DIENSTAG

6

Sollte Mr. Hitchens während der Nacht tatsächlich geschnarcht haben, dann blieb dies Mrs. Pollifax, Gott sei Dank, verborgen, denn der lange Flug und ihr erster Tag in Hongkong hatten sie derart erschöpft, daß sie wie eine Tote schlief. Als sie um acht Uhr erwachte und sich schlaftrunken in ihrem Bett aufsetzte, sah sie, wie sich Mr. Hitchens auf der Couch ebenfalls aufrichtete und verständnislos um sich blickte.

Er brachte ein verlegenes Lächeln zustande, räusperte sich umständlich und erklärte dann würdevoll: »Sie müssen verstehen, aber ich bin es nicht gewohnt niedergeschlagen und mit Chloroform betäubt zu werden.«

»Wer kann das schon von sich behaupten«, erwiderte Sie und lächelte mitfühlend.

»Außerdem habe ich in meinem ganzen Leben noch nie solche Kopfschmerzen gehabt«, fuhr er fort, und seine Stimme zitterte leicht. »Ich habe das schreckliche Gefühl, daß ich jeden Augenblick losheulen werde.«

Mrs. Pollifax nickte verständnisvoll. »Wenn dem so ist, würde ich Ihnen vorschlagen, daß Sie aufstehen - sehr langsam allerdings -, ins Bad gehen, sich unter die heiße Dusche stellen und erst dann losheulen. In der Zwischenzeit werde ich mich anziehen, den Zimmerservice anrufen und eine Kanne sehr starken Kaffee bestellen.«

»Vielen Dank«, sagte er kläglich und ließ sich bereitwillig von ihr aufhelfen. Sie setzte ihm ihre Bademütze auf den bandagierten Kopf und öffnete ihm die Tür zum Badezimmer.

Als Robin unvermittelt in der Tür auftauchte, saßen Mrs. Pollifax und Mr. Hitchens bereits beim Frühstück an dem Tisch vor dem Fenster. Mrs. Pollifax empfing Robin mit einer erfreulichen Botschaft: »Mr. Hitchens fühlt sich schon viel besser. Er hat mir erzählt, daß seine übersinnlichen Fähigkeiten für sein eigenes Leben leider gar keine Hilfe sind.« Sie wandte sich wieder Mr. Hitchens zu. »Für andere aber sehr wohl, Mr. Hitchens, wie Ihr Auftrag hier in Hongkong beweist.«

»Wir sind auf jeden Fall heilfroh, daß Sie hier sind, Mr. Hitchens«, sagte Robin. »Fühlen Sie sich in der Lage, Mrs. Pollifax und mir das Wasserrad und die Hütte zu zeigen, wo Alec Wi gestern verschwunden ist?«

Offenbar hatte Mr. Hitchens seine Niedergeschlagenheit überwunden, denn er bemerkte trocken: »Ich habe zwar keine Ahnung, wie Sie ohne Schlüssel, und ohne zu klopfen, durch die Tür gekommen sind und was der drittreichste Mann der Welt... «

»Ich bin nicht Lars Petterson«, unterbrach ihn Robin belustigt. »Tatsächlich bin ich ein ehemaliger Fassadenkletterer und Hoteldieb, der jetzt bei Interpol arbeitet.«

Mr. Hitchens nickte schicksalsergeben. »Ich wundere mich über gar nichts mehr, denn allmählich wird mir klar, daß ich die gesamte Reise in erster Linie als Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, betrachten muß. Absolut nichts scheint bisher zusammenzupassen, und aller Voraussicht nach wird sich daran auch nichts ändern. Nun ist nicht nur Inspektor Wi, sondern auch Alec spurlos verschwunden und... ja - natürlich bin ich bereit. Sie zu der Hütte zu führen.«

Mrs. Pollifax ließ einen Seufzer der Erleichterung vernehmen und lächelte Mr. Hitchens aufmunternd zu.

»Das nenne ich tapfer!« lobte Robin. »Worauf warten wir also? Marko steht in voller Chauffeursuniform in einer Mietlimousine vor dem Haupteingang des Hotels.

Wir werden also den Lieferantenaufzug zum Hintereingang nehmen und in einen kleinen, unauffälligen Renault steigen. Dann liegt es an Ihnen, den richtigen Weg zu finden.«

Mr. Hitchens deutete auf sein Jackett. »In der Innentasche finden Sie eine Karte, auf der die ungefähre Lage der Hütte eingezeichnet ist. Es ist dieselbe Karte, die ich zusammen mit Alec benutzt habe.«

»Wollen Sie damit sagen, Sie haben einfach die Karte studiert und mit dem Finger auf einen Punkt gezeigt und gesagt: >Hier ist es!

Mr. Hitchens lächelte. »Ein bißchen wie Wünschelrutengehen ist es schon«, sagte er. »Sie wissen, wie das gemacht wird?«

Robin brachte die Karte an den Frühstückstisch und nickte. »Ja. Zu unserem Nachbarn, damals in Frankreich, kam ein Wünschelrutengänger, der auf dem Grundstück nach Wasser suchte.«

»So in etwa müssen sie sich meine Arbeit vorstellen«, sagte Mr. Hitchens und erhob sich behutsam von seinem Stuhl. Einen Augenblick lang hielt er sich an der Tischkante fest, dann trat er einen Schritt zur Seite, und ein Lächeln trat in sein Gesicht. »Erstaunlich!« grinste er. »Mir geht es viel besser. Wollen wir gehen?«

