XXIV

Er hatte einen Alptraum in dieser Nacht. Da die Stadt völlig überfüllt war und er Themistokles ohnehin um keinen Preis der Welt alleingelassen hätte, hatte Kim darum gebeten, daß man für Peer und ihn zwei weitere Betten in die Turmkammer brachte. Sie hatten noch lange geredet, und es hatte noch länger gedauert, bis Kim sich schließlich widerwillig auf seinem Lager ausstreckte und die Augen schloß. Und kaum war er in einen ersten, unruhigen Schlaf versunken, als er auch schon zu träumen begann.

Er sah sich auf diesem Bett liegen und in die Dunkelheit hinaufstarren. Bröckchen lag neben ihm zu einem kleinen Stachelball zusammengerollt und schnarchte, daß die Wände wackelten. Aber plötzlich war Kim nicht mehr allein. Nachdem er erschrocken hochgefahren war und sich umgesehen hatte, da erkannte er eine kleine, in ein zerfetztes schwarzes Cape gehüllte Gestalt, die am Kopfende seines Bettes stand und ihn mit sonderbarem Ausdruck anblickte. Unnütz zu fragen, wie es Jarrn gelungen sein mochte, Priwinns Wachen zu entschlüpfen und hierherzukommen. Kim verspürte keinen Schrecken, denn er wußte, daß dies ein Traum war, und auch daß Jarrn nicht gekommen war, um ihm etwas anzutun. Neben Kim hob Bröckchen den Kopf und blinzelte verschlafen. Er spürte, wie das winzige Wesen zu zittern begann.

Lange saß Kim einfach da und blickte den Zwerg an, und dieser erwiderte seinen Blick auf eine Art, die sein Gegenüber plötzlich unsicher und verstört werden ließ.

Endlich stand Kim auf, ging an dem Zwerg vorbei und sah sich im Zimmer um. Die leisen, gleichmäßigen Atemzüge Peers und des alten Zauberers waren die einzigen Geräusche, die er hörte. Von draußen drang noch immer der rote Schein lodernder Feuer herein, aber die lachenden Stimmen der Krieger waren verklungen. Tiefe Nacht hatte sich über Gorywyrtn gesenkt, und wer von den Männern nicht Wache stand, der nutzte die wenigen Stunden, die noch bis zum nächsten Morgen verbleiben mochten, um Kräfte für die letzte, entscheidende Schlacht zu sammeln.

Plötzlich war es Kim, als riefe ihn etwas.

Im ersten Moment dachte er, es wäre Jarrn, und er drehte sich zu ihm um, aber der Zwergenkönig stand reglos und mit dem gleichen sonderbar wissenden Ausdruck im Gesicht da wie bisher, und da begriff Kim, daß er den Ruf nicht wirklich gehört hatte. Vielmehr war es, als hätte etwas seine Seele berührt, etwas Kaltes und Fremdes, und gleichzeitig doch Vertrautes und Beschützendes.

Sein Blick löste sich von Jarrns Gestalt und glitt über die des schlafenden Zauberers, aber Themistokles' Augen waren geschlossen und blieben es auch weiter; es war nicht die Magie des Zauberers, die er gespürt hatte.

Langsam drehte er sich weiter. Sein Blick blieb an dem kleinen Tischchen hängen, auf dem Priwinn Schwert, Helm und Rüstung zurückgelassen hatte, und im selben Moment, in dem er die Waffen sah, da wußte er es. Es war die Stimme dieser Rüstung, die er gehört hatte. Eine Stimme aus der Vergangenheit, seiner eigenen Vergangenheit, die von großen Heldentaten und mutigen Kämpfen erzählte; die ihm zuflüsterte, daß ihr Zauber noch immer da war, so stark und unüberwindlich wie damals, ja, in seiner Hand sogar hundertmal stärker als in der Priwinns - denn diese Rüstung hatte einst Kim gehört, und nicht dem Steppenreiter. Kim schauderte. Mit einem kleinen Teil seines Verstandes begriff er noch, daß es die Verlockung der Macht war, die er spürte. Das Wissen um die Unüberwindlichkeit dieser Rüstung und um die tödliche Schärfe der schwarzen Klinge, die schon einmal mitgeholfen hatte, dieses Land vor einer entsetzlichen Gefahr zu erretten. Es gab nichts, was dieser Waffe widerstand, und nichts, was diesen Panzer durchdringen konnte. Legte er ihn an, so war er unbezwingbar.

