FREITAG

16

Um sie herum war tiefste Dunkelheit gewesen; dann ein winziger, trüber Lichtschein. An der Decke ein Haken, an den man sie mit ihren gefesselten Händen aufgehängt hatte - eine Handbreit über dem Boden. Und der Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, hatte Fragen gestellt - zahllose Fragen... Dann hatte der Schrecken begonnen... Oder hatte sie das alles etwa geträumt? Sie bewegte sich, stöhnte laut auf und öffnete mühsam die Augen. Etwas hatte sich verändert: der dunkle Raum war nicht mehr da, und sie lag auf dem Fußboden eines hell erleuchteten Zimmers - zu hell, und sie mußte die Augen wieder schließen. Jetzt erst fühlte sie den brennenden Schmerz, der wie Feuer über ihren Rücken zuckte und etwas Warmes, Klebriges, das irgenwie damit zusammenhing. >Wie komme ich hierher?< dachte sie. >Und wo bin ich überhaupt?< Zu viele Fragen, auf die sie keine Antwort wußte, und sie sank zurück in einen Zustand des Vergessens - halb Bewußlosigkeit, halb Erschöpfungsschlaf. ..

Als sie erneut zu sich kam und die Augen öffnete, begriff sie mit plötzlichem Entsetzen, wo sie war und weshalb: Sie war in Hongkong und man hatte sie verhört und geschlagen. Der Mann ohne Gesicht hatte sie geschunden und gequält, um sie zum Reden zu bringen. Sie fragte sich, weshalb er sie nicht getötet hatte, doch das würde vermutlich als nächstes geschehen... Überwältigt von Schmerz und Schwäche begann sie leise vor sich hin zu weinen und dachte an Cyrus, der zu ihr unterwegs war, und den sie nun nie mehr sehen wurde - nie mehr einen Morgen mit ihm, nie mehr einen Frühling, einen Sommer...

Doch sehr bald wurde sie wütend auf sich selbst; darauf, daß sie sich ihrem Schmerz und Selbstmitleid hingab, und sie dachte ärgerlich: >Ich erwarte ja nicht unbedingt saubere Laken, aber in einem schmutzigen Speicher in Hongkong zu enden? Das darf nicht seinl<

Das war schon viel besser. Wut ist immer gut.

»Gott sei Dank, Sie leben noch!« sagte ein Stimme von irgendwoher.

Sie öffnete die Augen und sah direkt vor ihrem Gesicht einen Fuß, der in einer zerschlissenen Sandale steckte, dann das dazugehörende Bein. Obwohl sie nicht die Kraft aufbrachte, den Kopf zu heben und den Besitzer der Stimme zu identifizieren, empfand sie grenzenlose Erleichterung: Es stimmte, sie lebte noch! Und nun fiel ihr auch Eric der Rote wieder ein und die Worte Alec Wis, der gesagt hatte, der Anschlag der Terroristen sei für den Morgen geplant. Ob es wohl schon morgen war? Sie mußte endlich aufhören, sich selbst zu bemitleiden. Sie mußte herausfinden, wieviel Uhr es war. Vorausgesetzt, sie konnte sich überhaupt bewegen. Sie mußte versuchen, von diesen verfluchten Brettern hochzukommen ...

Kurz entschlossen hob sie den Kopf, ignorierte das Dröhnen in ihren Ohren und ließ sich auch nicht entmutigen, als sich die Welt um sie herum immer schneller zu drehen begann. Das Karussell, auf dem sie saß, wurde langsamer, und sie erkannte den Stapel von Holzkisten wieder, hinter dem sie am Nachmittag gelegen hatte. Und sie erkannte Detwiler, der sie entsetzt anstarrte. »Detwiler«, murmelte sie, und der Klang ihrer eigenen Stimme erfüllte sie mit unsäglicher Freude und gab ihr neue Kraft. Nun drangen auch Geräusche in ihr Bewußtsein: Stimmen, Schritte, die hin und her eilten, ein Lachen und... Was hatte dieses Quietschen im Hintergrund zu bedeuten - so vertraut, als würde jemand Wäsche auf die Leine hängen -und doch so anders...? Natürlich - ja! Es war der Flaschenzug, an dem irgendwelche Gegenstände zur Straße hinabgelassen wurden. Sie erinnerte sich, daß Alec gesagt hatte, die Fenster seien mit einem Griff herauszunehmen, um den Lieferwagen zu beladen... Die Terroristen waren also bereits damit beschäftigt, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Folglich mußte der Morgen schon angebrochen sein. Wenn dem so war, dann war es an der Zeit, daß auch sie aktiv wurde. >Steh auf, Emily!< dachte sie. > Wenn du hier nicht hochkommst, bringen Sie dich um! Sie lassen dich ganz sicher nicht hier zurück! <

Der Gedanke versetzte sie in Panik, und sie überlegte, woher er gekommen war und und ob er der Wahrheit entsprach.

