XIX

Der Sturz mußte schwerer gewesen sein als es Kim vorgekommen war, denn er erinnerte sich hinterher kaum an das, was danach geschah. Ganz verschwommen und nicht einmal sicher, ob es wirklich eine Erinnerung oder nur üble Bilder waren, die ihn quälten, glaubte er, sich eines Streits zwischen Jarrn und dem silbernen Reiter zu entsinnen; einen Streit, in dem es um Kim und sein Schicksal ging. Aber wenn es diesen Streit überhaupt gegeben hatte, so hatte der Zwerg ihn eindeutig gewonnen. Für die folgenden endlosen Stunden, wenn nicht Tage, bestand die Welt, in der Kim nur manchmal fiebernd erwachte, aus nichts anderem als finsteren Stollen und endlosen Höhlen und dem stahlharten Griff des Eisenmannes, der ihn auf den Armen trug. Mehrmals wurde er geweckt, und die Zwerge flößten ihm beinahe gewaltsam Wasser und ein wenig Nahrung ein. Aber es dauerte lange, bis Kim das erste Mal von selbst erwachte, und als er es tat, da spürte er, daß er weit, unendlich weit von jenem Ort entfernt war, an dem er das Bewußtsein verloren hatte.

Dabei stellte seine Umgebung durchaus eine Überraschung für ihn dar. Da Kim wußte, daß er sich in der Gewalt der Zwerge befand, nahm er an, in eine finstere Höhle oder gar ein Verlies geraten zu sein. Aber statt dessen lag er auf einem breiten, überraschend weichen Bett, das sich in einem Zimmer mit durchaus üblichen Möbeln zu befinden schien. Allerdings waren - abgesehen von dem Bett - sämtliche Möbel viel zu klein. Auch hatte das Zimmer zwar eine Tür, aber kein Fenster. Das Licht kam von einer schon fast heruntergebrannten Fackel, die in einem kunstvoll geschmiedeten Halter direkt neben der Tür hing. Die Wand darüber war rußgeschwärzt.

Kim richtete sich behutsam auf seinem Lager auf, hob die Hand und betastete seinen Kopf. Er fühlte einen frischen, straff angelegten Verband und einen leichten Schmerz, woraufhin er die Finger hastig wieder zurückzog.

Vorsichtig schwang er die Beine vom Bett, setzte sich auf und sah sich blinzelnd um. Das flackernde Licht der Fackel, so blaß es war, tat seinen an die lange Dunkelheit gewöhnten Augen weh, und wenn er sich zu hastig bewegte, dann erwachte in seinem Kopf ein hämmernder Schmerz, als säße auch dort ein winziger Zwerg und schlüge mit Begeisterung auf einer gewaltigen Kesselpauke herum. Kim fragte sich, wo er war. Gleichzeitig wurde er das unheimliche Gefühl nicht los, diesen Ort zu kennen. Es war - Nein. Er wußte es nicht. Und doch sagte ihm etwas mit unerschütterlicher Sicherheit, daß dies nicht die Zwergenhöhlen in den östlichen Bergen waren, vielmehr ein Ort, an dem er sich nicht das erste Mal aufhielt.

Dieser Gedanke zog einen anderen und, wie Kim meinte, im Moment sehr viel wichtigeren nach sich. Nämlich den, wie er hier je wieder herauskommen sollte. Mit einer entschlossenen Bewegung stand er auf, wankte einen Moment stöhnend hin und her, als das dumpfe Dröhnen zwischen seinen Schläfen zu neuer Wut erwachte, und wartete, bis das heftige Schwindelgefühl, das die Paukenschläge in seinem Kopf begleitete, wieder verklungen war. Dann ging er zur Tür, streckte die Hand nach dem schweren, geschmiedeten Griff aus und rüttelte daran.

»Daran kannst du zerren, bis du schwarz bist«, sagte eine mürrische Stimme hinter ihm. »Der Riegel ist aus Zwergenstahl. Den zerbricht nichts.«

Kim drehte sich überrascht herum und erblickte einen kleinen, häßlichen, stacheligen Ball, der unter dem Bett hervorgekrochen kam und ihn aus zwei hervorquellenden Triefaugen anstarrte.

»Ich habe schon gedacht, du wachst überhaupt nicht mehr auf«, maulte Bröckchen.

Kim empfand eine tiefe Erleichterung, den kleinen Gefährten zu erblicken. »Wo sind wir hier eigentlich gelandet?« fragte er.

Bröckchen trippelte vollends unter dem Bett hervor und sprang mit einem Satz auf den Tisch hinauf, der wenig höher als Kims Knie war. »Bei richtig netten Leuten«, antwortete Bröckchen spöttisch.

