Der Regen fiel in Strömen; ein heftiger Frühlingsregen, der wütend gegen die Fensterscheiben schlug. Mrs. Pollifax dachte an Cyrus, der sich auf einer zehntägigen ornithologischen Expedition befand. Sie hoffte, er würde besseres Wetter haben, wenn er mit seinem Fernglas bewaffnet stundenlang im Gebüsch kauerte oder im Geäst eines Baumes hockte, um den Geheimnissen der Vogelwelt auf die Spur zu kommen. Sie hatte es vorgezogen, zu Hause zu bleiben - eine recht weise Entscheidung, wie sie inzwischen fand -, um sich um die Handwerker zu kümmern, die durch das alte Haus schwärmten, das Cyrus und sie gekauft hatten, und die damit beschäftigt waren, ein Gewächshaus für ihre Geranien, einen Balkon, von dem aus Cyrus die Vögel beobachten konnte, und ein leicht asymmetrisch versetztes Rundfenster zu bauen; ein Wunsch, der Mr. Lupalak, den Handwerkermeister, schier zur Verzweiflung brachte, da er ein Mensch war, dem vergessene i-Tüpfelchen und t-Striche Pein bereiteten und dessen exakt und penibel gezogener Mittelscheitel seine Leidenschaft für Symmetrie verriet. Mr. Lupalak war der perfekte Handwerker, den man allerdings keinen Moment lang aus den Augen lassen durfte.
Mrs. Pollifax stand am Fenster und sah auf das üppig grüne und sehr nasse Land hinaus, und zum ersten Mal kamen ihr Zweifel, ob sie das Landleben überhaupt mochte. Die makellos grünen Hügel, das gewundene Band der Straße, die Spitze des Kirchturms, die hinter der tropfnassen Trauerweide hervorlugte, entbehrten zwar nicht eines gewissen Charmes, doch etwas ließ diese Idylle ganz eindeutig vermissen: Bewegung, Aktion, Spannung. Als die Handwerker, die während des Vormittags eine Menge Lärm im Haus gemacht hatten, gegangen waren, fragte sich Mrs. Pollifax, ob es hier draußen möglicherweise nicht doch ein wenig... einsam werden würde. Sie wußte, daß es in den Wiesen und Hecken dort draußen vor Tieren nur so wimmelte -Mäuse, Kröten, Ameisen, und in den Büschen jenseits der Steinmauer lebte sogar eine Igelfamilie -, doch was es hier nicht gab, waren Menschen.
Mrs. Pollifax mochte Menschen - Menschen jeder Gestalt und jeder Größe. Menschen jeder Art und jeden Temperaments.
Mit einem Mal - als hätte das Schicksal ihre Gedanken belauscht - kam Bewegung in die beschauliche Idylle: Ein Wagen fuhr die Route 2 herab, hielt an, setzte ein Stück zurück und bog dann in die Zufahrt zu ihrem Haus ein. Mit hoher Geschwindigkeit jagte er durch die Pfützen, spritzte Wasserfontänen rechts und links über den Wegrand und kam schließlich vor der Haustür zum Stehen.
>Wer könnte.. .?< überlegte Mrs. Pollifax.
Ein gutaussehender junger Mann stieg aus dem Wagen. Er trug einen auffallenden, karierten Anzug mit passender Weste und hatte einen schwarzen Diplomatenkoffer bei sich. Mrs. Pollifax kannte den Mann sehr gut, und er erinnerte sie an Zeiten in ihrem Leben, in denen es außer Geranienzüchten noch eine Menge Aufregung, Gefahr, Abenteuer und Menschen gegeben hatte.
Sie war vor ihm an der Tür. »Bishop!« rief sie. »Was für eine Überraschung! Wie, um alles in der Welt...?«
»Reichlich mühsam, Sie zu finden«, erwiderte er und umarmte sie stürmisch. »Von irgendwo höre ich das Kreischen von Motorsägen; lassen Sie sich etwa eine Arche bauen?«
Sie lachte. »Es regnet nicht immer hier bei uns auf dem Land, und wenn Sie angerufen hätten, hätte ich Ihnen den Weg hierher ganz genau beschrieben. Ich werde Kaffee aufstellen. Ich freue mich. Sie zu sehen. Kommen Sie doch herein, und sehen Sie sich unser Haus an!«
»Gerne«, erwiderte er. »Wo ist übrigens Cyrus?«
»Er ist vor drei Tagen nach Vermont gefahren.«
»Uh - oh«, machte Bishop.