>Natürlich ist das wahr!< antwortete eine leise Stimme in ihrem Kopf. > Wenn du nicht gehen kannst, dich nicht einmal alleine auf den Beinen halten kannst, was nützt du ihnen dann schon? Lebend lassen sie dich hier bestimmt nicht zurück! <

Sie überlegte, wie sie auf den Gedanken gekommen war, die Terroristen würden sie mitnehmen... Hatte diese innere Stimme etwa gemeint, sie könnte als Geisel benutzt werden?

>Und weshalb nicht?< antwortete die Stimme noch einmal und fügte leicht ironisch hinzu: Vielleicht ist dir aufgefallen, daß dein Rücken zwar nur mehr Blut und rohesFleisch ist, aber dein Gesicht, deine Hände, Beine und Füße haben sie verschont. Sieht man von deinem Rücken ab, kann man dich durchaus der Öffentlichkeit präsentieren. <

Diese Überlegung erfüllte sie mit neuem Leben und spornte sie an. Sie mußte es einfach schaffen! Sie mußte sich aufsetzen und vielleicht... - wer konnte das schon wissen -... vielleicht konnte sie sogar auf die Beine kommen und unter Umständen sogar gehen? Wunder geschehen immer wieder, dachte sie, und so wie die Dinge lagen, würde sie sich im Augenblick auch mit einem kleinen Wunder zufriedengeben. Mehrmals atmete sie tief durch, wurde von einem Hustenkrampf geschüttelt und sog erneut die Luft tief in ihre Lungen. Mit einer wahrhaft herkulischen Anstrengung, die ihr Tränen in die Augen trieb, rollte sie sich zur Wand und stemmte sich in eine sitzende Position. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei, als ihr zerschundener Rücken die Wand berührte. Sie biß gerade die Zähne zusammen und hob ihre gefesselten Handgelenke, um einen Blick auf die Uhr zu werfen - sie stand auf sechs Uhr drei -, als eine Welle der Übelkeit in ihr aufstieg und ihren Magen zu einem Knoten zusammenpreßte, so daß sie sich heftig übergeben mußte.

Als es vorüber war, war sie in Schweiß gebadet; sie fühlte sich schwach und hundeelend, doch sie bezwang den schier unwiderstehlichen Wunsch, sich flach auf dem Fußboden auszustrecken, und wartete ab.

Minuten vergingen - oder waren es Stunden? -, ehe sie es wagte, die Augen wieder zu öffnen. Nun fühlte sie sich besser. Zwar war sie sich völlig im klaren darüber, daß ihre Situation weiterhin alles andere als vielversprechend war, doch allmählich begann ihr Gehirn wieder normal zu funktionieren. Sie erinnerte sich an eine Konzentrationstechnik, die sie im Karateunterricht bei Lorvale Brown gelernt hatte: die Mobilisierung von Energie und ihre Konzentration in jedem beliebigen Teil des Körpers - gewöhnlich in der Hand, die dann mit der Schnelligkeit und Wucht eines Geschosses zuschlagen konnte. Sie entsann sich der ungeheuer verblüffenden Wirkung, die diese Übung hatte, und sie begann sich auf ihren zerschlagenen Körper zu konzentrieren, um ihre letzten ungenützten Kraftreserven zu mobilisieren. Einbildung oder nicht - es funktionierte.

»Nun ist alles vorbei«, seufzte Detwiler neben ihr bitter. »Wir sind verloren. Sie brechen jeden Augenblick auf... Und um sieben Uhr ist der Victoria Peak bereits fest in ihrer Hand.«

Sie wandte den Kopf in seine Richtung und sah ihm direkt in die Augen. Sein Gesicht war eingefallen und grau, und Mrs. Pollifax fragte sich, ob Mrs. O'Malley ihn in diesem Zustand wiedererkennen würde.

»Hat man Sie zum Reden gebracht?« fragte er.

Ihre Gedanken tasteten sich zurück zu der Hölle, durch die sie gegangen war, und obwohl sich alles in ihr gegen die Erinnerung sträubte, zwang sie sich dazu. »Nein«, sagte sie. »Ich habe ihnen erzählt, der Buddha, den Sie mir geschenkt haben, hat mir so sehr gefallen, daß ich ihn nicht mehr hergebe wollte. Ich habe ihnen gesagt, ich hätte in einem Souvenirladen einen sehr ähnlichen Buddha entdeckt und dachte. Sie würden den Unterschied nicht bemerken.«

»Das haben Sie getan? Wie haben Sie das nur geschafft?« fragte er verblüfft. »Wir haben...«, er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, »...wir haben Ihr Schreien gehört... dreimal... und dann Ihr Stöhnen.«

Hatte sie etwa geschrien? Wenn er es sagte, mußte es wohl so gewesen sein...

