In San Francisco stieg Mrs. Pollifax in das Flugzeug, das sie über die zweite Etappe ihrer Reise bringen würde, und erneut wunderte sie sich über die Massen von Menschen, die so zielstrebig von einem Punkt A nach dem Punkt B hasteten - oder nach C oder D - und dabei völlig von einer Welt vereinnahmt waren, die man wieder vergaß, sobald man am Ziel der Reise angelangt war. Sie überlegte, ob andere vergleichbare, der normalen Existenz enthobene Lebensbereiche existierten, die wir in ähnlicher Weise vom Alltagsleben losgelöst und einem übergeordneten Plan folgend erleben und wieder abstreifen, sobald wir diese Ausnahmesituation überwunden haben. Vergleichbar ist vielleicht ein Krankenhausaufenthalt, überlegte sie, der einer ähnlichen übergeordneten Planmäßigkeit unterliegt, auf die wir selbst nur wenig Einfluß besitzen...
»Oh - entschuldigen Sie!« sagte sie, als sie einem Mann, der vor ihr in der Schlange stand, auf die Ferse trat. Er drehte den Kopf und bedachte sie mit einem eisigen Blick. Entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen, sagte sie spitz: »Warum bleiben Sie auch so plötzlich stehen?«
Der Blick des Mannes kam einer tätlichen Beleidigung gleich; er starrte sie an, als sei sie ein lebloser Gegenstand, der ihm im Wege stand. Er war groß, schlank, makellos gekleidet; ein hageres, pockennarbiges Gesicht mit kalten Augen. Nicht gerade ein netter junger Mann, überlegte sie, als dieser sich in Sitz 21-A fallen ließ. Sie ging weiter den Gang hinab zu Sitz 48-B und stellte erleichtert fest, daß 48-A bereits von einem weitaus freundlicheren Gentleman besetzt war.
Das Flugzeug startete und stieg über dem saphirblauen Hafen von San Francisco in den Himmel - der untergehenden Sonne entgegen. Mrs. Pollifax' Sitznachbar räusperte sich. »Würden Sie vielleicht gerne einen Blick in die >Newsweek< werfen?« fragte er und bot ihr seine Zeitschrift an.
Zwei Stunden später hatten sie sich vorgestellt - er hieß Albert Hitchens -, und nach dem Abendessen entwickelte sich zwischen ihnen ein langes Gespräch über psychische Phänomene, denn Mr. Hitchens war, wie sich herausstellte, Psychologe.
»Es ist mein Dharma«, sagte er schlicht.
Mr. Hitchens war nicht unbedingt eine überwältigende Erscheinung: Er war nur wenig größer als Mrs. Pollifax selbst, hatte eine relativ dunkle Hautfarbe, und seine Gesichtszüge konnte man nicht gerade als markant oder gar edel bezeichnen. Für einen Mann um Mitte Vierzig war seine Kleidung auffallend salopp - er trug ausgewaschene Jeans, ein wollenes Hemd und bequeme Halbschuhe -, doch seine Augen waren auffallend und durchdringend; aufgrund seines dunklen Teints erschienen sie beinahe durchsichtig und von einer faszinierenden silbrig-blauen Klarheit.
Mrs. Pollifax, die eine eifrige Karateschülerin war, seit Jahren Yoga betrieb und auch in der Zen-Philoso-phie bewandert war, nickte verstehend, als er das Wort Dharma erwähnte. »Ich muß zugeben«, räumte sie ein, »daß ich mir nicht gänzlich im klaren bin, was den Unterschied zwischen Karma und Dharma betrifft.«
Er nickte verständnisvoll. »Dharma ist das Wesentliche in der Existenz des Individuums - seine Arbeit, seine Berufung, könnte man sagen -, während Karma die Kraft oder den Einfluß früherer Leben bezeichnet, der unser Schicksal in der jetzigen Existenz bestimmt.«
Der leicht belehrende Tonfall, mit dem er sprach, war offenbar auf die zahlreichen Vorlesungen zurückzuführen, die er zu diesem Thema gehalten hatte, denn zu Mrs. Pollifax' Überraschung war Mr. Hitchens ein erfolgreicher Psychologe, der bereits mehrere Bücher über östliche Philosophie verfaßt hatte, der an den Hochschulen in New England kein Unbekannter war und der sich für die Polizeibehörden von Boston als ein wertvoller Mitarbeiter erwiesen hatte - insbesondere beim Aufspüren vermißter Personen.
»Dies«, so erklärte er nach etwa drei Stunden Flugzeit, »ist übrigens auch der Grund, weshalb ich nach Hongkong fliege. Einer meiner ehemaligen Studenten an der Universität von Boston, ein erfrischend kluger junger Mann chinesischer Abstammung, telegrafierte mir vor einigen Tagen aus Hongkong und bat mich, ihm bei der Suche nach einem vermißten Verwandten behilflich zu sein.«
»Glauben Sie, Sie können ihm helfen?« fragte Mrs. Pollifax interessiert.
»Etwas bekomme ich ganz sicher heraus«, erwiderte er überzeugt.
Mrs. Pollifax musterte ihn aufmerksam und kam zu dem Schluß, daß er wahrscheinlich recht hatte; denn in den Augen dieses Mannes lag unbestreitbar etwas äußerst Ungewöhnliches, fast Übersinnliches. »Wie machen Sie das eigentlich?« fragte sie. »Bisher bin ich erst ein einziges Mal einem Menschen mit einer derartigen Begabung begegnet - einer Zigeunerin übrigens - und es war keine Zeit, sie nach ihrem Geheimnis zu fragen. Wie gehen Sie an einen solchen Fall heran? Was geschieht dabei?«
»Es ist grob gesagt eine Frage der Vorstellungskraft«, erklärte Mr. Hitchens. »Ich konzentriere mich zum Beispiel auf einen Gegenstand, der der vermißten Person gehört, und er sagt mir, ob die betreffende Person noch am Leben ist... Oder manchmal versetze ich mich in einen tranceähnlichen Zustand und erhalte Eindrücke - genauer gesagt Bilder -, die mir Hinweise auf den Aufenthaltsort der betreffenden Person geben.«
»Eindrücke«, sinnierte Mrs. Pollifax, und als eine Bewegung einige Sitzreihen vor ihr ihre Aufmerksamkeit erregte, fragte sie: »Welchen Eindruck macht zum Beispiel dieser Mann dort vorne, der eben von der Toilette zurückkommt, auf Sie?« Es war derselbe junge Mann, dem sie zuvor in die Hacken getreten war.
Mr. Hitchens folgte ihrem Blick. Seine Augen wurden schmal. »Die schwärzeste Aura, die ich seit langem gesehen habe«, erklärte er unangenehm berührt und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Dieser Mann hat eine eindeutige Ausstrahlung von Gewalttätigkeit.«
»Innerlich oder äußerlich?« fragte Mrs. Pollifax interessiert.
»Wenn jemand ein Mörder ist«, erwiderte Mr. Hitchens voller Abscheu, »ist es dann wichtig, ob ein innerer Zwang besteht oder ein äußerer Anreiz?«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, antwortete Mrs. Pollifax. »Zufällig betrat ich die Maschine in der Schlange direkt hinter diesem Mann und trat ihm aus Versehen auf die Ferse. Er bedachte mich mit einem Blick, als wollte er mich... nihilieren.«
Mr. Hitchens nickte. »Ein sehr zutreffendes Wort, dessen Stamm >nihil< soviel bedeutet wie >in Nichts auflösen< -zerstören. Doch erzählen Sie mir mehr von dieser Zigeunerin, die Sie vorhin erwähnt haben. Das interssiert mich.«
Mrs. Pollifax erzählte ihm ihre Erlebnisse mit der Zigeunerkönigin Anyeta Inglescu, und ehe sie sich versah, befanden sie sich mitten in einem überaus faszinierenden Gespräch über übersinnliche Erfahrungen, über Heilung durch Glauben, Vorahnungen, Energiezustände und Vorherbestimmung. Außerdem erfuhr sie, daß Mr. Hitchens ebenfalls im Hongkong-Hilton wohnen würde.
»Was halten Sie davon, wenn wir nach unserer Ankunft zusammen frühstückten?« schlug er vor.
»Werden Sie nicht von Ihrem Freund abgeholt?« fragte sie überrascht.
»Nein. Ich bestand darauf«, erzählte er, »denn ich möchte zunächst meine eigenen Eindrücke gewinnnen... « »Schon wieder dieses Wort«, lächelte Mrs. Pollifax. »...und mich dann für ein paar Stunden ausruhen, meditieren und meinen Kopf freibekommen. Mein junger Freund wird mich gegen Mittag anrufen: wir werden zusammen essen und dann mit der Arbeit beginnen. Doch ich muß sagen, ich finde Ihre Gesellschaft sehr anregend und nicht im geringsten störend, sodaß Sie mir eine große Freude bereiten würden.« Er lächelte zum ersten Mal seit sie ihn kennengelernt hatte. »Es sei denn, Sie haben andere Pläne?«
Mrs. Pollifax versicherte ihm, daß sie keine anderen Pläne habe und sehr gerne mit ihm frühstücken würde. Dann fielen sie beide in einen unruhigen Schlaf, während sie in fortwährender Morgendämmerung und durch mehrere Zeitzonen ihrem Ziel entgegenflogen. Als die Maschine schließlich Stunden später auf dem Kai-Tak-Airport von Hongkong landete, betraten sie mit weichen Knien und, aufgrund der Zeitverschiebung, mit ungutem Gefühl in der Magengegend asiatischen Boden.
An der Paßkontrolle stand der Hagere mit dem pok-kennarbigen Gesicht erneut vor Mrs. Pollifax in der Schlange der Wartenden. Wie sie feststellte, war es ein kanadischer Paß, den er dem Uniformierten zuschob, und später, am Gepäckkarussell, griff er nach einem sehr teuer aussehenden und offenbar sehr schweren Schweinslederkoffer und verschwand in der Menge. Sie verlor ihn aus den Augen und nach einer schier endlosen Wartezeit an der Zollabfertigung trat Mrs. Pollifax schließlich - in Begleitung von Mr. Hitchens - in die klare, noch immer etwas kühle Morgenluft von Hongkong.
»Die Sonne scheint!« seufzte sie glücklich und sog die würzige Seeluft tief in ihre Lungen. Noch besaß die Sonne nicht die Kraft, alles mit dem goldenen Schein des tropischen Mittags zu überziehen, doch das silberne Morgenlicht, das sie über den blauen Hafen warf, tauchte die Felsen in der Bucht und die Fassaden der Häuser in einen zauberhaften Glanz. »Dort drüben liegt Hongkong«, erklärte Mrs. Pollifax und deutete auf die Reihen weißer Gebäude, die sich jenseits der Bucht, entlang der steilen Bergflanken, erstreckten.
Im hellen Licht der Morgensonne hatten Mr. Hitchens Augen beinahe die Farbe von Quecksilber angenommen. Sein Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm. »Wunderschön«, murmelte er. »Fast wie die weißen Klippen von Dover.«
Sie stiegen in ein Taxi und verließen Kowloon, tauchten in einen schier endlosen Tunnel, und als sie wieder ans Tageslicht kamen, befanden sie sich bereits in Hongkong. »Das ist der Rest der britischen Kronkolonie, der den Engländern bleibt, wenn sie 1997 Kowloon und die anderen Neuen Territorien an Rotchina zurückgeben müssen«, wandte sich Mrs. Pollifax an ihren Begleiter.
»Zurückgeben?« wunderte sich Mr. Hitchens. »Sie müssen entschuldigen, aber ich verstehe nicht ganz...«
»Diese Gebiete«, erklärte Mrs. Pollifax, »sind an Großbritannien lediglich verpachtet worden. Wenn ich mich nicht irre, wurde Hongkong Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet -das hatte alles irgendwas mit dem Opiumhandel zu tun - und da die Stadt auf einer sehr kleinen Insel von weniger als einhundert Quadratkilometern errichtet wurde und mit den Jahren einen wahren Boom erlebte, breitete sie sich nach Kowloon hinüber aus. Deshalb war Großbritannien gezwungen, mit China einen Pachtvertrag für die Neuen Territorien abzuschließen. Angeblich fällt der Kurs des Hongkong-Dollars jedesmal bis in den Keller, wenn zwischen China und Großbritannien die Bedingungen der Übergabe im Jahr 1997 verhandelt werden. China ist nicht bereit, auf die Erfüllung des Abkommens zu verzichten.«
»Alles ist hier also vergänglich«, bemerkte Mr. Hitchens. »Wie das Leben selbst, könnte man sagen.« '
Sie lächelte und stellte erneut fest, daß sie seine Gegenwart als äußerst angenehm empfand; sie half ihr, sich daran zu gewöhnen, ohne Cyrus unterwegs zu sein. Wie verwöhnt sie doch mit der Zeit geworden war, dachte sie, ohne daß es ihr bisher aufgefallen wäre.
»Man könnte fast glauben, in Manhattan zu sein«, stellte Mr. Hitchens später verdrießlich fest. »Meine weißen Klippen sind zu Banken, Hochhäusern und Hotels verkommen! Nur die Gesichter in den Straßen sind anders. .. «
»Ja«, nickte sie. »Sie sind anders. Schließlich sind 98 Prozent der Bevölkerung Hongkongs Chinesen. Aber die Diplomatenkoffer sind die gleichen, nicht wahr?«
»Sie sind offensichtlich sehr gut informiert«, bemerkte :Mr. Hitchens.
Sie verschwieg, daß Bishop ihr auf der langen Fahrt zum Flughafen einiges über Hongkong sowie eine Reihe interessanter historischer Anekdoten erzählt hatte, die Mr. Hitchens zweifellos in Erstaunen versetzt hätten.
»Viel mehr weiß ich auch nicht, muß ich zugeben - und außerdem ist der Tag viel zu schön für Fakten und Daten. Ich war letztes Jahr schon mal hier, für eine Nacht...«
»Ich war in meinem ganzen Leben noch nie außerhalb der Vereinigten Staaten«, platzte Mr. Hitchens heraus.
Dieses rührende Eingeständnis überraschte sie. Sie erinnerte sich nur zu gut, wie verunsichert sie auf ihrer ersten Auslandsreise gewesen war, wie verwirrt und ausgeliefert sie sich während der ersten Tage gefühlt hatte. Mit einem Male freute sie sich, daß sie gemeinsam frühstücken würden.
Ihr Taxi hielt mit quietschenden Bremsen vor dem Eingang des Hongkong-Hilton. Man half ihnen aus dem Wagen, und die Pagen des Hotels bemächtigten sich ihres Gepäcks. Sie stiegen die Stufen zur riesigen Hotelhalle empor, wo Mr. Hitchens, nachdem er sich eingetragen hatte, Zimmer 601 bekam, während man Mrs. Pollifax den Schlüssel zu Zimmer 614 überreichte.
»Dasselbe Stockwerk«, murmelte Mr. Hitchens.
»Wir sind praktisch Nachbarn«, bestätigte sie und wandte sich erneut an den Angestellten an der Rezeption. »Und wo gibt es Frühstück?« erkundigte sie sich.
»Im Goldenen-Lotus-Saal«, erwiderte der Angestellte, beugte sich über den Schalter und deutete in die Richtung.
»Ich würde mich sehr gerne vorher rasieren«, sagte Mr. Hitchens. »Ist es Ihnen recht, wenn wir uns in einer halben Stunde dort treffen?«
»Schön... Wenn ich mich recht erinnere, gibt es ein Frühstücksbuffet mit Papayas, Melonen und allem, was das Herz begehrt.«
»Ich kann's kaum erwarten«, strahlte Mr. Hitchens.