Er wollte es nicht, er versuchte, sich mit aller Kraft dagegen zu wehren, aber es war, als gehörten seine Hände gar nicht mehr ihm. Langsam und zitternd, und doch zielstrebig, ergriff Kim den Brustharnisch, die Bein- und Armkleider aus schwarzem Eisen und schließlich die wuchtigen Kettenhandschuhe und streifte eines nach dem anderen über. Die Rüstung mußte gut einen Zentner wiegen, wenn nicht mehr. Aber statt ihr Gewicht zu spüren, geschah das genaue Gegenteil - mit jedem Stück, das Kim anlegte, schienen seine Kräfte zu wachsen, mit jeder Platte aus schwarzem Eisen, die er an seinem Körper befestigte, wuchs sein Wissen, unverwundbar und unüberwindlich zu sein, und als er schließlich den Helm überstülpte und als letztes nach dem schartigen schwarzen Schwert griff, da durchströmte ihn eine Woge von prickelnder, unwiderstehlicher Energie. Ein Teil von Kim wußte immer noch, daß das, was er jetzt tat, falsch war: Es war nicht die Kraft des Guten. Nicht wirklich. Es war die Verlockung der Macht, jene böse Anziehung, die die Gewalt ausübt, die Lust am Zerstören und Vernichten. Doch dieser Teil seines Verstandes, der all dies begriff, war längst nicht mehr stark genug.

Kim hatte alles versucht. Er war von Niederlage zu Niederlage geeilt, hatte Rätsel um Rätsel gelöst, hatte sich vielen Gefahren gestellt, um das furchtbare Geheimnis, das mit dem Schicksal Märchenmonds und seiner Bewohner verknüpft war, zu lösen. Und er war weiter davon entfernt denn je. Vielleicht war es so, daß er dabei war, aufzugeben, so bitter es Kim auch erschien. Ob es das war, was Themistokles mit seinen letzten, geflüsterten Worten gemeint hatte? Daß ein Leben als Preis manchmal nicht reichte, um etwas zu erringen ...

Es war nicht die Angst - Kim hätte sein Leben gern gegeben, um Märchenmond zu retten. Doch das galt auch für jeden einzelnen all dieser Männer, die Priwinn um sich geschart hatte. Und nur zu viele waren bereits dafür gestorben. Es war wohl nicht der Tod, den dieses grausame Schicksal von ihm verlangte, sondern vielleicht ging es vielmehr darum, etwas Falsches zu tun. Etwas, von dem Kim wußte, daß es nur weiteres Unheil und Böses hervorbringen konnte. Und doch hatte er keine Wahl mehr. Nach allem, was er und Priwinn versucht hatten, war die Gewalt die einzige Lösung, die ihnen noch blieb.

»Glaubst du das wirklich?«

Kim drehte sich zu Jarrn herum, noch immer im Traum, und er antwortete darauf: »Ich weiß es nicht. Ich... ich weiß einfach nicht mehr weiter, Jarrn.« Er wunderte sich kein bißchen, daß der Zwergenkönig seine Gedanken gelesen hatte.

»Du bist ein Narr«, sagte Jarrn ernst. In seiner Stimme war nichts von der gewohnten Gehässigkeit, vielmehr dieser Ausdruck von uraltem Wissen, den Kim schon früher an ihm entdeckt hatte. Und seine Worte machten ihn schaudern. Kim wartete darauf, daß der Zwergenkönig fortfuhr, aber Jarrn blickte ihn nur voller Trauer an, dann drehte er sich herum und ging mit langsamen Schritten auf das Bett zu, auf dem Peer lag.

Kim sah erstaunt und voll Neugier zu, wie Jarrns Fingerspitzen rasch über Peers Stirn und Schläfen strichen und sich der Junge unruhig im Schlaf bewegte. Dann trat der Zwerg zurück, sah noch einmal traurig zu Kim auf und wandte sich schließlich zur Tür. Er schritt einfach durch sie hindurch, ohne sie zu öffnen, und auch das war in Ordnung - in einem Traum.