»Es war - furchtbar!« stöhnte er, und Tränen stiegen ihm in die Augen und rannen über seine Wangen.

Dies war nicht die Hilfe, die sie erwartet hatte, und Mrs. Pollifax drehte den Kopf zur anderen Seite. Ihr Blick suchte Alec Wi. Er lag zusammengerollt auf dem Boden und schlief offenbar so tief, daß er von den Geräuschen und hektischen Aktivitäten um ihn herum nichts bemerkte. Sie reckte den Hals und konnte das weitoffene Fenster sehen, um das sich eine Traube von Männern geschart hatte, die auf die Straße hinabsahen, Anweisungen riefen und aufgeregt herumgestikulierten. Ihr Blick wanderte weiter und blieb an dem Funkgerät hängen, das nur wenige Schritte von ihr entfernt auf einer Holzkiste stand.

Gedankenverloren betrachtete sie das schwarze Gehäuse auf der Holzkiste - keine drei Meter von den Männern entfernt, die sich am Flaschenzug zu schaffen machten.

Funkgerät... Was hatte Marko noch gesagt? »In einem Funkortungswagen sitzen außer dem Fahrer noch zwei Männer, die die Peilungsantennen bedienen... Wenn das Signal länger als zweieinhalb Minuten gesendet wird, ist es durch Drehen der Antennen möglich, den genauen Standort...« So ähnlich hatte sich Marko doch ausgedrückt?!

... Ist es möglich, den genauen Standort zu bestimmen!

Wenn ich doch nur die paar Meter bis zum Funkgerät kriechen könnte !< dachte sie verzweifelt. >Ich könnte den Schalter auf Sendung umlegen! Sie würden mich wohl kaum bemerken... Nicht, wenn ich dicht am Boden bliebe - hinter die Holzkisten geduckt... Der einzige riskante Augenblick wäre der, wenn ich mich aufrichten und vorbeugen muß, um den Schaller umzulegen. <

Falls sie überhaupt kriechen konnte... Und falls sie es schaffen würde, sich aufzurichten...

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war sechs Uhr fünfzehn, und es war durchaus möglich, daß sie nicht ein zweites Mal so viel Kraft mobilisieren konnte. Würde sie es überhaupt schaffen können?

Zweieinhalb Minuten waren eine lange Zeit, stellte sie fest, wahrend sie beobachtete, wie der Sekundenzeiger ihrer Armbanduhr langsam um das Zifferblatt kroch. Doch nur wenn das Funkgerät zweieinhalb Minuten auf Sendung sein würde, hatten sie eine Chance, angepeilt und lokalisiert zu werden.

»Was haben Sie?« fragte Detwiler, der ihr angestrengtes Stirnrunzeln beobachtet hatte.

»Das Funkgerät...«, flüsterte sie.

»Was ist damit?«

»Ich habe nur überlegt, wenn ich da hinüber kriechen und auf Empfang schalten könnte... Für zweieinhalb Minuten nur...«

Er sah sie verständnislos an. »Was würde das schon helfen? Niemand würde uns hören.«

»Man würde uns hören«, entgegnete sie bestimmt. »Es hat sich eine Menge getan, Mr. Detwiler. Es sind Leute da draußen, die nur darauf warten, daß der Funk betätigt wird.«

Seine Augen wurden groß. »Sie meinen...? Leute, die Bescheid wissen?«

»Ja. Aber sie wissen nicht wann«, erwiderte sie. »Ihre Aufzeichnungen, die Sie im Buddha versteckt haben, sind in guten Händen. Ich muß unbedingt an das Funkgerät kommen! Falls die Männer am Fenster sich umdrehen, könnten Sie dann vielleicht irgendein Ablenkungsmanöver inszenieren? Das Gerät müßte..., es muß zweieinhalb Minuten auf Sendung sein.«

Er schwieg, und sein Gesicht war plötzlich ernst und nachdenklich. Das erste Mal, seit sie ihn hier wiedergetroffen hatte, erinnerte er sie an jenen Detwiler, den sie an ihrem ersten Tag in Hongkong kennengelernt hatte.

»Nein«, sagte er.