»Wie?« machte Kim verwirrt.

Bröckchen nickte so heftig, daß sich seine Stacheln bewegten wie die eines Seeigels im stürmischen Meer. »Glaub mir«, behauptete er. »Sie sind so gastfreundlich, daß sie uns gar nicht wieder weglassen wollen.«

Kim runzelte die Stirn, verzichtete aber vorsichtshalber auf eine Antwort und sah sich erneut und mit größerer Aufmerksamkeit in der kleinen Kammer um. »Ich kenne diesen Ort«, murmelte er. »Das sind nicht die Zwergenhöhlen.«

»Das hat ja auch keiner behauptet, oder?« schnappte Bröckchen. »Aber keine Sorge - Zwerge sind genug hier. Sogar ein paar mehr, als dir recht sein dürfte.«

Kim ging zum Bett zurück und setzte sich. Hinter seiner Stirn wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Nicht zum erstenmal hatte er das Gefühl, der Antwort auf alle Fragen ganz nahe zu sein, sie beinahe greifen zu können. Und nicht zum erstenmal entschlüpfte sie ihm wie ein Fisch im Wasser, als er sie wirklich packen wollte.

»Wie lange sind wir schon hier?« fragte er.

»Och«, meinte Bröckchen. »Das läßt sich hier unten schwer sagen. Hunger habe ich jedenfalls, als wären wir eine Woche hier.«

Trotz des Ernstes ihrer Lage mußte Kim lächeln. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was Bröckchen zu den Portionen sagte, die Zwerge zu sich nahmen. »Haben sie dich gut behandelt?« erkundigte er sich.

»Ja«, knurrte Bröckchen. »Abgesehen von der Tatsache, daß sie mich offenbar verhungern lassen wollen.«

Auf der anderen Seite der Tür wurde rasselnd ein Riegel zurückgeschoben, und einen Moment später betraten drei Zwerge und die kantige Riesengestalt eines Eisenmannes die Kammer. Kim suchte nach einem bekannten Gesicht unter den schwarzen Kapuzen, entdeckte aber keines. Die Zwerge schienen kein bißchen überrascht, daß er wach auf der Bettkante saß und nicht mehr wie bisher bewußtlos im Bett lag. Offensichtlich hatten sie ihn die ganze Zeit über beobachtet. »Komm mit!« befahl einer der Gnome mit schriller Stimme. Er unterstrich seinen Befehl mit einer herrischen Geste, und als Kim nicht gleich Anstalten machte, vom Bett aufzustehen, da machte der Eisenmann auch schon einen drohenden Schritt auf ihn zu, daß Kim hastig aufsprang. »Wohin bringt ihr mich?« fragte er, als er mit Bröckchen die Kammer verließ.

»Zu unserem König«, antwortete der Zwerg, der schon einmal mit ihm gesprochen hatte. Er lachte meckernd. »Er freut sich schon darauf, dich zu sehen. Ich hoffe, du hast dich gut ausgeschlafen. Du wirst dein bißchen Grips nämlich bitter nötig haben, um deinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.«

Kim blieb überrascht stehen, ging aber dann schnell weiter, als der Eisenmann drohend seine linke schaufelbewehrte Hand hob. »Was meinst du damit?« erkundigte er sich. »Man wird über dich zu Gericht sitzen.«

»Zu Gericht?« Kim war völlig verwirrt. »Aber was habe ich denn getan?«

»Das wird man dir schon früh genug sagen«, meckerte der Zwerg. »Geh schneller. Wir haben lange genug darauf gewartet, daß du endlich ausgeschlafen hast.«

Zutiefst verwirrt, beschleunigte Kim tatsächlich seine Schritte, zumal der Eisenmann mit einem derben Stoß den Worten des Zwerges noch Nachdruck verlieh. Zu Gericht sitzen? staunte er. Über ihn?

Indessen gingen sie einen langen, fensterlosen Gang entlang, dessen Wände nicht aus Felsgestein, sondern aus sorgsam aufeinandergesetzten, schwarzen Quadern bestanden. Hier und da zweigte eine halbrunde Tür aus gewaltigen Eichenbohlen nach rechts oder links ab, und in regelmäßigen Abständen brannten Fackeln an den Wänden, die den Gang mit unheimlichem, rotem Licht erfüllten. Sie gingen eine Treppe hinab und gelangten in einen gleichartigen, aber in die entgegengesetzte Richtung führenden Korridor, und Kim fiel auf, daß sowohl die Türen als auch die Höhe der Treppenstufen durchaus nicht dem Zwergen-inaßstab entsprachen, sondern von üblicher Größe waren, irgendwo entdeckte er ein Fenster, obwohl etliche Türen offenstanden und er im Vorübergehen einen Blick in die dahinterliegenden Räume werfen konnte. Dieses Bauwerk, das die Ausdehnung einer Burg zu haben schien, mußte sich entweder unter der Erde befinden - oder es war völlig ohne Fenster erbaut worden, und das erschien Kim absolut widersinnig. Bis er sich mit einem Schlag daran erinnerte, daß er schon einmal in einer Burg aus schwarzem Stein gewesen war, deren Wände keine Fenster hatten!

