MITTWOCH

9

Unruhig wälzte sich Mrs. Pollifax im Schlaf hin und her. Ein Angsttraum verfolgte sie, bis sie schließlich erwachte und die Augen aufschlug. Es war noch immer Nacht, und sie schloß die Augen wieder, doch das beklemmende Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung sei, schnürte ihr die Kehle zu. Die Augen noch immer geschlossen, versuchte sie zu erfühlen, was sie beunruhigte. Cyrus war es nicht, der jetzt bereits unterwegs nach Hongkong war; ebensowenig konnte... Sie erstarrte, als sie ganz nah eine raschelnde Bewegung wahrnahm. Was sie beunruhigte, war ganz dicht bei ihr! Es war hier in diesem Zimmer.

Sie war nicht alleine!

Mrs. Pollifax öffnete die Augen und drehte vorsichtig den Kopf, um das Zimmer besser überblicken zu können. Sie hatte die schweren Vorhänge am Abend anscheinend nicht ganz zugezogen, denn ein fahles, gespenstisches Licht sickerte von draußen durch einen Spalt in das Zimmer. In der Mitte des Raums stand ein Mann! Deutlich konnte sie seine Silhouette vor dem hellen Rechteck des Fensters erkennen. Er war zur Bewegungslosigkeit erstarrt; denn offenbar hatte sie sich im Schlaf unruhig herumgeworfen oder sogar gesprochen, und er wartete nun, daß sie wieder fest einschlief.

Mrs. Pollifax war allerdings weit entfernt davon, wieder einzuschlafen. Sie war hellwach und beobachtete die Gestalt durch halbgeschlossene Lider. Das Laken und eine leichte Decke behinderten sie, und als sich der Eindringling wieder bewegte, schob sie behutsam ein Bein unter der Decke hervor. Ihr Fuß berührte den Teppich, und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, glitt sie aus dem Bett und richtete sich auf.

Der Eindringling stand nun dicht vor dem Lattengerüst der Gepäckablage, auf der ihr Koffer lag. Plötzlich zuckte ein bleistiftdünner Lichtstrahl auf und schnitt einen hellen Kreis aus der Dunkelheit. Einen Augenblick klebte er an der Wand und fiel dann auf den geöffneten Koffer. Als sich die Gestalt über den Koffer beugte, näherte sich Mrs. Pollifax lautlos. Fast schon eine unfair leichte Übung, beileibe keine echte Herausforderung, dachte sie. Sie hatte die vornüber gebeugte Gestalt des Eindringlings bereits erreicht, als er erstarrte. Möglicherweise hatte ihn ein Rascheln ihres Schlafanzugs oder eine undeutliche Bewegung im Spiegel an der Wand vor ihm gewarnt, doch es war zu spät, denn Mrs. Pollifax stand bereits dicht hinter ihm. Ihre Hand zuckte wie eine gespannte Feder nach unten und traf ihn an der Basis seines Hinterkopfs. Er gab einen keuchenden Laut von sich, schwankte und wollte sich herumwerfen, doch ein zweiter, etwas stärker geführter Karateschlag von Mrs. Pollifax gegen den Hals schickte ihn bewußtlos zu Boden.

Mrs. Pollifax knipste das Licht an, und zu ihrer grenzenlosen Überraschung stellte sie fest, daß es der junge Mann mit dem Diplomatenköfferchen war, der zu ihren Füßen lag. Sie hatte erwartet, einem Hoteldieb das Handwerk gelegt zu haben, und als ihr bewußt wurde, was dies bedeutete, fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Sie kniete neben dem Mann nieder und fühlte seinen Puls. Sie nickte zufrieden und ging zum Telefon, um Robin anzurufen.

»Robin, in meinem Zimmer ist ein Mann!« rief sie in den Hörer.

»Einen Augenblick lang dachte ich jetzt, du hättest gesagt, ein Mann sei in deinem Zimmer«, erwiderte Robin glucksend.

»Das habe ich auch«, erklärte sie. »Er liegt hier auf meinem Teppich.«

»Schon wieder?« staunte Robin ungläubig. »Doch nicht etwa derselbe?«

»Nein. Es ist der Mann, der mich am Montag nachmittag verfolgt hat - von Feng-Imports.«

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung bewies, daß Robin ebenfalls seine Zeit brauchte, bis er begriff, was dies bedeutete.

»Er ist bewußtlos«, fuhr Mrs. Pollifax fort. »Das wird sich aller Voraussicht nach in den nächsten ein, zwei Stunden auch nicht ändern, aber dann... «

»Ich bin sofort unten«, sagte Robin und legte auf.

Sie wartete in der Tür, bis sich endlich die Aufzugstür öffnete, und Robin den Korridor herabeilte.

»Wo... ah ja«, brummte er und trat beiseite, damit sie die Tür schließen konnte. »Diesmal ist es aber hundertprozentig Karate gewesen.«

Sie nickte. »Ich bin aufgewacht, und er war... er war einfach da. Vielmehr dort... Er darf auf keinen Fall in meinem Zimmer wieder zu sich kommen. Robin.«

»Das kann ich sehr gut verstehen«, stimmte Robin zu. »Eine entspannte Unterhaltung würde sich unter diesen Umständen wohl schwerlich entwickeln, und womöglich würde er es dir sehr übelnehmen, daß du derart rüde mit ihm umgesprungen bist.«

Sie überging seine Bemerkung und schnitt statt dessen ein anderes Problem an: »Das Schlimme dabei ist nur, daß er bestimmt nicht vergessen wird, wer ihn niedergeschlagen hat -egal, was wir mit ihm machen. Er wird es Detwiler erzählen, und mein Image als harmlose Touristin löst sich in nichts auf.«

»Ein für allemal.«

»Es sei denn...«, überlegte sie weiter,»... es sei denn, wir könnten ihn irgendwie derart stümperhaft aussehen lassen, daß... Er hat mich ganz sicher nicht gesehen... Ich hab' mich ihm von hinten genähert, und erkannt hat er mich bestimmt nicht.«

In Robins Augen tanzte ein schelmischer Funken. »Das eröffnet uns natürlich zahllose und wundersame Möglichkeiten. Er drang in ein dunkles Hotelzimmer ein und... « »Warum nicht in das falsche?« rief sie erregt. »Genau! Wir müssen ihn nur an den richtigen Ort schaffen, und am Ende wird er selbst noch glauben, er habe sich im Zimmer geirrt. Und wer wird Mrs. Pollifax, der Präsidentin eines Gartenbauvereins schon zutrauen, daß sie des Nachts Männer mit Karateschlägen ins Land der Träume schickt?«

Sie lächelte zufrieden und freute sich im stillen, wie überaus produktiv und anregend es doch ist, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der sich auf derselben Wellenlänge befindet. »Wir sollten überlegen, aus welchem Grund ihn Detwiler hergeschickt hat und warum... «

»Später«, unterbrach Robin sie. »Zuerst sollten wir ihn von hier wegschaffen, und vor allem sollten wir überlegen, wohin... Das Wie ist kein Problem: Wir nehmen ihn zwischen uns und bringen ihn zum Lastenaufzug... Für uns inzwischen ja ein Routinegang..., und sollte uns jemand begegnen, wird er annehmen, der Mann sei betrunken. Aber wohin mit ihm? Wohin?«

Robin lehnte sich gegen den Schreibtisch und versuchte offenbar, seine grauen Zellen zu aktivieren. Mrs. Pollifax sah ihm interessiert zu. Mit einem bedauernden Grinsen sagte er: »Der Tiger Balm Garden wäre der ideale Platz, ihn loszuwerden. Er würde zwischen all den grotesken Gestalten zu sich kommen und hätte wahrscheinlich noch wochenlang Alpträume. Aber leider ist 136 der Tiger Balm Garden jetzt geschlossen. Schade - aber ich denke, wir müssen uns solch kreative Möglichkeiten abschminken und ihn irgendwo hier im Hotel loswerden.«

»Im Hotel...«, wiederholte Mrs. Pollifax gedankenverloren. »Vielleicht in einer der Bars?«

»Wir setzen ihn auf einen Barhocker«, grinste Robin genüßlich, »und lehnen ihn an einen Bloody Mary. «

»Oder wir könnten ihn ins Untergeschoß bringen oder in die Hotelküche. Oder... Warte mal - das ist vielleicht gar nicht schlecht!« rief sie. »Die Läden im Untergeschoß sind doch jetzt geschlossen?«