Sie war verwirrt, fühlte sich betrogen und hintergangen und sie spürte, wie kalter Zorn in ihr aufstieg. »Sie wollen mir nicht

helfen?«

»Nein«, sagte er leise. »Nein - Sie verstehen mich falsch. Ich werde zum Funkgerät kriechen - nicht Sie.« Er sah ihr ins Gesicht. »Sie dürfen mir das nicht abschlagen!« Ein seltsames Lächeln trat auf sein Gesicht. »Ich war bisher keine große Hilfe und... Wissen Sie, was es bedeutet, süchtig zu sein? Geben Sie mir die Chance, mich wieder wie ein menschliches Wesen zu fühlen.«

»Aber...«

Er berührte ihre gefesselten Hände mit den seinen. »Es ist in Ordnung so. Glauben Sie mir - es ist in Ordnung! Es ist doch der Schalter auf der linken Seite?«

Sie nickte. »Legen Sie ihn nur um, und kommen Sie dann sofort zurück.« Irgend etwas an ihm irritierte sie. »Kommen Sie zurück, und wir zählen gemeinsam die Sekunden.«

Er lächelte matt, nickte und wälzte sich auf die Knie. Dann ließ er sich auf die Ellenbogen sinken und begann, ungeschickt die Holzkisten entlang zu kriechen. Die Männer am Fenster waren noch immer mit den Geschehnissen auf der Straße beschäftigt, und als sich einer von ihnen umwandte, um eine weitere Kiste unter den Flaschenzug zu schieben, hob er nicht einmal den Blick.

Detwiler war unter dem Funkgerät angelangt, und Mrs. Polifax fühlte, daß sie vor Anspannung den Atem anhielt. Nun kam der gefährlichste Augenblick - wenn er sich aufrichten und sich über die Holzkiste beugen mußte, um den Schalter zu erreichen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Detwiler kniete geduckt vor der Kiste und sah zu ihr herüber. Sie begriff, daß er auf ein Zeichen wartete. Die Männer standen noch immer mit dem Rücken zu ihnen. Sie nickte heftig. Atemlos beobachtete sie, wie Detwiler sich mit einem Bein hochstemmte, das zweite Bein... Er stand aufrecht, beugte sich vor und legte den Schalter um.

»Großartig!« flüsterte Mrs. Pollifax. »Einfach großartig!« Sie erlaubte sich einen tiefen Seufzer der Erleichterung als sie sah, wie Detwiler auf den Boden zurückglitt. Sie hob ihre gefesselten Hände und begann, die Sekunden zu zählen. Es war genau sechs Uhr neunundzwanzig und null Sekunden. >0 Gott!< dachte sie, als sie registrierte, wie langsam der Sekundenzeiger vorwärts kroch. >Das sind Ewigkeiten! Wie oft muß er die Distanz von einer zur anderen Ziffer überwinden, bis zweieinhalb Minuten. vorbei sind?... Dreißigmal? <

>Vier Sekunden, ßüsterte sie. >Fünf... acht... neun Sekunden... <

Detwiler kam nicht zurück. Ihr Blick huschte kurz zu ihm hinüber, doch sie sah nur seinen Rücken, der sich unter dem Funkgerät zusammenkauerte. Ihr Blick flog zurück auf das Zifferblatt ihrer Uhr und verfolgte gebannt den Sekundenzeiger. >Fünfzig Sekunden... sechzig... eine Minute! <

Eine Minute und drei Sekunden. Eine Minute und fünf Sekunden... acht... neun...

>Was für ein erstaunliches Phänomen die Zeit doch ist<, dachte sie. >Wie quälend lange eine Sekunde sein kann! War den Menschen das bewußt?<

Eine Minute und fünfzig Sekunden... achtundfünfzig. Zwei Minuten! Das Funkgerät sendete seit zwei Minuten!

Zwei Minuten und eine Sekunde... Allmählich begann Mrs. Pollifax zu hoffen... Vor ihrem geistigen Auge sah sie die zwei Männer im Funkortungswagen sitzen, wie sie mit fliegender Hast die Antennen drehten und Koordinaten bestimmten. Wenn nur nicht...

Zwei Minuten und zwanzig Sekunden... »Bitte, o bitte«, flüsterte sie. Zwei Minuten und fünfundzwanzig Sekunden... sechundzwanzig... neunundzwanzig... dreißig Sekunden. Zweieinhalb Minuten!

Beinahe hätte sie vor Freude laut losgejubelt und Detwiler zugerufen, daß er es geschafft hatte. Das Funkgerät war noch immer auf Sendung; inzwischen bereits zwei Minuten und achtundfünfzig Sekunden... neunundfünfzig... Drei Minuten!