Diese Erkenntnis traf ihn mit solcher Wucht, daß er mitten im Schritt stehenblieb und erschrocken keuchte.

»Was ist los?« erkundigte sich der Zwerg mißtrauisch. »Versuch keine Tricks, Bursche!«

»Morgon!« flüsterte Kim. »Das ... das ist die Festung Morgon!«

»Ach ja?«

Noch bevor Kim seiner Verblüffung weiteren Ausdruck verleihen konnte, versetzte ihm der Eisenmann einen so harten Stoß zwischen die Schultern, daß er ein paar Schritte weitertorkelte und gestürzt wäre, hätte er sich nicht im letzten Moment an der Wand festgehalten. Und als seine Finger den schwarzen Stein berührten, da schwanden auch seine letzten Zweifel. Diese unheimliche, körperlose Kälte und die bis in die Seele dringende Finsternis, die hatte er schon einmal gespürt. Es gab keinen Zweifel - das hier war Morgon, die Burg, über die der schwarze Zauberer Boraas geherrscht und von der aus er seinen Angriff auf Märchenmond geführt hatte.

Jetzt, da er wußte, wo er war, erkannte Kim auf Schritt und Tritt alles wieder: Sie benützten die gewendelte, scheinbar endlose Treppe aus schwarzem Fels, auf der seine Flucht damals begonnen hatte, durchquerten mehrere Säle, die sich in all der Zeit nicht verändert zu haben schienen, und traten schließlich auf einen der überdachten Wehrgänge hinaus.

Es war Nacht. Ein eisiger Wind heulte um die Zinnen und ließ Kim frösteln. Der Burghof lag wie ein schwarzer, bodenloser Abgrund unter ihm, und doch glaubte er, Bewegung darauf zu erkennen. Große, kantige Gestalten stapften hin und her, und roter Feuerschein fiel flackernd aus offenen Türen und von den Schießscharten.

Als sie den Wehrgang verließen und die Festung wieder betraten, da wurde Kim zu seiner Überraschung nicht nach unten geführt, wo er Boraas' alten Thronsaal wußte, sondern im Gegenteil eine steile Treppe aus schwarzem Fels weiter hinauf in die Höhe. Und als sie die Tür an ihrem Ende erreichten, da schien Kims Herz vor Schreck einen Schlag zu überspringen und dann doppelt heftig und so hart weiterzuhämmern, daß es weh tat. Er wußte, was hinter dieser Tür lag. Und hätte er auch nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit gehabt, auf dieses Wissen zu reagieren, dann wäre er herumgefahren und hätte zu fliehen versucht, ungeachtet der Zwerge und des Eisenmannes hinter ihm, dessen Klaue zum Zupacken bereit war. Aber soviel Zeit blieb ihm nicht, denn die Tür schwang wie von Geisterhand bewegt vor Kim auf, und im gleichen Augenblick versetzte ihm der Eisenmann einen Stoß, der ihn hilflos hindurchtaumeln und dahinter auf die Knie fallen ließ. Kim senkte entsetzt den Blick und schloß die Augen. Er wußte, wo er war. Dies war der Turm, in dem der schwarze Spiegel hing, der Quell allen Übels und alles Bösen in Märchenmond, jenes furchtbare Ding, das schon einmal fast zum Untergang des Zauberreiches geführt hatte. Ein einziger Blick in ihn, und er war verloren.

Reglos hockte Kim da und lauschte auf das rasende Hämmern seines Herzens. Dann sagte eine meckernde, wohlbekannte Stimme: »Du hast jetzt lange genug vor mir gekniet, Bengel. Steh auf!«

Kim rührte sich nicht. Er war verloren, wenn er auch nur die Augen öffnete. Ein einziger Blick in den riesigen Spiegel, der an der Wand gegenüber der Tür hing, und er würde sich selbst in den schlimmsten Feind dieser Welt und ihrer Bewohner verwandeln! »Ich glaube, unser Gast ist noch ein bißchen müde!«, fuhr die meckernde Stimme fort. »Vielleicht hilft ihm jemand, aufzustehen.« Fast im selben Moment fühlte sich Kim von einer mächtigen, eisenharten Hand am Arm gepackt und so kräftig in die Höhe gerissen, daß er einen Schmerzensschrei ausstieß und unwillkürlich die Augen öffnete.