Nicht ohne Belustigung stellte Mrs. Pollifax fest, daß Mr. Hitchens über Reserven verfügte, die ihn offenbar selbst in Erstaunen versetzten. Die pedantische Art, hinter der er sich versteckt hatte, als sie sich im Flugzeug kennenlernten, fiel immer mehr von ihm ab, und zum Vorschein kam ein Mr. Hitchens, dessen Augen unternehmungslustig blitzten, als sie mit dem Lieferantenaufzug in das Untergeschoß fuhren und über den Hintereingang des Hotels den von Robin bereitgestellten Renault erreichten. »Welch aufregendes Abenteuer!« flüsterte Mr. Hitchens begeistert. »Ich fühle mich schon ganz wie ein Geheimagent.«

Robin warf Mrs. Pollifax einen amüsierten Blick zu, ließ sich in den Fahrersitz sinken und zog eine Schirmmütze und eine dunkle Sonnenbrille aus dem Handschuhfach. Über den Beifahrersitz hinweg reichte er Mrs. Pollifax durch die offene Wagentür die Karte. »Ich würde vorschlagen, Mr. Hitchens, Sie machen sich auf dem Rücksitz so klein wie möglich, denn Mrs. Pollifax ist die einzige von uns, die nicht damit rechnen muß, beschattet zu werden. Sie kann es sich sogar leisten, einen Rosengarten auf dem Hut zu tragen.«

»Ganz im Gegenteil, mein Lieber!« widersprach sie und nahm hastig ihren Hut ab. »Ich bin gestern den ganzen Nachmittag über verfolgt worden; von dem Augenblick an, als ich aus einem Andenkenladen mit dem Namen Feng-Imports herauskam.«

Robin warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Darüber würde ich gerne mehr hören, wenn wir etwas Ruhe haben... «

»Großer Gott! Sie auch?« rief Mr. Hitchens atemlos. »Was gäbe ich dafür, wenn das meine drei Frauen wüßten!«

»Drei?!« wiederholte Robin verblüfft und sah Mrs. Pollifax fragend an.

»Die alle drei davon überzeugt waren, Parapsychologen führen ein aufregendes Leben, und bitter enttäuscht wurden...«, erklärte sie.

»Außer Ruthie«, widersprach Mr. Hitchens, der sich flach auf dem Rücksitz ausgestreckt hatte. »Ihr machte es nichts aus, einen Langweiler geheiratet zu haben.«

»Sie müssen uns mehr von Ruthie erzählen«, sagte Robin, »aber bitte nicht jetzt. Der Verkehr in Hongkong ist gemeingefährlich, und ich brauche meine ganze Konzentration.«

Auch Mrs. Pollifax hätte gerne mehr über Ruthie erfahren, doch auf dem Stadtplan die richtige Route zu finden, erforderte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Wie Robin vorausgesagt hatte, war der Verkehr gemeingefährlich; in halsbrecherischem Tempo jagten Wagen an ihnen vorbei, wechselten rücksichtslos die Spur, zwängten sich unter Zuhilfenahme ihrer penetranten und nervtötenden Hupen in die Lücken zwischen den Wagen der etwas bedächtigeren Fahrer. Soweit sie feststellen konnte, wurden sie nicht verfolgt. Sie teilte Robin ihre Beobachtung mit. »Glaubst du, daß dein Freund Marko noch immer in der Limousine vor dem Hotel wartet?« fragte sie.

Robin schüttelte den Kopf. »Nein. Inzwischen hat er sicherlich in unserer Suite angerufen - oh ja, wir sind sehr anspruchsvoll, wir leisten uns eine Suite - und läuft nun ungeduldig vor dem Hotel auf und ab, vernehmliche Flüche über die launenhaften und unzuverlässigen Reichen ausstoßend. Und nach einem ausgiebigen Schwätzchen mit den anderen Chauffeuren über das Woher und Wohin und den sozialen Status ihrer Brötchengeber wird er zum Wagen zurückkehren und mürrisch in die Garage fahren.«

»Der arme Marko«, murmelte Mrs. Pollifax mitfühlend. »Er wird's verkraften«, grinste Robin und knipste das Licht an, denn der Renault tauchte soeben in den Tunnel, der nach Kowloon hinüberführte. »Vor kurzem war ich es, der das Bootsdeck schrubbte und sich an Fischernetzen die Finger wundriß, während Marko den ganzen Tag im Liegestuhl auf Deck saß, durch das Fernglas guckte und versuchte, den Drogenschmugglern an der Mittelmeerküste auf die Spur zu kommen. Ich hatte Blasen, so groß wie Spiegeleier.« Als sie wieder aus dem Tunnel auftauchten, rief er über die Schulter gewandt:

»Sie können jetzt wieder hochkommen, Mr. Hitchens; gerade zur rechten Zeit, um Hongkongs jüngsten Triumph zu bewundern: Tsim Sha Tsui East, das zum größten Teil auf Land, das dem Hafenbecken abgetrotzt wurde, errichtet ist.«

Mr. Hitchens' Kopf tauchte aus der Versenkung auf, und er und Mrs. Pollifax bestaunten den riesigen Betonkomplex mit Hotels, Einkaufszentren, Bürohochhäusern und Restaurants. Dann bogen sie in die Chong Wan Road ein und erreichten über die Austin Road schließlich die Nathan Road, Kowloons wohl berühmteste Straße, in der die westliche Zivilisation den traditionellen chinesischen Lebensstil noch nicht verdrängt hatte.