»Ja«, bestätigte er. »Aber der Durchgang zur Straße ist offen. Sicherlich haben sie einen Wachmann, der hin und wieder seine Runde macht.«

»Perfekt!« konstatierte sie zufrieden. »Ich werde mich nur schnell anziehen... «

Als Mrs. Pollifax in einem Straßenkostüm und den Hut verwegen in die Stirn gedrückt aus dem Badezimmer zurückkam, war Robin soeben damit beschäftigt, dem Bewußtlosen die Brieftasche in das Jackett zurückzuschieben. »Er hat auch einen Namen. Nennt sich Allan Chen.«

»Ich persönlich nenne ihn lieber den Mann mit dem Diplo-matenköfferchen«, erklärte sie. »Obwohl er heute ohne sein Köfferchen zum Festhalten gekommen ist. Also was ist? Wollen wir Mr. Chen nach draußen begleiten?«

Mühsam schleppten sie den Bewußtlosen den Korridor entlang. Glücklicherweise begegneten sie niemandem, dessen Mißtrauen durch die schlaff zwischen ihnen hängende Gestalt Mr. Chens geweckt worden wäre. Der Lastenaufzug schwebte nahezu geräuschlos in das Untergeschoß hinab, und als die Tür endlich zur Seite glitt, stellte Mrs. Pollifax mit einem vorsichtigen Blick nach draußen fest, daß die Ladenstraße zwischen dem Zeitschriftenkiosk und dem Shop, der die chinesischen Buddhas verkaufte, leer war.

»Was ist?« keuchte Robin, der sich mit der Brust gegen Mr. Chen stemmte und ihn gegen die Wand des Aufzugs preßte, damit er nicht zusammensackte. »Ist alles okay? Er wird mir allmählich zu schwer.«

»Ich muß das Terrain erst genauer sondieren«, entgegnete sie. Sie huschte ein Stück die Ladenstraße hinab und spähte vorsichtig um die Ecke. Sie signalisierte ihm zu kommen. »Nur ein Stückchen nach rechts«, rief sie mit unterdrückter Stimme. »Aber mach schnell!«

»Nichts lieber als das«, ächzte Robin und ließ Mr. Chen in seine Arme gleiten. »Und wohin jetzt mit ihm?«

»Wart's ab... Mein Gott, ist der schwer geworden!« stöhnte sie. »Hier sind wir schon.«

Robin machte große Augen. »Was in aller Welt ist das?« fragte er verblüfft.

»Hast du noch nie so was gesehen? Ein Apparat, der den Blutdruck mißt. Bei uns zu Hause stehen diese Dinger überall herum - in Kinos, Supermärkten, an den merkwürdigsten Orten... Man setzt sich hier auf dieses Bänkchen, schnallt dieses Band um das Handgelenk und wirft eine Münze ein. Auf dem Bildschirm kannst du dann deinen Blutdruck ablesen - wie bei einem Flipper.«

»Erstaunlich«, murmelte Robin beeindruckt. »Und wesentlich einfallsreicher und fantasievoller als ein simpler Barhocker.« Behutsam ließ er Mr. Chen auf das Bänkchen gleiten, und Mrs. Pollifax legte das Band um den Arm des Bewußtlosen. Damit er nicht von der Bank rutschen konnte, kippten sie Mr. Chens Oberkörper nach vorn und lehnten ihn mit der Stirn gegen die Glasscheibe des Apparats. Robin studierte die Betriebsanleitung, und ehe Mrs. Pollifax protestieren konnte, warf er vier Münzen in den Schlitz.

138 »Laß das, Robin!« lachte sie.

»Sein Blutdruck ist etwas zu hoch«, brummte er und trat einen Schritt zurück, um die aufscheinenden Zahlen besser lesen zu können.

»Ich habe den Verdacht, meiner ist im Augenblick auch nicht normal«, vermutete Mrs. Pollifax. »Hör mal! Sind das nicht Schritte? Schnell jetzt. Robin!«

»Jaja«, sagte Robin, und gemeinsam zogen sie sich bis zu der Ecke, um die sie zuvor gebogen waren, zurück. »Aber wenigstens haben wir Mr. Chen aus deinem Zimmer geschafft. Und sieh dir unser Werk an!«

Mrs. Pollifax warf einen letzten Blick zurück auf Mr. Chen. Er lehnte noch immer gegen die Sichtscheibe und erweckte ganz den Eindruck eines kurzsichtigen Mannes, der verzweifelt versucht, seinen Blutdruck abzulesen. Mrs. Pollifax konnte ihn von dort, wo sie stand, erkennen: 150/72 flimmerte über die Scheibe... 150/72 in großen, leuchtendroten Ziffern.

»Das war eine überaus lehrreiche Aktion für mich«, bemerkte Robin, als sich die Aufzugstür hinter ihnen geschlossen hatte. »Und ich denke, das sollten wir mit einem Glas begießen. Haben sie den Brandy in deinem Kühlschrank aufgefüllt?«

»Sicher. Und sie schreiben alles genau in kleine schwarze Notizbücher«, erwiderte sie.

»Sehr gut. Ich nehme an, du kannst ebenfalls einen vertragen. Ich bin jetzt zwar restlos überzeugt, daß dich Männer, die nachts in dein Zimmer stolpern, nicht schrecken können, doch allmählich muß es auch dir zuviel werden.«

»Ich finde es eher zum Lachen - um nicht zu sagen, amüsant«, entgegnete sie.

»Eindeutige Anzeichen von Hysterie«, bemerkte er trocken. Er brachte sie in ihr Zimmer und goß ihnen beiden einen Brandy ein. »Allright. Laß uns die Gelegenheit zu einer kurzen Lagebesprechung nutzen. Nur kurz, denn wir treffen uns ja so und so in ein paar Stunden beim Frühstück. Was glaubst du, hat eigentlich Detwilers Mißtrauen erweckt?«

Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Die Frage wäre leichter zu beantworten, wenn man wüßte, wonach Mr. Chen in meinem Zimmer gesucht hat. Heute bin ich ganz sicher nicht verfolgt worden, und ich könnte schwören, daß ich Detwiler von meiner Harmlosigkeit überzeugt habe. Die einzige Möglichkeit, die ich mir vorstellen kann, ist die, daß Detwiler heute abend Mrs. O'Malley angerufen hat, und sie ihm von einem Besuch berichtet und mich beschrieben hat.«

»Wie wahrscheinlich, denkst du, ist diese Möglichkeit?« »Eins zu zehn vielleicht - würde ich sagen«, erwiderte sie. »Mrs. O'Malley hat schließlich schon seit zwei Monaten nichts mehr von ihm gehört.«

»Was könnte er in deinem Koffer gesucht haben? Oder in deiner Handtasche oder in... «

Er verstummte, und sie starrten einander ratlos an. »Die Pistole, die Beretta?« vermutete sie. »Die hatte ich ganz vergessen. Glaubst du, das wäre denkbar?«

Robin runzelte die Stirn. »Die Pistole könnte unter Umständen natürlich ein Indiz dafür sein, daß Detwiler bei dem Mord an Inspektor Wi die Finger im Spiel hatte. Doch das würde bedeuten, daß uns heute morgen - vielmehr gestern morgen - jemand beobachtet hat, als wir aus der Hütte kamen. Das wäre durchaus denkbar; und dann wüßten sie auch, daß einer von uns die Mordwaffe haben muß.«

»Aber weshalb suchen sie dann die Waffe ausgerechnet bei mir?« wandte Mrs. Pollifax ein. »Genausogut könntest du oder Mr. Hitchens die Pistole genommen haben. Sie können unmöglich gesehen haben, daß ich sie eingesteckt habe. Und aus welchem Grund sollten sie die Beretta ausgerechnet jetzt zurückhaben wollen - wo doch inzwischen ausschließlich meine Fingerabdrücke auf der Waffe sind? Das paßt nicht. Robin.«

»Das finde ich auch«, erwiderte er. »Aber trotzdem solltest du das verdammte Ding so schnell wie möglich loswerden.« Er seufzte tief. »Ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen, meinst du nicht auch? Eine von Court gern und oft zitierte Weisheit aus dem Zen-Buddhismus besagt >Tue dein Bestes - dann gehe weiter<. Ich denke, wir haben unser Bestes getan heute nacht. Wir sollten uns jetzt hinlegen. Glaubst du, du kannst schlafen?«

Sie unterdrückte ein Gähnen und brachte ein müdes Lächeln zustande. »Irgendwann mußt du mir mehr von Courts Interesse für den Zen-Buddhismus erzählen... Ja sicher, ich kann schlafen - nachdem ich einen Stuhl unter die Klinke geklemmt, den Tisch davorgeschoben und ähnliche Sicherheitsmaßnahmen getroffen habe.«

Er nickte und küßte sie im Vorbeigehen auf die Stirn;;

»Also laß dich nicht aufhalten. Wir sehen uns dann um acht.«

Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, begann Mrs. Pollifax Möbelstücke durch das Zimmer zu schieben, während sie sich den Kopf zerbrach, wodurch sie Mr. Detwilers Mißtrauen erregt haben konnte.