Und ohne daß er irgend etwas dagegen tun konnte, fiel sein Blick auf die gegenüberliegende Wand.

Sein Herzschlag stockte diesmal wirklich. Für einen unendlich kurzen, furchtbaren Augenblick wartete Kim darauf, daß er sich verwandelte, daß sein Spiegelbild zu düsterem Leben erwachte und Tod und Vernichtung über die Bewohner Märchenmonds brachte. Aber es geschah nichts. Der schwarze Spiegel verwandelte ihn nicht, und er konnte es auch gar nicht, denn er war nicht mehr da. Wo er gehangen hatte, da zeigte sich Kims Blicken jetzt eine gewaltige, sanft gekrümmte Glasscheibe von lindgrüner Farbe, die an ihren vier Ecken abgerundet war. Flimmernde Streifen aus verschiedenfarbigem Licht huschten über das grüne Glas, und manchmal glaubte er, verwirrende Buchstaben in einer verschnörkelten, ihm unbekannten Schrift zu erkennen, die aber so schnell erloschen, daß er sie nicht genau sehen konnte. Der Spiegel war verschwunden, und an seiner Stelle erhob sich jetzt etwas wie die ins Riesenhafte vergrößerte Abbildung eines - »Hierher, geehrter Gast«, meckerte die spöttische Stimme in seine Gedanken. »Wenn du vielleicht die Güte hättest, uns deine geschätzte Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, wären wir überglücklich.«

Kim riß seinen Blick mühsam von der grünen Glasscheibe los und gewahrte Jarrn, der zusammen mit einem Dutzend anderer Zwerge an einem gewaltigen Tisch aus schwarzem Holz hockte. Der Tisch und die dazugehörigen Stühle stammten offensichtlich noch von den früheren Bewohnern dieser Festung, denn beides hatte nicht die für Zwerge passende Größe. Jarrns Füße baumelten einen guten halben Meter über dem Boden, und die Tischplatte hätte 1hrn und seinen Brüdern gut als Tanzfläche dienen können. Doch hatte der Anblick absolut nichts Lächerliches an sich. Ganz im Gegenteil - Kim spürte plötzlich die Bedrohung, die von den schwarzgekleideten Zwergen ausging. Mißmutig blickte er Jarrn an. »Was soll das?«

»Oh«, sagte Jarrn mit gespielter Überraschung. »Hat man es dir nicht gesagt, mein Freund? Wir sitzen über dich zu Gericht.«

»Ich wüßte keinen Grund«, antwortete Kim.

»Den wirst du schon noch erfahren.«

Allmählich schwoll Kim die Zornesader, nun, da er seinen Schrecken überwunden hatte. Herausfordernd trat er auf Jarm zu und blieb erst stehen, als der Eisenmann drohend die Hand hob. »Ich verlange eine Erklärung!« sagte er. »Wieso hat man mich überfallen und hierher gebracht? Und was soll dieser Unsinn, daß ihr Gericht über mich halten wollt? Du wirst mir sagen, was das alles zu bedeuten hat. Oder - besser noch«, er deutete auf den Zwerg, der ihn hier herauf gebracht hatte, »dieser Zwerg sagte, euer König wäre hier. Ich verlange, zu ihm gebracht zu werden.«

Jarrn kicherte. »Dein Wunsch ist mir Befehl«, sagte er und stand auf. Er versuchte es jedenfalls, doch er schien vergessen zu haben, daß er auf einem für ihn zu großen Stuhl saß. So plumpste er schlagartig einen halben Meter in die Tiefe, wobei sein Kinn unsanft auf die Tischkante schlug. Fluchend klammerte er sich an den Lehnen des geschnitzten Sessels fest, krabbelte umständlich wieder auf die Sitzfläche hinauf und starrte Kim an, als mache er ihn persönlich für sein Ungeschick verantwortlich. Kim seinerseits hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Aber es gelang ihm, zumal er sehr sicher war, daß Jarrn im Augenblick noch weniger Sinn für Humor hatte als ohnehin.

»Also«, knurrte Jarrn feindselig. »Ich bin da. Was willst du wissen?«

Eine geraume Weile verging, bis Kim sich der Bedeutung dieser Worte bewußt wurde. »Du?« staunte er. »Du bist der König?«

»Wenn du gestattest, ja«, schnarrte Jarrn, verzog das Gesicht und spuckte ein blutiges Stück eines abgebrochenen Zahnes aus.