»Nun, da Sie wieder sichtbar und ansprechbar sind«, sagte Robin zu Mr. Hitchens, »würde ich gerne hören, was genau Alec Wi Ihnen gestern über seinen Vater erzählt hat. Sie sind mir da einen Schritt voraus, denn bis vor ein paar Tagen wußte ich nicht einmal, daß Alec wieder in Hongkong ist, und alle meine bisherigen Versuche, ihn zu kontaktieren, schlugen fehl: Er ging weder ans Telefon, noch war er zu Hause, wenn ich bei ihm vorbeisah.«

»Wahrscheinlich war er unterwegs, um seinen Vater zu finden«, meinte Mr. Hitchens. »Er konnte mir leider auch nur sehr wenig sagen; nur, daß sein Vater Inspektor bei der Polizei von Hongkong sei, daß er vor ein paar Wochen besonders aufgebracht und wütend gewesen sei - ein Umstand, der offenbar etwas mit seiner Arbeit zu tun hatte - und daß er ganz überraschend seinen Abschied aus dem Polizeidienst genommen habe, um wegen einer wichtigen Sache zu recherchieren. Worum es dabei ging, sagte er Alec allerdings nicht. Und eines Morgens war dann sein Bett leer gewesen. Er hatte auch die Nacht nicht darin geschlafen. Er war spurlos verschwunden, und drei Tage später schickte mir Alec ein Telegramm und rief mich zu Hause in Massachusetts an, denn die Polizei tappte nach wie vor im dunkeln.«

»Würdest du mir bitte Bescheid sagen, wenn wir die Boundary Street erreicht haben«, wandte sich Robin an Mrs. Pollifax, und über die Schulter fragte er: »Weiß die Polizei, daß Sie in Hongkong sind, Mr. Hitchens?«

»Keine Ahnung. Ich habe mit Alec nicht darüber gesprochen«, erwiderte Mr. Hitchens, und erneut in seine pedantische Art zurückfallend, fuhr er fort: »Die Zeit, die Alec und ich zusammen verbracht haben, könnte man in vier Phasen teilen. Erstens: Begrüßung. Zweitens: Die ersten Versuche, uns auf außersinnliche Ansätze zur Lösung des Falls zu konzentrieren, was etliche Stunden in Anspruch nahm. Drittens: Die Fahrt im Auto. Und schließlich viertens: Die Suche nach der Hütte, als wir die vorher bestimmte Gegend erreicht hatten.«

»Eine exakte und erschöpfende Auskunft«, bemerkte Robin matt.

»Hier ist die Boundary Street«, meldete sich Mrs. Pollifax zu Wort und schenkte Robin ein mitfühlendes Lächeln. »Heißt das, wir verlassen nun Kowloon?«

Robin nickte. »Mit Kurs auf die Neuen Territorien -und zwar nach Yuen Long. Hast du's auf der Karte?«

»Ja«, bestätigte Mrs. Pollifax.

Sie folgten der Küstenstraße, die sich zwischen steilen Bergflanken zur Rechten und blauen, mit Felseninseln übersäten Buchten zur Linken nach Süden wand. Bei Castle Peak Bay bogen sie nach Norden ab und befanden sich nach wenigen Kilometern inmitten der Reiskammer Hongkongs. »Wie schön es hier ist!« dachte Mrs. Pollifax begeistert, und ihre Augen konnten sich nicht satt sehen an dem üppigen, kräftigen Grün der Felder; ein Grün, das im Kontrast zu dem schwarzen Vulkangestein der Berghänge sanft und samten wirkte. Jeder Quadratmeter des fruchtbaren Landes war bebaut, und so weit das Auge reichte, erstreckte sich das Grün der gepflegten, in Quadraten oder Rechtecken angelegten Felder - nur hie und da unterbrochen von den niedrigen, weißgetünchten Häusern der Bauern. Zwischen den Feldern entdeckte Mrs. Pollifax immer wieder Ententeiche mit Scharen von leuchtendweißen Enten, die aussahen, als wären sie in einer Wäscherei gereinigt worden, ehe man sie in den Teichen aussetzte. Mrs. Pollifax fiel es schwer, sich vorzustellen, daß in einer derart bezaubernden Landschaft ein Gewaltverbrechen begangen worden war. Auch Mr. Hitchens schien seine Erlebnisse vom Tag zuvor vergessen zu haben, denn verzückt drehte er sich nach zwei Frauen am Straßenrand um, deren Gesichter unter mächtigen schwarzen, wie riesige Lampenschirme wirkenden Hüten verborgen waren.

»Haakafrauen«, erklärte Robin. »Sie leben seit Urzeiten im Gebiet von Hongkong.«

»Warum hab' ich nur meine Kamera nicht dabei!« klagte Mr. Hitchens, und völlig unvermittelt rief er: »Dort ist es! Dort drüben! Das Wasserrad.«

Robin trat auf die Bremse.

Nun entdeckte auch Mrs. Pollifax das hölzerne Wasserrad, das im Schatten eines kleinen Gehölzes inmitten der Felder, etwa vierhundert Meter von der Straße entfernt, Wasser aus einem Flüßchen schöpfte.

»Die Hütte liegt unter den Bäumen«, erklärte Mr. Hitchens. »Es gibt keine Straße durch die Felder. Wir müssen zu Fuß gehen.«

»Worauf warten wir also?« brummte Robin und stellte den Motor ab.

Sie stiegen aus dem Wagen, und Mrs. Pollifax musterte Mr. Hitchens mit besorgtem Blick. »Kopfschmerzen?« fragte sie besorgt, denn er war kreidebleich geworden.