10

Als Mrs. Pollifax am nächsten Morgen um acht in Robins Suite trat, war Mr. Hitchens bereits da. »Schscht...«, machte Robin, der ihr die Tür öffnete, und deutete auf Mr. Hitchens, der kerzengerade und mit geschlossenen Augen auf der Couch saß.

Mrs. Pollifax ging auf Zehenspitzen zu einem der Stühle und setzte sich. Erst jetzt sah sie, daß Mr. Hitchens das aus einer Zeitung gerissene Foto Eric des Roten in der Hand hielt.

Er räusperte sich, und mit noch immer geschlossenen Augen sagte er: »Das Stück Papier, das Sie mir in die Hand gegeben haben, ohne es mir vorher zu zeigen... , ich habe ganz stark das Gefühl, daß es das Bild eines Mannes ist, und... es ist merkwürdig, aber ich glaube, ich habe den Mann schon einmal gesehen. Irgendwer hat das Bild sehr oft in den Händen gehabt... Er hat ein Wort auf das Bild gekritzelt; welches Wort, kann ich leider nicht sagen, aber er hat es in einer wütenden, frustrierten Stimmung getan - das fühle ich.« Er öffnete die Augen. »Sie haben sicherlich gehofft, ich könnte Ihnen einen genauen Zeitpunkt nennen, aber es tut mir leid... « Erst jetzt sah er Mrs. Pollifax. »Guten Morgen«, begrüßte er sie mit einem Lächeln.

»Guten Morgen«, erwiderte sie aufgeräumt.

»Sie können sich das Bild jetzt ruhig ansehen«, sagte Robin. »Das Wort heißt >WANN<, wie Sie sehen. Sie können uns also nichts Genaueres über dieses WANN sagen?«

Mr. Hitchens schüttelte den Kopf. »Nein. Denn wer immer dieses Wort geschrieben hat, er kannte die Antwort nicht. Und ich kann lediglich das erkennen, wai, der oder die Betreffende zu dem gegebenen Augenblick selbst wußte.« Sein Blick fiel auf das Bild in seinen Händen. »Aber das ist doch der Mann, den wir im Flugzeug gesehen haben!« sagte er verblüfft. »Erinnern Sie sich, Mrs. Pollifax? Sie haben mich auf ihn aufmerksam gemacht. Sie waren ihm auf den Fuß getreten.«

»Sie haben ihn also ebenfalls erkannt!« rief Mrs. Pollifax zufrieden. »Wir haben dieses Foto gestern in Inspektor Wis Haus gefunden. Offen gestanden, wir stiegen in das Haus ein, nachdem wir Sie abgesetzt hatten. Es war Inspektor Wi, der dieses >WANN< auf das Bild gekritzelt hat -Alecs Vater.«

»Mein Gott!« rief Mr. Hitchens bestürzt.

Robin nickte bekräftigend. »So ist es. Da ich aufgrund von Mrs. Pollifax' Identifizierung des Mannes auf dem Foto drei Männer einfliegen ließ und damit meinen Job aufs Spiel gesetzt habe, kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, daß auch Sie den Mann wiedererkannt haben.«

»Aber... Wer ist das überhaupt?« fragte Mr. Hitchens verwirrt. »Sie haben Alec nicht gefunden, aber irgendwas haben Sie entdeckt! Was ist es? Und weshalb haben Sie drei Männer einfliegen lassen?«

Robin wandte sich an Mrs. Pollifax. »Könntest du das bitte erklären? Ich würde es gerne noch einmal laut hören; vielleicht kann ich dann beurteilen, ob ich verrückt geworden bin oder leider nur allzu recht habe... «

Mrs. Pollifax nickte. »Bei dem Fall geht es inzwischen um mehr als um Entführung und einen Mord, Mr. Hitchens. Wir glauben jetzt zu wissen, was Alecs Vater entdeckt hat und weshalb er entführt und schließlich erschossen wurde. Der Mann, den Sie und ich an Bord des Flugzeugs gesehen haben, ist der in der ganzen Welt gesuchte Terrorist, der die Morde von Kairo und die Geiselnahme in Frankreich organisiert hat. Und jetzt hält er sich in Hongkong auf.«

»Der Mann, hinter dem jeder Polizist und alle Geheimdienste der Welt her sind?« fragte Mr. Hitchens. »Er nennt sich.... warten Sie, Eric der Rote - nicht? Der Führer der Gruppe >Befreiungsfront 8o

Mrs. Pollifax nickte. »Ja. Und Montag morgen, nachdem wir beide, Sie und ich, zusammen gefrühstückt hatten, sah ich den Mann aus Feng-Imports kommen - einem zwielichtigen Laden in einer zwielichtigen Straße der Altstadt, wo ich einen jungen Mann anzutreffen hoffte, den ich letztes Jahr in China kennengelernt habe. Dann habe ich, wie Sie wissen. Robin getroffen, der aufgrund von beunruhigenden Gerüchten in ganz Südostasien nach Hongkong gekommen war und zufällig... «

Mr. Hitchens schüttelte heftig den Kopf. »Nichts geschieht zufällig«, berichtigte er. »Gar nichts.«

Etwas verunsichert ging Robin über diese Bemerkung hinweg und sagte: »Wie auch immer, auf jeden Fall haben Mrs. Pollifax und ich uns getroffen, und wie es aussieht, decken sich unser beider Aufgaben mehr und mehr. Wir beobachten Feng-Imports rund um die Uhr in der Hoffnung, daß Eric der Rote dorthin zurückkehrt. Dahingestellt, ob er uns diesen Gefallen tut oder nicht; er hält sich auf jeden Fall hier in Hongkong auf. Vielleicht sehen wir alle Gespenster, doch setzt man die konkreten Tatsachen und Informationen, die wir haben, zu einem Bild zusammen, dann ist der Gedanke, daß sich hier irgend etwas zusammenbraut, gar nicht mehr so abwegig.«

Mr. Hitchens stieß einen Pfiff aus. »Nur wissen Sie nicht, was geschehen soll.«

»Oder wann«, fügte Robin hinzu. »Oder wo und auf welche Weise. Wir brauchen Ihre Hilfe, Mr. Hitchens.«

»Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht«, erwiderte Mr. Hitchens voller Eifer. »Ich versichere Ihnen...« Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.

»Das wird das Frühstück sein. Ich habe es für Punkt acht bestellt«, sagte Robin und warf einen Blick zur Uhr. Er erhob sich und ging zur Tür. »Ich schlage vor, wir sehen uns die AchtUhr-Nachrichten an, während der Kellner das Frühstück serviert, und warten mit unserer Beratung bis nach dem Frühstück. Vielleicht gibt's was Neues im Fall Inspektor Wi... Aber leise bitte - Marko schläft noch.«

Den Nachrichten zufolge hatte die Polizei Alec Wi noch immer nicht gefunden. In der Stadt wurden Flugblätter mit Alecs Bild verteilt - eines wurde eingeblendet -, und man suchte fieberhaft nach der Mordwaffe. An dieser Stelle flogen Mr. Hitchens' und Robins Blicke zum Sofa hinüber, wo Mrs. Pollifax' Handtasche lag. Sie verzog das Gesicht und nickte bekümmert. Sonst gab es im Fall Wi nichts Neues; die Polizei verfolgte noch immer eine Anzahl von Spuren. Um den Bericht abzurunden, erschien Mr. Hitchens' Konterfei noch einmal auf dem Bildschirm, und das Interview, das er tags zuvor gegeben hatte, wurde wiederholt.