Zimmer 614 war beeindruckend. Die Sonne strömte durch die breite Fensterfront, und in Gedanken dankte Mrs. Pollifax Bishop, der alles arrangiert hatte. Sie warf einen Blick in den kleinen, doch bis obenhin gefüllten Kühlschrank in der Ecke, nahm ihren Hut ab und ließ sich dann auf das Bett sinken, um den Stadtplan, den Bishop ihr - zusammen mit einem Bündel Hongkong-Dollars - gegeben hatte, eingehend zu studieren. Feng-Imports lag laut Bishop im Stadtteil West Point - unweit des buddhistischen Man Mo Tempels - und versteckt als das unscheinbare Haus Nummer 31 in der Dragon Alley. Die Lage des Hauses war auf dem Stadtplan ganz leicht mit Bleistift markiert, und Mrs. Pollifax schätzte die ungefähre Entfernung vom Hotel. Sie würde ein Taxi nehmen müssen, stellte sie fest, als ihr Finger über exotische Namen wie Ice House Street, Cotton Tree Drive, Jardine's Bazaar und Yee Wo Street fuhr. Ganz sicher nicht New Jersey, dachte sie erfreut und überlegte, daß es wohl am besten wäre, in der Dragon Alley zu sein, noch ehe der Laden öffnete, um Sheng Ti abzufangen, bevor er das Haus betrat.
Wenige Minuten später saß Mrs. Pollifax erwartungsvoll im Goldenen-Lotus-Saal, in dem sie bereits im Juni des letzten Jahres opulent gespeist hatte. Ein weiß livrierter Ober goß ihr gewandt dampfenden Kaffee ein. Sie nippte an der Tasse, wartete auf Mr. Hitchens und beobachtete die fremdartigen Gesichter an den Tischen um sie herum. Geschäftsleute gestikulierten heftig über irgendwelchen Kostenrechnungen. Die jungen Pärchen mit ihren Kameras waren offensichtlich Touristen. Als Mr. Hitchens endlich auf dem Stuhl neben ihr Platz nahm, trug er Hosen mit Bügelfalten und ein Jackett. Er sah jetzt älter, weniger exzentrisch und eine Spur weniger interessant aus, doch in seinen Augen und auf seinem Gesicht spiegelten sich Erregung und Unternehmungslust.
»Sie werden nicht glauben, wen ich gerade in der Halle gesehen habe«, platzte er mit jungenhafter Begeisterung heraus. »Den drittreichsten Mann der Welt! Den drittreichsten Mann der westlichen Welt, um genauer zu sein... Hier im Hotel!«
»Nun sind Sie es, der sehr gut informiert ist«, erwiderte sie. »Wer um alles in der Welt ist dieser drittreichste Mann der
Welt?«
»Er heißt... eh... « Er legte die Stirn angestrengt in Falten. »Ach ja: Lars... Lars Petterson.« Er strahlte. »Als ich auf mein Zimmer kam, machte ich den TV an, und HongkongTelevision brachte gerade ein Interview mit ihm... «
»Ich habe sicherlich auch einen TV im Zimmer, aber er ist mir gar nicht aufgefallen«, erwiderte Mrs. Pollifax zerstreut.
Er lachte. »Ich bin femsehsüchtig, müssen Sie wissen; besonders nach Serien wie die >I-Love-Lucy-Show< oder die >Mary-Tyler-Moore-Show< - und nach grünen Bananen«, fügte er hinzu. »Wahrscheinlich ein Schock für meine bisherigen drei verflossenen Ehefrauen, die wohl erwartet hatten, ein Psychologe müsse ein aufregendes Leben rühren.«
»Und mit Fernsehserien und grünen Bananen hatten sie nicht gerechnet«, stellte Mrs. Pollifax amüsiert fest.
»Anscheinend nicht... Oh, danke sehr«, sagte Mr. Hitchens, als der Ober ihm den Kaffee eingoß. »Dort ist er!« flüsterte er aufgeregt und nickte mit dem Kopf in Richtung des Eingangs.
»Wer?« fragte Mrs. Pollifax.
»Mr. Petterson - der Mann, von dem ich Ihnen eben erzählt habe.«
Mrs. Pollifax schielte unauffällig über den Rand ihrer Kaffeetasse, um einen verstohlenen Blick auf den drittreichsten Mann der Welt zu werfen.
»Der Mann an der Tür«, erklärte Mr. Hitchens, »der, der gerade mit dem Ober spricht.«
Mrs. Pollifax' Blick fiel auf einen außerordentlich attraktiven jungen Mann, blond und braungebrannt. Allein seine leicht gebogene Nase bewahrte ihn davor, geradezu unverschämt gut auszusehen. Er trug einen orangefarbenen Blazer, silbergraue Hosen, ein gestreiftes blaues Hemd und ein orangefarbenes Halstuch. Mrs. Pollifax blinzelte verblüfft. »Wer ist das, sagten Sie?«
»Lars Petterson. Ein Däne, glaube ich - obwohl er einen englischen Akzent hat.« Sein Blick kehrte zu Mrs. Pollifax zurück. »Ist etwas?« fragte er.
Mrs. Pollifax, noch immer leicht verwirrt, lächelte: »Nein, nein, alles in Ordnung.«
Es war jedoch nichts in Ordnung. Gegenwart und Vergangenheit gerieten durcheinander. Denn der angeblich drittreichste Mann der Welt, der eben gerade den Saal betrat, war für Mrs. Pollifax kein Unbekannter. Sie hatte ihn als Robin Burke-Jones in der Schweiz kennengelernt. Er war ein überaus erfolgreicher Dieb und Fassadenkletterer gewesen, der Scheichs und andere reiche Leute diskret um ihren Schmuck und ihre Juwelen erleichterte. Einen kurzen Augenblick wirbelte eine Flut von Bildern durch Mrs. Pollifax' Kopf: Unter anderem das Bild, als sie Robin mit ihrer Schmuckschatulle in der Hand überraschte und er dann verwundert fragte: »Sie werden mich also nicht anzeigen? Sie werden der Polizei nichts erzählen?« Oder das Bild, als er ihr mit einem Seil die Flucht über den Balkon ermöglichte - die Flucht vor einem Killer, der in der Hotelhalle auf sie wartete. Die Bilder von einer schier endlosen Nacht, die sie gemeinsam mit einem kleinen Jungen im Castle Chillon verbrachten, von dem Fluchtweg, den sie schließlich doch entdeckten, von Robin, der in einem winzigen Ruderboot saß und heiser flüsterte: »Hier bin ich! Warum haben Sie denn solange gebraucht?«
Der liebe Robin! Sie freute sich irrsinnig, ihn hier zu sehen. Das letzte Mal hatte sie ihn anläßlich seiner Hochzeit gesehen, bei der sie Trauzeugin gewesen war. Und zu Weihnachten hatte sie von ihm und seiner Frau Court die übliche Karte erhalten.
Als Robin heiratete, hatte er für immer den Gefahren der Fassadenkletterei und des Einbrecherhandwerks abgeschworen und war ein anständiger Bürger geworden, erinnerte sich Mrs. Pollifax. Das war es! Sie hätte gleich darauf kommen können! Robin war bei der Interpol, die seine beachtlichen Talente erkannt und ihm einen Job auf der anderen Seite des Gesetzes angeboten hatte.
»Allerdings«, so überlegte sie weiter, und ihre Neugier regte sich, »würde mich brennend interessieren, was er hier in Hongkong zu suchen hat - als Lars Petterson, der drittreichste Mann der Welt!«
»Ich denke, ich werde noch eine Tasse Kaffee trinken«, erklärte Mrs. Pollifax eine halbe Stunde später, als sich Mr. Hitchens anschickte zu gehen.
»Oh«, machte Mr. Hitchens und fügte dann eilig hinzu: »Natürlich - ja.« Einen Augenblick lang schien er betroffen, doch dann nickte er und lächelte. »Nun denn«, sagte er. »Da wir beide nur eine Woche bleiben, sehen wir uns vielleicht beim Rückflug wieder.« Er steckte ihr die Hand entgegen. »Es war mir eine echte Freude, Sie kennengelernt zu haben.«
Sie erhob sich, um ihm die Hand zu reichen. »Lassen Sie doch von sich hören, wenn Sie Ihren Vermißten gefunden haben«, sagte sie. »Oder rufen Sie mich an, wenn Sie wollen... Zimmer 614.«
Sein Lächeln wirkte etwas hilflos und erinnerte sie daran, daß er noch nie in einem fremden Land gewesen war. Wahrscheinlich würde er sie völlig vergessen haben, sobald er mit seinem chinesischen Freund unterwegs war. Doch sie verstand sehr gut, daß er im Augenblick den Wunsch hatte, mit dem einzigen Menschen, den er hier kannte, zusammen zu sein. »Viel Glück bei der Jagd!« wünschte sie ihm lächelnd und sah ihm nach, als er in Richtung Hotelhalle davonging.
Als ihr Blick ihm nicht mehr folgen konnte, setzte sie die Tasse ab, griff nach ihrer Handtasche und ging zum Früh-stücksbuffet, das in der Mitte des Goldenen-Lotus-Saals aufgebaut war und hinter dem Robin verschwunden war. Robin hatte sie vermutlich nicht gesehen, und sie kam zu dem Schluß, es sei ein Gebot der Fairneß, sich ihm bemerkbar zu machen -denn wer konnte wissen, in welch ungünstige und für ihn möglicherweise peinliche Situation ihn ein überraschendes Zusammentreffen mit ihr bringen konnte. Sie schlenderte -anscheinend an den ausgebreiteten Köstlichkeiten interessiert -um das Büffet herum, während ihr Blick Robin suchte. Er saß mit dem Gesicht in ihre Richtung und unterhielt sich angeregt mit einem kleinen und ziemlich korpulenten chinesischen Gentleman, der an seinem Tisch saß. Als Mrs. Pollifax bis zu den köstlich duftenden aufgeschnittenen Ananasscheiben vorgedrungen war, machte sie eine plötzliche, unvermittelte Bewegung, die Robins Aufmerksamkeit erregen mußte. Er sah zu ihr herüber.
Ihre Blicke trafen sich, und für den Bruchteil einer Sekunde verschlug es ihm die Sprache. Sie ließ ihren Blick wie zufällig über sein Gesicht wandern und sah dann mit der Gleichgültigkeit eines Fremden an ihm vorbei. Er hatte sich wieder gefaßt und wandte sich erneut seinem Begleiter zu. Er hatte sie erkannt. »Sehr gut«, dachte sie zufrieden, ließ den Schinken, die Eier und die Wärmeplatten mit den Omelettes links liegen, betrachtete interessiert eine prachtvolle, leuchtendrote tropische Blume, die als exotischer Farbtupfer das Büffet zierte und verließ den Goldenen-Lotus-Saal.
Ihre Gedanken weilten bereits bei Sheng Ti. Sie durchquerte zielstrebig die Hotelhalle und sah sich, auf der Straße angelangt, nach einem Taxi um.
Während Mrs. Pollifax im Taxi durch die Straßen von Hongkong fuhr, kehrten ihre Gedanken zu Sheng Ti zurück, mit dem sie das Schicksal nun schon mehrere Male zusammengeführt hatte: Einmal im Bazar von Turfan, zum zweiten Mal in jener Nacht, als sie feststellte, daß auch der KGB in den Fall verwickelt war, und dann noch einmal in Urumtschi, als er am Straßenrand kauerte und mit der stoischen Geduld des Asiaten auf sie wartete. Sie würde nie vergessen, wie seine Augen aufleuchteten, als er sie endlich sah. Unbestreitbar hatte das kommunistische Regime wahre Wunder im Interesse der Mehrheit der nahezu einer Milliarde Einwohner Chinas bewirkt, doch Mrs. Pollifax hatte das Schicksal Sheng Tis immer als ein Beispiel für den Preis betrachtet, der für diese Wunder bezahlt werden mußte, denn Sheng Ti war... - sie versuchte sich den Eindruck, den der Junge auf sie gemacht hatte, wieder zu vergegenwärtigen -... Sheng Ti war anders gewesen, war von der Norm abgewichen: nicht nur weil seine Eltern reiche Bauern gewesen waren, sondern vor allem wegen der Folgen, die dieser Umstand für das Leben von Sheng Ti gehabt hatte: Im China Maos war ihm nie die Möglichkeit geboten worden, seine überdurchschnittliche Intelligenz nutzbringend und sinnvoll einzusetzen; vielmehr hatte man ihn im Alter von sechzehn Jahren in eine der ländlichen und fast mittelalterlich-primitiven Kommunen in Zentralchina verschickt, von der er nach drei Jahren geflohen war. Dafür war er in ein Arbeitslager, das noch weiter im Westen des riesigen Reiches lag, verbannt worden. Sechs Jahre lang arbeitete er in einer Straßenbaukolonne in der Nähe von Urumtschi, doch auch dort fiel es ihm schwer, sich einzuordnen, und seine Strafakte war über die Jahre hinweg immer dicker geworden, bis er schließlich zu einem >hai fen<, einem Außenseiter - ohne jegliche Hoffnung und Aussicht auf eine bessere Zukunft - gestempelt war, als den sie ihn kennengelernt hatte. Diese ungeheure Vergeudung menschlicher Kreativität, und die verzweifelte Auflehnung, mit der sich sein gesamtes Wesen gegen die Vernichtung seiner Talente und die Mißachtung seiner Intelligenz zur Wehr setzte, hatte sie tief betroffen gemacht.
In Amerika wäre Sheng Ti sicherlich Anwalt oder Lehrer geworden - davon war Mrs. Pollifax überzeugt -, .denn er besaß eine stark ausgeprägte Neugierde, und Mrs. Pollifax betrachtete Neugierde als einen untrüglichen Ausdruck von Intelligenz. Für Leute, die nie Fragen stellten, die niemals nach dem Warum oder Wie fragten, empfand sie Bedauern. In Maos China stellteman keine Fragen - man paßte sich entweder an, oder man wurde zum Außenseiter, zum Staatsfeind, deklariert.
Sie selbst hatte damals darauf gedrängt, Sheng Ti gemeinsam mit Wang Shen aus China herauszuschmuggeln, und sie fragte sich nun, ob sie ihm damit einen guten Dienst erwiesen hatte -falls er, wie Bishop angedeutet hatte, in Hongkong tatsächlich nicht glücklich war.
Das Taxi hielt vor der Einmündung eines engen Seiten-gäßchens, und der Fahrer erklärte ihr, sie würde, wenn sie dem Gäßchen folgte, nach ein paar hundert Metern rechter Hand auf den Beginn der Dragon Alley stoßen. Mrs. Pollifax zahlte das Taxi, und als sie vom Trottoir zurücktrat und dem davonfahrenden Wagen nachblickte, fühlte sie eine Welle der Erregung, die ihr Herz bis zum Hals schlagen ließ. Das lärmende und hektische Leben um sie, das farbenfrohe Menschengewimmel in den schmalen gewundenen Gäßchen ließen keinen Zweifel zu: Sie war nach China zurückgekehrt; sie hatte es wiedergefunden, das Land, das sie so sehr liebte - hier, an einer Straßenecke der Altstadt von Hongkong, weit entfernt in Zeit und Lebensstil von dem prachtvollen und imposanten Handelszentrum der Stadt, wo sie eben noch gefrühstückt hatte.
»Das ist das China, das ich gesucht habe«, dachte Mrs. Pollifax, und fast schwelgerisch sog sie die aromatischen Düfte, die aus den kleinen Läden auf die Straße strömten, in die Lungen. Das schmale Gäßchen, das sie hinaufblickte, war gesäumt von eng aneinander geduckten Häusern, von deren Fassaden ein Wald von Schildern und Reklametafeln in schreienden Farben bis weit in die Straße hinein reichte. Die Bambusstangen, die von den Balkons der Häuser fast bis zur Mitte des Gäßchens ragten, taten ein übriges, das bunte Bild zu vervollkommnen: An ihnen flatterten knallbunte Wäschestücke, vorwiegend in grellem Rot, die in der leichten Brise, die vom Meer heraufwehte, zum Trocknen ausgehängt waren. Obwohl es noch früh am Tage war, pulsierte die enge Straße bereits von Leben und Geschäftigkeit. Auf den Gehsteigen reihten sich Verkaufsstände, die Plastikblumen, frische Schnittblumen, Sandalen, Gewürze und Kräuter, getrockneten Fisch und frisches Obst feilboten. Der Duft von Räucherstäbchen, Ingwer und gebratenen Nudeln hing in der Luft. Das Stimmgewirr der Passanten, die schrillen Rufe der Verkäufer und das Plärren von Transistorradios vermischten sich zu einem exotisch-bunten Klangteppich, der sich vor Mrs. Pollifax ausbreitete.