Seltsam, daß Kim so dachte. Er war sich vollkommen bewußt, daß er träumte. Normalerweise wußte man das nicht. Und plötzlich überkam ihn der Gedanke, daß er sich vielleicht nur einredete zu träumen, ganz einfach, weil sonst all dies nicht zu ertragen gewesen wäre.

Doch dann geschah etwas, das ihn endgültig davon überzeugte, in einem Traum zu sein: Ein trompetender Schrei durchschnitt die Nacht, und als Kim zum Fenster trat und neugierig hinausblickte, da sah er den gewaltigen Schatten des Tatzelwurms, der mit weit ausgebreiteten Flügeln langsame Kreise über den See zog. Aber er war nicht allein. Ein zweiter, kleinerer Schatten - wenn auch noch immer riesig genug - schwebte neben ihm: ein Drache von hellgolden schimmernder Farbe. Wut und Zorn lagen im Schrei der beiden, doch war nichts Aggressives an ihrem Dahingleiten. Es konnte nicht wahr sein, daß diese Erzfeinde sich nicht ohne zu zögern aufeinander stürzten, um sich gegenseitig zu vernichten; Rangarig und der Tatzelwurm waren Feinde seit Anbeginn der Schöpfung.

Da vermeinte Kim zu verstehen, was ihm der Traum mit diesem Bild sagen wolle: Wenn selbst Rangarig und der Tatzelwurm ihre uralte Feindschaft überwunden hatten, um gemeinsam gegen die Feinde Märchenmonds zu kämpfen, wie konnte er dann noch zögern?

Eine Weile sah Kim dem kreisenden Flug der beiden zu, bis sie allmählich an Höhe verloren und nebeneinander auf dem Feld vor dem Stadttor niedersanken und so Kims Blicken entschwanden. Dann ließ ihn ein Geräusch vom Bett her aufhorchen.

Es war nicht Themistokles, von dem Kim insgeheim gehofft hatte, daß er es sei, der ihm diesen Traum sandte. Der Alte lag wie zuvor reglos schlafend auf dem Bett. Peer aber hatte sich aufgesetzt und blickte mit verwirrtem Gesicht um sich. Für einen Moment traf der Blick seiner Augen genau auf Kim, aber er blieb leer, es war kein Erkennen darin, ja es schien, daß der Junge ihn überhaupt nicht wahrnahm. Und so leer wie seine Augen war sein ganzes Gesicht. Ganz langsam, aber mit zielstrebigen Bewegungen, stand Peer vom Bett auf, immer noch mit dem Antlitz eines Schlafenden. Wie zuvor Jarrn blieb auch er einen Moment an Kims Lager stehen, dann drehte er sich herum und ging mit gemessenen Schritten auf die Tür zu. Und wie der Zwerg schritt er einfach hindurch, als wäre die Tür aus massivem Holz nichts als eine Illusion. Nach einem fast unmerklichen Zögern schob Kim das Schwert, das er noch immer in der rechten Hand hielt, in die lederne Scheide an seinem Gürtel und folgte dem Freund. Wie Peer und der Zwerg vor ihm, machte sich Kim nicht einmal die Mühe, die Hand nach dem Türgriff auszustrecken...

Traum oder nicht - Kim prallte so unsanft gegen die Tür, daß er taumelte und um ein Haar zu Boden gestürzt wäre. Verblüfft hob er die Hand an seine geprellte Stirn und betastete die mächtige Beule, die sich fast augenblicklich darauf zu bilden begann. Dann starrte er die geschlossene Tür an und schüttelte verwundert den Kopf. Was für ein verrückter Traum! Offensichtlich konnten sich hier alle so benehmen, wie es ihnen gerade einfiel - nur er nicht.

Das begann ihn neugierig zu machen. Eine sonderbare Art von Erregung erfaßte ihn. Hastig drückte Kim die Klinke herunter, riß die Tür auf und stürmte auf den Gang hinaus. Peer hatte sich bereits etliche Stufen weit die gläserne Wendeltreppe hinunter bewegt und war seinen Blicken fast entschwunden. Kim griff rasch aus, um aufzuholen, verfiel dann aber in das gleiche Tempo wie der schlafwandlerische Junge und ging in zwei Schritten Abstand hinter ihm her. Er bezweifelte, daß Peer es bemerkt hätte, wäre Kim neben ihn getreten oder nicht einmal, hätte er versucht, ihn zu berühren und festzuhalten. Aber Kim wollte auf keinen Fall ein Risiko eingehen.