»Gut gemacht!« sagte Robin und schaltete das Gerät ab. »Und jetzt kein Wort mehr über das Thema, bitte. Laßt uns über was anderes reden... «

Mrs. Pollifax lächelte. »Na schön. - Cyrus kommt!« berichtete sie freudestrahlend. »Ich habe gestern abend ein Telegramm erhalten.«

»Wie wunderbar«, lachte Robin. »Dann kann ich Court aus erster Hand über ihn berichten. - Wie war übrigens Ihr Abend, Mr. Hitchens?«

»Wundervoll«, erwiderte er fast verlegen. »Ruthie und ich redeten und redeten - fast die ganze Nacht -, hin und wieder haben wir auch getanzt. Ruthie bleibt bis Samstag.« Er wandte sich an Mrs. Pollifax. »Wir treffen uns nachher und machen eine kleine Hafenrundfahrt. Haben Sie Lust, uns zu begleiten? Ruthie würde Sie gerne wiedersehen, hat sie gesagt.«

Mrs. Pollifax unterbrach kurz ihre intensive Beschäftigung mit dem opulenten Frühstück aus Eiern mit Speck, Papaya, Wassermelone, Schinken, Wurst und Orangensaft, Toast und Kaffee und erklärte, sie wäre entzückt, sie zu begleiten.

»Wird ja auch Zeit, daß Mrs. Pollifax endlich was von der Stadt sieht«, warf Robin ein. »Immer nur die Arbeit und kein Vergnügen und all das. Erzählen Sie doch mehr von Ruthie, Mr. Hitchens, der Frau, der es nichts ausmachte, daß Sie ein stiller und langweiliger Typ sind - wie Sie sich selbst genannt haben.«

Zögernd und etwas befangen begann Mr. Hitchens von Ruthie zu erzählen, und Mrs. Pollifax konnte feststellen, daß ihre Vermutungen verblüffend nahe bei der Wahrheit lagen: Die beiden waren bereits in der Highschool ein Liebespaar gewesen und hatten jung geheiratet. Zehn Jahre lang war sie die einzige Frau in seinem Leben gewesen.

»Doch dann - ich weiß auch nicht mehr, wie das alles passieren konnte...«, sagte Mr. Hitchens grimmig und dachte mit einem düsteren starren Blick an seine Vergangenheit. Sie warteten auf Mr. Hitchens' Erklärung, wie das alles passieren konnte. Robins Gabel verharrte unentschlossen über dem Teller, und Mrs. Pollifax spähte gespannt über den Rand ihrer Tasse in Mr. Hitchens von Erinnerungen gequältes Gesicht.

»Es war damals, als mein erstes Buch über parapsychologische Phänomene veröffentlicht wurde«, erinnerte sich Mr. Hitchens unbehaglich. »Ich wurde zu einer Talkshow nach Boston eingeladen, und dort traf ich Sophie Simms.«

»Aha«, brummte Robin, und seine Gabel setzte sich wieder in Bewegung.

»Sophie war Schauspielerin?« bohrte Mrs. Pollifax weiter.

Mr. Hitchens nickte unglücklich. »Sie wäre es gern gewesen ... ja. Sie hatte die längsten Wimpern, die ich je gesehen habe... Sie trat in einem kleinen Nachtclub auf und... Ich glaube, ich habe Ihnen ja schon erzählt, daß mir mein Beruf als Psychologe bei privaten Problemen absolut nichts nützt.«

»Und wie lange hat es gedauert?« erkundigte sich Robin mitfühlend.

»Für Ruthie war es furchtbar, einfach furchtbar«, fuhr Mr. Hitchens fort und starrte trübsinnig auf seinen Teller. »Deshalb hat es mich auch maßlos überrascht, daß sie bereit war, den gestrigen Abend mit mir zu verbringen - das dürfen Sie mir glauben. Ich war wie von Sinnen damals - richtig hypnotisiert... Sophie war so... so atemberaubend schön.« Er hob den Blick von seinem Teller und fixierte nun die rosarote Rose, die in der Mitte des Tisches stand. »Ich fühlte... es ist schwierig zu erklären, aber ich fühlte, als hätte ich plötzlich einen ganz anderen Zugang zur Welt der Frau.« Er schüttelte selbstironisch den Kopf. »Allein Sophie am Morgen zuzusehen, wie sie sich schminkte, war... war... als würde ich Cezanne dabei beobachten, wie er seine Farben mischt. Es war ein so vertrautes, intimes Ritual... Und dann ihre Kleider! Ich half ihr immer, sie auszuwählen; sie mußten besonders extravagant sein, müssen Sie wissen, und...« Er unterbrach sich und seufzte tief. »Um Ihre Frage zu beantworten: Wir hatten ein sehr schönes Jahr - wohl vor allem, weil ich so verknallt in sie war - und dann zwei weitere Jahre, ehe sie mit einem drittklassigen Produzenten durchbrannte, von dem sie annahm, er könnte für ihre Karriere von größerem Nutzen sein als ich... Er war es übrigens nicht«, fügte er traurig hinzu.

»Das sind sie wohl nie«, sagte Robin. »War da nicht noch eine dritte... eh...?«

»Gescheiterte Beziehung? Enttäuschung?« Mr. Hitchens' Lachen klang bitter. »Oh, ja... Sophie hatte eine Freundin... Sie hieß Rosalie und war ebenfalls im Showbusineß . Sie hatte bei mir einige Sitzungen - umsonst natürlich ... Und sie war so verständnisvoll, was meine Probleme mit Sophie betraf. Natürlich hat sie ebenfalls nicht bedacht, daß die Ehe mit einem Psychologen nicht besonders nützlich für ihre Karriere sein würde.« Erneut schüttelte er den Kopf. »Ich war - aber das brauche ich wohl gar nicht zu betonen - äußerst naiv und sicher auch sehr unerfahren.«

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Mrs. Pollifax gelassen. Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Seien Sie doch bitte nicht so direkt; keiner hört gerne die ungeschminkte Wahrheit.«

»Ich hatte keine Ahnung, daß das Leben eines Psychologen von so vielen gefährlichen Fallen gepflastert ist«, bemerkte Robin. »Aber ich verstehe sehr gut, daß man der Faszination der Schönheit verfallen kann. Ich war ihr lange genug erlegen und hatte nichts anderes im Kopf, als zu den Schönen und Reichen zu gehören - egal, wie dumm sie waren«, fügte er hinzu und warf Mrs. Pollifax einen selbstironischen Blick zu. »Irgendwie verständlich, denn ich war der Sohn eines Londoner Schlossers und gab keine Ruhe, bis ich mit den Scheichs und Prinzessinnen auf du und du stand.«

»Tatsächlich?« Mr. Hitchens sah ihn überrascht an.

»Ja. Aber keine von ihnen hatte lange Wimpern«, erwiderte Robin ernst.

»Ich weiß Ihr Verständnis zu würdigen«, sagte Mr. Hitchens und schüttelte traurig den Kopf. »Aber ich... Seit meiner dritten Scheidung vor einem Jahr fühle ich so etwas wie Scham - ja, wirklich. Ich wollte immer... ich hatte stets vor, ein Leben des Geistes zu führen - ich hoffe, das klingt nicht zu hochgestochen -, doch alles, was ich über mich gelernt habe, ist, daß ich ein schwacher und oberflächlicher Mensch bin.«

»Quatsch!« sagte Mrs. Pollifax schroff. »Wir alle verrennen uns von Zeit zu Zeit - wie sonst sollten wir herausfinden, wer wir sind? Ich persönlich finde, das härene Hemd steht Ihnen gar nicht, Mr. Hitchens. Worauf es ankommt ist, wer und was Sie jetzt sind.«

Er runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«

»Nun - schämen Sie sich, wenn Sie glauben, es sei angebracht«, erwiderte sie, »aber sehen Sie sich zum Beispiel Robin an. Er hat sich auch aus eigener Kraft aus einer frustrierenden Situation befreit und kann seine beträchtlichen Talente und Fähigkeiten - wie gesetzwidrig sie auch gewesen waren - nun in einem weit attraktiveren Arbeitsfeld einsetzen«, erklärte Mrs. Pollifax und warf Robin einen maliziösen Blick zu. »Hätte er das damals nicht getan - in der für ihn damals einzig praktikablen Art und Weise -, er wäre nie bei Interpol gelandet, wo er wirklich gute und nützliche Arbeit leistet.«

»Hört, hört!« brummte Robin.