»Wie wunderschön«, seufzte sie und setzte sich in Bewegung, um das enge Gäßchen hinaufzuschlendern. Hin und wieder blieb sie an einer der Straßenbuden stehen, um einen Blick auf die Gläser mit eingelegtem Schlangenfleisch, aufgehäuften Gingsengwurzeln oder Reiseandenken von Hongkong zu werfen. Genau wie der Taxifahrer es ihr beschrieben hatte, stieß sie nach wenigen Minuten auf die Einmündung der Dragon Alley, die - kaum breiter als eine ausgetretene Steintreppe - zu einer oberhalb gelegenen Parallelstraße führte. Ohne zu zögern, begann Mrs. Pollifax die flachen und schiefgetretenen Steinstufen emporzusteigen.
Das Haus mit der Nummer 31 lag auf der rechten Straßenseite. Es beherbergte einen schäbigen kleinen Laden, dessen Schaufenster blind vor Staub war. Über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift >Feng-Imports< - in englischen und in chinesischen Lettern. Die Ladentür war noch verschlossen, wie Mrs. Pollifax mit einem schnellen Blick aus den Augenwinkeln feststellte. Wie eine neugierige Touristin ließ sie ihre Blicke über die malerischen Fassaden wandern, und scheinbar ganz zufällig blieb sie an dem Schaufenster von Feng-Imports hängen. Offensichtlich unentschlossen - und wie sie hoffte gänzlich unauffällig - blieb sie stehen, um die ausgestellten Elfenbein- und Jadeschnitzereien zu betrachten.
Die Stücke waren von erlesener Qualität und schienen irgendwie gar nicht in das verstaubte Fenster zu passen. Mrs. Pollifax versuchte in das Innere des Ladens zu spähen; soweit sie jedoch feststellen konnte, war er leer. Sie trat einen Schritt zurück und entdeckte an der Innenseite der Glastür eine handgeschriebene Notiz mit den Öfnungszeiten des Ladens. Er war erst ab 10 Uhr geöffnet, Jetzt war es 9 Uhr 40.
Mrs. Pollifax wandte sich ab und schlenderte weiter. Haus Nummer 33 war ebenfalls ein Laden - ein Laden für Plastikblumen. Auch er hatte noch nicht geöffnet. Haus Nummer 35 war besonders schmal und zum Teil hinter einer Steinmauer versteckt. In Nummer 37 befand sich die Werkstatt eines Schneiders, eines schmächtigen Alten, der über seine Nähmaschine gebeugt saß. Dann folgte die kahle Wand des Eckhauses der Dragon Alley, dessen Fenster und Eingang auf die oberhalb liegende Straße blickten. Auf der linken Seite der Dragon Alley lagen - von einem kleinen Elektroladen abgesehen, der billige Transistorradios feilbot -windschiefe, winzige Holzhäuschen mit Balkons und Gartentürchen, die in Hinterhöfe führten. Neben der Eingangstür eines dieser Häuser hing ein Schild mit der Aufschrift >ZIMMER<. Vor diesem Haus, dem Haus Nummer 40, stand eine kleine Bank, auf die sich Mrs. Pollifax sinken ließ, um auf Sheng Ti zu warten.
Fünfzehn Minuten vor zehn Uhr kam ein junges Mädchen die Stufen der Dragon Alley emporgeeilt und strebte auf die Eingangstür von Feng-Imports zu. Es war eine auffallend hübsche Chinesin in einem dunkelblauen Baumwoll-Cheongsam, mit rabenschwarzem Haar und einer Haut so weiß wie Porzellan. Sie schloß die Tür auf und verschwand im Laden. »Angestellte Nummer eins«, entschied Mrs. Pollifax.
Punkt zehn Uhr trat ein Mann mit einem schweinsledernen Koffer in der Hand aus Feng-Imports, was Mrs. Pollifax in Erstaunen versetzte, denn sie hatte niemanden gesehen, der den Laden betreten hatte. Mit großen Schritten eilte er das Gäßchen herauf. Er war großgewachsen und hager und ganz bestimmt kein Chinese. Sein Gesicht war pockennarbig und seine Augen... Mrs. Pollifax brauchte gar nicht hinzusehen, denn sie kannte diese Augen. Es war der Mann, dem sie im Flugzeug auf die Füße getreten hatte - der Mann mit der schwarzen Aura.
Ohne den Blick zu heben, eilte er an ihr vorbei und verschwand dann in der Straße oberhalb der Dragon Alley. »Was hatte dieser Mann bei Feng-Imports zu suchen?« fragte sich Mrs. Pollifax beunruhigt. Aus welchem Grund war er hierhergekommen - offenbar noch ehe er Zeit gefunden hatte, sein Gepäck in einem Hotel zu lassen? So brennend sie diese Fragen auch interessierten, vorläufig mußten sie unbeantwortet bleiben, denn noch wußte sie zu wenig. Und von Sheng Ti war weit und breit nichts zu sehen.
Fünfzehn Minuten nach zehn Uhr - niemand hatte Feng-Imports betreten oder war auch nur in die Nähe des Ladens gekommen - erhob sich Mrs. Pollifax von der Bank und schlenderte die Dragon Alley abwärts, wobei sie ihr Bestes versuchte, um wie eine unternehmungslustige Touristin zu wirken. Erneut blieb sie vor dem Schaufenster von Feng-Imports stehen, damit sie einen Blick in das Innere des Ladens werfen konnte. Es war jedoch nur das Mädchen zu sehen, das mit einem Staubwedel aus Federn irgendwelche Figürchen in einer Vitrine abstaubte. Mrs. Pollifax seufzte tief und versuchte vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken, das sie jedoch übermannte.
Sie beschloß, gegen Mittag noch einmal zurückzukehren und lenkte ihre Schritte in Richtung der Straße, in der sie das Taxi abgesetzt hatte. Sie kehrte ins Hotel zurück, packte ihren Koffer aus und genehmigte sich dann ein kurzes Mittagsschläfchen, um ihren Körper an die Zeitverschiebung zu gewöhnen.
Gegen Mittag war sie bereits wieder auf den Beinen und verließ zum zweiten Mal an diesem Tag das Hotel. Diesmal saß ihr Hut nicht ganz so verwegen, und eine der Rosen - offenbar von der langen Reise und der Zeitverschiebung ebenso angeschlagen wie Mrs. Pollifax selbst - ließ erschöpft den Kopf über die Hutkrempe hängen. Wieder stieg sie die Dragon Alley hinauf, doch nichts hatte sich dort verändert. Nur die Schatten waren schmaler geworden. Mrs. Pollifax blieb erneut vor dem Schaufenster stehen, um interessiert die Jade- und Elfenbeinschnitzereien zu betrachten - und einen unauffälligen
Blick in das Ladeninnere zu werfen. Diesmal waren zwei Personen im Laden: Das Mädchen, das über den Ladentisch gebeugt kleine Elfenbeinfigürchen auf einem Schachbrett anordnete, und ein älterer Chinese mit gekrümmtem Rücken, der auf einem Stuhl hinter dem Ladentisch saß.
Von Sheng Ti keine Spur.
Wieder einmal mußte Mrs. Pollifax feststellen, daß ihr die Geduld, die professionelle Agenten in der Regel auszeichnet, gänzlich abging. Sie war von Natur aus sehr direkt, und bereits der Gedanke, die ganze Woche möglicherweise vergebens vor dem Laden in der Dragon Alley rumzulungern, war ihr ein Greuel. Außerdem würde man früher oder später auf sie aufmerksam werden; selbst wenn sie in irgendwelchen kunstvollen Verkleidungen vor Feng-Imports wartete. Bisher war Sheng Ti zweimal kontaktiert worden - wie Bishop ihr erzählt hatte -, und jedesmal war er im Laden gewesen.
Sie würde ebenfalls hineingehen, denn schließlich lautete ihr Auftrag in Hongkong, Sheng Ti zu finden und mit ihm zu sprechen. Carstairs würden sich zwar entsetzt die Haare sträuben, wenn er davon erführe, doch sie war entschlossen, die Höhle des Drachens zu betreten.
Gelassen und völlig ruhig drückte Mrs. Pollifax die Klinke der Ladentür nach unten und betrat Feng-Imports.
Der Mann, der hinter dem Ladentisch saß, hatte das Gesicht eines ehrwürdigen chinesischen Weisen. Seine Haut erinnerte Mrs. Pollifax an zerknittertes Pergament, und der dünne graue Bart, der sich am Kinn des Alten verlor, tat ein übriges, diesen Eindruck zu verstärken. Sein Blick blieb einen Augenblick lang an den Rosen auf Mrs. Pollifax' Hut hängen, ehe er ihr ins Gesicht sah. In seinen Augen lag eine tiefe Müdigkeit, fand sie, die Müdigkeit eines Mannes, der sein ganzes Leben in einem schäbigen Laden wie diesem verbracht, der jedoch mehr als dies vom Leben erwartet hatte und dem es schwerfiel, sich damit abzufinden.
»Guten Tag«, grüßte Mrs. Pollifax aufgeräumt.
»Guten Tag«, erwiderte der Alte, schob seine Hände in die weiten Ärmel seines Gewands und verbeugte sich leicht.
»Ich möchte Sheng Ti sprechen, bitte«, erklärte Mrs. Pollifax ohne Umschweife.
Das Mädchen sah für einen Augenblick von ihrer Beschäftigung auf und beugte sich dann hastig wieder über die Figürchen. Der Mann - Mr. Feng, wie Mrs. Pollifax annahm -schien zu erstarren, doch sein Gesicht verriet keinerlei Regung. »Wen möchten Sie sprechen?« erkundigte er sich, als hätte er sie nicht verstanden. »Shang-chi?«
»Sheng Ti«, wiederholte Mrs. Pollifax ungerührt.
Fengs Augen ließen Mrs. Pollifax keinen Moment lang los, als er halb zu dem Mädchen gewandt mit leiser Stimme sagte: »Du kannst gehen, Lotus.« Das Mädchen gab Mrs. Pollifax erneut einen neugierigen Blick, ging jedoch wortlos auf eine mit Perlschnüren verhangene Tür zu und verschwand in einem hinter dem Geschäft liegenden Raum. Der Perlvorhang klirrte leise und schloß sich hinter der zierlichen Gestalt des Mädchens. »Aber hier arbeitet niemand, der Sheng Ti heißt«, erklärte der Alte höflich.
»Herrje!« dachte Mrs. Pollifax. »Das wird schwieriger, als ich angenommen habe.« - »Erzählen Sie mir keinen Blödsinn!« fuhr sie Feng an und schickte ein verbindliches Lächeln nach. »Natürlich arbeitet er hier! Ich weiß das aus zuverlässiger Quelle. Und sollte er tatsächlich nicht mehr hier arbeiten, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich ihn finden kann? Sie müssen wissen...«, fügte sie etwas atemlos hinzu, »...ich bin nur für eine Woche in Hongkong, und ich möchte ihn unbedingt treffen, ehe ich wieder nach Hause fliege. Sie sind Mr. Feng?«
»Wer sagt, daß er hier arbeitet?« fragte der Alte und blinzelte nervös.
Mrs. Pollifax zog die Notiz, die Bishop ihr gegeben hatte, aus der Tasche und las mit lauter Stimme vor:
»Sheng Ti, Feng-Imports, Dragon Alley 31... Sie sind doch Mr. Feng?«
Feng starrte auf das Stück Papier in ihren Händen. »Darf ich das mal sehen, bitte?« Mit verblüffender Schnelligkeit griff er nach der Notiz und entriß sie ihr, ehe sie reagieren oder protestieren konnte.
»Von wem haben Sie das?« fragte er scharf.
»Von einem Freund Sheng Tis.«
»Einem Freund? Einem Freund Sheng Tis?«
Mit einem Mal hatte Mrs. Pollifax den Eindruck, als sei es sehr wichtig, zu betonen, daß Sheng Ti durchaus ein paar Freunde hatte. »Wundert Sie das?« fragte sie herausfordernd.
»Mich wundert nur, daß jemand wie Sie Sheng Ti kennt«, erwiderte Feng gelassen.
»Ich verstehe zwar nicht, was Sie das angeht«, entgegnete Mrs. Pollifax ebenso gelassen, »doch wenn es Sie beruhigt, kann ich Ihnen das gerne erklären: Ich habe ihn in Rotchina kennengelernt. In der Nähe von Turfan, in der Provinz Xinjiang. Unter äußerst dramatischen und für eine amerikanische Touristin sehr aufregenden Umständen übrigens... «
»Sie sprechen Chinesisch?« fragte er interessiert.
»Mein Begleiter sprach ein paar Brocken«, erklärte sie ungeduldig. »Sheng Ti schilderte uns seine verzweifelte Situation und deutete an, er hätte eine Möglichkeit in Aussicht, das Land zu verlassen. Dies war natürlich gegen das Gesetz und für alle Beteiligten überaus gefährlich.. .« Es gelang ihr, ein dramatisches Zittern in ihre Stimme zu legen. »Ich habe natürlich alles - alles - unternommen, um herauszufinden, was aus ihm geworden ist.« Sie schüttelte erschöpft den Kopf und fügte betrübt hinzu: »Mit anderen Worten: Ich habe unzählige Briefe geschrieben, an sehr viele Türen geklopft und mich nicht abweisen lassen. Und dies gedenke ich auch jetzt nicht zu tun!«
Er reichte ihr die Notiz Bishops. »Es tut mir leid, aber man hat Sie falsch informiert, Mrs. - äh -«
»Pollifax.«
»Mrs. Pollifax. Wir betreiben hier eine Importfirma, und einen Sheng Ti gibt es hier nicht.«
Sie sah ihm geradewegs in die Augen, doch er wich ihrem Blick aus. »Wieso haben Sie dann so viele Fragen gestellt? Ganz offen gesagt, Sir, ich glaube Ihnen nicht.« A
Hinter dem Perlvorhang war ein leises Lachen zu hören, und eine Stimme rief belustigt: »Bringen Sie unsere hartnäckige Freundin herein, Feng.«
Fengs Lippen wurden noch schmaler. »Aber ich glaube nicht, daß...«
»Bringen Sie sie herein!« Die unverkennbare Schärfe, die nun in der Stimme mitschwang, schüchterte Feng offenbar ein, denn er erhob sich hastig und winkte Mrs. Pollifax, ihm zu dem Perlvorhang zu folgen.
Die bunten Glasperlen klirrten erneut leise, und Mrs. Pollifax trat in ein winziges Büro, in dessen Ecke das Mädchen, das Feng Lotus genannt hatte, an einem Tisch saß und Perlen auf einen Faden reihte. Der Mann, der ihr Gespräch mit Feng belauscht hatte, ging voran und öffnete eine Tür an der Rückwand des kleinen Büros. Er trug einen gutgeschnittenen Anzug aus schwarzer Seide. Von hinten wirkte er ziemlich großgewachsen, und Mrs. Pollifax stellte fest, daß er leicht hinkte.