Mrs. Pollifax bedachte ihn mit einem schnellen wachsamen Blick. Also, kein Höflichkeitsbesuch, dachte sie und fühlte einen Anflug von Erregung und Vorfreude. »Eine ungewöhnliche Antwort«, stellte sie fest.
Er ignorierte ihre Bemerkung. »Stellen Sie den Kaffee auf, und zeigen Sie mir das Haus - es sei denn. Sie veranstalten nur bezahlte Führungen. Ich habe nicht viel Zeit«, fügte er beiläufig hinzu und plazierte seinen schwarzen Diplomatenkoffer auf die rosa und rot geblümte Couch.
Mrs. Pollifax rührte ihn durch die Zimmer des Hauses: Die drei Schlafzimmer im Obergeschoß - zwei davon mit mächtigen Kaminen ausgestattet -, durch die Küche im Erdgeschoß ins Eßzimmer, von dem aus sie über die Steinterrasse zum Gewächshaus gingen, dem noch immer einige Glasscheiben fehlten. Sie führte ihn in das Untergeschoß und stellte ihn Mr. Lupalak vor, der Bishops karierten Anzug mit einem fast ehrfurchtsvollen Blick streifte. Gewöhnlich hatte Bishop auf alles die richtige Antwort, doch Mrs. Pollifax fühlte, daß er heute mit seinen Gedanken nicht bei der Sache war - und ihre Neugier wuchs.
Als sie ins Eßzimmer zurückkehrten, schenkte Mrs. Pollifax Kaffee ein, stellte Zucker auf den Tisch und brachte einen Teller mit Makronen aus der Küche. Dann ließ sie sich Bishop gegenüber auf der anderen Seite des blankpolierten Tisches nieder. Hinter Bishop schlug der Wind den Regen gegen die Glasscheibe der Schiebetür. Die Steine der Terrasse schimmerten feucht, und nur ein Forsythienbusch mühte sich tapfer, ein bißchen Farbe in das Bild zu bringen.
»Wie geht es Carstairs?« erkundigte sich Mrs. Pollifax und knabberte an einem Makronenhörnchen.
»Gut geht es ihm«, antwortete Bischop. »Wenn man bedenkt, daß er den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt und ständig Streß und Aufregung ausgesetzt ist, ist er für mich ein medizinisches Phänomen. Er weigert sich beharrlich, zu laufen, zu joggen oder auch nur spazierenzugehen. Seine ganze Lebensweise spricht jeder ärztlichen Erfahrung Hohn. Ihm geht es gut - allen Regeln der Gesundheit zum Trotz. Und wie geht es Cyrus?« erkundigte er sich gleichermaßen höflich.
»Ornithologische Exkursion.«
Bishop nickte verstehend. »Und Sie sind noch immer Mrs. Reed-Pollifax?«
»Allen Regeln der Konvention zum Trotz - ja«, entgegnete sie. »Cyrus bestand darauf.«
Ein vielsagendes Schweigen entstand, als Bishop sie in Gedanken versunken betrachtete. »Also schön, Bishop«, lächelte sie schließlich. »Sie werden von mir nicht erwarten, daß ich annehme. Sie seien aus purem Zufall hier in der Gegend und nur schnell auf einen kurzen Besuch vorbeigekommen.«
»Nein«, sagte er und ließ sich sein drittes Makronenhörnchen schmecken.
»Nein was?«
Er schluckte. »Nein, ich bin nicht aus purem Zufall in der Gegend«, erklärte er grinsend. »Um hierherzukommen, brauchte ich ein Flugzeug, ein Taxi und einen Mietwagen. Mit anderen Worten, ich scheute weder Mühen noch Kosten, um Cyrus auf dem schnellsten Wege zu erreichen.«
»Doch der ist nicht hier.«
»Nein... Wir hatten ohnehin schon Bedenken, da Sie jetzt verheiratet sind und alles... Doch es läßt sich nicht ändern: Wir brauchen Sie. Wir brauchen Sie dringendst und sofort.«
»Wofür?« fragte sie. »Und was heißt sofort?«
Er setzte seine Kaffeetasse ab. »Wenn Sie uns helfen wollen, dann jetzt sofort. Keine Zeit, Cyrus zu kontaktieren oder irgend etwas anderes zu erledigen. Sie müßten sofort mit mir aufbrechen - binnen einer Stunde.« Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr. »Bis um zwölf müßten wir unterwegs sein.«
Mrs. Pollifax sah auf ihre Uhr. Es war fünf nach elf. »Und Sie haben sich fünf Minuten Zeit genommen, das Haus anzusehen!«
Bishop grinste verlegen. »Ich brauchte Zeit, um nachzudenken - um mich mit der neuen Situation abzufinden. Außerdem bin ich nun mal zur Höflichkeit erzogen worden und all das. Wir haben fest mit Cyrus gerechnet, doch das ändert nichts daran, daß wir auch Ihre Hilfe brauchen - und zwar verdammt dringend.«
Natürlich war dies völlig unmöglich, dachte sie. Sie war viel zu beschäftigt - und das Rundfenster mußte eintesetzt werden, und Cyrus wußte von nichts... »Weshalb ich?« fragte sie. »Und wohin soll ich?« Hongkong«, sagte Bishop.