»Nein, nein«, erwiderte er, »Ich bin nur etwas beunruhigt. Das ist alles.« Seine Lippen wurden schmal, »Ich bin schon in Ordnung.«

Im Gänsemarsch folgten sie einem schmalen Pfad, der in die Felder führte. Ohne die kühlende Brise vom Meer brannte die Sonne nun heiß vom Himmel. Sie sprachen nicht. Etwas von Mr. Hitchens' Unruhe hatte sich auch auf Mrs. Pollifax und Robin übertragen, und sie beschleunigten ihre Schritte. An dem Wasserrad angelangt, entdeckten sie eine roh gezimmerte Brücke aus Holzbohlen, die sich über das Flüßchen spannte. Mrs. Pollifax ging als erste hinüber und strebte, ohne zu zögern, auf das kleine Gehölz zu, in dessen Schatten sie jetzt die Umrisse der Hütte erkennen konnte.

»Ja«, sagte Mr. Hitchens unbehaglich, »hier war es.«

Die Hütte machte einen seltsam verlassenen Eindruck und schien irgendwie nicht hierher, zwischen all die gepflegten Felder zu passen. Die windschief in den Angeln hängende, schäbige Tür knarrte und ächzte, als Mrs. Pollifax sie auf stieß. In der Hütte herrschte zwielichtiges Dunkel. Sie war leer, so schien es auf den ersten Blick; doch als sich ihre Augen etwas an das Halbdunkel gewöhnt hatten, entdeckte sie in einer Ecke die dunklen Umrisse einer zusammengesunkenen Gestalt.

Zögernd trat sie näher. »Oh, mein Gott!« flüsterte sie mit erstickter Stimme, als ihr klarwurde, daß dort ein Mensch lag.

»Schau nicht hin!« sagte Robin heiser, dicht hinter ihr. Er griff in sein Jackett und brachte eine Taschenlampe zum Vorschein.

Natürlich sah sie trotzdem hin, und in ihrem Kopf formten sich vage Gedanken über die Unfaßbarkeit des Todes. Man sollte ihm mit Ehrfurcht begegnen und nicht mit Entsetzen, wie es die Menschen gemeinhin tun; nur weil der Tod für den Menschen ein tiefes Geheimnis ist, das sich mit dem Verstand nicht fassen läßt. Der Lichtstrahl der Taschenlampe fiel auf das Gesicht eines Chinesen mittleren Alters, dessen verwunderter Blick starr auf etwas gerichtet schien, das sie - als gewöhnliche Sterbliche - nicht zu erkennen vermochten. Er trug einen grauen Anzug und ein weißes Hemd, beides über und über mit Schmutz beschmiert. Oberhalb der linken Augenbraue war ein häßliches Einschußloch, an dessen Rändern graue Pulverspuren zu erkennen waren. In seiner rechten Hand lag ein Revolver.

»Es ist Inspektor Wi«, knurrte Robin erbittert und erhob sich. »Er ist tot.«

»Seit wann?« fragte Mr. Hitchens mit belegter Stimme.

Robin kniete sich neben den Toten und befühlte dessen Gesicht und Handgelenke. »Noch nicht allzu lange. Gestern war er noch am Leben. Sie hatten recht damit...«

»Leuchte doch mal auf seine Hand, Robin«, sagte Mrs. Pollifax. »Da ist etwas... Ein Stück Papier...« Sie beugte sich über die leblose Gestalt von Inspektor Wi und entwand aus den Fingern seiner linken Hand ein weißes Stück Papier. Sie hielt es in das Licht der Taschenlampe und las: »Ich bin verzweifelt. Man hält mich für schuldig.. .« Nachdenklich starrte Mrs. Pollifax auf den Zettel. »Klingt wie die Erklärung für einen Selbstmord«, stellte sie skeptisch fest. »Und das, nachdem er seit zwei Wochen vermißt wird!« Sie reichte den Zettel Robin.

Er betrachtete ihn mit einem Stirnrunzeln, und Mr. Hitchens warf über Robins Schulter hinweg ebenfalls ein Blick auf das unregelmäßig abgerissene Stück Papier. »Sehr unglaubwürdig«, murmelte er schließlich. »Ein Fetzen Papier mit einem angefangenen Satz, der an keine bestimmte Person gerichtet ist... Und ohne Unterschrift ... Sieht so aus, als hätte man ihm den Revolver in die Hand gedrückt, um es wie einen Selbstmord erscheinen zu lassen.«

»Also Mord«, sagte Mrs. Pollifax und zuckte, erschreckt vom Klang ihrer eigenen Stimme, zusammen.

»Aber wenn es tatsächlich seine eigene Handschrift ist...«, gab Mr. Hitchens zu denken.

»Der Zettel könnte auch von einem Brief stammen oder aus einem Tagebuch herausgerissen worden sein«, erklärte Robin.

»Möglicherweise wurde er gar nicht hier umgebracht«, sagte Mrs. Pollifax und sah sich in der Hütte um. »Hier in der Hütte regt sich absolut kein Lüftchen. Wenn er erst vor ein paar Stunden erschossen wurde, müßte doch noch der Geruch von verbranntem Pulver zu riechen sein. Und schau dir mal den Boden an. Robin.«

Robin stieß einen leisen Pfiff aus. »Du hast recht. Die einzigen Fußspuren hier stammten von uns.«

Im Licht von Robins Taschenlampe untersuchten sie den Lehmboden der Hütte genauer. »Hier ist ihnen ein Fehler unterlaufen«, sagte Robin. »Entweder hat jemand nicht mitgedacht, oder die Mörder mußten überstürzt von hier verschwinden. Diese feinen Spuren hier stammen offensichtlich von einem Besen. Inspektor Wi muß an einem anderen Ort erschossen und dann hierhergebracht worden sein.«

Mr. Hitchens fröstelte. »Scheußliche Geschichte!« murmelte er leise.