Langsam gingen sie die gewaltige Wendeltreppe bis in die Eingangshalle des Schlosses hinab, wo Peer sich nach links wandte, nicht der Tür nach draußen zu, sondern auf eine der schmalen Nebenpforten hin, die in jene Bereiche führten, die der Dienerschaft vorbehalten waren und durch die er mit Priwinn schon einmal eingedrungen war, um zu Themistokles zu gelangen. Die Halle war reichlich bevölkert. Zahlreiche Männer hatten ihr Lager hier aufgeschlagen. Die meisten lagen auf dem nackten Boden oder benutzten Decken und Sättel als Kopfkissenersatz. Einige waren noch wach und redeten leise miteinander. Und als Kim an ihnen vorbeikam, blickte einer dieser Männer auf und sprang erschrocken in die Höhe.

»Herr!« rief er. »Was -?«

Auf seinen Zügen breitete sich ein Ausdruckvon Verblüffung aus, als er das Gesicht unter dem schwarzen Helm der Zauberrüstung erkannte, der fast augenblicklich in Mißtrauen und Zorn umschlug. »Wer bist du?« fragte er scharf. »Was fällt dir ein, diese Rüstung anzulegen, Bursche?«

Kim war viel zu überrascht, um zu antworten. Er rührte sich nicht einmal, als der Mann die Hand ausstreckte und ihn grob an der Schulter zu rütteln begann. »Rede!«

Kim blickte hastig zu Peer hin. Der Junge hatte die Pforte fast erreicht. Es blieb keine Zeit, sich mit diesem Mann zu streiten. So hob er den Arm und wollte die Hand des Kriegers abstreifen, aber der Griff des Mannes verstärkte sich nur noch, und er schüttelte Kim immer heftiger.

»Du sollst antworten, Kerl!« schrie er. Jetzt waren auch andere aufgestanden und traten neugierig hinzu. Kim hatte endgültig genug, zumal Peer in diesem Augenblick durch die geschlossene Tür hindurchschritt und verschwunden war. Mit einer groben Bewegung fegte er den Arm, der ihn gepackt hielt, beiseite - und schrie auf, als der Mann blitzschnell mit der anderen Hand zuschlug und ihm eine Ohrfeige versetzte. Zwar nahm ihr der schwarze Helm den größten Teil ihrer Wucht, aber Kim stolperte doch zurück und stürzte der Länge nach zu Boden.

Ein dumpfer Schmerz schoß durch seinen Hinterkopf und wurde für einen Moment so heftig, daß er rote Schleier vor den Augen sah. Zu allem Unglück biß er sich auch noch auf die Zunge und spürte salziges Blut im Mund. Benommen richtete er sich etwas auf und stöhnte, als sich der Mann, der ihn zu Boden geschlagen hatte, über ihn beugte und ihn grob in die Höhe zerrte.

Aber bevor Kim ein weiterer Schlag treffen konnte, erscholl eine scharfe Stimme.

»Was ist da los?«

Kim blinzelte, als er die Gestalt in braunem Leder erkannte, die im Zickzack zwischen den schlafenden Kriegern hindurch auf sie zueilte. Er hatte Priwinn so lange nicht mehr in seiner angestammten Kleidung gesehen, daß ihm der Anblick zuerst falsch vorkam. Und noch etwas war daran - nein, nicht daran, sondern an dieser ganzen Situation! - das ihn zutiefst erschreckte.

»Was geht hier vor?« fragte Priwinn noch einmal mit Schärfe und stockte dann mitten im Schritt, als er Kim erkannte. Erst war er einfach fassungslos, aber dann breitete sich ein Ausdruck freudiger Überraschung auf seinem Gesicht aus.

»Kim!« rief er. »Du hast dich also entschieden!«

War das noch ein Traum?