Ein heiserer Aufschrei schreckte sie auf. »Oh, nein!« stöhnte sie laut, als ihr Blick auf den Mann fiel, der über Detwiler gebeugt stand und ihn ungläubig anstarrte. Sie sah, wie Verstehen im Gesicht des Mannes dämmerte, sah, wie er den Schalter zurückwarf. Nun eilten auch die übrigen Männer hinzu und scharten sich um Detwiler. Waffen wurden gezogen. Mrs. Pollifax schloß die Augen. Ein Schuß fiel. Als sie die Augen wieder öffnete, lag Detwiler leblos hingestreckt auf den staubigen Dielen vor der Holzkiste. Seine Augen starrten sie blicklos an.

17

Gewaltsam löste Mrs. Pollifax ihren Blick von der leblosen Gestalt Detwilers. >Er muß es geahnt haben<, dachte sie bestürzt. >Das war es, was er mir zu sagen versucht hat: Er sah keine Perspektive mehr für sich, und er wußte, daß es kein Zurück mehr für ihn gab ... <

»Arme Mrs. O'Malley«, flüsterte sie.

Nun erst begriff sie allmählich, daß Detwiler ganz bewußt sein Leben riskiert hatte. Vermutlich hatte er ihr durch seine mutige Tat das Leben gerettet, denn schließlich hatte sie vorgehabt, selbst zum Funkgerät zu kriechen. Ungeschickt wischte sie sich mit den gefesselten Händen die Tränen aus den Augen. Neben ihr war Alec Wi aus dem Schlaf hochgefahren. »Was ist?« rief er verstört um sich blickend. »Was ist passiert?«

Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Detwilers. »Sie haben ihn erschossen.«

Seine Augen weiteten sich entsetzt, als er Detwiler liegen sah. »Ist er tot?« flüsterte er und starrte sie betroffen an. »Ich dachte, man würde zuerst Sie erschießen. Ich habe nicht erwartet, daß... «

»Ich weiß«, sagte sie.

»Sind jetzt wir an der Reihe?« fragte Alec mit unsicherer Stimme. »Hört denn dieser Alptraum nie auf?!« Mrs. Pollifax hatte beobachtet, wie die Männer das Fenster wieder in den Rahmen gesetzt hatten, und als sie sah, daß Eric der Rote sich zu ihr und Alec umwandte und auf sie zusteuerte, sammelte sie ihre letzten Kraftreserven. »Aufstehen - los! « sagte e rbarsch. »Wir brechen auf.«

>Der Augenblick der Wahrheit! < dachte sie. >Nun muß sich zeigen, wozu der Orangensaft und die Vitamintabletten all die Jahre zum Frühstück gut waren... Los, Emily, du magst dich vielleicht nach einem weichen Bett, einer kräftigen Mahlzeit und liebevoller Pflege sehnen, aber das beste, was du jetzt tun kannst, ist, dich von diesem einladenden, wundervollen Fußboden zu erheben und irgendwie die Treppe hinabzusteigen<

Alec half ihr auf die Beine zukommen - eine äußerst galante Geste, wie sie fand: ihr war entgangen, daß Alec entsetzt ihren blutverkrusteten Rücken anstarrte, als sie sich nach vorn auf die Hände gestützt hatte. Sie taumelte leicht und stellte fest, wenn sie sich auf Detwilers letzte, heldenhafte Tat konzentrierte, war der Schmerz, den die Berührung ihrer Bluse mit ihrem Rücken verursachte, leichter zu ertragen. Stufe um Stufe folgte sie Eric dem Roten die Stiege hinab, und jedesmal, wenn sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte, stützte sie Alec von hinten.

Die ehemals blaue Tür stand offen, und sie konnte den Wagen erkennen, der in dem schmalen Gäßchen stand, in das sie Feng - wie es ihr schien vor Ewigkeiten - gebracht hatte. Es war kein Lieferwagen, wie sie ihn zusehen erwartet hatte, sondern ein verblüffend harmlos anmutender Volkswagenbus, der aussah, als hätte man unter einer Zeltplane auf dem Dachständer das Reisegepäck verstaut. Und - >welch ein gerissener Einfall!<, stellte sie fest - an dessen Rückfront man zwei Fahrräder angebracht hatte. Lediglich vor den beiden hintersten Seitenfenstern waren Vorhänge gespannt. Die übrigen Fenster waren für jedermann leicht einsehbar, ganz so, als wollte man betonen, daß es in diesem Bus nichts zu verbergen gebe. Mrs. Pollifax stellte jedoch beim Einsteigen fest, daß sich unterhalb der hinteren Fenster ein Stapel Maschinenpistolen, einige Tragnetze mit Konservendosen und etliche Holzkisten mit der Aufschrift AMMO befanden.