»Ich frage mich nur, wie, um alles in der Welt, sie die Leiche unbemerkt hierherschaffen konnten«, dachte Mrs. Pollifax laut. »Aber im Schutze der Nacht ist wahrscheinlich alles möglich.« Sie wandte sich um und sah noch einmal auf die Leiche des Inspektors hinab. »Auch der Polizei wird auffallen, daß es keine Fußspuren gibt. Sollte es tatsächlich Selbstmord gewesen sein, hätte Inspektor Wi durch das Dach steigen müssen, um sich dann hier umzubringen. So etwas zu glauben ist einfach lächerlich.«

Robin zuckte skeptisch mit den Schultern. »Kommt ganz darauf an, wer die Untersuchung leitet. Inspektor Wi mißtraute vielleicht nicht umsonst einigen Leuten bei der Polizei. Will sagen: Es hängt wahrscheinlich davon ab, wem daran gelegen ist, Wis Tod als Selbstmord darzustellen.«

Mrs. Pollifax nickte entschlossen. »Da du für Interpol arbeitest, muß ich es wohl tun.« Sie kniete sich neben der Leiche nieder und löste mit einiger Anstrengung den Revolver aus den bereits starr werdenden Fingern. »Eine Beretta, neun Millimeter, Luger«, erklärte sie und ließ die Waffe in ihre Handtasche gleiten. Dann griff sie nach dem Stück Papier, das Robin noch immer zwischen zwei Fingern hielt, und ließ es ebenfalls in ihrer Handtasche verschwinden. »So«, sagte sie resolut. »Nun wird keiner mehr behaupten können, daß es sich hier um etwas anderes als kaltblütigen Mord handelt.«

»Braves Mädchen«, sagte Robin, und die Genugtuung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Fassungslos hatte Mr. Hitchens Mrs. Pollifax' Tun beobachtet. »Sie... Sie...«, krächzte er verblüfft. »Sie verändern einfach alles!? Aber Sie haben richtig daran getan! Ich fühle das. Ich hatte Angst... ich war ganz krank vor Angst, sobald ich die Hütte wieder erkannte... Aber wo nur Alec sein könnte...?« Seine Stimme klang erstickt vor Sorge.

»Was mir Sorgen bereitet«, sagte Robin, »ist die Tatsache, daß uns irgend jemand anscheinend immer einen Schritt voraus ist. Irgend jemand wußte, daß Sie heute morgen hierher zurückkommen würden, Mr. Hitchens, und er nutzte die Gelegenheit, Inspektor Wis Leiche herzubringen und seinen Tod wie einen Selbstmord erscheinen zu lassen.«

»Was schlagen Sie also vor?« fragte Mr. Hitchens verunsichert.

»Daß Sie - wie erwartet - die Leiche finden und es der Polizei melden.« Robin nickte zufrieden. »Ja. Ich glaube, das ist der Zeitpunkt, an dem Sie an die Öffentlichkeit treten, Mr. Hitchens. >AMERIKANI SCHER PSYCHOLOGE ENTDECKT VERMISSTEN POLIZEIINSPEKTOR< - oder etwas in dieser Art. Sie sollten nur Mrs. Pollifax und mich aus dem Spiel lassen. Erzählen Sie einfach, daß Sie in ihrem Hotelzimmer erwachten - nachdem Sie gestern abend niedergeschlagen wurden. Sie kehrten heute morgen wieder hierher zurück, um nach Alec zu suchen... Mich haben Sie noch nie gesehen.«

Mr. Hitchens nickte, und der Ausdruck jungenhafter Abenteuerlust trat wieder in sein Gesicht. »Ja - gut. Das werde ich tun.«

Mrs. Pollifax bedachte Robin mit einem nachdenklichen Blick. »Wie ich dich kenne«, sagte sie, »hast du dir für uns etwas ganz Besonderes ausgedacht - könnte ich mir vorstellen.«

»Darauf kannst du wetten«, grinste er. »Aber zunächst werde ich unsere Fußspuren verwischen. Ich denke, es müßte genügen, wenn ich meine Jacke dafür hernehme - obwohl mich mein Schneider steinigen würde, wenn er das wüßte. Nachdem Mr. Hitchens seine Fußabdrücke hinterlassen hat, gehen wir gemeinsam zum Wagen zurück und bringen Mr. Hitchens zu einem Telefon. Dann ist er ganz alleine auf sich gestellt.«

»Und wie ist er hierhergekommen?« warf Mrs. Pollifax ein.

»Mit dem Taxi«, erwiderte Robin, drängte Mr. Hitchens und Mrs. Pollifax aus der Hütte und zog seine Jacke aus.

»Mit dem Taxi«, murmelte Mr. Hitchens. »Ich habe Sie noch nie gesehen... Ich bin ganz alleine mit dem Taxi zurückgekommen...«

»Jetzt sind Sie an der Reihe, Mr. Hitchens«, sagte Robin, als er in der Tür auftauchte und seine Jacke ausschüttelte. »Gehen Sie einfach hinein, tun Sie, als würden Sie die Leiche entdecken, laufen Sie etwas hin und her, und kommen Sie wieder heraus.«

Folgsam betrat Mr. Hitchens die Hütte und kam nach einer Weile wieder ins Sonnenlicht heraus - noch immer »Taxi... Habe Sie noch nie gesehen...« vor sich hinmurmelnd. Sie machten sich auf den Weg zurück zum Wagen, doch Mrs. Pollifax blieb noch einen Augenblick an der Schwelle der Hütte stehen und warf einen letzten Blick auf den zusammengesunkenen Körper von Inspektor Wi.