»Und ganz sicher hätte er seine Frau Court nicht kennengelernt, die er heiß und innig liebt. Und Sie, Mr. Hitchens, Sie wären jetzt ganz sicher nicht hier in Hongkong und versuchten einen Mord aufzuklären, machten Schlagzeilen und hätten auch Ruthie nicht wieder getroffen, wenn Ihnen diese beiden Frauen nicht den Kopf verdreht und Sie damit soweit gebracht hätten, diesen Job zu übernehmen - oder? Wenn das Leben ständige Entwicklung ist, wie sonst als durch solch schmerzhafte Erfahrungen können wir dazulernen und uns weiterentwickeln?«

Mr. Hitchens sah sie interessiert an. »Sie etwa auch...?«

Mrs. Pollifax lachte. »Natürlich! Es ist noch gar nicht allzulange her, daß für mich das Leben völlig sinnlos geworden war, und ich mich fragte, ob es überhaupt einen Sinn habe, weiterzumachen. Ein Arzt riet mir damals, der beste Weg, meinen Depressionen zu entfliehen, sei, einen Job anzunehmen, der mich schon immer fasziniert hat. Und ehe ich mich versah, war ich eine Agentin. Und das hat mein Leben von Grund auf verändert«, fügte sie vergnügt hinzu. »Aber genug davon - so finden wir Alec nie, und Mr. Hitchens' erstaunliche Talente liegen ebenfalls brach.«

»Umwerfend«, sagte Mr. Hitchens und starrte Mrs. Pollifax bewundernd an.

»So ist es«, konstatierte Robin und bedachte ihn mit einem warmen Lächeln.

»Apropos, gestern nacht hatte ich ganz stark das Gefühl, daß Alec noch am Leben ist«, bemerkte Mr. Hitchens. Er versuchte sich auf dieses Thema zu konzentrieren, doch unwillkürlich wanderte sein Blick mit dem Ausdruck unverhohlener Neugierde immer wieder zu Mrs. Pollifax hinüber.

»Besteht eine Möglichkeit, Mr. Hitchens«, warf Robin ein, »mit Hilfe Ihrer parapsychologischen Fähigkeiten herauszufinden, wo Eric der Rote das Drama inszenieren will - ob in Hongkong, in Kowloon, in den Neuen Territorien oder in Macao?«

»Welches Drama?« fragte Mr. Hitchens.

Robin zuckte mit den Schultern. »Darum geht es den Terroristen doch im Grunde genommen - reines Theater. Mit diesen Anschlägen wird nie etwas Konkretes erreicht, außer daß sich eine kleine Gruppe von Leuten in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit rückt, indem sie all das zu zerstören droht, was die Zivilisation zusammenhält.«

»Der absolute Terror«, warf Mrs. Pollifax ein. »Wie ungezogene, monströse Kinder, die den Erwachsenen, die sich von Regeln, Gesetzen und Skrupeln leiten lassen, eine Nase drehen.«

»Ich habe in meinem Leben schon eine Menge mit Verbrechern - zum Beispiel mit Drogenhändlern und Waffenschmugglern - zu tun gehabt«, knurrte Robin heiser, »das bringt so mein Job mit sich. Und ich muß eines sagen: Diese Leute halten sich zumindest an die Spielregeln und wissen, worauf sie sich einlassen. Wenn auch viele Menschen an den Drogen sterben, die sie verkaufen, so helfen ihre Opfer doch freiwillig bei ihrer eigenen Zerstörung mit; und wenn die Drogenhändler auch bereit sind, jedes Gesetz mit Füßen zu treten, so erkennen sie doch zumindest an, daß es Gesetze gibt.

Aber Terroristen...!« Er schüttelte den Kopf. »Sie sind die wahren Parasiten unseres Jahrhunderts. Wenn die ein Statement abgeben wollen, dann werfen sie ganz einfach eine Bombe oder nehmen irgendwelche unschuldigen Menschen als Geiseln. Sie töten ohne Gewissensbisse, ohne Mitleid und ohne Leidenschaft. Und wenn sie Geld brauchen, dann überfallen sie einfach eine Bank. Ich empfinde für sie nicht nur Verachtung, ich habe auch Angst vor ihnen, denn wenn man es mit Leuten zu tun hat, die für nichts Leidenschaft empfinden als für Zerstörung und Gewalt, dann ist das beängstigend.«

»Die totale Lebensverachtung«, murmelte Mrs. Pollifax, und die Erinnerung an den Blick Eric des Roten sandte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.

»Geben Sie mir eine Karte!« rief Mr. Hitchens unvermittelt. »So viele Karten, wie Sie haben.«

Robin sprang auf und brachte ihm alle Karten, die er hatte: die Stadtpläne von Hongkong, von Kowloon, von den Neuen Territorien und von Macao. Mr. Hitchens breitete sie auf dem langen Tisch aus und bat um Stille.

»Die können Sie haben!« versicherte ihm Robin.

Mr. Hitchens schloß die Augen und saß reglos da, bis das Ticken der Uhr an der Wand das Zimmer anzufüllen schien. Schließlich hob er eine Hand und bewegte sie langsam über die Stadtpläne hinweg - manchmal in einer kreisenden Bewegung, dann wieder hin und her oder auf und ab. Von Zeit zu Zeit verharrte seine Hand zögernd an einer Stelle, um dann suchend weiterzuschweben. Etwa fünf Minuten vergingen, dann ließ er sie klatschend auf einen der Pläne fallen. Er öffnete die Augen. »Dieses Gebiet«, sagte er und zeichnete mit einem Kugelschreiber, den er aus seiner Jackentasche zog, einen Kreis. »Dieses Gebiet verursacht bei mir unangenehme Gefühle, eine Ahnung von Gewalt und äußerst beunruhigende Schwingungen.«

»Das Zentrum von Hongkong«, murmelte Mrs. Pollifax und beugte sich näher über den Stadtplan. »Mitten in der Stadt?«

»Der Kreis umfaßt ein Riesengebiet«, stellte Robin bekümmert fest, »und Feng-Imports liegt sogar außerhalb.«

Mr. Hitchens zuckte mit den Schultern. »Aber irgendwo in diesem Gebiet sind Waffen; unter anderem auch ein Ding, das so aussieht... Ein Stück Papier, bitte.«

Mrs. Pollifax reichte ihm eine Papierserviette und beobachtete gespannt, wie der Stift über das Papier flog. »So ungefähr«, sagte Mr. Hitchens.

Robin starrte schockiert auf die Zeichnung. »Wissen Sie, was Sie da gezeichnet haben? Das ist ein Raketenwerfer!«

»Oh!« sagte Mr. Hitchens. »Das wußte ich nicht. Ich habe nur das gezeichnet, was ich vor meinem geistigen Auge gesehen habe.«

Robin ließ sich verblüfft auf seinen Stuhl sinken und starrte Mr. Hitchens in grenzenloser Verwunderung an. Er blinzelte konsterniert und schloß mühsam den Mund. Offenbar hatte er bis zu diesem Augenblick Mr. Hitchens' Fähigkeiten gewaltig unterschätzt, stellte Mrs. Pollifax fest. »Die Geheimdienste arbeiten seit langem mit Parapsychologen und übersinnlich veranlagten Personen«, sagte sie leise. »Der CIA, die Russen... «

»Aber...aber Mr. Hitchens hat noch nie zuvor einen Raketenwerfer gesehen!« protestierte Robin. »Es ist einfach ... unheimlich!«

»Sicherlich«, erwiderte Mrs. Pollifax und entsann sich ihrer eigenen Sprachlosigkeit und Verblüffung, als ihr vor nicht allzulanger Zeit in der Türkei aufgrund solcher Fähigkeiten das Leben gerettet wurde.

»Das bedeutet, daß sie ein Funkgerät haben müssen«, stellte Robin fest, der sich wieder gefangen hatte. »Feng-Imports liegt außerhalb des Kreises, und wenn sich tatsächlich elf Mitglieder der >Befreiungsfront 8o< innerhalb dieses Areals aufhalten, und Detwiler der Kopf des ganzen Unternehmens ist, muß es eine Kommunikationsmöglichkeit geben... vermutlich ein Funkgerät mit großer Reichweite, würde ich sagen.« Er nickte. »Ich finde, es ist an der Zeit, daß ich dem Gouverneur einen Besuch abstatte. Wir müssen das Risiko eingehen, zumindest einen Teil der Polizei von Hongkong einzuweihen, denn wir brauchen Fahrzeuge mit Funkortung, wenn wir eine Chance haben wollen, die Terroristen aufzuspüren. Wir brauchen Unterstützung; die Verantwortung ist einfach zu groß für eine Handvoll Leute.« Er griff nach der Serviette. »Ich hoffe. Sie haben nichts dagegen, wenn ich das als Beweis mitnehme. Wer weiß, wie Seine Exzellenz reagiert, wenn... «

Mr. Hitchens lächelte verständnisvoll. Aber selbstverständlich! Nehmen Sie sie nur.« ;

Robin faltete die Serviette zusammen und schob sie in sein Jackett, das über dem Stuhl hing, als das Telefon klingelte. Er ging zum Schreibtisch und hob ab. »Ja?«

Er hörte zu und notierte etwas auf dem Block, der vor ihm lag. »Tausend Dank.« Er legte auf und wandte sich an Mrs. Pollifax: »Es ging um diesen Donald Chang, bei dem Sheng Ti das Päckchen mit Diamanten abgegeben hat... Gestern abend habe ich meine Dienststelle in Paris angerufen, weil ich dachte, es sei besser, wenn sie sich bei der hiesigen Polizei offiziell nach diesem Burschen erkundigt. Das war eben der Rückruf aus Paris.