Hongkong... In Hongkong schien die Sonne, erinnerte sie sich. Eine strahlende Sonne...
»Erinnern Sie sich an Sheng Ti?« fragte Bishop.
Natürlich erinnerte sie sich an Sheng Ti. Es war erst ein paar Monate her, daß sie mit ihm unter einem Lüftungsschacht in einer chinesischen Stadt mit dem Namen Turfan gesessen und von ihm erfahren hatte, daß er hai fen war; eine Person, die ohne Papiere und Identität und ohne ein Zuhause in China lebte, und sie hatte ihren Co-Agenten überredet, ihn zusammen mit Wang Shen, der eigentlichen Hauptperson ihrer damaligen Mission, außer Landes zu schmuggeln.
Sie nickte. »Natürlich erinnere ich mich an Sheng Ti... Ein sehr intelligenter junger Mann, dessen Talente als Ausgestoßener oder Gassenlümmel, wie sie diese Jungens in China nennen, absolut vergeudet waren.«
»Sie wissen, daß er sich jetzt in Hongkong aufhält?«
»Sie haben es bei unserer Hochzeit erwähnt. Ich hatte den Eindruck«, fügte sie spitz hinzu, »daß Sie ihn in Hongkong einfach sitzenließen, weil Sie nicht wußten, was Sie sonst mit ihm anfangen sollten.«
»Niemand konnte schließlich mit Ihrer Großzügigkeit rechnen«, erwiderte Bishop ungerührt. »Wir hatten zwei Männer erwartet, die über die Berge nach Kaschmir kommen würden - und nicht drei. Außerdem haben wir ihn in Hongkong nicht einfach sitzenlassen, wie Sie es ausdrücken; wir haben ihn ganz bewußt dorthin placiert. Bei einem unserer Agenten.«
»Oh!« machte sie.
»So ist es. Und um es kurz zu machen, meine liebe Mrs. Pollifax - denn die Zeiger der Uhr hinter Ihnen rücken unaufhaltsam weiter -, wir sind in großer, in sehr großer Sorge wegen dieses Agenten. Und Ihr Freund Sheng Ti ist der einzige, der in der Lage ist, uns einige Informationen zu liefern.«
»Was könnte er schon wissen?« fragte sie skeptisch.
»Er arbeitet für unseren Mann. Er ist an Ort und Stelle und -wie wir von unseren Leuten in Hongkong wissen -ständig anwesend. Der Name unseres Agenten ist Detwiler. Er ist Eurasier. Als Deckadresse benutzt er eine Export-Import-Firma für Diaman-ten und andere Edelsteine. Der alte Feng leitet den Laden. Detwiler ist für den Import zuständig, und Sheng Ti ist einer der beiden Angestellten.«
»Und Detwiler bereitet Ihnen Kopfzerbrechen?«
»Mehr als ich zu sagen imstande bin«, erwiderte Bishop. »Der Mann weiß zu viel; er hat eine Menge anzubieten. In seinem letzten Bericht ist er zu weit gegangen: Die Informationen, die er ans Ministerium sandte, waren in einer derart eklatanten Weise gefälscht, daß wir uns veranlaßt sahen, auch seine früheren Berichte zu überprüfen. Wir stellten fest, daß er uns seit etwa zwei Monaten getürkte Informationen liefert. Kurz gesagt: irgend etwas läuft eindeutig schief in Hongkong. Er hintergeht uns, und der Verdacht liegt nahe, daß es sich dabei um eine eigennützige und überaus suspekte Aktion Detwilers handelt, die unseren Interessen nur schaden kann. Mit Sicherheit ist er für uns nicht mehr zu gebrauchen, und wir sind entschlossen herauszufinden aus welchem Grund. Wir müssen wissen, für wen er nun arbeitet, welche Art von Informationen er anderweitig verkauft und, was zum Teufel, überhaupt vor sich geht in Hongkong. Überdies«, fügte er hinzu, »hat jemand Ihrem Freund Sheng Ti eine höllische Angst eingejagt.«
»Wie kommen Sie darauf?« fragte sie erschrocken.