»Gott gebe seiner Seele Frieden«, flüsterte sie und versprach im stillen, alles zu tun, um den Mörder des Inspektors zu entlarven und seinen Sohn wiederzufinden.

Sie setzten Mr. Hitchens in Yuen Long ab, und sogleich benutzte dieser die Gelegenheit, seine neue Rolle zu üben: Laut und vernehmlich bedankte er sich für ihre Freundlichkeit, ihn unterwegs mitgenommen zu haben, und mit leiserer Stimme fügte er hinzu: »Aber Sie werden sich doch ganz bestimmt um Alec kümmern?«

»Natürlich«, versprach Robin. »Sie können sich darauf verlassen, Mr. Hitchens. Nur ist es besser, wenn Sie nicht wissen, wie und wo, denn Sie könnten sonst unter Umständen zuviel erzählen.«

Robin legte bereits den Gang ein, doch Mrs. Pollifax steckte den Kopf durch das offene Wagenfenster und rief: »Melden Sie sich, Mr. Hitchens! Zimmer 614!« Und während sie das Fenster hochdrehte, sah sie noch einmal zurück. Mr. Hitchens stand verloren am Straßenrand neben einem Stand, auf dem frisches Gemüse aufgetürmt war, und sah nicht gerade glücklich drein. »Mein Gott!« seufzte Mrs. Pollifax. »Er sieht wirklich ratlos und verlassen aus - wie er so da steht.«

»Mach dir keine Sorgen um ihn«, sagte Robin. »Bald wird er von Polizei und Reportern umlagert sein. Er wird für die Schlagzeilen in der Kronkolonie sorgen.«

»Und was werden wir jetzt tun?«

»Wir?« fragte Robin und grinste breit. »Wir werden in Wis Haus einsteigen.«

Sie lachte. »So einfach klingt das, wenn man mit einem Einbrecher zusammenarbeitet. Aber besteht nicht die Gefahr, daß Leute im Haus sind?«

»Inspektor Wi und Alec lebten allein«, erwiderte Robin. »Seine Frau ist schon gestorben, die ältere Tochter ist verheiratet und lebt jetzt in Bangkok. Die jüngere Tochter ist in einem Internat irgendwo in England. Alec wohnte im Haus seines Vaters, weil er gerade das College abgeschlossen hat und sich nach einem Job umsieht. Das Haus liegt ziemlich einsam, am Ende der Lion Road in Kowloon. Es ist wichtig, noch vor der Polizei dort zu sein.« Mrs. Pollifax nickte. »Hoffentlich gehen wir das Risiko nicht völlig umsonst ein. Hoffentlich finden wir irgendeinen Hinweis auf den Fall, den Alec übersehen hat... Warst du schon einmal dort?«

»Nur an der Haustür«, antwortete Robin. »Zweimal bereits -aber niemand war zu Hause. Wenn ich mich nicht irre, ist das Haus von dichten Büschen und Hecken umgeben, die neugierigen Leuten, wie wir es sind, Deckung gewähren. Du solltest übrigens deinen prachtvollen Hut wieder aufsetzen, meine liebe Mrs. Pollifax. Er wird uns einen Hauch von Biederkeit und Ehrbarkeit verleihen, denn kein Einbrecher der Welt würde es wagen, mit einem derartigen Hut irgendwo einzusteigen - das kannst du mir glauben.«

Als sie fast das Ende der Lion Rock Road erreicht hatten, und Robin ihr im Vorbeifahren das Ziel ihrer Unternehmung zeigte, mußte Mrs. Pollifax zugeben, daß er recht behalten hatte: Das Haus lag hinter üppig wuchernden Büschen und Bäumen und einer zwei Meter hohen Mauer versteckt. Von der Straße war lediglich ein Teil des roten Ziegeldachs zu erkennen, das zwischen Baumkronen - unter anderem einer in voller Blüte stehenden Mimose - hervorlugte. Robin parkte den Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mit der Selbstverständlichkeit von Leuten, die jedes Recht auf einen Besuch in dem Haus von Inspektor Wi hatten, steuerten sie geradewegs auf das Eingangstor in der Mauer zu. Vier Minuten später - unter Zuhilfenahme von Robins vorher sorgfältig ausgewählten Einbruchswerkzeugen - standen sie in der Diele des Hauses.

Im Haus herrschte ein schattiges Halbdunkel. Durch die herabgelassenen Bambusrollos vor den Fenstern sickerten nur schmale Streifen des Sonnenlichts auf die Fliesen des Fußbodens. Im Erdgeschoß des Hauses lag das Wohnzimmer, ein Eßzimmer, eine kleine Küche und eine überdachte Veranda, die in den Garten hinausführte. Für Mrs. Pollifax sah das Haus nicht anders aus, als ein typisches Vorstadthaus in irgendeiner Stadt Amerikas - mit einer Ausnahme allerdings: In einer Nische im Wohnzimmer entdeckten sie eine mächtige, vergoldete Buddhastatue, die mit einer heiteren Gelassenheit auf sie und ihre profanen Bemühungen, gegen Egoismus, Habgier und Verblendung anzukämpfen, herablächelte. »Ich weiß« dachte Mrs. Pollifax lächelnd: »Es ist der Heilige Achtgliedrige Weg.«

»Laß uns nach oben gehen«, drängte Robin ungeduldig. »Wir suchen das Arbeitszimmer, einen Schreibtisch oder einen Safe.«

Sie fanden Inspektor Wis Arbeitszimmer im ersten Stock des Hauses und blieben wie erstarrt vor dem Chaos stehen, das sich ihren Blicken bot: Der metallene Aktenschrank in der Ecke war offenbar mit einem Vorschlaghammer aufgebrochen worden, und der Inhalt des Schreibtischs lag über das ganze Zimmer verstreut.

