielleicht zum erstenmal überhaupt. Das kleine Gesicht starrte vor Schmutz und war nichts weniger als häßlich. Kim versuchte, darin irgend etwas Vertrautes, eine Spur von Freundlichkeit zu entdecken. Es gelang ihm nicht. Zwar wußte er, daß das eigentlich unmöglich war - aber er hatte das Gefühl, daß dieses Gesicht nur aus Bosheit zusammengesetzt war. In den dunklen Augen des winzigen Männleins war nicht die geringste Wärme, nur Gier und ein Haß, der gar nicht zielgerichtet wirkte, sondern allem und jedem zu gelten schien; einschließlich ihm selbst.

»Na«, schnarrte Jarrn, nachdem sie eine geraume Weile schweigend aufeinander gestarrt hatten. »Zufrieden?«

»Womit?« Kim war irritiert. Prinz Priwinn, der zusammengerollt neben ihm lag und den rechten Arm als Kissenersatz unter den Kopf geschoben hatte, öffnete matt ein Auge und blickte Kim fragend an, sagte aber nichts.

»Mit der Situation, in die du uns gebracht hast, du verdammter Narr!« keifte Jarrn. »Wir werden alle sterben, und das nur deiner bodenlosen Dummheit wegen.«

»Wie bitte?« murmelte Kim, und Priwinn hob jetzt den Kopf und starrte den Zwerg an.

»Wir wären alle nicht mehr hier, wenn du dich gleich ergeben hättest!« fuhr Jarrn fort.

Angesichts dieser bodenlosen Unverschämtheit blieb selbst Kim der Atem weg. Aber er spürte, daß Jarrn diese Worte ernst meinte. Der Zwerg gab ihm tatsächlich die Schuld an ihrer verzwickten Lage.

»Dieser blöde Rangarig wird uns alle umbringen«, schimpfte Jarrn weiter. »Ich weiß gar nicht, wozu wir davonlaufen. Wir können genausogut hierbleiben und warten, bis er uns holt.«

»So schlimm wird es wohl nicht kommen«, sagte da Gorg in erstaunlich ruhigem Ton.

Der Zwerg legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zu ihm hoch. »Ach? Und wieso nicht?«

»Rangarig ist schwer verletzt. Er wird eine ganze Weile brauchen, bis er wieder zu Kräften kommt. Zeit genug, um uns etwas auszudenken.« Gorg deutete mit einer Kopfbewegung auf den Kater, der es sich auf seinem Schoß bequem gemacht hatte und abwechselnd das rechte und das linke Auge schloß. Mit dem jeweils offenen betrachtete er mißtrauisch das halbe Dutzend aneinandergebundener Zwerge. »Sheera hat Siedler gewittert, kurz bevor ihr über uns hergefallen seid. Mit ein bißchen Glück finden wir sie.«

»Mit ein bißchen Pech, meinst du«, verbesserte ihn der Zwerg. Er machte ein unanständiges Geräusch. »Ja, ja. Sie sind ganz in der Nähe, da hat das Katzenvieh recht. Aber ich würde euch nicht unbedingt raten, ihnen über den Weg zu laufen.«

»Wieso nicht?« fragte Priwinn.

»Es sind Flußleute«, antwortete Jarrn. »Ein räuberisches Pack. Niemand ist vor ihnen sicher. Auch ihr nicht, glaubt mir.«

»Flußleute?« Kim dachte an das unheimliche Buckelschiff, das sie gesehen hatten. »Wenn sie etwas gegen euch Zwerge haben, heißt das nicht, daß sie auch etwas gegen uns haben, Knirps.«

»Mein Wort darauf - das haben sie«, gab Jarrn zurück. »Er hat recht«, sagte Priwinn. »Besser, wir machen einen Bogen um die Flußleute.«

»Ach ja?« Jarrn zog eine Grimasse. »Und wohin willst du gehen, Grasfresser?«

Priwinns Blick machte deutlich, daß sie sich über das Wort Grasfresser zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal eingehender unterhalten würden. Aber er überging die Beleidigung und deutete nach Norden. »Dorthin, wo wir die ganze Zeit hinwollten«, sagte er. »Wir müssen Burg Weltende finden.«

Kim war nicht sicher - aber für einen Moment glaubte er einen bodenlosen Schrecken in den Augen des Zwerges zu sehen. »Burg ... Weltende?« krächzte Jarm. »Die Festung der Weltenwächter?«

»So ist es«, sagte Priwinn.