»Weshalb, glauben Sie, brauchen wir gerade Sie so dringend?« entgegnete er. »Weil wir nämlich bereits zwei unserer Leute zu Feng-Imports geschickt haben, die versuchen sollten, sich Sheng Ti zu nähern - nettes Gespräch, Einladung zu einem Bier, ins Kino, Mädchen... Keine Chance! Die Einschätzung der Situation lautet immer gleich: >Dem Jungen sitzt die Angst im Nacken. Er befindet sich in Panik. < Was -wie ich betonen möchte - unseren Verdacht, daß bei Feng-Imports etwas nicht in Ordnung ist, nur bestätigt.«
»Und Sie glauben, Sheng Ti würde mit mir reden?«
Bishop nickte. »Er kennt Sie. Schließlich hat er es nur Ihnen zu verdanken, daß er aus Turfan und aus China herausgeschmuggelt wurde. Er vertraut Ihnen. Sie sind für ihn ein bekanntes Gesicht.« Erneut warf er einen schnellen Blick auf seine Uhr. »Das ist natürlich nicht alles, doch so sieht im großen und ganzen die Situation aus. Sie sind der einzige Mensch, der an Sheng Ti herankommen kann, und wir brauchen die Informationen, die er uns geben kann. Wir müssen wissen, was bei Feng-Imports vor sich geht.«
»Ich verstehe«, nickte Mrs. Pollifax.
Bishop bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. Schließlich sagte er: »Es kann natürlich auch gefährlich werden. Das ist nicht auszuschließen, vor allem wenn Sie nicht sogleich mit Sheng Ti Kontakt aufnehmen können und zu auffällig bei Feng-Imports herumschnüffeln.«
Mrs. Pollifax nickte und überdachte seine Worte noch einmal. Dann erhob sie sich und trug die Kaffeekanne in die Küche. » Es ist jetzt fünfundzwanzig nach elf«, rief sie durch die offene Tür. »Wenn Sie inzwischen die Tassen und die Kanne ausspülen... «
»Sie nehmen also an?« rief Bishop erfreut.
Sie kam lächelnd ins Zimmer zurück. »In Hongkong regnet es wenigstens nicht - oder? Ja, ich komme mit. Wenn Sie mich jetzt für einen Augenblick entschuldigen...« Sie eilte die Treppe empor, holte ihren Koffer vom Schrank und warf ein paar leichte Hosen, Rock und Blusen, ihre Zahnbürste, ein Paar bequeme Schuhe und ihren Pyjama hinein. Den Paß steckte sie in ihre Handtasche und schlüpfte in einen purpurroten wollenen Anzug, wählte eine rosarote Hemdbluse und entschied sich schließlich für einen Hut, der einem Garten mit roten und rosaroten Rosen nicht unähnlich war. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch und griff nach einem Stift, um Cyrus ein paar hastige Zeilen zu schreiben. Alles kam so unerwartet. Bishop ist hier und hoffte, auch Dich anzutreffen. In fünfzehn Minuten bin ich unterwegs nach Hongkong.
Ich rufe Dich an oder Du mich. Bin zu erreichen... »Bishop!« rief sie. »Wo werde ich wohnen und wie lange?«
»Ungefähr eine Woche«, rief Bishop zurück. »Wir haben für Sie im Hongkong-Hilton reserviert.«
...im Hongkong-Hilton. Zurück in einer Woche. Vergiß nicht, wie lieb Du mir bist! Love, love, love, Emily.
Sie überflog es noch einmal und setzte ein PS darunter: Laß es ja nicht zu, daß Mr. Lupalak das Rundfenster in die Mitte setzt! Dann hielt sie einen Augenblick inne und stellte sich vor, wie Cyrus wohl reagieren würde, wenn er die Nachricht las und feststellen mußte, daß sie ausgeflogen war. Sie hatte Cyrus versprochen, ohne ihn nie mehr für Carstairs zu arbeiten; andererseits hatte Cyrus darauf bestanden, daß sie - allein um ihm einen Gefallen zu tun - keinen Auftrag ablehnen würde.