Donald Chang arbeitet in der Gepäckaufbewahrung am Kai Tak Flughafen.«

»Aha!« machte Mrs. Pollifax.

Robin schlüpfte in sein makelloses schwarzes Leinenjackett und nickte. »Du sagst es. Der ideale Arbeitsplatz für jemanden, der für einen Schmugglerring arbeitet! Und das Päckchen mit Diamanten von Feng-Imports war sein Anteil... Ein weiterer kleiner Leckerbissen, an dem Seine Exzellenz zu knabbern haben wird.«

Er hob lächelnd die Hand zum Abschied. »Ich bin schon weg... Wünsche eine angenehme Hafenrundfahrt. Bis später!«

11

An diesem Morgen war der Himmel über Hongkong bewölkt. Ein Dunstschleier lag über dem Hafen und ließ die Flanken der umliegenden Berge in einem weichen, undeutlichen Licht erscheinen. Ein kühler, böiger Wind fegte über das Wasser, und Mrs. Pollifax fröstelte leicht, als sie an Deck der Barkasse Platz genommen hatte. Die Lampen wurden ausgeschaltet, und ohne ihren strahlenden Glanz wirkte das sonst so leuchtende tropische Grün stumpf und kraftlos. Erdfarbene Brauntöne, die ihr bisher nicht aufgefallen waren, herrschten vor und erdrückten das Grün und verliehen der Landschaft eine düstere Melancholie, die nur hie und da von dem Orange eines Ziegeldachs an den bewaldeten Berghängen oder von der schneeweißen Fassade eines neu errichteten Hochhauses aufgehellt wurde.

Mrs. Pollifax hatte sich Ruthie und Mr. Hitchens nicht allein aus purem Interesse für die Sehenswürdigkeiten der Stadt angeschlossen, sie hatte auch rein praktische Gründe dafür: Eine Hafenrundfahrt war die beste Gelegenheit, die Beretta für immer verschwinden zu lassen. Sie empfand keinerlei Gewissensbisse bei ihrem illegalen Vorhaben; schon vor allem deshalb nicht, weil sie im Augenblick keine, auch für die Polizei befriedigende Erklärung parat hatte, wie sie in den Besitz der Mordwaffe gekommen war. Sie mußte das Ding einfach loswerden. Natürlich interessierte sie auch, wie Ruthie und Mr. Hitchens miteinander zurechtkamen, denn etwas derart Ungewöhnliches, wie das zufällige Sichwiederfinden zweier Menschen - Tausende Kilometer von zu Hause - erregte ihre Neugierde. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusammentreffens nach Jahren der Trennung, in einer Hotelhalle auf der anderen Seite der Welt, war nach ihrem Dafürhalten bestenfalls eins zu fünf Millionen, und Mrs. Pollifax war schlichtweg entzückt, Zeuge einer solch rührenden Schicksalsfügung zu sein.

Offenbar erging es Ruthie nicht anders, denn sie sah an diesem Morgen wesentlich jünger aus, als Mrs. Pollifax sie in Erinnerung hatte - ein Umstand, der sicherlich nicht allein auf die rote Leinenhose, die leuchtend rote Bluse und das rote Halstuch zurückzuführen war, die sie trug. Sie schien gänzlich verwandelt, wie es oft bei Frauen der Fall ist, wenn sie fühlen, daß sie umworben werden. Sie nannte Mr. Hitchens »Hitch«, was Mrs. Pollifax belustigte und wohl auch etwas verwirrte, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, ihn anders als Mr. Hitchens zu nennen. Sie versuchte sich auszumalen, wie er wohl gewesen war, als sich die beiden in der Highschool begegneten, und ein Lächeln umspielte ihren Mund: Mr. Hitchens ohne sein pedantisches Gehabe, dafür jedoch um einige Nuancen schüchterner und mit einem Schuß mehr jungenhafter Abenteuerlust - wie sie bei ihrem gemeinsamen Ausflug in die Neuen Territorien wieder aufgeblitzt war -, fünf Kilo leichter und ohne die grauen Schläfen, war damals sicher ein attraktiver Junge gewesen... »Worüber lächeln Sie?« fragte Ruthie und versuchte, den Wind und die Motoren der Barkasse zu überschreien.

Sie hatten auf dem Achterschiff Platz genommen, um vor der Gischt geschützt zu sein, die über den Bug sprühte, als sie zwischen Fischkuttern, Sampans, Vergnügungsbooten, Frachtschiffen und malerischen Dschunken hindurch in den offenen Hafen hinaustuckerten. Ehe Mrs. Pollifax antworten konnte, rief Mr. Hitchens: »Kaffee? Sie haben soeben die Bar geöffnet.«

»O ja - gern«, erwiderte Mrs. Pollifax, und als er leicht schwankend über das Deck balancierte, sagte sie zu Ruthie gewandt: »Ich habe eben überlegt, wie er wohl damals war, als Sie zusammen in der Highschool waren.«-

Ruthie lachte. »Er war ein Bücherwurm und sehr ernst - und er war wohl überzeugt, daß es unmöglich sei, Football und das Interesse für Psychologie unter einen Hut zu bringen...«

»Und Sie haben ihn geliebt.«

Verlegen sah Ruthie sie an und blickte dann schnell zur Seite. »Ja.« Sie zögerte befangen und sagte dann mit gespielter Leichtigkeit: »Glauben Sie, daß... naja, daß man ein erloschenes Feuer wieder entfachen kann?«

Mrs. Pollifax lächelte. »Ich sehe nicht ein, wozu das nötig sein sollte«, erwiderte sie. »Es ist doch interessanter und sehr viel amüsanter, von Neuem zu beginnen.«

»Sie meinen...« Ruthie war betroffen. »Sie meinen, es habe keinen Sinn, alte Geschichten aufzuwärmen, und es sei besser, mit einem anderen von Neuem zu beginnen?«

Mrs. Pollifax berührte ihre Hand. »Ganz und gar nicht. Vorausgesetzt, wir reden von Mrs. Hitchens und Ihnen - und ich wüßte nicht, über wen wir sonst sprächen -, dann glaube ich, daß das, wodurch Sie sich damals zueinander hingezogen fühlten. Sie auch heute noch verbinden kann. Ich wollte nur sagen, daß es ein großer Fehler ist zu glauben, man könnte dort weitermachen, wo man aufgehört hat. Schließlich haben Sie sich beide verändert und sind nicht mehr dieselben wie damals.«

»Was ihn damals zu mir hinzog«, seufzte Ruthie trübsinnig, »war seine Suche nach einer Mutterfigur, meint mein Psychiater. Dieser Phase ist er entwachsen und versuchte dann mit Sophie und Rosalie seine verlorene Jugend nachzuholen.«

Mrs. Pollifax lachte hell auf. »Die typische Lehrbuchinterpretation! Ich glaube eher, daß er bei den beiden zuviel des Guten an jugendhafter Unbekümmertheit gefunden hat und schließlich selbst die Mutter spielen mußte. Die Art, wie er darüber erzählte, erweckte bei mir den Eindruck, daß ihn dies nicht erfüllt und sehr schnell gelangweilt hat. Mit solch jungen Dingern gemeinsame Interessen oder auch nur ein Gesprächsthema zu finden, ist oft sehr schwer, finde ich. Ich zum Beispiel könnte mir absolut nicht vorstellen, mit jemandem zusammenzuleben, der nichts von den Schrecken des Kennedy-Mords mitbekommen hat oder nicht einmal weiß, wer Clark Gable war.«

»Sie machen mir Mut«, lachte Ruthie. »Meine Bedenken schmelzen wie Schnee in der Sonne.«

Mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen sah Mrs. Pollifax sie an. »Bedenken - Ängste?« fragte sie, griff nach Ruthies Hand und drückte sie kurz. »Wissen Sie, was ich denke? Ich bin überzeugt, er sieht Sie mit völlig neuen Augen, und offenbar ist er selbst am meisten davon überrascht... Es liegt also ganz bei Ihnen. Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie damals aus der neuen Situation machten? Oh, danke«, sagte sie zu Mr. Hitchens, der mit drei Plastikbechern Kaffee zurückkehrte.