Als Mrs. Pollifax durch die Tür trat, mußte sie unwillkürlich die Augen schließen. Nach der dumpfen Dunkelheit des Ladens konnte sie nur vorsichtig in das helle Licht blinzeln, das durch ein riesiges, schräggestelltes und ziemlich hoch eingesetztes Fenster in den Raum fiel. Zwei der Wände wurden von Regalen eingenommen, auf welchen Hunderte von erlesenen und zum Teil wohl antiken Jade- und Elfenbeinfiguren und -Schnitzereien standen. In dem Regal an der Wand hinter ihr erkannte Mrs. Pollifax Stapel von Holzkisten und anderes Verpackungsmaterial. An der Stirnwand, unterhalb des mächtigen Fensters, stand ein großer Arbeitstisch, auf dem Mrs. Pollifax ein ansehnliches Häufchen kleiner, glitzernder Steine entdeckte.
Doch der Unbekannte interessierte sie im Augenblick wesentlich mehr, und entschlossen wandte sie sich ihm zu.
Er verneigte sich förmlich. »Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagte er und über die Schulter gewandt fügte er hinzu: »Danke, Mr. Feng. Das ist vorläufig alles.« Er ging zu einem kleinen Sekretär in der Ecke des Raums und lud sie ein, auf einem der Stühle daneben Platz zu nehmen.
Der Mann war offensichtlich Eurasier, und Mrs. Pollifax nahm an, daß es sich um Mr. Detwiler handelte, obwohl lediglich der Schnitt seiner Augen auf asiatische Vorfahren schließen ließ. Sein Gesicht war breit und ziemlich fleischig, die Nase flach und der Mund auffallend groß. Seine nach oben verlaufenden Mundwinkel verliehen ihm ein freundliches Aussehen und erweckten den Eindruck, als läge das stete und weise Lächeln einer Buddhastatue in seinen Zügen. Zu dem schwarzen Anzug trug er ein blütenweißes Hemd, eine schwarze Krawatte, die eine goldene Nadel zierte, und goldene Manschettenknöpfe; der Duft von Moschus umgab ihn.
»Ich suche Sheng Ti, wie Sie wahrscheinlich gehört haben«, erklärte Mrs. Pollifax energisch.
»Ja - das habe ich gehört«, erwiderte er, und sein Lächeln schien eine Nuance breiter zu werden. »Was wollen Sie von ihm?«
»Ich möchte mich nur vergewissern, daß es ihm gutgeht«, antwortete sie. »Aber... Darf ich offen sein?«
»Ich bitte Sie darum«, sagte er und nickte ihr ermutigend zu.
Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken und ohne die geringsten Gewissensbisse erzählte Mrs. Pollifax das Lügenmärchen, das sie sich ausgedacht hatte, während sie Feng vom Laden in das Hinterzimmer gefolgt war. »Sie müssen wissen«, begann sie und beugte sich vertraulich näher zu Detwiler, »daß mir das Schicksal Sheng Tis sehr auf der Seele lastet. Ich habe bisher eine Menge Unannehmlichkeiten auf mich genommen, um ihn wiederzufinden. Als ich damals in die Staaten zurückkehrte, erzählte ich in meinem Gartenbauverein - gegenwärtig bin ich Präsidentin des Clubs - von meinen Erlebnissen mit Sheng Ti. Und Sie werden es nicht glauben...«, ihre Augen leuchteten vor Begeisterung, »... aber die Damen unseres Gartenbauvereins haben sich einmütig dafür ausgesprochen, die Patenschaft für den jungen Mann zu übernehmen und sich für seine Einreise in die USA einzusetzen!«
»Ich muß zugeben. Sie waren sehr rührig«, lächelte er und musterte sie aufmerksam. »Darf ich bitte mal einen Blick auf den Zettel werfen, den Sie Feng gezeigt halben?«
»Selbstverständlich.« Sie reichte ihm Bishops Notiz. »Ist Sheng Ti bei Ihnen?«
Der Mann studierte das Stück Papier eingehend. »Wie sind Sie eigentlich zu dieser Adresse gekommen?« fragte er.
Mrs. Pollifax holte tief Atem und plapperte munter drauflos. »Ich lernte damals auch den Mann kennen, der Sheng Ti zur Flucht verholten hatte. Ich versuchte also zunächst, diesen Mann ausfindig zu machen, und er erklärte mir, man habe Sheng Ti damals nach Hongkong gebracht. Er gab mir auch eine Adresse, wo man mir eventuell weiterhelfen würde... Eine Adresse in Washington übrigens«, fügte sie treuherzig hinzu. »Nach endlosen Telefongesprächen und zahllosen, hartnäckigen Briefen gab man mir schließlich diese Adresse.«
Der Mann sah von dem Zettel auf und nickte. »Sie haben tatsächlich die einzige Informationsquelle ausfindig gemacht, die über Sheng Tis Aufenthaltsort Bescheid weiß. Niemand sonst hat eine Ahnung, daß sich Sheng Ti hier aufhält.«
»Er ist also tatsächlich hier?«
»Ja«, erwiderte er und reiche ihr lächelnd die Notiz über den Schreibtisch. »Sie müssen verstehen, daß uns Ihre Kenntnis von Sheng Tis Aufenthaltsort äußerst merkwürdig erscheinen mußte. Wie lange werden Sie in Hongkong bleiben?« erkundigte er sich freundlich.
»Eine Woche. Ich werde mir natürlich vor allem die Parks und die Blumenpracht hier ansehen. Ich habe für meine Geranien eine Reihe von Preisen gewonnen und...«
»Ich verstehe«, unterbrach er sie, »aber leider müssen Sie sich den Gedanken, Sheng Ti zu treffen, aus dem Kopf schlagen. Ich hoffe. Sie verstehen... Es geht ihm wirklich gut. Er arbeitet sehr viel, und ich muß Ihnen leider sagen, daß ein Zusammentreffen mit Ihnen für ihn gar nicht von Vorteil wäre.«
»Aber weshalb denn nicht?« rief Mrs. Pollifax enttäuscht aus. »Ich habe eine so weite Reise auf mich genommen, und ich dachte... der gesamte Gartenbauverein dachte...«
»Aber es geht ihm wirklich gut«, versicherte Detwiler. »Vielleicht können Sie ihn später einmal besuchen. In ein paar Jahren vielleicht... Im Augenblick ist er für mich einfach unabkömmlich. Und wenn er seine Englischkenntnisse vervollkommnet hat, brauche ich ihn erst recht. Sie müssen verstehen«, erklärte er freundlich, doch energisch, »ich kann Ihnen diesen Gefallen leider nicht tun. Zumindest nicht im Augenblick...«, fügte er etwas versöhnlicher hinzu.
»Er wollte so gerne auf eine Schule gehen«, seufzte Mrs. Pollifax deprimiert. »Sie schicken ihn doch auf eine Schule? Außerdem wollte er einen Beruf erlernen und...«
»Was diesen Punkt betrifft, können Sie ganz beruhigt sein«, entgegnete Detwiler jovial. »Er lernt fleißig Englisch und auch eine Menge über Jade- und Diamantenverarbeitung. Überzeugen Sie sich selbst«, lächelte er, erhob sich und deutete auf den Arbeitstisch unterhalb des Fensters. »Diese Diamanten entsprechen einem Wert von etwa einhunderttausend Dollar; ein Anblick, der Ihnen vielleicht nie mehr geboten wird.«
Mrs. Pollifax unterdrückte den Wunsch zu widersprechen, denn sie bemerkte Detwilers Ablenkungsmanöver sehr wohl, doch dann besann sie sich eines Besseren, denn schließlich hatte sie ihr Ziel, bis zu Detwiler vorzudringen, erreicht. »Wie heißen Sie übrigens?« erkundigte sie sich mit honigsüßem Lächeln. »Ich nehme an, meinen Namen kennen Sie bereits. Ich heiße Pollifax.«
»Detwiler«, stellte er sich etwas gedankenabwesend vor. »Sehen Sie nur diesen Stein! Fünf Karat, und wie herrlich geschnitten und geschliffen er ist!«
»Verkaufen Sie die Steine in Ihrem Laden?«
»Nein, nein. Wir versenden sie in alle Welt.Diese Steine hier wurden in Antwerpen geschnitten und werden hier in Hongkong geschliffen... In Hongkong werden Diamanten im Wert von Millionen und Abermillionen bearbeitet. Wo diese Steine im einzelnen hingehen, kann ich Ihnen gar nicht genau sagen. Lotus führt bei uns die Bücher und weiß Genaueres... Wir haben Kunden in Ägypten, Saudi-Arabien, Japan...« Er zuckte mit den Schultern und lächelte gewinnend. »Aber erlauben Sie mir, daß ich Ihnen ein kleines Andenken an Hongkong mitgebe. Keinen Diamanten natürlich, aber doch etwas Besonderes. Damit Sie nicht so ganz enttäuscht nach Hause zurückkehren.«
»Oh!«
»Keine Widerrede! Ich bestehe darauf.« Er ging zu den Regalen mit Jade- und Elfenbeinschnitzereien und griff nach einer Jadefigur. Er schüttelte den Kopf, stellte das Figürchen wieder zurück und wählte ein anderes. Er reichte es Mrs. Pollifax. »Das ist Elfenbein«, erklärte er. »Ist es nicht wunderschön?«
»Ein Buddha!« rief Mrs. Pollifax. »Wie hübsch!« Die Figur war etwa 30 Zentimeter groß und - soweit Mrs. Pollifax sehen konnte - ein Meisterwerk der Schnitzereikunst. Der Buddha saß im traditionellen Lotussitz, und vor allem seine Hände waren überaus kunstvoll herausgearbeitet. Auf dem Kopf trug er einen ungewöhnlichen Kopfschmuck, dessen hauchzarte Schnitzereien sich zu einer kunstvollen Haube türmten. Die Falten des Gewandes fielen in schlichten Linien, während das Gesicht eine heitere, friedliche Ruhe ausstrahlte.
»Er gehört Ihnen«, erklärte Detwiler. »Er bedeutet mir beinahe ebensoviel wie Sheng Ti. Betrachten Sie ihn als lein Zeichen der Dankbarkeit für Ihre Besorgnis um .Sheng Ti.«
»Wie reizend! Sie sind geradezu entwaffnend, Mr. Detwiler«, rief Mrs. Pollifax, ohne allerdings auch nur im geringsten entwaffnet zu sein, denn sie überlegte bereits, was sie als nächstes unternehmen würde, um Sheng Ti zu finden.
»Lotus!« rief Mr. Detwiler. »Würden Sie das bitte Mr. Feng bringen. Er soll es für die Dame einpacken.«
Wortlos nahm das Mädchen die Statue entgegen, warf Mrs. Pollifax erneut einen neugierigen Blick zu und verschwand mit dem Buddha.
»Nun ja«, seufzte Mrs. Follifax, »ich sollte Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, Mr. Detwiler. Außerdem gibt es in Hongkong noch so viele Sehenswürdigkeiten, die ich mir keinesfalls entgehen lassen möchte.« Sie seufzte erneut und schüttelte betrübt den Kopf. »Die Damen unseres Gartenbauvereins werden furchtbar enttäuscht sein... , auch wenn er einen Beruf erlernt und sich bei Ihnen wohl fühlt... Sind Sie auch ganz sicher, daß er hier glücklich ist?«
»Aber ganz bestimmt, Mrs. Pollifax; dessen dürfen Sie sicher sein«, erwiderte Detwiler verbindlich.
»Da fällt mir etwas Wichtiges ein, Mr. Detwiler«, sagte Mrs. Pollifax zögernd, denn sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie sei zu leicht abzuweisen. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn die Damen unseres Clubs an Sheng Ti schrieben? Er könnte ja... « - sie überwand ihre Abneigung gegen diesen Ausdruck- »... eine Brieffreundschaft aufbauen.«
»Dagegen läßt sich absolut nichts sagen«, lächelte Detwiler erleichtert. »Eine gute Idee. Auf diese Weise kann er sein Englisch verbessern, und ich bin sicher, daß er sich sehr darüber freuen wird.«
Mrs. Pollifax bemühte sich, einen Ausdruck von Befriedigung in ihre Miene zu zaubern, schüttelte Detwiler überschwenglich die Hand, murmelte, sie sei entzückt, ihn kennengelernt zu haben, entschuldigte sich für die Störung, vergaß auch nicht, sich für das Geschenk zu bedanken und segelte aus dem Zimmer. Sie durchquerte das winzige Büro und schlüpfte durch den Perlvorhang in den dunklen Laden. Beinahe wäre sie mit einem jungen Mann, einem Chinesen in dunklem Anzug und einem Diplomaten-köfferchen in der Hand, zusammengestoßen. Als er hinter Mrs. Pollifax Detwiler erkannte, hellte sich sein Gesicht auf. Er verbeugte sich und eilte dann an Mrs. Pollifax vorbei in das innerste Heiligtum, das Mrs. Pollifax soeben verlassen hatte.
Mr. Feng reichte ihr ein Päckchen, das in weißes Papier gehüllt war. »Ihr Geschenk«, sagte er mit bewegungsloser Miene, und Mrs. Pollifax versuchte vergeblich, hinter seiner Maske eine emotionale Bewegung - Unmut, Ärger oder Mißtrauen - zu erkennen.
»Oh, vielen Dank«, sagte sie und verließ den Laden. Sie war erleichtert, endlich ihre eigene zur Schau getragene Maske fallenlassen zu können, hinter der sie ihren Ärger und ihre Frustration verborgen hatte.
Obwohl sie notgedrungen das Feld vorläufig geräumt hatte, fühlte sie sich keineswegs geschlagen. Ihre ursprüngliche Strategie war zwar gescheitert, doch sie würde eine andere Möglichkeit finden, mit Sheng Ti in Kontakt zu treten. Selbst die Tatsache, daß sie absolut keine Vorstellung hatte, wie sie das bewerkstelligen könnte, konnte sie nicht entmutigen; allenfalls würde sie Sheng Ti vorerst einmal vergessen und einen Bummel durch Hongkong machen.
Während sie in Richtung der Queen's Road Central spazierte, mußte sie feststellen, daß es gar nicht so leicht war, Mr. Feng und Mr. Detwiler zu vergessen. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Feng-Imports zurück. Zum Beispiel war es äußerst merkwürdig gewesen, daß sich Mr. Detwiler eingemischt hatte, nachdem Feng bestritten hatte, Sheng Ti zu kennen. Die Frage, weshalb Detwiler dies getan hatte, weshalb er sie in das Hinterzimmer gebeten und zugegeben hatte, daß er Sheng Ti kannte und Feng damit als einen Lügner entlarvt hatte, erschien ihr sehr interessant und wert, genauer darüber nachzudenken. Welchen Grund mochte Detwiler dafür gehabt haben? Schließlich hatte sich dadurch an der Tatsache, daß man jeden Kontakt mit Sheng Ti verhindern wollte, nichts geändert. Eines war klar: dies alles deutete auf interne Differenzen und Spannungen bei Feng-Imports hin. Da diese Differenzen, welcher Art sie auch sein mochten, nicht ihr Problem waren, kam Mrs. Pollifax zu dem Schluß, daß auch diese Frage vorläufig beiseite geschoben werden konnte.
Dies erschien ihr die beste Lösung - bis sie feststellte, daß ihr jemand folgte...
Zunächst waren die Straßen viel zu belebt gewesen, als daß ihr in der Menschenmenge ein bestimmtes Gesicht aufgefallen wäre, doch dann - nachdem sie in etwas ruhigere Straßen abgebogen und hin und wieder vor einem Schaufenster stehengeblieben war, um chinesische Handwerkskunst und Antiquitäten zu bewundem - fiel ihr auf, daß jedes Mal, wenn sie stehenblieb, auch ein Mann etwa zwanzig Schritte hinter ihr stehenblieb und scheinbar interessiert die Schaufenster betrachtete. Aus purem Zufall war ihr eine abrupte Bewegung hinter ihr aufgefallen, als sie fast an einem Schaufenster vorbeigegangen wäre, dann aber doch stehenblieb und ein paar Schritte zurückging. Als sie dann zum vierten Mal ziemlich abrupt vor einer Auslage haltmachte, um einen verstohlenen Blick auf ihren Verfolger zu werfen, erkannte sie ihn: Es war der junge Chinese mit dem Diplomatenköfferchen, der im Laden auf Detwiler gewartet hatte.