Kirn überwand seine Überraschung schnell. »Um so besser«, sagte er. »Dann wirst du mir erklären können, was das alles zu bedeuten hat. Wieso entführt ihr mich? Wieso verfolgt ihr mich, seit ich in Märchenmond bin?«

Jarrns Augen wurden schmal. »Vielleicht weil du in Märchenmond bist«, antwortete er.

»Aber -«

Der Zwerg schnitt ihm mit einer zornigen Bewegung das Wort ab. »Genug!« sagte er streng. »Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als meine Zeit mit dir zu vertrödeln, Dummkopf. Die Verhandlung ist eröffnet!«

Einer der Zwerge zog einen Hammer unter dem Umhang hervor, der gut dreimal so viel wiegen mußte wie er selbst, und schlug damit so wuchtig auf den Tisch, daß die Platte aus zollstarkem Eichenholz einen Riß bekam. Jarrn schenkte ihm einen ärgerlichen Blick und wandte sich wieder an Kim. »Du wirst verschiedener Verbrechen beschuldigt. Sehr schwerer Verbrechen.«

»Ach ja?« sagte Kim säuerlich. »Dürfte ich auch erfahren, welcher?«

»Alles zu seiner Zeit«, antwortete Jarrn mürrisch. »Also - bekennst du dich schuldig?«

Kim riß Mund und Augen auf. »Schuldig? Aber ich weiß ja noch nicht einmal, was man mir vorwirft!«

Jarrn seufzte. »Schreiber!« sagte er. »Notiere für das Protokoll: Der Angeklagte ist uneinsichtig und beleidigt das Gericht, was im Falle einer Verurteilung zu einer Strafverschärfung führen wird.«

»He!« protestierte Kim. »Ich-«

Wieder schnitt ihm Jarrn das Wort ab. »Niemand soll uns Zwergen vorwerfen, daß wir ungerecht wären«, sagte er. »Du hast es zwar nicht verdient, aber du sollst die Gelegenheit haben, dich in einer fairen Verhandlung vor diesem Gericht zu rechtfertigen. Ich nehme an, du hast keinen Verteidiger?«

»Keinen was?!« stöhnte Kim.

»Schreiber!« krächzte Jarrn. »Notiere für das Protokoll: Dem Angeklagten wird ein Verteidiger vom Gericht zugewiesen.« Sein Blick glitt über die Gesichter der anwesenden Zwerge. »Meldet sich einer von euch freiwillig?«

Betretenes Schweigen breitete sich im Raum aus. Jarrn seufzte. »Na, dann werde ich einen aussuchen«, sagte er. Er deutete auf einen Gnom, der besonders häßlich und klein geraten war. »Du da! Du wirst den Angeklagten verteidigen, so gut du kannst!«

»Ja, aber ...« begann der Zwerg, kam aber nicht weiter, denn Jarrn brüllte ihn an: »Du hast das Gericht zu respektieren, Verteidiger, oder du kannst das Schicksal des Angeklagten teilen!«

Der Zwerg schien unter seinem Umhang angstvoll zusammenzuschrumpfen und sagte während der ganzen übrigen Verhandlung kein Wort mehr.

»So.« Jarrn rückte sich eindeutig zufrieden auf seinem Stuhl zurecht. »Nachdem dem Protokoll Genüge getan worden ist, können wir ja beginnen. Du streitest also alles ab, Angeklagter?«

»Das würde ich vielleicht tun, wenn ich wüßte, was man mir vorwirft«, sagte Kim verstört.

Die Zwerge begannen zu murren, und Jarrn verdrehte die Augen. »Also gut«, seufzte er. »Wenn du unbedingt die Zeit vertrödeln willst ... Da wären zum einen die Zerstörung mehrerer unserer eisernen Männer -«

»Aber ich habe mich doch nur gewehrt!« protestierte Kim. Doch Jarrn fuhr unbeeindruckt fort.

»Des weiteren wäre da der Angriff auf den König des Zwergenvolkes -«

»Woher sollte ich wissen, wer du bist?« verteidigte sich Kim.

»- und letztendlich die Zerstörung unseres Eisendrachen«, schloß Jarrn ungerührt.

Die Worte des Zwerges verschlugen Kim für einen Moment buchstäblich die Sprache. »Aber das war doch nicht meine Schuld!« rief er fassungslos. »Du warst doch dabei! Er hat Rangarig angegriffen und wurde dabei zerstört.« Unter den Zwergen brach so etwas wie ein Tumult los. Einige begannen, ihn wüst zu beschimpfen, andere überschütteten ihn mit Buh-Rufen und Pfiffen oder schrien: »Werft ihn in Ketten!« oder »Schmeißt den Kerl in den Kerker!«, bis Jarrn dem Zwerg mit dem Hammer einen Wink gab, und dieser mit einem lautstarken Schlag, der die Tischplatte vollends spaltete, wieder für Ruhe sorgte.