»O ja«, erwiderte Ruthie voller Stolz. »Ich habe in Boston eine wunderschöne Wohnung - in einem sehr alten Haus. Ich unterrichte jetzt in der fünften Klasse, nicht mehr die Kleinsten wie früher, und ich reise sehr viel.«

»Und wie sie reist!« mischte sich Mr. Hitchens ein und lehnte sich nach vorne, um von ihrer Unterhaltung nicht ausgeschlossen zu sein. »Am Samstag fliegt sie nach Bangkok!«

Mrs. Pollifax nippte gedankenverloren an ihrem Kaffee und hörte nur mit einem Ohr auf das Gespräch der beiden über Reisen und über Boston. Sie fand, zwischen Ruthie und Mr. Hitchens war alles in Ordnung. Als der geeignete Augenblick gekommen war, erhob sie sich und schlenderte zur Reling. Sie öffnete ihre Handtasche und ließ die Pistole, mit der Inspektor Wi getötet worden war, ins Wasser fallen. Sie kehrte zu den beiden zurück und genoß den Rest der Hafenrundfahrt: die weiß schimmernden Strände der Repulse Bay, die schwimmende Wohnstadt der Sampans in Aberdeen... Doch immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Feng-Imports und zu Mr. Detwiler zurück und allmählich begann sie, beides von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus zu betrachten; vor allem eine Frage tauchte immer wieder aufs Neue in ihren Gedanken auf: Weshalb war Detwiler seit zwei Monaten nicht mehr zu Hause gewesen?

»Oh, Mrs. Irma Leer! «rief Mrs. O'Malley überrascht und strahlte über das ganze Gesicht. »Wie schön, daß Sie wieder einmal vorbeischauen!«

»Guten Tag«, grüßte Mrs. Pollifax mit einem Lächeln. »Ich hatte ein paar Straßen weiter zu tun und dachte, ich seh' mal auf einen kurzen Blick bei Ihnen vorbei und... «

»Sie kommen gerade rechtzeitig, um eine Tasse Tee mit mir zu trinken«, erklärte Mrs. O'Malley, keinen Widerspruch duldend. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Ich war gerade dabei, mir eine Tasse einzugießen. Ihnen tun sicher die Füße weh, meine Liebe.«

>Kein schöner Zug, diese überaus nette Frau hinters Licht zu führen<, dachte Mrs. Pollifax und trat ein. »Ja - furchtbar«, bestätigte sie und registrierte im stillen beschämt, daß sie außer einem kurzen Spaziergang zum Hotel, um sich nach der Hafenrundfahrt umzuziehen, und einem opulenten Mittagsmahl, das sie mit großem Appetit verspeist hatte, an diesem Tag noch überhaupt keine Bewegung gehabt hatte. »Ich muß mir wirklich Ihren Vorschlag, einen Job als Haushälterin anzunehmen, noch einmal durch den Kopf gehen lassen«, seufzte sie, »obwohl ich mit meiner Umfrage heute recht erfolgreich war.« Sie folgte Mrs. O'Malley in die Küche und legte, als sie Platz nahm, die Zeitung mit Alecs Bild nach oben auf den Tisch.

»Dieser arme Junge«, sagte Mrs. O'Malley, als sie den Tee eingoß und ihr Blick auf das Bild fiel. »Und er ist auch noch der einzige Sohn.«

«Oh?« machte Mrs. Pollifax. »Haben Sie...« Sie unterbrach sich, denn sie durfte jetzt keinen Fehler machen; die Angelegenheit erforderte ihr ganzes Fingerspitzengefühl. Andererseits mußte sie ein für allemal herausfinden, ob Alec nach seiner Entführung in diesem Haus gewesen war. »Sind Sie ihm etwa schon einmal begegnet?« fragte sie rundheraus.

»Nein, meine Liebe, das nicht«, antwortete Mrs. O'Malley und setzte sich ebenfalls an den Tisch. »Er war doch lange auf dem College in den USA und hat dort sein Studium sehr erfolgreich abgeschlossen. Er hat jetzt eine ganze Reihe lateinischer Worte vor seinem Namen.«

Mrs. Pollifax sah überrascht auf. »Aber das ist... Ich erinnere mich gar nicht, darüber in der Zeitung gelesen zu haben.«

»Es stand auch nicht in der Zeitung«, erklärte Mrs. O'Malley beschwichtigend. »Ich weiß das von seinem Vater -Gott sei seiner Seele gnädig. Er war sehr stolz auf seinen Sohn.«

»Sein Vater?« fragte Mrs. Pollifax entgeistert. »Sie kannten seinen Vater? Den Mann, dessen Leiche man gestern gefunden hat?«

Mrs. O'Malley nickte. »Er war sehr oft hier. Er und Mr. Detwiler waren Freunde. Er war ein furchtbar netter Mann, der Inspektor, und mein gefülltes Huhn liebte er über alles. Ich lasse es acht Stunden lang im Topf schmoren und...«

Mrs. Pollifax war wie betäubt. Mr. Detwiler und Inspektor Wi - Freunde? Die beiden Männer hatten sich nicht nur gekannt, sie waren Freunde gewesen! Ihr wurde beinahe schwindlig, während sie bewegungslos am Tisch saß und Mrs. O'Malleys Redefluß über sich ergehen ließ.

»... eine Füllung aus Kastanien, Kräutern und gehacktem Kohl, das ganze in Lotusblätter gewickelt...«

Mrs. Pollifax befeuchtete ihre Lippen, die sich mit einem Male spröde und trocken anfühlten, und murmelte mechanisch: »Klingt ja köstlich.«

»O ja, es ist wirklich etwas Besonderes«, stimmte Mrs. O'Malley zu.

»Sie könnten eigentlich ein Restaurant eröffnen«, schlug Mrs. Pollifax vor. »Das heißt, wenn Ihnen die Arbeit als Haushälterin bei Mr. Detwiler irgendwann langweilig werden sollte.« >Der Kreis schließt sich allmählich<, dachte sie und war bemüht, angesichts dieser von Mrs. O'Malley so beiläufig erwähnten verblüffenden Neuigkeit ihre Fassung zu wahren. Zwischen zwei der in diesen undurchsichtigen Fall verwickelten Männer hatte eine Verbindung bestanden! Sie waren sogar Freunde gewesen! Bei diesem Gedanken stieg erneut Erregung in Mrs. Pollifax auf... Die Frage war allerdings: Hatte der Inspektor seinem Freund gegenüber seinen Verdacht bezüglich der Korruption in den Reihen der Polizei und seine Sorge um die gestohlenen Pässe erwähnt, ohne zu ahnen, daß Detwiler selbst in diese Geschichte verwickelt war, und mußte deshalb sterben? - Oder hatte Detwiler selbst Inspektor Wi mit einer unbeabsichtigten Bemerkung auf die Spur gebracht, deren Verfolgung ihm schließlich das Leben gekostet hatte? Wie dem auch sein mochte, jetzt wußte sie zumindest - und das war der eigentliche Grund ihres Kommens gewesen -, daß Alec Wi nach seiner Entführung nicht in diesem Haus gewesen war. Doch die Tatsache, daß Detwiler und der ermordete Inspektor Freunde gewesen waren, verwirrte sie noch immer.

»Und Mr. Feng - war er auch bei Ihnen zu Gast?« fragte sie.

Mrs. O'Malley schüttelte den Kopf. »O nein. Er war nie eingeladen.« Ihr geringschätziger Ton ließ den Schluß zu, daß Mr. Feng nicht als potentieller Partygast betrachtet wurde.

Ihr Schwätzchen zog sich noch eine weitere halbe Stunde hin, und Mrs. Pollifax war krampfhaft bemüht, ihre Rolle als Irma Leer bis zum Ende durchzuhalten. Es war keine leichte Aufgabe, und als sie sich - Entschuldigungen murmelnd - zum Gehen anschickte, fühlte sie sich ausgelaugt und zum Umfallen müde. Unter der Tür verabschiedete sie sich und sagte: »Morgen werde ich wohl nicht mehr in dieser Gegend sein... Es war mir ein Vergnügen, Mrs. O'Malley. Ich nehme an. Sie wissen immer noch nicht, wann Ihr Arbeitgeber zurückkommt?«

Mrs. O'Malleys Miene hellte sich auf. »Sie werden es nicht glauben, aber er hat mir heute morgen durch den Botenjungen ausrichten lassen - der Junge, der immer seine Wäsche bringt -, daß dies die letzte Wäschesendung sei, die er benötige, und daß er hoffe, Ende nächster Woche nach Hause zu kommen.«

»Ende nächster Woche...«, wiederholte Mrs. Pollifax und schluckte kräftig. Dies war die zweite überraschende Neuigkeit. »Oh, wie schön für Sie...« Sie bedankte sich noch einmal für den Tee und strebte zufrieden der Straße zu. Sie war hergekommen in der Hoffnung, kleine Fische zu fangen. Statt dessen waren ihr zwei dicke Wale ins Netz gegangen.