Wo blieb nur der Funkortungswagen?!

Sie gemahnte sich zur Ruhe und hielt sich an dem Gedanken fest, daß sie immerhin noch am Leben war. Offenbar wurde sie als Geisel benutzt und würde deshalb wohl auch noch ein bißchen länger leben - falls niemand nervös wurde, falls alles gutging... Sie setzte sich direkt an eines der Fenster ohne Vorhänge und versuchte, mit dem Rücken nicht gegen die Lehne zu stoßen. Wo nur der Funkortungswagen blieb?

Neben ihr sagte Alec: »Die Sonne... Ich habe nicht mehr geglaubt, daß ich sie wiedersehen würde.«

»Ja«, sagte sie geistesabwesend und erinnerte sich, daß er bereits drei Tage in der Hand der Terroristen war. Vorsichtig warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Es war sechs Uhr fünfundfünfzig. Etwa dreiundzwanzig Minuten waren vergangen, seit Detwiler erschossen und das Signal unterbrochen wurde. >Die drei Minuten müssen doch gereicht haben? < dachte sie. Und plötzlich versetzte sie ein Gedanke in Panik: Was, wenn die Männer im Funkortungswagen schon zuvor aufgegeben hatten? Oder wenn sie um halb sieben für zehn Minuten eine Frühstückspause gemacht hatten?! Detwiler hatte sein Leben für diese zweieinhalb Minuten gegeben! Sie überlegte fieberhaft, ob sie die Sekunden richtig gezählt hatte, ob Marko mit den zweieinhalb Minuten recht gehabt hatte, ob inzwischen technisch verbesserte Funkgeräte entwickelt worden waren, die man nicht mehr orten konnte...

Die Zweifel nagten an ihren letzten, wegen des anstrengenden Abstiegs über die enge Treppe ohnehin über Gebühr beanspruchten Kräften. Mit Schrecken fühlte sie, wie das letzte Quentchen Energie in ihr schwand.

Jetzt stiegen die anderen in den Bus. Mrs. Pollifax zählte insgesamt sechs Männer. Carl setzte sich ans Steuer, und die übrigen verschwanden im hinteren Teil des Busses. Der Wagen setzte rückwärts aus dem Gäßchen und fuhr dann langsam eine der gewundenen Altstadtstraßen hinab. Mrs. Pollifax' Blick wanderte suchend über das Gewimmel der Menschen, die unterwegs zur Arbeit waren, über die zahllosen Handkarren, die bis obenhin mit Lasten beladen waren, und blieb für ein paar Sekunden an zwei alten Männern hängen, die unter einer Markise, wie zwei Inseln im Strom, mitten auf dem Gehsteig saßen und Mah Jong spielten. Der Freitagmorgen hatte unwiderruflich begonnen.

Doch nirgendwo auf der Straße konnte sie einen Lieferwagen entdecken oder ein Fahrzeug, das einem Funkortungswagen ähnlich sah.

Irgend etwas war schiefgelaufen - gründlich schiefgelaufen. Sie fühlte, wie die Last dieser Erkenntnis ihre Widerstandskraft zerbrach. Ihre letzten Kraftreserven hatte sie bereits mobilisiert, und nun - als sich ihre letzte Hoffnung in Nichts auflöste, forderte ihr Körper den Preis für das, was er erduldet hatte. Sie fühlte den fast unwiderstehlichen Wunsch, ihren Tränen freien Lauf zu lassen.

Über die Schulter hörte sie das Quaken eines Funkgeräts und die Stimme Eric des Roten. Einige Satzfetzen verstand sie: »Kaffeehaus, dritter Stock« und »bringt sie nach oben« und dann: »noch ungefähr acht Minuten«. Sie begriff, daß eine Vorhut der Terroristen den Gipfelturm bereits eingenommen und Geiseln in ihre Gewalt gebracht haben mußte. Nun bestand keinerlei Hoffnung mehr... Es war zu spät - zu spät... Sie schloß die Augen, um die gleichgültige Welt dort draußen nicht mehr wahrnehmen zu müssen und dachte an zu Hause, an Neuengland, an Mr. Lupalak, und daran, ob er das Rundfenster nun leicht asymmetrisch angebracht hatte oder nicht.

Als sie die Augen wieder öffnete, waren sie bereits auf der Peak Road, die zum Gipfel hinauf führte; ein unauffälliger, ziemlich abgetakelter VW-Bus, aus dessen Fenster eine Frau sah, mit Fahrrädern am Heck und Gepäck auf dem Dachständer. Doch das Reisegepäck bestand unter anderem aus einem Raketenwerfer... Ihr Blick wanderte über den Hafen, der bereits weit unter ihnen lag, und sie fragte sich, was Robin und Marko wohl im Augenblick machten. >Schlafen, natürlich<, dachte sie, denn schließlich war es erst kurz vor sieben. Wie ein Schock überfiel sie das Gefühl, gänzlich verlassen und einsam zu sein.