Priwinn fuhr herum und schrie den Mann an, der Kim gepackt hatte: »Laß ihn sofort los, du Narr! Weißt du nicht, wer das ist?! Es ist Kim!«

Offensichtlich war dieser Name dem Mann keineswegs fremd, denn er ließ Kim hastig los und wurde kreidebleich. Priwinn trat mit einem schnellen Schritt an ihm vorbei und legte dem Freund die Hand auf die Schulter. »Ich bin froh, daß du dich entschieden hast. Stell dir vor, Rangarig ist zurück, und er ist wieder völlig in Ordnung! Er und der Tatzelwurm wollen mit uns gemeinsam gegen die Eisenmänner kämpfen! Jetzt wird alles gut!«

Das war kein Traum, dachte Kim fast hysterisch. Hastig streifte er Priwinns Hand ab und deutete auf die Tür, durch die Peer hindurchgegangen war. »Peer ...«, flüsterte er. Priwinn blickte fragend. »Was ist mit ihm?«

»Er ... er ist doch ... hier vorbeigegangen«, murmelte Kim. »Verzeiht, aber Ihr müßt Euch täuschen«, sagte der Mann jetzt demütig, der Kim noch vor Augenblicken angebrüllt und geschlagen hatte. »Hier ist niemand vorbeigegangen.« Kims Kopf flog mit einem Ruck herum. »Bist du sicher?!« keuchte er.

»Völlig, Herr«, antwortete der andere kleinlaut. »Nur Ihr wart hier. Deshalb meine Verwirrung - Ihr schient... wie in Trance...«

»Was soll das heißen?« mischte sich Priwinn ein. »Was -« Kim hörte gar nicht mehr zu. Sie hatten ihn nicht gesehen! Keiner dieser Männer hier hatte Peer gesehen, nur er. Und Kim hatte plötzlich die entsetzliche Gewißheit, was das bedeutete. Es war kein Traum! Er erlebte all dies WIRKLICH! Ohne auch nur zu hören, was Priwinn oder sonst jemand sagte, riß er sich los und stürmte hinter dem Freund her. Mit ein paar gewaltigen Sätzen erreichte er die Pforte und rüttelte vergeblich daran, bis er begriff, daß sie verschlossen war. Priwinn rief ihm etwas zu, aber Kim verstand nicht, was er sagte, statt dessen riß er das Schwert aus dem Gürtel und ließ die Klinge mit aller Macht auf den Riegel heruntersausen. Mit einem berstenden Knall zersprang das farbige Glas des Riegels, und gleich die ganze Tür in tausend Stücke, und Kim stürmte hindurch, ohne auf Priwinns überraschte Rufe oder die trappelnden Schritte der anderen hinter sich zu achten.

Hinter der zerborsten Tür lag ein langer, staubiger Gang, der sichtlich schon lange nicht mehr benutzt worden war. Etliche Türen zweigten von ihm ab. Sie standen alle offen, so daß Kim im Vorbeilaufen einen Blick in die dahinterliegenden Räume werfen und feststellen konnte, daß Peer nicht dort war. Nur am Rande bekam er mit, wie Priwinn hinter ihm in den Korridor stürmte und ihn immer wieder bat, stehenzubleiben oder ihm wenigstens zu sagen, was los sei. Aber Kim rannte nur schneller, bis er das Ende des Ganges erreichte und dort vor einer weiteren, verschlossenen Tür stand. Diesmal mußte er zwei- oder dreimal mit dem Schwert zuschlagen, bis der Riegel nachgab und er die Tür mit der Schulter aufsprengen konnte. Priwinns Schritte hinter ihm kamen näher, aber Kim achtete nicht darauf.

Er registrierte auch kaum, wie etwas an seinen Beinen vorbeischoß und in der grauen Dämmerung vor ihm verschwand. Erst im Nachhinein, als Bröckchen von seiner Schulter hüpfte und dem Schatten mit überraschender Behendigkeit folgte, begriff er, daß es der Kater Sheera gewesen war. Offensichtlich hatte das Tier, anders als sein Herr Priwinn, den Jungen sehr wohl gesehen.