»Willst du etwa abstreiten, daß der Drache zerstört wurde, während wir dich verfolgten?« fragte Jarrn, wobei er sich vorbeugte und ein Auge zukniff.

»Das ist richtig«, sagte Kim. »Aber ich -«

»Eben!« unterbrach ihn Jarrn triumphierend. »Wärst du also nicht geflohen, hätten wir dich nicht verfolgen müssen, und folglich hätte der Golddrache unseren Eisendrachen nicht angegriffen und zerstört.« Er wandte sich mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck zum anderen Ende der Tafel. »Schreiber! Notiere für das Protokoll: Der Gefangene ist geständig.«

»Aber das ist doch -« begann Kim, nur um im gleichen Moment von der gesamten Versammlung niedergebrüllt und ausgebuht zu werden. Diesmal dauerte es weitaus länger, bis Jarrn für Ruhe sorgen konnte; und es kostete den langen Tisch zwei seiner zahlreichen Beine. »Es ist vernünftig von dir, nicht weiter zu leugnen«, sagte Jarrn. »Nicht, daß das irgend etwas an dem Urteil ändern würde.«

»Das ohnehin schon feststeht, vermute ich«, murmelte Kim.

Jarrn sah ihn mit ehrlicher Verblüffung an. »Selbstverständlich«, sagte er. »Was hast du denn erwartet?«

Kim wußte nicht, sollte er lachen oder weinen. Die ganze Situation kam ihm vor wie ein bizarrer Traum, aus dem er nur nicht erwachen konnte.

»Nachdem du anscheinend endlich einsichtig wirst«, fuhr Jarrn fort, beugte sich vor und versuchte, die Hände über der Tischplatte zu falten, rutschte dabei abermals vom Stuhl und konnte sich gerade noch im letzten Augenblick an der Tischkante festklammern, »können wir jetzt zu den wirklich schweren Vergehen kommen, die man dir vorwirft. Gibst du sie zu?«

Kim würdigte ihn nicht einmal einer Antwort. Er war mittlerweile felsenfest davon überzeugt, daß er in einen Alptraum geraten war.

Jarrn verdrehte die Augen. »Er gibt es nicht zu«, sagte er. »Verteidiger - dein Mandant ist sehr uneinsichtig. Du solltest auf ihn einreden, damit er seine Lage nicht noch verschlimmert.«

Der Verteidiger verkroch sich unter seiner Kapuze und schwieg.

»Was werft ihr mir also vor?« fragte Kim ruhig.

»Jetzt will er uns auch noch auf den Arm nehmen!«, keifte Jarrn. »Das ist eine unerhörte Beleidigung des Gerichts!« Wieder brach unter den Zwergen Tumult aus. Einige sprangen auf die Sitzfläche ihrer Stühle hoch und schüttelten drohend die Fäuste in Kims Richtung; andere überschütteten ihn mit Flüchen und Verwünschungen - einer griff sogar nach dem vor ihm stehenden Trinkgefäß und schleuderte es in Kims Richtung, verfehlte ihn aber. Jarrn versuchte mit kreischender Stimme, für Ruhe zu sorgen, aber seine Worte gingen in dem allgemeinen Gebrüll einfach unter, so daß er dem Zwerg mit dem Hammer einen Wink gab. Der Zwerg schwang sein Werkzeug im hohen Bogen. Der Hammer krachte auf den Tisch herunter, zwei weitere seiner Beine knickten ein und dann brach der ganze Tisch polternd in sich zusammen. Jarrn, der sich mit den Ellbogen auf der Platte abgestützt hatte, stürzte nach vorn und schlug sich die Nase blutig.

Fluchend kletterte er wieder auf seinen Stuhl empor und starrte Kim haßerfüllt an. »So, du streitest also ab, hierhergekommen zu sein und dich in unsere Angelegenheiten gemischt zu haben? Du streitest ab, dich auf die Seite der Aufständischen geschlagen zu haben, deren einziges Ziel es ist, unsere Geschäfte zu stören und uns zu ruinieren?«

Kim begriff überhaupt nichts mehr. »Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte er hilflos. »Ich habe doch nur -«

»Ha!« brüllte Jarrn mit vollem Stimmaufwand. »Schreiber! Notiere, daß der Angeklagte geständig ist!«

»Ich sage jetzt überhaupt nichts mehr«, meinte Kim trotzig.