Jarrn schüttelte verächtlich den Kopf. Er musterte Kim und Priwinn abwechselnd aus tückisch funkelnden Augen und zuckte schließlich mit den Schultern. Umständlich stand er auf und blinzelte einen Moment aus zusammengekniffenen Augen in die Runde. »Gehen wir«, sagte er. »Der Weg ist noch weit.«

Und das war er in der Tat. Den ganzen Tag über schleppten sie sich durch den klebrigen Schlamm, nur sehr selten auf eine trockene Insel stoßend, auf der sie etwas rasten konnten.

Kaum jemand sprach, denn sie alle brauchten jedes bißchen Kraft, um die immer schwerer werdende Aufgabe zu bewältigen, einen Fuß aus dem klebrigen Sumpf zu ziehen und vor den anderen zu setzen.

Als es Abend wurde, riß sich einer der Zwerge los und unternahm einen Fluchtversuch. Gorg machte sich nicht einmal die Mühe, ihn zu verfolgen, sondern gab nur Sheera einen Wink, und nachdem der Zwerg zurück war und sich mit weiteren Streifen aus seinem Cape die zahllosen Kratzer und Schrammen verbunden hatte, aus denen er blutete, versuchte keiner von ihnen mehr zu fliehen.

Mit dem letzten Licht des Tages entdeckten Bröckchens scharfe Augen eine Erhebung, die im Süden vor ihnen aus dem Morast wuchs. Sie gingen darauf zu und erreichten sie, als die Sonne gerade noch als schmaler roter Streifen am Horizont zu erkennen war. Aber was sie in dem letzten, rot-grauen Licht sahen, das war... sehr sonderbar. Unheimlich. Vor ihnen lag eine Insel aus Lehm inmitten des Schlamm-meeres. Sie war größer als die bisherigen, und in ihrer Mitte erhob sich ein gut drei Meter hoher Buckel aus rostigem Eisen, in dessen Oberfläche sich zahllose winzige Löcher befanden. Die Luft roch eigenartig, und wenn man lauschte, konnte man ein dunkles Summen und Brummen hören, das aus dem Inneren des Buckels zu dringen schien.

»Was ist das?« staunte Priwinn. Vorsichtig bewegte er sich auf das sonderbare Eisending zu, blieb wieder stehen und streckte die Hand aus. Er berührte es nur ganz flüchtig, ehe er die Finger rasch wieder zurückzog. Ein verblüffter Ausdruck glitt über sein Gesicht. »Es ist warm!«

Kim folgte ihm neugierig und legte ebenfalls die Hand auf die Flanke des Eisenbuckels. Das Metall war rostig und fühlte sich uralt an. Es war tatsächlich warm; ja, beinahe schon heiß - wie ein Herd, dessen Feuer vor noch nicht allzu langer Zeit erloschen war. Verwirrt sah er erst Priwinn, dann den Riesen an. Schließlich streifte sein Blick eher zufällig die Zwerge.

Jarrn und die anderen waren ein kleines Stück zurückgefallen. Keiner der Gnome blickte in ihre Richtung, mit Ausnahme Jarrns, und auch der sah alles andere als fröhlich aus - eher ängstlich. Aber warum?

Plötzlich holte der Prinz so scharf Luft, daß sich Kim erschrocken zu ihm umdrehte. Priwinn starrte noch immer aus ungläubig aufgerissenen Augen auf den eisernen Buckel, dann fuhr er herum, war mit einem Satz bei Jarrn und riß ihn am Kragen in die Höhe.