Die Tatsache, daß Detwiler einen Schatten auf sie angesetzt hatte, erfüllte sie mit Genugtuung und Zufriedenheit. »Sehr gut«, dachte sie. >Sie sind beunruhigt und wollen absolut sichergehen, daß ich tatsächlich die arglose Touristin bin, die etwas überspannte Präsidentin eines Blumenzüchtervereins, die sich mit dem Versprechen einer Brieffreundschaft nach Hause schicken läßt.« Sie konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. Natürlich dachte Detwiler nicht im Traum daran, sein Versprechen einzulösen -das war ihr von Anfang an klargewesen... Und mit einem Male wurde ihr auch noch etwas anderes klar: Sheng Ti wurde gefangengehalten, und sein Gefängnis hieß >Feng-Imports<.
Als Mrs. Pollifax schließlich die Queen's Road Central erreichte, hatte sie sich geschworen, Feng-Imports nicht aus den Augen zu lassen - und wenn sie sich als chinesische Bäuerin verkleiden mußte, wie sie es in Turfan schon einmal getan hatte... Sie lächelte bei der Erinnerung an dieses Bravourstück. Zunächst jedoch durfte sie ihre Rolle als Touristin nicht vernachlässigen. Sie blieb stehen, zog den Stadtplan von Hongkong zu Rate und schlenderte dann die Queen's Road hinunter - entschlossen, ihren Verfolger so gründlich und so schnell wie möglich zu erschöpfen.
Stunden später war sie selbst am Rande der völligen Erschöpfung. Kilometer um Kilometer war sie zäh und verbissen kreuz und quer durch Hongkong marschiert, hatte für Cyrus eine seidene Krawatte gekauft, die sie genausogut zu Hause hätte kaufen können, hatte den Botanischen Garten und schließlich den Zoo von Hongkong bis in ihre letzten verschwiegenen Winkel durchstreift- alles um ihren Schatten abzuschütteln, doch der schien förmlich an ihren Fersen zu kleben. Am Ende ihres ausgedehnten Rundgangs durch den Zoo hatte sie im Vogelhaus einige Details über die Lebensgewohnheiten von Seetauchern, Reihern, Schwätzern und Gabelweihen, von denen sie annahm, sie würden Cyrus interessieren, in ihr Notizbuch gekritzelt. Dann war sie zur Peak Tramway gewankt, war glücklich, doch mit schmerzenden Füßen in die Gipfelbahn geklettert und hatte sich ganz dem Schauspiel hingegeben, das sich ihr bot, als die Bahn sie immer höher und höher über die Stadt emportrug, bis sie schließlich den Gipfel des Victoria Peak erreicht hatte.
Es war mittlerweile kurz vor sechs Uhr, und Mrs. Pollifax ließ sich auf einer Parkbank, 600 Meter über der Stadt, nieder und genoß den Blick auf Hongkong. Von hier oben erkannte man erst, wie unglaublich schmal der Streifen Land zwischen dem Berg und dem Meer war, auf dem sich die Häuser der Stadt drängten. Fast bis zum Horizont spannten sich die leuchtendblauen Wasser des Hafenbeckens, und die Fähren, die die schimmernde Wasserfläche durchkreuzten, sahen aus wie Wasserläufer auf einem kleinen Tümpel. Mrs. Pollifax befreite ihre schmerzenden Füße von den engen Schuhen und bewegte mit einem genüßlichen Seufzen ihre Zehen. Sie lehnte sich zurück, nahm ihren Hut ab und bot ihr erhitztes Gesicht der kühlen Brise dar, die vom Meer her wehte. Verstohlen blickte sie nach rechts und erkannte den Mann mit dem Diplomaten-köfferchen, der sich ebenfalls auf eine Bank sinken ließ. Nicht ohne Groll gestand sie sich, daß er sie offenbar besiegt hatte, doch ein zweiter flüchtiger Blick belehrte sie eines Besseren: Auch er beugte sich nach vorn, zog seine Schuhe aus und lehnte sich erschöpft wieder zurück. Mit einem Mal erschienen ihr ihre schmerzenden Füße nur mehr als ein kleines Opfer, das zu bringen sich gelohnt hatte, und der Hunger, den sie seit Stunden verspürte, war plötzlich gar nicht mehr so quälend. Zufrieden schloß sie die Augen, und widmete sich genießerisch der Vorstellung von einem köstlichen Dinner und einem langen, heißen Bad. Dann würde sie ihre Jogaübungen machen und konzentriert und in Ruhe über ihre nächsten Schritte nachdenken.
Sie öffnete träge die Augen, und ihr Blick fiel auf die Pakete, die sie den ganzen Nachmittag durch Hongkong geschleppt hatte: Cyrus' Krawatte und der Buddha aus Elfenbein. Einer plötzlichen Laune folgend öffnete sie das kleinere der Päckchen und hielt die Krawatte in das Licht der Sonne. Ob Cyrus dieser Blauton gefallen würde? Sie hegte mittlerweile ihre Zweifel. Sie legte die seidene Krawatte beiseite und griff nach dem Buddha, um die kunstvollen Elfenbeinschnitzerei noch einmal in Ruhe zu bewundern.
Sie streifte das Packpapier von der Statue und entdeckte zu ihrer Verblüffung ein kleines Stück Reispapier, das über eine Hand des Buddhas geklebt war. Sie riß das Papier ab, und in dem Augenblick, als sie es achtlos in den Wind werfen wollte, fiel ihr auf, daß das Papier mit winzigen Buchstaben beschrieben war. Sie hielt das Stück Reispapier näher an ihre Augen und las:
»Wenn Sie Sheng Ti sehen wollen, finden Sie ihn in einer Hütte im Hinterhof von Nummer 40, Dragon Alley... Nach zehn Uhr...«
Etwas verunsichert und ziemlich verwirrt schlüpfte Mrs. Pollifax in ihre Schuhe, und ohne einen weiteren Blick an die Schönheit der Landschaft zu verschwenden, strebte sie der Station der Gipfelbahn zu und nahm den nächsten Waggon zurück in die Stadt.
»Wie?« fragte sie sich ratlos. Und dann: »Wer?« Und schließlich: »Bei welcher Gelegenheit?«
Während der schwindelerregend steilen Fahrt zurück in die Stadt schweifte ihr Blick ziellos über die grünen Wipfel der Bäume und die Dächer der Villen, die sich unter ihr an die Flanken des Berges schmiegten. Ihre Gedanken waren bei Feng-Imports und versuchten, den Schauplatz und die Geschehnisse dort zu rekonstruieren. Mr. Detwiler hatte ihr den Buddha wieder aus der Hand genommen und ihn direkt vor ihren Augen Lotus gegeben. Es erschien ihr äußerst unwahrscheinlich, daß die Nachricht von ihm stammte; vor allem weil er sich geweigert hatte, ihr ein Treffen mit Sheng Ti zu ermöglichen. »Würden Sie das bitte Mr. Feng bringen. Er soll es für die Dame einpacken«, hatte Detwiler zu dem Mädchen gesagt, doch Mr. Feng hatte wohl kaum den Zettel auf die Hand des Buddhas geklebt, denn er hatte ihr gegenüber nicht einmal die Existenz Sheng Tis zugegeben.
Die Bahn fuhr in die Station ein, und Mrs. Pollifax überquerte die Garden Road und strebte hinkend dem Hong-kong-Hilton zu. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß allein das Mädchen den Zettel aus Reispapier an den Buddha geklebt haben konnte. Dies setzte jedoch voraus, daß sie die Unterhaltung mit Detwiler belauscht und jedes Wort, das im Hinterzimmer gesagt wurde, verstanden hatte.
An verschlossenen Türen zu lauschen schien bei Feng-Imports eine allgemein verbreitete Unart zu sein. Zuerst Detwiler und dann auch das Mädchen... Ob wohl Mr. Feng bei ihrem Gespräch mit Detwiler in irgendeiner Form ebenfalls mitgehört hatte?
Als Mrs. Pollifax endlich den in den Garden Road gelegenen Eingang zum Hilton erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal nach ihrem Verfolger um. Der Mann mit dem Diplomatenkoffer war noch immer hinter ihr, und nur mit Mühe unterdrückte sie den Wunsch, ihm zum Abschied zuzuwinken und ihm zu sagen, er könne sich jetzt in Ruhe seinem Abendessen widmen. Wie unendlich schade, daß sie sich diese freundschaftliche und verbindende Geste nicht erlauben durfte - schließlich hatten sie ja gemeinsam den ganzen Nachmittag verbracht, und seine Füße taten ihm sicherlich ebenso weh, wie ihr die ihren -, denn dies würde ihn sicherlich zutiefst frustrieren und möglicherweise auf den Gedanken bringen, daß sie doch nicht die arglose Touristin war, als die sie sich ausgegeben hatte. Sie nahm sich vor, um zehn Uhr, wenn sie das Hotel erneut verlassen würde, um Sheng Ti zu treffen, besonders vorsichtig zu sein. Er folgte ihr bis ins Untergeschoß des Hotels, durch die unterirdischen Ladenstraßen, in denen sich eine Boutique an die andere reihte und wo alles zu finden war, was der Tourist in Hongkong zu kaufen begehrt: Kameras, Uhren, Schmuck, Edelsteine, Teppiche und Kunstgegenstände. Obwohl Mrs. Pollifax nun ein beachtliches Tempo vorlegte, um endlich in ihr Zimmer zu kommen und ihre schmerzenden Füße zu pflegen, bemerkte sie im Vorbeigehen im Schaufenster einer Boutique eine Reihe von Buddhastatuen. Eine dieser Buddhafiguren war der, die Detwiler ihr geschenkt hatte, ziemlich ähnlich, und Mrs. Pollifax blieb stehen, um einen Blick auf die Statue und das Preisschild zu werfen. Sie war zwar ebenfalls aus Elfenbein, doch die Schnitzereien waren bei weitem nicht so kunstvoll und perfekt wie bei ihrem Buddha. Und der Preis - ungläubig trat sie noch einen Schritt näher und rechnete in Gedanken ein zweites Mal nach... Ihr stockte der Atem, denn umgerechnet kostete der Buddha im Fenster beinahe siebenhundert Dollar.
»Ich brauche schleunigst ein heißes Bad«, dachte sie voller Unbehagen, »denn allmählich geht mir der Fall an die Nieren. Detwiler, den Carstairs im Verdacht hat, ein Überläufer zu sein, schenkt mir einen Buddha, der ein paar hundert Dollar wert ist... Jedermann bei Feng-Imports versucht, ein Treffen mit Sheng Ti zu verhindern, und doch wird mir seine Adresse auf mysteriöse Weise zugespielt... Ich werde beschattet und weiß nicht weshalb... Das Geschenk kann ebensogut als Bestechung gedacht sein, und die Nachricht auf dem Reispapier könnte eine Falle sein...«
Mit ihrem Verfolger im Schlepptau stieg Mrs. Pollifax in den Aufzug, der sie nach oben, in die Hotelhalle beförderte. An der Rezeption holte sie ihren Zimmerschlüssel und wankte zurück zum Fahrstuhl. Ehe sich die Aufzugtür schloß, galt ihr letzter Blick ihrem ständigen Begleiter, der sich soeben erschöpft in einen der weichen und bequemen Sessel in der Lobby fallen ließ und dankbar die Beine von sich streckte.
Mrs. Pollifax genügten zweieinhalb Stunden, um wieder völlig auf dem Damm zu sein. Sie hatte sich - wie es einer Touristin zustand, die trotz eines anstrengenden Flugs den ganzen Tag durch Hongkong gebummelt war - das Essen auf das Zimmer bringen lassen, und nach einem erfrischenden Bad war sie bereit, sich in ihr nächtliches Abenteuer zu stürzen. Für den Abend verzichtete sie auf ihren Rosengarten und nahm mit einem dunklen Kopftuch vorlieb, das zu ihrer schwarzen Hose und der ausgeschnittenen Bluse paßte, die sie für den Ausflug angezogen hatte. Sie steckte den Stadtplan und eine Taschenlampe in ihre Handtasche, dann fuhr sie mit dem Aufzug bis in den zweiten Stock. Von dort nahm sie die Treppe, die in die Hotelhalle hinabführte. Da das Untergeschoß nur mit dem Aufzug zu erreichen war, blieb ihr nichts anderes übrig, als ein Stück durch die Halle zu gehen. Sie erreichte das Untergeschoß und schlenderte durch die Boutiquen, die noch immer geöffnet waren. Eine Weile blieb sie stehen und sah amüsiert zwei kichernden jungen Chinesinnen zu, die an einem elektronischen Meßgerät versuchten, ihren Blutdruck zu messen. Als sie schließlich sicher war, daß sie nicht verfolgt wurde, ging sie hinaus auf die Garden Road. Sie ging einige Blocks zu Fuß, ehe sie ein Taxi heranwinkte, das sie durch die von roten, goldenen und grellweißen Neonreklamen erhellten Straßen von Hongkong chauffierte.
Es war bereits zehn nach zehn, als sie über die Bank stolperte, auf der sie am Morgen gesessen hatte. Die Dragon Alley war beklemmend dunkel; nicht einmal der kleinste Streifen Licht fiel durch die verriegelten Fenster. Am Tor zum Hinterhof der Hausnummer 40 ließ sie kurz ihre Taschenlampe aufblitzen. Behutsam öffnete sie das Tor und schob sich durch den schmalen Spalt. Im Hof war es heller als auf der Straße. Aus dem Rückgebäude des angrenzenden Hauses, offenbar ein Nachtclub oder ähnliches, strömten Licht und laute Musik in den Hof.
Mrs. Pollifax konnte die Umrisse einer kleinen und niedrigen Hütte erkennen, die gegen die Seitenwand des Nachbargebäudes gebaut war. Auf einer Bank vor der Hütte entdeckte sie die schemenhafte, zierliche Gestalt eines Menschen. Mrs. Pollifax schlich sich vorsichtig näher.
»Oh!« Mit einem erstickten Schrei sprang die Gestalt auf. Es war Lotus. In dem matten diffusen Licht leuchtete ihr Gesicht wie durchscheinendes Porzellan.
»Also doch Sie!« flüsterte Mrs. Pollifax.
»Kommen Sie!« flüsterte Lotus zurück. »Hier sind wir nicht sicher! Scht... ganz leise, bitte.«
Sie folgte der zierlichen Gestalt, die in den dunklen Schatten der Mauer tauchte und auf die Rückfront des Gebäudes zustrebte, aus dem die Musik drang. Mrs. Pollifax hörte, wie vor ihr eine Tür geöffnet wurde, dann zog das Mädchen sie durch einen schmalen Korridor und öffnete eine Tür auf der linken Seite des Gangs. Sie traten in einen winzigen Raum, der nur von einer müde dahinglimmenden Öllampe auf einem windschiefen Tisch erleuchtet wurde. Am Tisch saß ein junger Mann, der nervös aufsprang, als er bemerkte, daß Lotus nicht alleine gekommen war. Es war Sheng Ti.
»Xiansbeng!« rief er aus. »Ich wollte es nicht glauben!«
Lachend ergriff Mrs. Pollifax seine ausgestreckte Hand. »Doch, doch - ich bin es, Sheng Ti! Eine gelungene Überraschung, nicht wahr? Wie schön, dich wiederzusehen!« Doch noch während sie ihn begrüßte, stellte sie bestürzt fest, wie sehr er sich verändert hatte. Sein hübsches, in ihrer Erinnerung so lebhaftes und strahlendes Gesicht war eingefallen und hager, und in seinen Augen lagen Trauer und Verzweiflung. »Und nun sag mir, Sheng Ti, weshalb will man verhindern, daß wir uns treffen?«
Sheng Ti antwortete mit einem unverständlichen Schwall chinesischer Worte. Hilfesuchend wandte sich Mrs. Pollifax an Lotus.