»Er ist auch noch verstockt!« Jarrn fuchtelte wild mit den Händen in der Luft herum. Ein paar der Zwerge neben ihm begannen wieder zu toben und Buhrufe auszustoßen, und der Zwerg am Ende der Stuhlreihe hob seinen Hammer, hatte aber scheinbar vergessen, daß der Tisch nicht mehr dastand. Das schwere Werkzeug sauste in einem Halbkreis nach unten und kappte das Bein des Stuhles, auf dem er saß. Der Gnom vollführte am Ende des Hammerstiels einen perfekten Salto und landete genau unter seinem eigenen, zusammenbrechenden Stuhl.

»Deine Verstocktheit nutzt dir gar nichts«, rief Jarrn böse. »Die Beweise sind erdrückend.«

»Was für Beweise?« murmelte Kim.

, »Du bist hierhergekommen und hast den Lauf der Dinge gestört«, antwortete Jarrn. »Dinge, die dich nichts angehen. Durch deine Schuld sind uns zahlreiche Geschäfte entgangen, und durch deine Schuld wurden zahllose kostbare Werkzeuge zerstört. Aber es wird dir nichts nützen, du Dussel. So wenig wie deinen bekloppten Freunden ihr kleiner Krieg, den sie vom Zaun gebrochen haben.«

»Krieg?« Kim erschrak. »Was für ein Krieg?«

»Jetzt tut er auch noch so, als wüßte er von nichts!« brüllte Jarrn und beugte sich wütend so weit vor, daß er nochmals vom Stuhl fiel. Der Verteidiger sprang hastig von seinem Sitz herunter und rannte zu ihm, um seinem König wieder auf die Füße zu helfen, und erntete als Dank eine Ohrfeige, die ihn quer durch den Raum fliegen ließ. Jarrn stand auf, strich sich glättend die Falten seines völlig zerknitterten Umhanges und deutete mit der Hand auf die grüne Scheibe an der Wand hinter sich.

Und er hatte es kaum getan, da erlosch der sinnverwirrende Wechsel von Farben und fremdartigen Buchstaben, und Kim hatte plötzlich den Eindruck, aus großer Höhe auf eine Karte des Landes Märchenmond herabzublicken. »Sieh hin, wenn du unbedingt Beweise verlangst!« sagte Jarrn giftig. »Und dann leugne noch, wenn du es wagst!« Aber was Kim in dem magischen Fenster sah, das schlug Ihn so in seinen Bann, daß er die Worte des Zwergenkönigs gar nicht mehr hörte. Das Bild zeigte jetzt das gewaltige Caivallon, die Festung der Steppenreiter. Wie im Zeitraffer beobachtete Kim, wie Priwinn, Gorg und die Bauersleute die Festung erreichten. Wenig später - draußen wohl Tage oder Wochen - zog eine gewaltige Anzahl von Steppenreitern aus Caivallon nach Süden. Die kleine Armee wuchs und wuchs. Immer mehr Männer schlössen sich ihr an.

Sie hinterließen eine Spur der Zerstörung. Kim hörte bald auf, die Gehöfte und Dörfer zu zählen, durch die Priwinns Reiterheer zog, um all die Männer und Pferde aus Eisen zu zerschlagen. Er hörte auch bald auf, die Zahl der Zwerge zu zählen, die vor der näherrückenden Armee floh.

Und während Kim die schlanke Gestalt in der nacht-schwarzen Rüstung betrachtete, die an der Spitze des Heerzugs ritt, da begriff er, daß es nicht länger ein Prinz war, der all diese Männer führte. Nach dem Tod seines Vaters war Priwinn der König der Steppenreiter, und er hatte wahrgemacht, was er dem Bauern in jener Nacht verkündet hatte: Nicht nur ein kleines Grüppchen, eine ganze Armee hatte er um sich geschart, und er zog mit dem Schwert in der Hand durch das Land und versuchte, mit Gewalt zu erreichen, was er sich vorgenommen hatte.

Aber noch etwas anderes war wahr geworden wie Themistokles es prophezeit und wovor Kim sich am meisten gefürchtet hatte: Längst nicht alle Bewohner Märchenmonds waren mit dem einverstanden, was Priwinn tat, und nicht alle flohen kampflos vor der aufständischen Armee. Je weiter der Heereszug nach Süden kam, desto mehr Widerstand stellte sich ihm in den Weg. Erst kam es zu kleinen Handgemengen, dann zu Scharmützeln und bald auch zur Belagerung, wenn die Bewohner einer Stadt ihre Tore verschlossen und die Mauern besetzten, um sich zu verteidigen. Schließlich stellte sich den Rebellen eine zweite, beinahe gleichgroße Armee entgegen. Kim sah mit einer Mischung aus Entsetzen und lähmendem Unglauben zu, wie sich die beiden riesigen Heere gleich gewaltigen, aus hunderttausenden winziger Teile bestehenden Tiere aufeinander zuschoben, aber das Bild erlosch, noch ehe sie zusammenprallten.