»Ich möchte dich nicht einsperren. Liebes«, hatte er gesagt. »Zu viele Jahre habe ich auf jemanden wie dich gewartet, der voller Überraschungen steckt und mit dem das Zusammenleben nie langweilig wird. Es gibt nichts an dir, das ich verändern möchte.«
Lieber Cyrus, dachte sie zärtlich. Welch großes Glück sie gehabt hatte, ihm damals in Sambia zu begegnen. Er war mit seiner Tochter Lisa unterwegs gewesen, und sie selbst hatte einen flüchtenden Mörder verfolgt. Cyrus hatte ihr das Leben gerettet, und kurz darauf sie ihm ebenfalls - eine Basis, auf der sich eine herzliche Freundschaft entwickelte. Doch Cyrus ließ von Beginn an keinen Zweifel aufkommen, daß er mehr wollte als nur ihre Freundschart.
In ihre Gedanken an Cyrus drängte sich Bischops Bemerkung, daß der Auftrag auch gefährlich werden könne. Natürlich war dies niemals ganz auszuschließen, dessen war sie sich bewußt. Der Auftrag, Sheng Ti zu finden und mit ihm zu sprechen, schien auf den ersten Blick alles andere als ein gefährliches Unterfangen, doch dasselbe war im Jahr zuvor, bei ihrer Reise nach China der Fall gewesen - denn niemand hatte voraussehen können, daß auch der KGB in die Angelegenheit verwickelt war, und Carstairs hatte weder mit Mord, einem durchgehenden Gaul, einem gebrochenen Handgelenk, noch mit den langwierigen Verhören, die sie vor der chinesischen Geheimpolizei bestehen mußte, gerechnet. Es war jedoch alles gut ausgegangen damals: Ihr Handgelenk war sehr gut verheilt, Wang Sheng war sicher über die Berge gebracht worden, und sie war mit dem Bewußtsein aus dem Abenteuer hervorgegangen, daß Cyrus Reed für ihre Zukunft von absolut zentraler Bedeutung war und nicht länger auf die lange Bank geschoben werden durfte.
Seit zehn Monaten war sie nun mit Cyrus verheiratet. Mit einem Lächeln sah sie sich in dem Raum um, in dem Cyrus' Gegenwart fast körperlich zu fühlen war. Sie konnte nur hoffen, daß er Verständnis dafür aufbringen würde, daß man sie brauchte.
»Ich werde gebraucht!« wiederholte sie laut und faltete entschlossen den Zettel mit der Nachricht für Cyrus zusammen. Sie erhob sich und klappte den Koffer zu.
Es war genau zehn Minuten vor zwölf, als sie mit dem Koffer in der einen und der Notiz in der anderen Hand die Treppe hinunterging. Bishop stieß einen Pfiff aus, als er sie sah.
»Gießen Sie diese Rosen jeden Abend? Was für ein Hut!« rief er verzückt. »Was für ein Hut!«
»Danke sehr!« erwiderte sie geziert und ging - nachdem sie den Koffer abgestellt hatte - ins Kellergeschoß hinab, um den erstaunten Mr. Lupalak davon in Kenntnis zu setzen, daß sie für einige Tage verreisen müsse, daß er Mr. Reed ausrichten solle, er würde eine erklärende Nachricht am gewohnten Platz finden und daß er das Rundfenster unter allen Umständen leicht asymmetrisch anbringen solle. Sie kehrte ins Eßzimmer zurück. »Ganz sicher glaubt er, ich verlasse Cyrus«, seufzte sie. »Wahrscheinlich nimmt uns ohnehin kein Mensch in der Nachbarschaft ab, daß Cyrus und ich verheiratet sind. Namensschilder wie Reed-Pollifax geben immer Anlaß zu Spekulationen.«
»Ich könnte ja kurz in den Keller gehen und vor Mr. Lupalak bezeugen, daß ich Ihre Hochzeit miterlebt habe«, schlug Bishop mit einem anzüglichen Grinsen vor.
»Nein, nein - lassen Sie ihn ruhig«, entgegnete Mrs. Pollifax mit schnippischem Unterton. »Jeder braucht in seinem Leben etwas, das ihm Rätsel aufgibt - glauben Sie nicht auch? Soll Mr. Lupalak denken, was er will.« Sie legte die Notiz für Cyrus in den Eisschrank, nahm ihren Regenmantel von der Garderobe, und Punkt zwölf Uhr mittags verließ sie gemeinsam mit Bishop das Haus. Sie fühlte sich gerüstet für Hongkong und war gespannt, welche Abenteuer sie dort wohl erwarten würden.