Das Mädchen legte ihre Hand beruhigend auf Sheng Tis Arm. »Setzen wir uns doch«, sagte sie mit einem Blick auf die drei Stühle, die um den kleinen Tisch gruppiert waren.
Mrs. Pollifax sah sich in dem winzigen Raum um. Das einzige Fenster war mit einer Decke verhangen, und das trübe Licht der Öllampe warf gespenstische Schatten an die Wände. Mrs. Pollifax konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, an einer verschwörerischen Zusammenkunft in einer Höhle in den Bergen Chinas teilzunehmen. Sie ließ sich auf einen der Stühle sinken und wiederholte die Frage: »Weshalb will man verhindern, daß wir uns treffen?«
Sheng Ti hielt erschreckt den Atem an. »Wenn die wüßten, daß wir uns hier treffen, dann... «
»Dann?«
»Dann würden sie uns umbringen!«
Mrs. Pollifax wandte sich erstaunt an Lotus. »Glauben Sie das auch?«
»Ja«, erwiderte das Mädchen, ohne zu zögern. »In der Dragon Alley 31 stimmt etwas nicht. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten... nichts Ernsthaftes, bis ich mich öfters mit Sheng Ti unterhielt und wir Freunde wurden...«
»Wir lieben uns«, erklärte Sheng Ti.
Lotus wurde rot und lächelte schüchtern. »Ja - wir lieben uns. Es ist wunderschön, aber... Aber wir müssen uns heimlich treffen. Und jetzt weiß ich, was sie von ihm verlangen.« Sie schüttelte verwirrt den Kopf.
»Was verlangen sie von ihm?« fragte Mrs. Pollifax. »Sagen Sie es mir, bitte. Es ist sehr wichtig!«
»Zuerst alles gut«, begann Sheng Ti stockend! »Ich kam hierher... vor Lampionfest...«
»Im September«, erklärte Lotus.
»Ja. Und alles sehr gut! Arbeit in Laden. Aber dann kurz vor Neujahr...« Er schüttelte erregt den Kopf. »Alles anders. Mr. Feng und Mr. Detwiler viel Streit. Ich höre sie - durch Tür. Und dann neue Arbeit für mich.« Offensichtlich frustriert von seinem Englisch wandte sich Sheng Ti an Lotus und sprach in Chinesisch auf sie ein.
»Er sagt, daß es ihm in Turfan nichts ausgemacht hat, zu stehlen«, übersetzte das Mädchen, »denn in China war das für ihn die einzige Möglichkeit, nicht zu verhungern. Aber er hatte geglaubt, hier in Hongkong könnte er zur Schule gehen und einen Beruf erlernen.«
Mrs. Pollifax nickte. »Ja - sicherlich. Aber was ist das für eine Arbeit, die sie von ihm verlangen?«
»Stehlen!« erwiderte Lotus. »Zwei Monate lang hat ihm ein Mann namens Hoong beigebracht, wie man als Taschendieb arbeitet. Sie schicken ihn als Taschendieb zum Arbeiten.«
»Was?!« rief Mrs. Pollifax entsetzt.
Sheng Ti nickte bekräftigend. »Alles schlimm jetzt. Sehr schlimm. Mr. Detwiler schlägt mich. Ist sehr böse. Mr. Feng macht Laden jetzt - aber auch sehr böse. Mr. Detwiler nimmt Heroin«, berichtet Sheng Ti aufgeregt. »Ich einmal gesehen - lange Nadel und weißes Pulver. Dann schlägt mich wieder, wenn ich gesehen.«
»Mein Gott!« flüsterte Mrs. Pollifax voller Anteilnahme.
»Ja.«
»Und was mußt du stehlen?« erkundigte sie sich.
»Pässe«, antwortete Sheng Ti.
Dies war eine Überraschung. »Pässe?« fragte sie erstaunt. »Kein Geld?« Sheng Ti schüttelte den Kopf. »Welche Pässe?« erkundigte sich Mrs. Pollifax und versuchte, eine Erklärung für das, was sie soeben gehört hatte, zu finden. »Wie viele? Und von wem?«
Lotus antwortete für Sheng Ti. »Er hat mir nicht alles erzählt, aber soweit ich weiß, schicken sie ihn in einem sehr eleganten Anzug in das Regierungsviertel oder manchmal auch zum Flughafen. Zwei der Pässe, die er gestohlen hat, habe ich gesehen. Einer war bulgarisch und einer kanadisch.« Sheng Ti sagte etwas auf chinesisch zu ihr, und sie nickte. »Er sagt, bisher habe er elf Pässe für Mr. Detwiler gestohlen.«
»Elf«, wiederholte Mrs. Pollifax und legte ratlos die Stirn in Falten.
»Wenn Sheng Ti und ich nicht Freunde geworden wären, und er mir nicht alles erzählt hätte, hätte ich gar nichts bemerkt«, sagte Lotus. »Bei Feng-Imports ist alles sehr undurchsichtig, und man hält alles von mir fern. Ich schreibe nur die Rechnungen, erledige die Geschäftspost und wische im Laden Staub. Aber ich habe den Streit, die Auseinandersetzungen zwischen Mr. Feng und Mr. Detwiler gehört; ihre Stimmen zumindest und...« Sie schüttelte den Kopf. »Etwas ist nicht in Ordnung bei Feng-Imports. Sheng Ti würde am liebsten weglaufen, aber sie haben ihm alle seine Papiere abgenommen. Und ohne Papiere kommt er nicht weit.«
Mrs. Pollifax beugte sich über den Tisch, und ihre Stimme klang heiser. »Er soll nicht weglaufen. Sagen Sie ihm, er soll bitte bleiben und uns helfen. Die Leute, die ihn zu Feng-Imports geschickt haben, wissen, daß dort etwas nicht in Ordnung ist. Deshalb binich hier.«
»Diese Leute werden dir helfen«, sagte sie zu Sheng Ti gewandt. »Wenn du ihnen hilfst, werden sie auch dir helfen.« Die Worte Bishops fielen ihr wieder ein, der gesagt hatte: »Wir sind bereit, ihm die Einreise in die Vereinigten Staaten anzubieten; allerdings nur, wenn er eine angemessene Gegenleistung bringt. Er muß es sich verdienen. Seine Informationen müssen ausreichen, um...« Sie wagte im Augenblick nicht, davon zu sprechen, dennnoch genügten seine Aussagen nicht, das Problem >Feng-Imports< zu lösen. »Könntest du mehr herausfinden, Sheng Ti? Könntest du Mr. Detwiler beschatten? Feststellen, wohin er geht und wen er trifft? Wenn du das herausfindest, verspreche ich dir, daß du deine Papiere zurückbekommst - und eine andere Arbeit und eine Ausbildung... Man hat mir gesagt, das kann ich dir versprechen. Aber zunächst müssen wir herausbekommen, was bei Feng-Imports los ist. Und das kannst nur du allein herausfinden.«
Sheng Ti runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Seine Augen suchten Lotus' Blick. »Ich kann schon nicht mehr klar denken«, sagte er und lachte bitter. »Ich alles tun, alles - will weg von dort! Sie mir geben neue Hoffnung.« Er wechselte mit Lotus ein paar Worte in Chinesisch.
»Er ist dazu bereit«, sagte das Mädchen. »Und ich ebenfalls.«
»Sehr gut. Ich glaube nicht, daß sie gegen mich einen Verdacht hegen - obwohl oder gerade weil sie mich heute morgen beschatten ließen.« :
Noch im selben Augenblick bereute sie, daß sie davon gesprochen hatte, denn Sheng Ti sprang erregt auf. Panik stand in seinen Augen. »Sie wurden verfolgt? Hierher?!«
»Nein, nein«, beruhigte ihn Mrs. Pollifax. »Heute morgen, als ich den Laden verließ. Hierher ist mir niemand gefolgt -dessen bin ich mir ganz sicher.«
»Aber sie haben vielleicht... Ich muß weg!« Er versuchte, der Angst Herr zu werden, die ihn ergriffen hatte. »Oh, bitte! Was machen wir jetzt?« rief er verstört.
»Setz dich bitte wieder hin, Sheng Ti«, versuchte Mrs. Pollifax ihn zu beruhigen.
»Nein! Lassen Sie ihn gehen«, mischte sich Lotus ein. »Geh' wieder in die Nummer 40 zurück, Sheng. Du hast jetzt zwei Nächte nicht mehr geschlafen. Ich erzähle dir später, was sie gesagt hat.«
Sheng Ti gelang es, ein mattes Lächeln zustande zu bringen, doch er stand auf, um zu gehen. Unter der Tür drehte er sich noch einmal um und warf Mrs. Pollifax einen flehenden Blick zu, dann war er verschwunden.
»Sie haben keine Angst vor ihnen?« wandte sich Mrs. Pollifax nach einer Weile wieder an Lotus.
»Nein. Aber ich habe Angst um Sheng Ti«, antwortete das Mädchen. »Er fürchtet, man könnte ihn wieder nach Rotchina zurückschicken. Dort wird er früher oder später wieder in einem Arbeitslager landen. Ohne Papiere hat er keine Chance!«
Jemand klopfte an der Tür, und Mrs. Pollifax - deren Nerven von der bedrückenden Atmosphäre in dem engen Zimmerchen offenbar ebenso überreizt waren, wie die der beiden jungen Leute - sprang erschreckt auf und starrte gebannt zur Tür. Das Mädchen erhob sich, öffnete die Tür einen winzigen Spalt und redete in Chinesisch auf den späten Gast, oder wer immer dort draußen im Korridor stehen mochte, ein. Lotus schloß die Tür und kehrte an den Tisch zurück. »Ich teile das Zimmer mit zwei Mädchen, und ich mußte sie bestechen, damit sie heute abend ausgingen. Sie sind zurück und wollen nun schlafen gehen. Sie müssen jetzt gehen.« Besorgt und unruhig ging sie auf und ab. »Aber was soll ich nur Sheng Ti sagen?«
Mrs. Pollifax kramte ihren Notizblock aus der Handtasche, riß ein Blatt heraus und schrieb etwas darauf. »Hier ist mein Name und die Adresse des Hotels, in dem ich zu erreichen bin. Das hier ist meine Zimmernummer. Am besten. Sie merken es sich - Sheng Ti ebenfalls - und verbrennen den Zettel dann.« Sie erhob sich und blieb zögernd stehen. »Wir müssen eine andere Möglichkeit finden, uns zu treffen. Könnten Sie mich morgen abend um zehn Uhr im Hotel anrufen?«
Lotus nickte. »Morgen abend um zehn.« Sie schien etwas beruhigt. Die Angst war aus ihren Augen gewichen, Und ihr Gesicht war nun wieder gefaßt und anmutig wie am Vormittag. »Ich bin so froh, daß Sie hier sind«, sagte sie schüchtern. »Wir waren so furchtbar alleine. Doch, Gott sei Dank, ist das nun vorbei.« Die Hand bereits auf der Türklinke, wandte sie sich noch einmal um und fügte hinzu: »Sie werden sehen, er wird alles tun, was in seiner Macht steht.« Sie schob den Zettel in ihren Ärmel, ehe sie die Tür einen Spalt öffnete und vorsichtig in den Korridor hinausspähte. »Kommen Sie«, flüsterte sie. »Sie können durch die Küche nach draußen gelangen. Ich zeige Ihnen den Weg.«
Als Mrs. Pollifax endlich wieder in der dunklen Straße stand, erlaubte sie sich zunächst einmal einen tiefen Seufzer der Erleichterung. Sie war froh, diesem winzigen Raum, der bis zum letzten Winkel von Sheng Tis Angst und Lotus' Sorge um ihren Liebsten erfüllt war, entronnen zu sein. Die beiden jungen Leute taten ihr aufrichtig leid, und ihr war klar, daß auf Sheng Ti noch mehr Gefahren warteten, ehe er dem Einfluß von Feng-Imports für immer entkommen würde. Am liebsten hätte sie Sheng Ti bei der Hand genommen und ihn in die nächste Maschine nach San Francisco gesetzt, doch dem stand - wie sie sehr wohl wußte - die Bürokratie der amerikanischen Behörden im Wege: Ein Flüchtling ohne gültige Einreisepapiere hatte keine Chance, in das Land gelassen zu werden.
Ihr Gartenbauclub würde Sheng Ti - und Lotus ebenfalls, sollte ihre Beziehung weiter bestehen - massiv zur Seite stehen müssen, überlegte sie entschlossen, während sie die engen Gassen hinabeilte. Bis dahin mußte ihre ganze Sorge der physischen Unversehrtheit Sheng Tis gelten... Es schien ihr durchaus möglich, daß Mr. Detwilers Sucht nach Heroin die Erklärung für seine nachlässigen Berichte an Carstairs' Ministerium war, doch die Sache mit den elf gestohlenen Pässen wollte ihr gar nicht gefallen. Sie schüttelte mißbilligend den Kopf. Nein - diese Geschichte gefiel ihr ganz und gar nicht.
Sie winkte ein Taxi heran und ließ sich zum Hotel zurückfahren. Diesmal nahm sie den Haupteingang und ohne sich von etwaigen Beschattern beeindrucken zu lassen, strebte sie direkt auf den Lift zu und fuhr nach oben. In Zimmer 614 angelangt, warf sie ihre Handtasche auf das Bett und griff nach dem Telefon. Über eine Deckadresse in Baltimore schickte sie ein Telegramm an Carstairs: >FREUNDSCHAFT ERNEUERT, WETTER REGNERISCH, EMILY POLLIFAX.< Sie legte den Hörer auf die Gabel und warf einen Blick auf ihren Reisewek-ker. Es war kurz nach halb zwölf. Es war ein langer Tag gewesen. Sie erhob sich müde, ging zu ihrem Koffer und öffnete ihn.
Sie nahm ihren Schlafanzug heraus und suchte unter der Wäsche nach ihrer Nachtcreme, als ein lautes Poltern an der Tür sie zusammenschrecken ließ.
Sie legte den Pyjama beiseite und ging an die Tür. »Wer ist da?« rief sie.
Keine Antwort.
Behutsam schob Mrs. Pollifax den Riegel zurück und drückte die Klinke nach unten. Die Tür flog auf, und der Mann, der Mrs. Pollifax in die Arme fiel, hätte sie beinahe umgerissen. Sein Gesicht war blutüberströmt. Mrs. Pollifax riß sich instinktiv los und sprang einen Schritt zurück. Der Mann stürzte zu Boden und blieb regungslos liegen.
Entsetzt starrte Mrs. Pollifax auf den Mann zu ihren Füßen. Er war Mr. Hitchens.
Mrs. Pollifax' erste Reaktion war schiere Verwunderung, denn normalerweise rechnet man nicht damit, eine flüchtige Flugzeugbekanntschaft, mit der man nichts weiter als ein angenehmes Gespräch und ein gemeinsames Frühstück verbracht hatte, wiederzusehen -und schon gar nicht so spät in der Nacht und blutüberströmt wie Mr. Hitchens. Doch die konkreten Tatsachen waren nicht zu übersehen - es war Mr. Hitchens, der zu ihren Füßen lag -, und Mrs. Pollifax schob die Tür zu, kniete neben ihm nieder und untersuchte behutsam Mr. Hitchens' Schädel unter dem blutverklebten Haar.
Sie zuckte zusammen, als sie die breite Platzwunde entdeckte, aus der das Blut sickerte. Sie rannte ins Badezimmer und kehrte mit einem trockenen und einem nassen Handtuch zurück. Während sie das trockene Handtuch gegen die Wunde preßte, wischte sie mit dem feuchten Mr. Hitchens das Blut aus dem Gesicht.