»Das habe ich befürchtet«, knurrte Robin. »Nachdem Alec aus dem Weg geräumt war, hatten sie hier leichtes Spiel.«

»Sie?« wiederholte Mrs. Pollifax gedankenverloren, und es schien ihr, als fühlte sie körperlich die Gegenwart der Männer, die dieses Zimmer verwüstet hatten. »Wer immer das hier getan hat«, sagte sie leise, »hatte es offenbar sehr eilig. Wahrscheinlich haben sie bei dieser Gelegenheit auch das Stück Papier gefunden, das als Inspektor Wis Abschiedsbrief dienen sollte. Wonach suchen wir eigentlich?«

»Irgendeine handschriftliche oder mit der Maschine getippte Notiz, die uns weiterhelfen könnte. Und wir haben auch nicht viel mehr Zeit als unsere Vorgänger«, brummte Robin. »Übernimm du den Schreibtisch; ich werde mich um den Fußboden und um die beiden Aktenschränke kümmern.«

»Also auf zur Schatzsuche!« sagte Mrs. Pollifax und setzte sich an den Schreibtisch. Methodisch durchsuchte sie die Schubladen. Viel war nicht mehr in ihnen, denn das meiste lag auf dem Boden verstreut. Außer einem Tintenfaß, einem Abakus, einem Fotoalbum, ein paar Bleistiften, losen Fotos und einem dicken Stapel Schreibmaschinenpapier war der Schreibtisch leer.

»Nichts!« knurrte Robin ärgerlich und warf die letzte Schublade des intakten Aktenschranks zu. »Sie haben bereits alles, das von Interesse sein könnte, verschwin|den lassen, verdammt noch mal! Und hier auf dem Boden liegen nur Rechnungen rum.«

Mrs. Pollifax hatte inzwischen den Stoß Schreibmaschinenpapier aus der Schublade genommen. Sie faßte ihn an einer Ecke und schüttelte den Stapel heftig hin und her, um zu sehen, ob nicht irgend etwas dazwischen steckte. Ein Stück abgerissenes Zeitungspapier flatterte zu Boden. Sie ließ den Stapel auf den Schreibtisch fallen und beugte sich nach dem Fetzen Papier.

»Ach du mein Schreck!« rief sie überrascht.

Mit einem Satz war Robin neben ihr. »Was ist?« fragte er atemlos. »Ach du meine Fresse!« brummte er, als er ihren Fund besah.

Es war das Foto eines Mannes, das aus einer Zeitung herausgerissen worden war. Dies mußte schon vor längerer Zeit geschehen sein, denn das Papier war bereits stark angegilbt. Am oberen Rand des Ausschnitts hatte jemand - zweifellos Damien Wi - ärgerlich das Wort >WANN?< hingekritzelt. Der Mann auf dem Foto blickte direkt in die Kamera, wie das bei Gefängnisfotos immer der Fall ist, und quer über seine Brust trug er ein Schild mit einer Gefangenennummer. Ein Name war nirgends zu entdecken. Das Gesicht des Mannes wirkte wie versteinert, und jede Linie in ihm war durch die grellen Scheinwerfer deutlich hervorgehoben. Nur das Foto war aus der Zeitung gerissen worden - ohne einen erklärenden Text oder einen Hinweis auf die Identität des Mannes. Doch Mrs. Pollifax hatte ihn sofort wiedererkannt. »Robin«, sagte sie. »Ich kenne diesen Mann. Aber wie, zum Kuckuck, kommt er in Inspektor Wis Schreibtisch?«

Robin bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. »Du willst sagen, du weißt, wer das ist?!«

Mrs. Pollifax schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Das heißt, ich weiß nicht, wie er heißt, aber er läuft mir ständig über den Weg.«

»Was?!« zischte Robin und packte sie am Arm. Seine Stimme klang heiser und eindringlich. »Was heißt das:

>Er läuft mir ständig über den Weg?< Wo? Verdammt noch mal... Wo?!«

Sie starrte ihn verwirrt an. »Na ja - er war in derselben Maschine, mit der ich von San Francisco nach Hongkong geflogen bin. Und gestern bin ich ihm in der Dragon Alley begegnet, als ich vor Feng-Imports auf den jungen Mann gewartet habe, mit dem ich Kontakt aufnehmen soll.«

»Maschine...? Feng-Imports...?« fragte Robin mit erstickter Stimme. »Mrs. Pollifax, ich denke, es ist allmählich an der Zeit, daß du mir anvertraust, welchen Auftrag du hier in Hongkong hast. Das Foto hier... Der auf dem Foto ist Eric der Rote!«

Ein eiskalter Schauer lief Mrs. Pollifax über den Rücken. »Der Terrorist? Der Kopf der Gruppe >Befreiungsfront 8oBefreiungsfront 8o< ermöglichte und das blutige Massaker, das die Terroristen anrichteten...