Über den Wipfeln der Bäume war bereits der Gipfelturm zu erkennen, und die runde Fassade des Restaurants im obersten Stock erinnerte sie mehr denn je an eine Raumkapsel. Das Funkgerät war verstummt, und Mrs. Pollifax konnte fast körperlich fühlen, wie die Spannung in dem engen Bus wuchs. Auch sie fühlte, wie Unruhe sie ergriff, denn sobald sie den Gipfel erreicht haben würden, würde sie wieder gehen müssen und sie hatte nicht vergessen, wie wenig diesen Leuten ein Menschenleben wert war.

»Ich kann das alles bald nicht mehr ertragen«, stöhnte Alec neben ihr leise. »Hört denn das nie auf?! Diese Ungewißheit -wie das alles enden wird?«

Wie eine Ertrinkende nach dem berüchtigten Strohhalm, griff sie nach der Möglichkeit, ihn zu trösten, ihm Mut zuzusprechen; nicht so sehr aus Überzeugung, vielmehr um sich selbst von ihrer eigenen Verzweiflung abzulenken. Sie beugte sich zu ihm und legte beruhigend die gefesselten Hände auf seinen Arm. »Sehen Sie...«, begann sie und stockte. »Sehen Sie«, setzte sie erneut an und versuchte, ihrer Stimme Festigkeit und Überzeugungskraft zu verleihen, »irgendwie ist doch alles ungewiß ... Und genau besehen, müssen wir damit jeden Tag aufs neue fertig werden... «

Ihre eigenen Worte schienen aus großer Entfernung an ihr Ohr zudringen; sie klangen hohl und dumpf, als säße sie in einer Höhle, tief unterm Berg, oder in einem feuchten, dunklen Verlies. Tief in ihrem Innern fühlte sie die drückende Last ihrer eigenen Niederlage und ein deprimierendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das sich - wie sie sehr wohl wußte - aus vielen Faktoren zusammensetzte: die Reaktion ihres geschundenen Körpers, der Schock des Erlebten, Hunger und eine abgrundtiefe Müdigkeit sowie das Entsetzen über Detwilers Tod. Das Schlimmste jedoch war die Tatsache, daß das Funksignal ungehört geblieben war. Es gab nichts mehr, das sie tun konnte. Und das Wissen darum beraubte sie ihrer Fähigkeit, klar zu denken.

>Irgend etwas hat in meinem Kopf ausgesetz dachte sie vage und stellte zugleich fest, daß ihr dies gänzlich gleichgültig war. Sollten dies Symptome einer geistigen Verwirrung, des sich ankündigenden Wahnsinns sein, so versprachen sie zumindest den Trost, die grausame Wirklichkeit nicht bei vollem Bewußtsein erleben zu müssen. Carl lenkte den VW-Bus auf den Parkplatz vor dem Gipfelturm. Stotternd erstarb das Motorengeräusch. Wie Mrs. Pollifax feststellte, standen bereits mehrere Wagen auf dem Parkplatz, deren Insassen inzwischen vermutlich alle Geiseln der Terroristen waren. Weit und breit war niemand zu sehen; lediglich ein einsamer Gärtner, ein junger Chinese, war unweit des Turms damit beschäftigt, Rosenbüsche zu stutzen. Sie hörte, wie die Terroristen im Fond des Wagens die Waffen aufnahmen. »Raus jetzt«, zischte sie jemand an, und als sie den Blick hob, erkannte sie Carl, der dicht vor ihr stand und eine Pistole auf sie und Alec richtete. Um die Schulter hatte er eine Maschinenpistole geschlungen, und an seinem Gürtel baumelten einige Handgranaten.

Mühsam stemmte sie sich aus dem Sitz und taumelte, gefolgt von Alec, aus dem Bus. Der nächste Akt dieses Alptraums hatte begonnen, und Mrs. Pollifax strebte, verbissen einen Fuß vor den anderen setzend, auf den Eingang des Turms zu. Hinter ihr hörte sie die Stimmen der Männer, die aufgekratzt durcheinanderredeten. Eine abrupte Bewegung links von ihr ließ Mrs. Pollifax zusammenschrecken, und mechanisch hob sie den Blick. Es war jedoch nur der Gärtner, der, einen halbgefüllten Sack hinter sich herschleifend, auf einen anderen Rosenstock zustrebte. >Du Narr!< wollte sie ihm zurufen. >Siehst du nicht, daß sie ganz Hongkong zu ihrer Geisel machen wollen? !< Doch sie besann sich eines Besseren und schwieg. So war nun einmal die Welt: Es würde immer einen Gärtner geben, der blind und ungerührt seine Rosen schnitt, während die Welt auf den Abgrund zutrieb.