Seine Augen waren geschlossen, doch seine Lippen begannen, sich zu bewegen. »Etwas...«, flüsterte er undeutlich.
Sie beugte sich näher über ihn.
»Etwas stimmt nicht. Nicht in Ordnung...«, murmelte er. »Wie... wie...?«
»Sprechen Sie jetzt nicht«, sagte Mrs. Pollifax leise. »Ich hole einen Arzt.«
»Nein!« keuchte er. »Keinen Arzt!« Er versuchte sich aufzurichten und öffnete dabei die Augen. »Zu gefährlich...«, flüsterte er. »Sind hinter mir her. Wie... wie...? Muß... wie... finden... «
Erschöpft schloß er die Augen und sackte erneut ohnmächtig in ihre Arme zurück. Unschlüssig blickte Mrs. Pollifax in das Gesicht des Bewußtlosen und versuchte abzuwägen, was im Augenblick wichtiger war: Die ärztliehe Versorgung der Wunde oder seine Angst vor Verfolgern. Die Platzwunde an sich war sicherlich nicht lebensgefährlich, doch es bestand die Gefahr einer Infektion, wenn die Wunde nicht fachmännisch versorgt wurde. Andererseits bewies allein schon sein Zustand und seine Gegenwart, daß seine Panik nicht unbegründet war; denn weshalb sonst hätte er bei ihr Zuflucht gesucht - im Hongkong-Hilton, wo für die Touristen jede nur erdenkliche Annehmlichkeit und natürlich auch ärztliche Hilfe zur Verfügung stand.
Offenbar war er in seinem Zimmer niedergeschlagen worden, denn sehr viel weiter wäre er in seinem Zustand sicherlich nicht gekommen, ohne einen mittleren Volksauflauf zu verursachen. »Zu gefährlich... Sind hinter mir her!« hatte er gesagt! Konnte dies bedeuten, daß...?
Sie hatte die Tür zwar geschlossen, aber sie hatte sie nicht zugesperrt! Sie sprang auf und warf den Riegel vor. Im selben Augenblick, als der Riegel mit einem metallischen Klicken ins Schloß sprang, hörte Mrs. Pollifax, daß sich draußen vor der Tür jemand bewegte. Sie wich erschreckt einen Schritt zurück, und ihr Blick fiel auf die Türklinke, die sich langsam nach unten bewegte. Starr vor Schreck hörte sie, wie Metall leise Metall berührte.
Mrs. Pollifax unterdrückte einen Angstschrei. »Gleich muß ich schreien!« flüsterte sie lautlos und starrte mit aufgerissenen Augen auf die Klinke, die sich auf und ab bewegte. >Schreien... schreien... schreien...<
Das Schloß schnappte, und die Tür ging langsam auf. Herein trat Robin Burke-Jones. »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte er grinsend und schloß die Tür hinter sich. »Ich habe dich vorhin in der Halle gesehen und dachte...« Sein Blick fiel auf den Mann zu seinen Füßen. »Großer Gott!« rief er und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Hast du wieder Karate trainiert? Wer zum Henker... «
Noch immer um Fassung ringend stotterte Mrs. Pollifax: »K-K-kein Karate. D-d-das ist Mr. Hi-Hi-Hitchens. Er fiel mir soeben mit der Tür ins Haus, die Angst vor irgendwelchen Verfolgern im Nacken. Und dann kamst du durch die Tür!«
Robin pfiff leise durch die Zähne. »Und du dachtest... Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, aber - ob du's glaubst oder nicht - hinter mir war ebenfalls jemand her, und es blieb mir einfach nicht genügend Zeit, in aler Form anzuklopfen und zu warten.« Interessiert betrachtete er Mr. Hitchens und brummte: »Ich denke, der Bursche braucht einen Arzt.«
»Aber er hat mich inständig gebeten, keinen Arzt zu holen.«
»Du kennst ihn natürlich?«
»Nur flüchtig«, erwiderte sie. »Wir saßen im Flugzeug nebeneinander und hatten ein sehr interessantes Gespräch über parapsychologische Phänomene. Er ist übrigens Psychologe und kam nach Hongkong mit dem Auftrag, eine vermißte Person aufzuspüren. Wir frühstückten zusammen - das war heute morgen, obwohl es mir bereits wie eine Ewigkeit vorkommt -, aber ich habe nicht im Traum damit gerechnet, ihn wiederzusehen.«
»Und nun liegt er hier in deinem Zimmer.«
»Das läßt sich wohl kaum abstreiten - ja.«
Robin beugte sich über Mr. Hitchens. »Eine scheußliche Wunde... Da hat jemand ganze Arbeit geleistet. Aber wenn er noch gesprochen hat, dann kann es nicht so schlimm sein. Was hat er gesagt, weshalb er so...äh... Knall auf Fall bei dir auftauchte?«
Mrs. Pollifax schloß die Augen und dachte angestrengt nach. »Zunächst murmelte er: >Etwas stimmt nicht... Nicht in Ordnung... Wie... wie?< und dann, als ich sagte, ich werde einen Arzt rufen, flüsterte er: >Nein! Keinen Arzt! Zu gefährlich... Sind hinter mir her... Wie... wie... ? Muß... wie... finden.<«
Robin richtete sich abrupt auf und starrte sie verblüfft an. »Würdest du das noch mal wiederholen? Wort für Wort.«
Sie wiederholte die Worte Mr. Hitchens'. »Was hast du?« fragte sie verständnislos.
Robins Augen waren schmal geworden. »Du sagtest, er ist in Hongkong, um eine vermißte Person zu finden?«
Sie nickte. »Ja. Weshalb fragst du?«
Ohne auf ihre Frage einzugehen, sagte er: »Ich kenne einen Arzt, der keine überflüssigen Fragen stellt. Außerdem würde ich ganz gerne hören, was dieser Mr. Hitchens noch zu erzählen hat, wenn er wieder bei Bewußtsein ist.« Er ging zum Telefon, wählte eine Nummer und wartete. »Es ist schon verrückt«, brummte er kopfschüttelnd und warf ihr ein jungenhaftes Lächeln zu, »denn eigentlich wollte ich dir nur mal schnell hallo sagen und ein bißchen über alte Zeiten plaudern. Erinnerst du dich, wie du damals diesem Hafez das Leben gerettet und die Männer des Scheichs mit deinen Karatekünsten auf die Bretter geschickt hast? Und... Hallo? Chiang?« rief er in den Hörer. »Hier ist Drei-null-eins. Ich bin im Hotel. Können Sie unbemerkt in Zimmer 614 kommen? Zimmer 614 - ja. Ein Mann -vermutlich mit einer Gehirnerschütterung. Im Augenblick bewußtlos... Platzwunde am Kopf. Muß wahrscheinlich genäht werden. Richtig - ja. In Ordnung.« Er legte auf. »Er ist in fünf Minuten hier. Als ich deinen Mr. Hitchens liegen sah, dachte ich zuerst, es sei Cyrus. Aber du hast uns geschrieben, daß Cyrus einsneunzig groß ist, und der gute Mann hier kann sich so lang machen, wie er will - einsneunzig wird der nie.«
»Cyrus ist in Vermont«, erklärte sie. »Eine seiner or-nithologischen Exkursionen... Ich mußte etwas übereilt aufbrechen und... «
»Du bist also doch im Auftrag von Carstairs hier!«
Sie lächelte. »Nur ein ganz unbedeutender Auftrag«, gab sie zu. »Eine alte Bekanntschaft auffrischen, könnte man sagen. Robin, was hat dich eigentlich so aufhorchen lassen, als ich vorhin Mr. Hitchens' Worte wiederholt habe? Und weshalb interessiert dich so, was er zu erzählen hat, wenn er wieder bei Bewußtsein ist?«
Robin ließ sich auf die Armlehne eines der Sessel sinken. »Eigentlich darf ich nicht darüber reden«, begann er. »Aber da ich dir schließlich meine prächtige Braut und nicht zuletzt auch meinen Job zu verdanken habe... Was mich aufhorchen ließ, meine liebe Mrs. Pollifax, ist die Tatsache, daß er so oft >wie< sagte. Du mußt wissen, seit zwei Tagen bin ich auf der Suche nach einem Vermißten, der auf den schönen Namen Wi hört.«
Nun war es an Mrs. Pollifax, verblüfft zu sein. »Du meinst...? Du meinst, er könnte gemeint haben: >Muß Wi finden Robin nickte lächelnd. »In Hongkong wäre das durchaus möglich. Hier gibt es Tausende, die Hu, Hao, Yu, Li oder Wi heißen... Natürlich kann es auch nur ein Zufall sein... «
»So wie du dich rein zufällig Mr. Lars Petterson nennst?«
»Hätte ich mir denken können, daß du das bereits weißt«, lachte er belustigt.
»Mr. Hitchens erzählte es mir, als du heute morgen in den Goldenen-Lotus-Saal kamst. Er hatte dein Interview im Fernsehen gesehen.« Sie schüttelte tadelnd den Kopf. »Also weißt du. Robin! Der drittreichste Mann der Welt!«
»Na ja«, griente er. »Wir dachten, das würde mich in das richtige Licht setzen: Ein junger Schnösel mit den Taschen voller Geld, ziemlich naiv und ganz offensichtlich ein Playboy.«
»Und jetzt beklagst du dich, daß man hinter dir her ist?«
»Aber erst, seit ich mich für den vermißten Mr. Wi interessiere ... Ziemlich aufschlußreich - findest du nicht auch?«
Nachdenklich betrachtete Mrs. Pollifax das Gesicht des jungen Mannes. »Also schön, Robin. Weshalb bist du wirklich in Hongkong?«
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Um es mal ganz pauschal auszudrücken: Etwas ist nicht in Ordnung in Hongkong... Irgend etwas ist hier oberfaul - es stinkt geradezu zum Himmel. Und ich bin hier, um herauszufinden, was es ist.«
»Du bist heute bereits der dritte, der mir erzählt, daß hier irgend etwas nicht in Ordnung ist. Mr. Hitchens und jemand, mit dem ich mich vorhin unterhalten habe, sind derselben Meinung wie du. Was deinen Fall betrifft...«
»Das ist Chiang«, unterbrach sie Robin, als es dreimal kurz an der Tür klopfte. »Laß mich die Tür aufmachen - er kennt mich.«
Dr. Chiang stürmte ins Zimmer. Er war sehr klein und sehr dünn, und sein Anzug war bestenfalls schäbig zu nennen. Neugierig schielte er nach Mrs. Pollifax, ehe er seine Tasche öffnete und sich über Mr. Hitchens beugte. Mr. Hitchens bewegte sich unruhig,, stöhnte kurz auf und öffnete die Augen - dann schüttelte ihn ein Brechreiz.
»Eine Schüssel!« rief Dr. Chiang, und Mrs. Pollifax, die nicht wußte, wie sie eine Schüssel herbeizaubern sollte, lief zum Papierkorb und nahm die Plastiktüte.
Nachdem Mr. Hitchens seinen Magen gründlich entleert hatte, trugen sie ihn auf die Couch, und Dr. Chiang versorgte mit kundigen Händen die Wunde. Er reinigte und sterilisierte den Riß in der Kopfhaut, spritzte ein lokales Anästhetikum und vernähte die Platzwunde mit acht Stichen. »Der kommt wieder auf die Beine«, stellte er fest, als er fertig war und trat einen Schritt zurück. »Keine Gehirnerschütterung... Er hatte Glück, denn obwohl der Schlag ziemlich kräftig war, traf er ihn nicht an einer gefährlichen Stelle. Er wird zwar höllische Kopfschmerzen haben, aber sonst ist er in Ordnung. Ich habe ihm eine Tetanusspritze gegeben, ein Antibiotikum und etwas, das ihn ruhigstellt. Sollte er in einer Stunde nicht schlafen, geben Sie ihm etwas Brandy... Aber sonst nichts - bis morgen früh.«
»Danke, Chiang«, sagte Robin.
Der Arzt bedachte Mrs. Pollifax mit einem zweiten, nicht minder neugierigen Blick. »Ihr Mann?« erkundigte er sich.
»Nein, nein«, erwiderte sie und schüttelte heftig den Kopf.
»Ich verstehe...«, brummte Dr. Chiang und schien sich ein Grinsen zu verkneifen. »Na schön... Also dann alles Gute. Und rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen.«
»Nett«, murmelte Mrs. Pollifax, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, »aber ich kann mir nicht helfen: Irgendwie sieht er für mich nicht wie ein Arzt aus... «
»Verstehe«, grinste Robin. »Vielleicht kommt er sogar in diesem Jahr noch einmal dazu, sich einen neuen Anzug zu kaufen. Wahrscheinlich jedoch nicht. Chiang ist ein sehr guter Arzt... Er hat übrigens in Harvard studiert, und er kümmert sich wie kein zweiter um die >Boatpeople< drüben in Aberdeen... Hat der gute Doc nicht irgend etwas von Brandy erzählt? Offen gestanden, könnte ich jetzt einen Schluck zur Stärkung vertragen; allmählich merke ich, daß es ein verdammt langer Tag war.«
Mrs. Pollifax ging zu dem kleinen Kühlschrank und inspizierte den Inhalt. »Sag mal, war dein Kühlschrank auch bis oben hin voll, als du eingezogen bist?«
»Das schon«, antwortete er. »Aber ich muß dich warnen: Die passen ganz genau auf, was du rausnimmst.«
»Wie profan!« sagte sie. »Ich sehe hier nur Sekt, eine Flasche Weißwein - ah ja, hier ist ja der Brandy.« Sie kam mit der Flasche und einem Glas für Robin zurück, und sie setzten sich zu Mr. Hitchens an die Couch, der sie reichlich verwirrt anstarrte.
»Ich bin Mrs. Pollifax«, erinnerte sie ihn und bemühte sich, langsam und deutlich zu sprechen. »Wir haben uns an Bord des Flugzeugs kennengelernt. Erinnern Sie sich, Mr. Hitchens? Das hier ist... äh... Mr. Petterson, der... äh... ganz zufällig vorbeikam und der wie Sie auf der Suche nach einem Mister Wi ist.«
Mr. Hitchens richtete den Blick aus seinen fast beängstigend blauen Augen auf Robin und betrachtete ihn eingehend. Wenn er ihn als den drittreichsten Mann der Welt wiedererkannte, so ließ er sich dies nicht anmerken. »Damien Wi?« fragte er.
Mrs. Pollifax glaubte zu hören, wie Robin der Atem stockte, doch als er antwortete, war seine Stimme völlig ruhig. »Damien Wi - ja. Wie ich höre, suchen Sie ebenfalls nach ihm?«
Mr. Hitchens beging den Fehler zu nicken. Er stöhnte gequält, und seine Hände fuhren an seinen Kopf. »Man hat mich niedergeschlagen - in meinem Zimmer«, erklärte er, und plötzlich war Panik in seiner Stimme:
»Alec! Wo ist Alec?«
»Sie meinen Inspektor Wis Sohn?« fragte Robin.