»Ihr verdammten Zwerge!« brüllte der Steppenprinz, wobei er Jarrn so wild schüttelte, daß der Zwerg zu kreischen und mit den Beinen zu strampeln begann. »Das ist euer Werk! Das habt ihr gebaut, nicht wahr? Das ist es, was hier geschehen ist!«

Kim begriff gar nichts. Verwirrt blickte er von einem zum anderen und dann auf den eisernen Buckel, von dem ein immer stärker spürbarer warmer Hauch ausging, und erneut kam ihm der Vergleich mit einem Herd in den Sinn. - Und endlich verstand er. »Das Eis!« flüsterte er. »Diese... diese Dinger ... schmelzen das Eis!«

Priwinn schüttelte den Zwerg noch heftiger. »Und ihr habt sie gebaut! Nicht wahr? Das ist doch so! Antworte, Zwerg!«

»Laß mich los, Grobian!« kreischte Jarrn. Priwinn ließ ihn tatsächlich los, und zwar so jäh, daß der Kleine in den Morast herabstürzte und tief darin versank.

»Wie viele von diesen Dingern gibt es?« fuhr ihn Priwinn aufgebracht an.

»Sehr viele«, antwortete Jarrn kleinlaut. »Kannst du dir doch vorstellen, oder? Ich weiß nicht, wie viele. Tausend vielleicht. Wir haben lange dafür gebraucht. Glaub mir, es war nicht leicht.«

»Aber warum?« murmelte Kim. »Warum ... tut ihr das, Jarrn?«

»Warum, warum!« äffte Jarrn seine Stimme nach. »Sie wollten es.«

»Wer - sie?« fragte Priwinn scharf.

»Die Flußleute«, antwortete Jarrn. »Sie sind zu uns gekommen, und wir haben schließlich einen Vertrag mit ihnen geschlossen.«

»Einen Vertrag, dieses Land zu zerstören?«

Kim machte eine beruhigende Geste in Priwinns Richtung. In einem so sachlichen Ton, daß er selbst ein bißchen erstaunt war, wandte er sich an Jarrn. »Erzähle.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, versuchte Jarm auszuweichen. Sein Blick huschte über Priwinns Hände, als fürchtete er, sie könnten zuschlagen. »Sie wollten, daß wir das Ungeheuer vertreiben, und das haben wir getan.«

»Den Tatzelwurm«, vermutete Gorg.

Jarrn nickte. »Ja. Dann wollten sie einen Kanal durch die Berge, und auch den haben sie bekommen. Und am Schluß wollten sie das hier: Wärme, um hier fruchtbares Land für Äcker zu schaffen. Wir haben getan, was sie wollten. Bis auf das letzte Komma haben wir unseren Vertrag erfüllt. Aber sie haben uns betrogen. Als wir unseren Lohn holen wollten, da haben sie uns verjagt, und die, die nicht schnell genug waren, haben sie gefangen und in Ketten gelegt. Die Unglücklichen müssen immer noch für sie arbeiten.«

»Sie haben euch übers Ohr gehauen«, sagte Priwinn, nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. »Also seid ihr betrogene Betrüger.«

»Wir betrügen nicht!« protestierte Jarrn. »Wir haben niemals jemanden betrogen!«

»Das stimmt«, sagte Gorg.

Priwinn warf ihm einen giftigen Blick zu und wandte sich wieder an den Zwerg. »Und wo genau stehen all diese Ofen?« wollte er wissen. »Wie weit ins Land habt ihr sie getragen?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Jarrn. »Wir haben sie nur gebaut. Aufgestellt haben sie die Flußleute.«

»Dann ... dann kann es sein, daß hier alles unwiderruflich zerstört ist?« stammelte Priwinn verzweifelt.

Jarrn schwieg. Und trotz der Wärme, die der eiserne Buckel ausstrahlte, kroch eine eisige Kälte über Kims Rücken.

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