Mrs. Pollifax traf Marko alleine in der Suite an, und als sie ihm ihre Neuigkeiten mitgeteilt hatte, nickte er nachdenklich. »Dann...«, überlegte er, »dann ist also möglicherweise Ende nächster Woche alles vorbei, und Robin hatte die richtige Nase mit seiner Vermutung, daß wir zum Finish, und nicht zu Beginn der Ereignisse hier auftauchten.« Er schüttelte den Kopf. »Wir kamen also - wie sagt man so schön - noch gerade rechtzeitig, ehe diese Suppe hier anbrennt...«

»Ja - hoffentlich. Wo steckt Robin eigentlich?«

»Davon habe ich nicht einmal den blassesten...«, erwiderte Marko und warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist bereits vier vorbei... Er war am Morgen beim Gouverneur, und zweifellos trifft er sich gerade mit dem Leiter des Sonderdezernats der Polizei, um ihn kurz zu informieren und den Einsatz von Fahrzeugen zur Funkortung zu besprechen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie diese Funkortung eigentlich funktioniert?« fragte Mrs. Pollifax.

»Sicher«, erwiderte Marko, der sich auf die Lehne der Couch gesetzt hatte. »Aber ich muß es kurz machen, denn ich habe die Schicht von halb fünf bis Mitternacht in der Dragon AUley; Sie müssen Robin also eine Nachricht hinterlassen, wenn Sie ihm Ihre sensationellen Neuigkeiten heute noch mitteilen wollen... Diese Fahrzeuge zur Funkortung sind Lieferwagen; außer dem Fahrer gehören noch zwei Männer zur Besatzung; letztere sitzen im geschlossenen Laderaum an den zahlreichen Antennen. Sie drehen die Antennen vorsichtig und können so die Richtung feststellen, aus der die Funksignale kommen. Durch das Peilen mit ihren Antennen ermitteln sie den Schnittpunkt der von verschiedenen Antennen aufgefangenen Signale, und schon haben sie den Standort des illegalen Senders.«

»Verstehe«, murmelte Mrs. Pollifax. »Und auf diese Weise machen wir ihr Versteck ausfindig.«

»Manchmal - ja«, bemerkte Marko trocken. »Aber nur wenn wir Glück haben und sehr schnell sind, denn illegale Sender funken in der Regel nie länger als zweieinhalb Minuten. Und meistens genügt das nicht, ihren Standpunkt zu orten.«

»Das sind natürlich nicht die besten Voraussetzungen«, stellte Mrs. Pollifax enttäuscht fest.

»So ist es«, bestätigte Marko. »Aber wenn sie länger als zweieinhalb Minuten senden, sind sie verwundbar; vor allem wenn wir überall in der Stadt Ortungsfahrzeuge im Einsatz haben. Bei diesem Spiel ist nichts einfach, und ein Fehler...« Er hob die Hand und fuhr sich mit einem Finger von links nach rechts über die Kehle. »Finis!«

»Ja«, antwortete Mrs. Pollifax bedrückt. »Gibt's was Neues von Ihren Leuten, die Feng-Imports beobachten?«

»Nichts. Ich persönlich glaube nicht, daß Eric der Rote noch einmal dort auftaucht, und ich würde meinen rechten Arm dafür hergeben, wenn ich wüßte, wo er sich aufhält.«

»Doch sicherlich nicht Ihren rechten Arm!« wandte Mrs. Pollifax ein. »Ist das nicht ein bißchen übertrieben?«

»Finden Sie?« erwiderte er und legte eine rhetorische Pause ein. »Dann werde ich Ihnen die Geschichte meiner Cousine Gena erzählen: Sie war achtzehn damals, vor drei Jahren, ein sehr aufgewecktes, frisches und sehr hübsches Mädchen. Nicht alle Frauen in meiner Familie sind hübsch, müssen Sie wissen; meist sind sie fett und haben einen Schnurrbart. Aber Gena war wunderschön - sie war etwas Besonderes.« In seiner Stimme lag plötzlich schneidende Kälte, als er fortfuhr: »Und dann ging sie eines Tages in eine Bank in Paris. Eine Bombe geht hoch, und es ist nicht mehr viel übrig von meiner Cousine Gena; zumindest nichts, das wir hätten begraben können.«

»Oh, Marko!« rief Mrs. Pollifax bestürzt.

»Ich mag Terroristen also nicht besonders«, erklärte er und griff nach einem Buch - >Die Bestimmung des Menschen< von Lecomte du Noüy, wie Mrs. Pollifax mit einem schnellen Blick feststellte -, um es in seine Tasche zustecken. »Ich bin soweit«, sagte er. »Sie werden wahrscheinlich ziemlich aufgeregt sein - jetzt, wo Cyrus nach Hongkong unterwegs ist?«

Sie nickte.

»Also viel Spaß dabei!« Er warf ihr einen Kuß zu, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

Nachdem Mrs. Pollifax Robin eine Nachricht geschrieben und ihm die Ergebnisse ihres Besuchs bei Mrs. O'Malley mitgeteilt hatte, blieb ihr nur mehr eine Entscheidung zu treffen: nämlich was sie zu Abendessen wollte und darüber hinaus die Vorfreude auf eine willkommen frühe Bettruhe. Doch ihr Tag war noch nicht zu Ende, nachdem sie es sich im Bett bequem gemacht hatte. Nun endlich fand sie Zeit und Muße, die Geschehnisse der vergangenen drei Tage zu überdenken und die Teile des Puzzles zusammenzufügen. Es gab eine ganze Reihe von Unstimmigkeiten, die dringend einer Erklärung bedurften - von den Fakten ganz zu schweigen, die überhaupt nicht ins Bild passen wollten.

Wollten. Sollten. Sie war schon wieder damit beschäftigt, Drehbücher zu verfassen, stellte sie ärgerlich fest. Dies war genau die Art und Weise, in der das menschliche Gehirn gemeinhin arbeitet: Es verbindet objektive Tatsachen mit letztlich in der Vergangenheit entstandenen Annahmen und gelangt zu Schlußfolgerungen, die oft genug falsch sind.

Was sie jetzt brauchte, überlegte sie, war ein klarer Verstand; frei von Vorurteilen und vorgefaßten Meinungen.

Sie ließ sich jedoch Zeit mit diesem Vorhaben, und ihre Gedanken beschäftigten sich mit dem, was sie in den Tagen, die sie in Hongkong war, erlebt und in Erfahrung gebracht hatte: Mit ihrem Besuch bei Feng-Imports, mit Mr. Detwiler, charmant und ölig, in seinem schwarzen Seidenanzug und seinen goldenen Manschettenknöpfen - den Buddha, den er ihr geschenkt hatte, nicht zu vergessen -, mit Mr. Feng, der selbst wie eine aus Elfenbein geschnitzte Figur aussah, mit Sheng Ti und Lotus, mit Alec Wi, der spurlos verschwunden war, mit Mrs. O'Malley und mit ihrem geflüsterten Versprechen, das sie dem toten Inspektor beim Verlassen der Hütte gegeben hatte... Und dann verbannte sie alle Eindrücke aus ihren Gedanken und wartete.

Als sie eine geraume Zeit später die Augen wieder öffnete, flüsterte sie erregt: >Natürlich! Ich war ja mit Blindheit geschlagen!«

Mit einem Mal verstand sie, weshalb Detwiler zwei Monate nicht zu Hause gewesen war, und sie glaubte auch zu wissen, weshalb er ihr den Buddha geschenkt hatte. Sie griff nach dem Telefon und gab eine Telegramm an Carstairs in Baltimore auf. Nachdem sie den Hörer wieder aufgelegt hatte, löschte sie das Licht, und noch ehe sie überlegen konnte, auf welche Weise ihr Verdacht einer Prüfung zu unterziehen sei, sank sie in einen tiefen und ruhigen Schlaf.

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