>Es sei denn... Merkwürdige dachte sie, >wie sehr der Gärtner Sheng Ti ähnlich sieht! <

>Nun sehe ich schon Gespenster<, stellte sie schicksalsergeben fest. >Sheng Ti ist ganz bestimmt kein Gärtner und sitzt jetzt sicherlich völlig verängstigt im Laden in der Dragon Al-ley...< Verstört durch die Streiche, die ihr ihr verwirrter Geist spielte, sah sie schnell zur Seite, ehe der Gärtner die Gestalt von Robin oder Cyrus annehmen konnte.

Sie betraten das Foyer des Gipfelturms, eine nüchterne, riesige Halle ganz aus Beton; kalt und deprimierend, wie alles an diesem Tag. >Die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren<, dachte Mrs. Pollifax düster und fühlte den Lauf einer Waffe in ihrem Rücken, der sie nach rechts dirigierte. Sie heftete ihren Blick auf die Reihe der Aufzüge und steuerte darauf zu. Ein Mann stand vor den Aufzügen und wartete offenbar darauf, nach oben zu fahren. Es überraschte sie nicht im geringsten, daß der Mann Cyrus täuschend ähnlich sah. Offenbar war es eines der ersten Symptome des Wahnsinns, die Welt mit bekannten Gesichtern zu bevölkern.

Der Mann, der wie Cyrus aussah, blickte ihnen interessiert entgegen, wobei sein Blick etwas länger bei Mrs. Pollifax zu verweilen schien, als bei den übrigen. »Guten Morgen«, grüßte er aufgeräumt. »Diese verdammten Fahrstühle werden von Tag zu Tag langsamer.«

»So?« knurrte Eric der Rote barsch.

>Er hat so sanfte Augen<, dachte sie verwirrt. >Ganz wie Cyrus... Und seine Stimme.. .< Die Ähnlichkeit mit Cyrus' Stimme war derart verblüffend, daß Tränen in ihre Augen stiegen. Aber Cyrus war in einer ganz anderen Welt... Er war noch nicht einmal in Hongkong... Mißtrauisch starrte sie dem Mann ins Gesicht und haßte ihn dafür, daß er sie so sehr an Cyrus erinnerte.

»Ah...«, machte der Mann, »jetzt scheint endlich einer zu kommen.« Er musterte die Gruppe, die sich zu ihm gesellte, und mit einem gutmütigen, verständnisvollen Nicken in Richtung der Waffen fragte er: »Wohl ein Manöver der Armee - wie es scheint?«

»Mmm...«, brummte Carl vage.

Ungeduldig richteten sich die Blicke aller auf den ankommenden Fahrstuhl, doch Mrs. Pollifax warf einen zweiten verstohlenen Blick auf den Mann, der wie Cyrus aussah. Er stand jetzt dichter bei ihr, und sie mußte ihren Blick gewaltsam von seinem Gesicht reißen, als der Fahrstuhl mit einem scharrenden Geräusch hinter der Tür zum Stehen kam.

Sie hatte angenommen, in ihrem Zustand könne sie nichts mehr erschüttern... Sie hatte angenommen, der Aufzug würde leer sein... Sie hatte angenommen...

Die Tür glitt zur Seite, und Mrs. Pollifax stieß einen schrillen Schrei aus, als sie sich plötzlich mit einer dichtgedrängten Schar von Männern konfrontiert sah - und einer Phalanx von schwarz-starrenden Gewehrmündungen. Männer der >Befreiungsfront 8o<, die ihre Maschinenpistolen auf sie gerichtet hatten! Das Massaker! Das Ende! Doch plötzlich - der Schleier ihrer Fieberfantasie schien auf wunderbare Weise zu zerreißen - erkannte sie die Gesichter Markos, Robins, Kruggs und Upshots unter den Männern im Aufzug, und sie begriff, daß sie nicht halluziniert hatte, daß der Gärtner draußen vor dem Turm tatsächlich Sheng Ti gewesen war, und der Mann, der neben ihr stand, war Cyrus! Cyrus wie er leibt und lebt!

»Runter, Emily!« rief Cyrus, während er sich gegen Mrs. Pollifax warf und sie und Alec zu Boden riß. Die Maschinenpistolen ratterten los und spien ihre tödlichen Feuergarben über Mrs. Pollifax hinweg.

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