Vor Kim lagen die ersten Stufen einer schmalen, sich in engen Drehungen die Erde hinabwindenden Treppe. Eine zentimeterdicke Staubschicht bewies, daß hier lange niemand mehr hinuntergegangen war. Keinerlei frische Spur zeigte sich darin, und doch wußte Kim mit Sicherheit, daß Peer diesen Weg genommen hatte. So schnell er nur konnte, hetzte er die Treppe hinab, wobei er oft auf den glatten Stufen ausglitt und sich an den Wänden festhalten mußte. Einmal stürzte er und kollerte ein ganzes Stück weit scheppernd in die Tiefe, ohne sich aber ernsthaft dabei zu verletzen.

Als Kim sich danach aufrichtete, herrschte rings um ihn vollkommene Stille. Priwinns aufgeregte Rufe waren verstummt, und auch das Geräusch der Schritte war weit hinter Kim zurückgeblieben. Er mußte schneller und vor allem weiter gelaufen sein, als er gemerkt hatte. Erst jetzt fühlte er, wie rasch und hart sein Herz schlug, wie rasend seine Lungen arbeiteten und wie sehr seine Knie zitterten. Und mit einem Male fiel ihm auch auf, auf welch unheimliche Weise sich seine Umgebung verändert hatte. Die Wände, die Decke und die Treppenstufen unter seinen Füßen waren noch immer aus Glas, aber nicht mehr in den eingefangenen Farben des Regenbogens. Kim umgab jetzt ein milchiger, trüber Schleier, als bewege er sich durch eine Welt aus erstarrtem Nebel. Ein muffiger Geruch hing in der Luft, und die Staubschicht vor ihm, beginnend mit der ersten Stufe, auf die er den Fuß noch nicht gesetzt hatte, war nahezu knöcheltief und gänzlich unberührt. Kim ahnte, daß er sich tief, tief in der Erde befinden mußte, fast war es, als könne er das ungeheure Gewicht des Felsens, auf dem sich die Burg erhob, über seinem Kopf spüren.

Allmählich schlich die Angst in ihm hoch. Bisher war er viel zu aufgeregt gewesen, um auch nur darüber nachzudenken, was er tat. Aber mit einem Male fiel ihm ein, wie gewaltig die Kellergewölbe von Gorywynn waren, so gewaltig, daß sich eine ganze Armee darin verbergen konnte - und ganz sicher groß genug, um sich darin hoffnungslos zu verirren und nie wieder den Weg hinaus zu finden.

Wo war Peer?

Kim verlor mit einem Male die Gewißheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Vielleicht war der Junge abgebogen, oder Kim hatte eine Tür, eine Abzweigung übersehen und war längst auf dem besten Wege, immer tiefer und tiefer in dieses Labyrinth aus gläsernen Treppen und Stollen vorzudringen.

Trotzdem setzte sich Kim wieder in Bewegung, wenn auch jetzt sehr viel langsamer als bisher.

Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Stufe um Stufe um Stufe stieg Kim in die gläsernen Eingeweide der magischen Stadt hinab, und mit jedem Schritt, den er tat, veränderte sich seine Umgebung ein winziges bißchen mehr, wurde der Traum aus Glas und farbigem Licht mehr und mehr zum Alptraum aus erstarrtem Nebel und grauem Schimmer. Sein Herz klopfte heftig, nicht vor Anstrengung, sondern vor Furcht. Als er endlich das Ende der Treppe erreichte, da hatte er es längst aufgegeben zu überlegen, wie tief unter der Stadt er sich befinden mochte.

Vor ihm lag ein weiter, gläserner Saal, der von dem gleichen, unheimlichen Grau erfüllt war wie die Höhlenwelt der Zwerge.

Bröckchen und Sheera waren dicht hinter dem Eingang stehengeblieben und zur Reglosigkeit erstarrt, Kim konnte die Furcht direkt fühlen, mit der sie in die riesige, vollkommen leere Glashöhle hineinblickten.

Doch nein - sie war nicht vollkommen leer. In der Mitte des Saales, so weit entfernt, daß Kim ihn kaum sah, sondern in der bleiernen Dämmerung mehr ahnte, erhob sich etwas wie ein riesiger steinerner Würfel von nachtschwarzer Farbe. Sein Anblick hätte Kim an einen Altar erinnert, wäre er nicht viel zu groß dafür gewesen, größer als ein Haus, und so schwer, daß er den gläsernen Boden unter sich zermalmt hatte und ein Stück weit hineingesunken war. Davor stand, winzig klein im Verhältnis zu dem Quader, eine schlanke Gestalt mit schwarzem Haar.