»Oh, nein!« flüsterte er entsetzt. »Was hat er getan?«

»Willst du immer noch abstreiten, schuld an alledem zu sein?« fragte Jarrn.

»Aber das ... das wollte ich nicht!« Kim blickte den Zwerg beinahe entsetzt an.

»Jarrn, du mußt mir glauben! Ich habe versucht, es Priwinn auszureden! Du warst doch ...«

»Papperlapapp!« schnappte Jarrn. »Nichts von alledem wäre geschehen, wenn du nicht gekommen und deine vorlaute Nase in unsere Angelegenheiten gesteckt hättest!« Kims Stimme wurde beinahe flehend. »Bitte, Jarrn! Du kannst das doch nicht alles vergessen haben. Wir haben zusammen gegen die Flußleute gekämpft. Wir haben überlebt, weil wir uns gegenseitig geholfen haben! Ich habe dir das Leben gerettet, und du meins.«

»Na und?« Jarrn spie verächtlich aus, zielte aber zu kurz und traf seine eigenen Fußspitzen. »Romantischer Firlefanz! Wozu mischt du dich in unsere Angelegenheiten.«

»Eure Angelegenheiten?« Kim wurde wieder zornig. »Vielleicht hast du sogar recht, verdammter Zwerg! Aber weißt du was? Wenn es eure Angelegenheiten sind, Märchenmond den Untergang zu bringen, dann misch' ich mich gern ein.«

»Ha!« brüllte Jarrn. »Endlich gibt er es zu! Schreiber - notiere für das Protokoll, daß der Angeklagte in vollem Umfang geständig ist!«

Kim starrte den Zwergenkönig entrüstet an, und für einen Moment mußte er mit aller Macht an sich halten, damit er sich nicht einfach auf ihn stürzte und ihm den dürren Hals umdrehte, ganz egal, was danach geschah.

»Schreiber!« keifte Jarrn. »Lies das Urteil vor!«

»Was für ein Urteil?« erkundigte sich der Schreiber. Sein König spießte ihn mit Blicken regelrecht auf. »Es muß irgendwo bei deinen Unterlagen sein«, fauchte er. Während der Schreiber emsig in dem Stapel zerknitterten Papieres zu blättern begann, der auf seinen Knien lag, trippelte Jarrn auf Kim zu und starrte ihn dabei herablassend an. Daß er dazu den Kopf in den Nacken legen mußte, tat der Wirkung seines Blickes nur wenig Abbruch. »Du hättest uns allen eine Menge Ärger erspart, Dummkopf, wenn du damals mit mir gekommen wärst«, sagte er. »Warum tut ihr das?« fragte Kim leise. »Bereitet es euch solche Freude, anderen zu schaden?«

Und plötzlich wurde Jarrn sehr ernst. Aller Hohn und Spott wich aus seinem Blick, und er sah Kim auf eine Art an, die diesen schaudern ließ. »Wir tun nur das, was man von uns verlangt«, sagte er. »Es ist nur eure Art, bei jedem Unglück, das euch trifft, nach einem Schuldigen zu suchen. Aber wir sind es nicht. Wir tun nur, wozu man uns gerufen hat.«

Und dann machte der Zwergenkönig einen Schritt zurück, und sein Gesicht nahm wieder jene boshaften Züge an, die Kim schon kannte. »Schreiber!« rief Jarrn. »Hast du das Urteil endlich gefunden?«

Der Zwerg wühlte immer noch heftig in seinen Papieren/ zog aber plötzlich mit einem triumphierenden Ruf ein zerfleddertes Pergament hervor. »Hier ist es!« rief er. »Es lautet ...«Er runzelte die Stirn, sagte noch einmal »Es lautet ...«, runzelte abermals die Stirn und sah seinen König leicht verlegen an. »Also, das kann ich nicht lesen. Wem immer diese Sauklaue gehört, er sollte sich schämen.«

Jarrn warf einen auffordernden Blick in die Runde.

»Kann sich jemand an das Urteil erinnern, das wir abgesprochen haben?« Die Zwerge senkten betreten die Blicke und taten plötzlich alle so, als wären sie mit etwas anderem, furchtbar Wichtigem beschäftigt. Jarrn zog abermals eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Ach, vergeßt es«, meinte er. Dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf Kim und fügte hinzu: »Bringt ihn weg.«

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