»Ja... Er bat mich, seinen Vater zu suchen. Wir waren den ganzen Tag zusammen.«
»Mr. Hitchens erzählte mir, daß ihn einer seiner ehemaligen Studenten in Boston gebeten hat, nach Hongkong zu kommen, um ihm bei der Suche nach einem vermißten Verwandten behilflich zu sein«, erklärte Mrs. Pollifax. »Aber würdest du mir bitte erklären, wer dieser Damien Wi ist. Robin?«
»Er war der Leiter des Sonderdezernats Hongkong für Drogen- und Bestechungskriminalität«, erwiderte Robin. »Ich sage >er war<, denn vor etwa drei Wochen reichte er sein Rücktrittsgesuch ein - aufgrund von hartnäckigen Gerüchten, er sei in einer für ihn sehr kompromittierenden Situation überrascht worden. Er sei zurückgetreten, so behauptet er, um beweisen zu können, daß die Anschuldigungen gegen ihn haltlos sind und um private Nachforschungen anzustellen. Die Geschichte machte damals Schlagzeilen, da Inspektor Wi stets als absolut integer gegolten hatte. Der Gouverneur, mit dem ich über den Fall gesprochen habe, ist übrigens überzeugt, daß Wi einem Komplott zum Opfer gefallen ist. Und dann - vor zehn Tagen - verschwand er spurlos.«
Mrs. Pollifax wandte sich an Mr. Hitchens: »Haben Sie ihn heute gefunden?«
Mr. Hitchens hatte die Augen geschlossen, doch er antwortete. »Nein«, sagte er. »Ich habe es mit einem Stadtplan versucht... « »Und?«
»Ich sah... ich erkannte... den Ort, an dem er war... Eine Hütte inmitten von grünen Feldern... Ein Wasserrad nicht weit... Wir fuhren - Alec und ich.... Neue Territorien.« »Weiter«, drängte Robin. »Was war dann?« »... wurde dunkel... Ich erkannte die Hütte... « »Sie haben das Wasserrad und die Hütte gefunden?« forschte Mrs. Pollifax weiter,
Mr. Hitchens öffnete die Augen. »Ja. Wir gingen hin... , suchten... Winzig klein. Lehmfußboden... und dann... und dann... « Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse. »Ein Mann... ein Bauer, der nachsehen will, wer sich in den Feldern rumtreibt - dachten wir. Aber... als ich wieder zu mir kam, war Alec verschwunden.« Er seufzte tief. »Ich lief und lief... war zu benebelt, um Alecs Auto zu nehmen. Ich fand schließlich ein Taxi. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich an mein Zimmer... Es war dunkel... Jemand war im Raum. Und... Peng!«
Etwas verwirrt fragte Mrs. Pollifax: »Wie war das mit diesem Bauern? Sie schliefen ein oder wurden ohnmächtig?«
»Etwas war - ja... Chloroform wahrscheinlich«, sagte Hitchens. »Aber sie haben Alec! Wenn ich daran denke, daß... daß sie zurückkamen, um auch mich... Ein Alptraum! Ein furchtbarer Alptraum... «
»Noch eine Frage, Mr. Hitchens«, insistierte Mrs. Pollifax. »Als Sie mit Hilfe des Stadtplans versuchten, ein visionäres Bild von Inspektor Wi zu erhalten, hatten Sie da den Eindruck, daß er noch am Leben ist?«
»Ja«, erwiderte Hitchens undeutlich. »Das Ganze war ein Alptraum, ein furchtbarer Alptraum!«
»Das kann ich mir vorstellen«, mischte sich Robin ein. »Aber vergessen Sie das jetzt, mein Freund. Wir werden sie beide wiederfinden.«
Mr. Hitchens blinzelte überrascht. »Wir?« fragte er verständnislos.
Robin nickte. »Gleich morgen früh - wenn Sie sich danach fühlen.«
»Ich möchte... ich muß jetzt schlafen«, murmelte Hitchens, schloß die Augen und schlief ein.
»Sieht so aus, als hättest du für heute nacht einen Gast«, sagte Robin. »Glaubst du, du kommst zurecht?«
»Ich käme wesentlich besser zurecht, wenn du mir endlich verraten würdest, was in Hongkong nicht in Ordnung ist - aus welchem Grund wir hierhergeschickt wurden.«
Robin warf einen kurzen Blick auf Mr. Hitchens und nickte dann. »Gehen wir ins Bad. Es ist besser, vorsichtig zu sein; wer weiß, ob er tatsächlich schläft.« An der Badezimmertür ließ er ihr den Vortritt und bot ihr den Rand der Badewanne an. »Mach's dir bequem«, grinste er.
Sie lachte und ließ sich vorsichtig nieder.
»In Kurzform?« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist schon Mitternacht vorbei, und ich werde mich auf das Wesentliche beschränken. Stell dir eine Weltkarte vor - mit Pfeilen, die in Hongkong zusammenlaufen. Pfeile aus Europa, dem Mittleren Osten und Amerika, die alle nach Hongkong zeigen, auf diese winzige Insel im Chinesischen Meer.«
»Und was bedeuten diese Pfeile?« fragte Mrs. Pollifax.
»Zunächst einmal Gerüchte, Zufälle, übereinstimmende Hinweise von V-Leuten, mögliche Schmuggelrouten von Waffenschiebern. Und dann verschwindet ein Mann wie Inspektor Wi auf mysteriöse Weise.«
»Ausgerechnet Hongkong?« Mrs. Pollifax wiegte ungläubig den Kopf.
»Ich weiß, was du meinst«, nickte Robin. »Schließlich steht Hongkong unter dem Schutz der britischen Armee und Marine. Es ist ein relativ sicherer Ort, wie der Zustrom des internationalen Kapitals und seine führende Stellung als Handelsmetropole des Ostens beweisen. Hinter den Kulissen jedoch existiert eine sehr lukrative kriminelle Aktivität, die sich vor allem auf Drogenhandel spezialisiert hat und - wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann - durch Korruption in höchsten Kreisen der Polizei und des Verwaltungsapparats immer fester im Sattel sitzt. Es ist durchaus möglich, daß Inspektor Wi mehr über die Zusammenhänge in Erfahrung gebracht hat, als für ihn gut war, denn sowohl sein Rücktritt bzw. sein Ausscheiden aus dem Sonderdezernat, wie auch sein plötzliches Verschwinden können nur als äußerst mysteriös bezeichnet werden. Das einzige, das wir wirklich sicher wissen, ist die Tatsache, daß hier in Hongkong die Fäden einer ganzen Reihe von kriminellen Unternehmungen, die auf den ersten Blick gar nichts gemein haben, zusammenlaufen; eine Konstellation, die vermuten läßt, daß hier in Hongkong eine ganz große Sache am Laufen ist.«
»Das klingt allerdings alles sehr vage«, warf Mrs. Pollifax ein. »Eine recht unsichere Basis für konkrete Aktionen.«
Robin lachte. »Wenn wir tatsächlich konkrete Beweise in Händen hätten, hätte Interpol hier eine ganze Armee von Agenten zusammengezogen und nicht nur Marko und meine Wenigkeit abkommandiert.«
»Marko?«
Er grinste. »Du wirst doch wohl nicht annehmen, der drittreichste Mann der Welt reise ohne einen persönlichen Sekretär! Du wirst ihn sicherlich noch kennenlernen: Marko Constantine, einer der Topagenten der Interpol, der im Augenblick allerdings vollauf damit beschäftigt ist, unsere Einmann-Nachrichten- und Telefonzentrale in Betrieb zu halten.«
»Noch eine Frage, Robin, zu diesen Pfeilen. Ich kann mir nicht denken, wie...?«
»Diamanten.«
»Diamanten?«
Er nickte. »Die Hauptaufgabe von Interpol ist vor allem die Kontrolle des internationalen Drogenhandels, aber da die großen Rauschgiftringe seit einiger Zeit Diamanten als Zahlungsmittel benutzen, beobachteten wir auch den Transfer von Diamanten. Sie sind relativ leicht durch den Zoll zu schmuggeln, weil sie nicht viel Platz in Anspruch nehmen und deshalb ein ideales Zahlungsmittel sind, wie du dir vorstellen kannst. Vor drei Monaten etwa, im Januar und Februar, hatten wir massiert Mordfälle in Verbindung mit Diamantenraub zu verzeichnen: zwei in New York, drei in Antwerpen und vier in London. Äußerst ungewöhnlich - das Ganze.«
»Wieso ungewöhnlich?«
»Weil der gesamte Diamantenhandel einer ständigen und sehr strikten Kontrolle unterliegt; dafür sorgen De-Beers und die übrigen großen Handelsgesellschaften«, erklärte Robin. »Diamanten sind nämlich gar nicht so rar, und wenn zu viele davon auf den Markt geworfen werden, dann fallen die Preise -und sie verlieren ihren exquisiten Zauber und die Attraktivität, die sie für die Menschen nun mal besitzen. Deshalb war das plötzliche Verschwinden einer relativ großen Menge von Steinen ein Schock für den gesamten Diamantenhandel.
Kennt man die Modalitäten des Diamantengeschäfts etwas besser, ist es nicht weiter verwunderlich, weshalb diese Diebstähle soviel Aufsehen erregt haben«, fuhr er fort. »Hast du zum Beispiel eine Vorstellung davon, auf welchen Wegen Diamanten von den Minen in die Handelszentren gelangen?«
»Nein«, gab Mrs. Pollifax zu. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Dies wird mit einer geradezu provozierenden Nachlässigkeit gehandhabt«, erklärte Robin. »Das ist nie anders gewesen, doch es funktioniert. Die Steine werden einfach mit der Post verschickt, per Schiff oder per Flugzeug, oder sie werden von Kurieren und Agenten transportiert. Von diesen Männern könnte so mancher Geheimagent lernen, wie man ohne Aufsehen zu erregen; um den ganzen Erdball reist und unterwegs immer wieder seine Spuren verwischt. Sie transportieren die Diamanten in hohlen Absätzen oder in Geldgürteln, in Diplomatenkoffern oder in Plastiktüten. Sie lassen sich in den großen Hotels der Metropolen Zimmer reservieren, um dann im letzten Augenblick in irgendwelchen Absteigen oder kleinen Pensionen unterzutauchen. Diese Kuriere sind extrem vorsichtig und sehr clever. Raubüberfälle hat es bisher praktisch nicht gegeben; zumindest bis vor kurzem, als innerhalb von sechs Wochen acht dieser Kuriere ermordet wurden - auf Flughäfen, in ihren Hotelzimmern, auf der Straße oder in ihren Wagen. Als dann alles vorbei war - und die Serie von Raubüberfällen endete so abrupt, wie sie begonnen hatte -, waren Diamanten im Wert von acht Millionen Dollar verschwunden.«
»Irgend jemand hat sich da eine Menge steuerfreies Geld unter den Nagel gerissen«, sagte Mrs. Pollifax.
»Und du bist überzeugt, daß ein Zusammenhang zwischen diesen Raubüberfällen besteht?«
Robin nickte. »Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Morden von New York ist nicht zu übersehen. Außerdem scheint es eine Verbindung zwischen den Überfällen und Hongkong zu geben, denn im März wurden drei der geraubten Päckchen mit Diamanten in Hongkong sichergestellt — zusammen mit einer Ladung Rauschgift, die auf einer der kleinen Inseln hier aufgebracht wurde. Die Diamanten waren noch genauso verpackt, wie sie den Kurieren geraubt wurden; was darauf hinweist, daß irgend jemand sehr unvorsichtig war.«
»Und wieviel waren die drei Päckchen wert?«
»Fast zwei Millionen. Eines stammte von dem Mord in Antwerpen und die anderen beiden aus New York. Ein weiterer ernst zu nehmender Hinweis auf eine Verbindung zwischen allen Überfällen.«
Mrs. Pollifax erlaubte sich ein sparsames Lächeln. »Das gibt euren Vermutungen natürlich wesentlich mehr Gewicht.«
Robin nickte. »Das ist auch der Grund, weshalb wir unsere Aufmerksamkeit auf Südostasien konzentrierten. Wir streckten hier unsere Fühler aus und hielten die Ohren offen für das Gerede und die Gerüchte in den einschlägigen Kreisen dieser Region. Unter anderem habe ich von einem zuverlässigen V-Mann erfahren, daß eine Ladung Waffen über Sri Lanka nach Macao gebracht wurde - oder gebracht werden soll. Macao!« wiederholte er mit Nachdruck. »Das ist kaum vierzig Meilen von Hongkong entfernt!«
»Waffen?« fragte Mrs. Pollifax überrascht. »Das ändert die Situation allerdings beträchtlich.«
»Vor allem, wenn man bedenkt, daß angeblich ein Raketenwerfer des Typs >Stalinorgel< dabeisein soll. Diese Dinger sind leicht zu transportieren. Sie finden ohne weiteres auf dem Dach eines Minibusses oder auf einem Boot Platz und können ohne viel Schwierigkeiten auch von dort abgeschossen werden.«
»Kennst du ihren Bestimmungsort?« fragte Mrs. Pollifax gespannt.
Er schüttelte den Kopf. »Sie sind sehr vorsichtig und geben sich keine Blöße. Nichts sickert durch. Und das ist äußerst ungewöhnlich. Auch von unseren V-Leuten kommen keine Informationen.«
Mrs. Pollifax nickte. »Ein Schweigen, wie es nur acht Millionen Dollar erkaufen können. Ist es das, was du damit sagen willst?«
Er warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »So ist es - ja«, sagte er. »Verschwiegenheit kann man auch kaufen, und mit einer kleinen Bestechung hier und einer größeren Bestechung da läßt sich viel vertuschen. Was mir jedoch schlaflose Nächte bereitet, ist das unbestimmte Gefühl, daß diese ganze verdammte Angelegenheit - worum es sich auch immer handeln mag -schon viel weiter gediehen ist, als ich meinen Vorgesetzten klarmachen kann. Dies ist auch der Grund, weshalb ich unbedingt Inspektor Wi finden muß, der möglicherweise über die Lösung des Rätsels gestolpert ist und genau weiß, worum es geht.« Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr und schüttelte den Kopf. »Es ist schon fast zwei Uhr, und ich denke, wir sollten uns morgen weiterunterhalten - wenn dein Mr. Hitchens sich hoffentlich wieder besser fühlt und zu einem neuerlichen Ausflug in die Neuen Territorien bereit ist... Was mich im Augenblick allerdings mehr interessiert...«, er unterbrach sich, und ein verschmitztes Grinsen trat in sein Gesicht, »...sind deine Pläne für morgen. Könntest du nicht vielleicht...?« Er sah sie erwartungsvoll an.
»Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr fragen«, erwiderte Mrs. Pollifax strahlend. »Bis zehn Uhr abends habe ich nichts Dringendes vor.«
»Gott sei Dank!« seufzte er erleichtert, beugte sich zu ihr und küßte sie. »Ich weiß auch nicht, woran das liegt, aber wenn ich mich recht erinnere, kam endlich Schwung in die ganze Sache, als wir damals in der Schweiz zusammenarbeiteten. Interpol kann so verdammt langweilig und tödlich ernst sein.«
Sie lachte. »Bist du sicher. Robin, daß du die Zeit als Fassadenkletterer nicht vermißt?«
»Hin und wieder schon«, grinste er. »Aber es gibt immer wieder verschlossene Türen - wie deine heute abend zum Beispiel -, die mir ein Trostpflaster für entgangenen Nervenkitzel sind. Sollten wir nicht diesen harten Sitz hier mit unseren weichen Betten tauschen? Ich bin allmählich hundemüde.«
»Nichts lieber als das«, stimmte sie zu und erhob sich vom harten Rand der Badewanne.
Er öffnete die Tür, und ehe er das Badezimmer verließ, wandte er sich noch einmal zu ihr um. »Tut mir leid, daß ich Mr. Hitchens nicht mitnehmen kann, aber ich fürchte, es würde mir schwerfallen, die Situation zu erklären, sollte ich auf dem Korridor jemandem begegnen.«
»Ich komme schon zurecht mit ihm - solange er nicht schnarcht.«
»Wenn doch, schicke ihn wieder in das Land der Träume«, lachte Robin. »Aber möglichst nicht mit einem Schlag auf den Kopf! Ich melde mich morgen bei dir; zwar nicht in aller Herrgottsfrühe, aber wir dürfen auf keinen Fall die Spur kalt werden lassen.«
Behutsam öffnete er die Tür zum Korridor und spähte vorsichtig hinaus. »Alles klar«, flüsterte er und hob die Hand zum Abschied. Dann schlüpfte er durch den Spalt nach draußen und zog die Tür hinter sich ins Schloß.