»Peer!« schrie Kim. Die Wände der kahlen Halle warfen seine Worte als verzerrtes, meckerndes Echo zurück. Peer reagierte nicht. Er drehte sich langsam zur Seite und begann, zur linken Seite des Quaders zu gehen, wo eine schmale Treppe zu seiner Oberseite hinaufführte.

Kim rief ihn noch einmal, wartete aber diesmal nicht ab, ob er ihn verstand, sondern rannte los, so schnell er konnte. Peer hatte inzwischen die flache Oberseite des gigantischen Felswürfels beinahe erreicht, als Kim keuchend am Fuße der Treppe ankam, und kurz stehenblieb, um Atem zu schöpfen. Und als Kim das nächste Mal nach oben schaute, war die Treppe leer.

Kim schrie ein drittes Mal und jetzt schon verzweifelt nach Peer. Dann rannte er die steinernen Stufen hinauf, ohne darüber nachzudenken, was ihn dort oben erwarten mochte. Vielleicht etwas Entsetzliches, vielleicht so schlimm, daß es besser war, es sich gar nicht auszumalen - aber als Kim mit einem letzten gewaltigen Satz auf die Fläche oben hinaufsprang, da stand der dunkelhaarige Junge hoch aufgerichtet und reglos vor ihm, zehn oder zwölf Schritte entfernt, genau in der Mitte des riesigen Blockes. Und da wußte Kim nun mit Sicherheit, daß es ein Altar war. Peer hatte sich herumgedreht und blickte Kim mit sonderbar traurigen Augen an. Erschrocken blieb Kim mitten in der Bewegung stehen, aber Peer sah ihn nur weiter an. Dann lächelte er ebenso traurig und hob die rechte Hand, als wollte er zum Abschied winken. Ja, es war ein Abschied. Denn Peer hatte kaum die Hand gesenkt, da geschah etwas Furchtbares. Schnell und sonderbar undramatisch. Doch Kim stockte der Atem vor Entsetzen. Es war, als balle sich etwas von dem grauen Nebellicht, das hier überall herrschte, um Peer zusammen, bis er nur noch wie durch einen Vorhang aus wattigem Dunst erkennbar war. Seine Gestalt schien vor Kims Augen zu verschwimmen, wurde unscharf und flach wie ein Schatten, dessen Ränder im Licht zerfaserten, bis er nicht mehr zu sehen war.

Und als sich das graue Licht nach einigen Augenblicken wieder verflüchtigte, da stand Kim nicht mehr dem schwarzhaarigen Jungen gegenüber - sondern einem gewaltigen, kantigen Eisenmann mit einem einzigen grünglühenden Auge. Kim wollte schreien, aber das Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. Gelähmt vor Schreck, daß er sogar aufs Atmen vergaß, stand er da und schaute. Auch der Eisenmann blieb reglos auf seinem Platz und sah aus seinem glühenden Augenschlitz auf Kim herab. In diesem Augenblick fühlte sich Kim vollkommen wehrlos. Wäre der Eisenmann auf ihn zugetreten, um ihn zu packen, hätte Kim nicht den geringsten Versuch gemacht, zu entkommen. Jedoch der eiserne Riese griff ihn nicht an. Statt dessen ruckelte er nach einer Weile langsam an Kim vorbei, bewegte sich ungelenk die steinerne Treppe des Altars wieder hinunter und wandte sich dann nach rechts. Noch einmal blieb er stehen, drehte langsam den mächtigen Schädel und sah zu Kim hinauf. Und obwohl es ganz unmöglich war, denn sein Gesicht bestand ja aus Eisen, das zu keiner Regung fähig war, schien es, als huschte ein Ausdruck sonderbarer Trauer drüber hinweg. Doch schon drehte der Eisenmann den Kopf wieder fort und ging mit schweren, gleichmäßigen Schritten davon.

Kim blickte ihm nach, bis er in der grauen Dämmerung der Halle verschwunden war. Auch dann noch dauerte es lange, sehr lange, bis auch Kim langsam den gewaltigen Altarstein verließ und sich auf den Rückweg ins Schloß hinauf machte.

Загрузка...