»Laß uns von hier verschwinden!« drängte Robin nervös. »Wir müssen in Ruhe reden! Wenn Eric der Rote in Hongkong ist, dann... «

Er brauchte gar nicht zu Ende zu reden, denn Mrs. Pollifax warf bereits in fliegender Hast die Schubladen des Schreib-tischs zu und griff nach ihrer Handtasche. Wortlos stürmten sie die Treppe hinab und aus dem Haus. Sie erreichten den Wagen gerade noch rechtzeitig, denn kaum war Robin losgefahren, bog aus einer Seitenstraße ein Streifenwagen der Polizei in die Lion Rock Road.

Sie passierten den Polizeiwagen, und als sie ein Stück die Straße hinabgefahren waren, sah sich Mrs. Pollifax vorsichtig um. Der Streifenwagen war vor dem Haus Damien Wis stehengeblieben; was nur bedeuten konnte, daß der Tod des Inspektors nun offiziell bekannt war.

7

Robin fuhr schnell und in Richtung des Tunnels: den einzigen Weg zurück nach Hongkong. Er schien in Gedanken weit weg zu sein, und auf seinem Gesicht lag grimmige Entschlossenheit. Offenbar zerbrach er sich den Kopf darüber, was Eric der Rote in Hongkong vorhaben mochte. Mrs. Pollifax war dankbar für das Schweigen, denn sie versuchte ihrerseits zu verstehen, aus welchem Grund ein international bekannter und gefährlicher Terrorist - kaum in Hongkong angekommen - sofort Feng-Imports aufgesucht hatte... Feng-Imports, dessen Geschäftsführer Mr. Detwiler unter Verdacht stand, Carstairs gefälschte Informationen zu schicken, wo man ihr verwehrt hatte, Sheng Ti zu sehen, wo man ihr als Trostpflaster eine wertvolle Buddhastatue geschenkt und sie anschließend beschattet hatte.

Es war durchaus denkbar, daß Robins Auftrag und ihr Auftrag wesentlich mehr miteinander zu tun hatten, als sie beide glaubten, und daß bei Feng-Imports mehr Fäden zusammenliefen als vermutet.

Robin räusperte sich umständlich, dann sagte er: »Wir gehen am besten in meine Suite. Es wird Zeit, daß du Marko kennenlernst.« Er tastete nach dem Knopf des Autoradios und drehte ihn an. Eine unpersönliche Männerstimme berichtete über den Tod Inspektor Wis:

».. .heute morgen von Albert Hitchens entdeckt, einem amerikanischen Parapsychologen, den Inspektor Wis Sohn Alec nach Hongkong gebeten hatte, um bei der Suche nach seinem vermißten Vater behilflich zu sein. Mr. Hitchens war bereits im Laufe des gestrigen Nachmittags -gemeinsam mit Alec Wi - in der besagten Hütte gewesen. Gegenüber der Polizei erklärte Mr. Hitchens, er und Alec Wi seien dort überfallen worden. Während Alec Wi offenbar entführt worden sei, sei er - Mr. Hitchens -, nachdem er am späten Abend wieder zu sich gekommen war, in sein Hotel zurückgekehrt.«

»Eine völlig neue Erfahrung für ihn«, kommentierte Mrs. Pollifax trocken.

»Heute morgen«, fuhr die Stimme des Nachrichtensprechers fort, »so berichtete Mr. Hitchens weiter, sei er mit einem Taxi erneut zu der Hütte gefahren, um nach Alec Wi zu sehen, doch anstatt des jungen Mannes habe er dort die Leiche Inspektor Wis entdeckt. Nach Schätzung der Polizei wurde Inspektor Wi in den frühen Morgenstunden, zwischen 5 und 7 Uhr erschossen. Die Kugel von Kaliber 9 mm wurde aus kürzester Entfernung abgefeuert. Wie die Polizei mitteilt, ist ein Selbstmord auszuschließen.«

»Sehr gut«, knurrte Robin zufrieden. »Das wird seinen Mördern einen gehörigen Schrecken einjagen.«

»Inspektor Damien Wi war fünfundfünfzig Jahre alt und ein verdientes Mitglied der... «

Robin drehte das Radio ab. »Und noch immer keine Spur von Alec! Sollte tatsächlich die >Befreiungsfront 8o< ihre Hände im Spiel haben, dann...«

»Wir dürfen jetzt auf keinen Fall die Hoffnung aufgeben. Robin, und uns von Befürchtungen lahmen lassen«, unterbrach ihn Mrs. Pollifax. »Das würde uns nur demoralisieren.«

Robin brachte ein mattes Lächeln zustande. »Aus dir spricht die Erfahrung, wenn ich mich nicht irre?«

»Mehr oder weniger - ja«, erwiderte Mrs. Pollifax. »Auf jeden Fall ist es besser, jetzt unsere ganze positive Energie zu mobilisieren, denn, egal durch welche Hölle der Junge gerade geht, es ist seine Hölle, und wir können im Augenblick daran nichts ändern.«

»Problem klar erkannt«, konstatierte Robin, während er den Renault in eine Parklücke hinter dem Hotel manövrierte. »Also gut. Wir nehmen den Frachtaufzug zu meiner Suite und stürzen uns mit frischem Mut in die Krisensitzung - wenn es dir recht ist...«

»Gemeinsam mit Marko«, fügte sie hinzu.;

»Gemeinsam mit Marko«, nickte Robin.

Zehn Minuten später, nachdem sie unbemerkt die prunkvolle Suite erreicht hatten, die Robin unter dem Namen Lars Petter-son im Hilton gemietet hatte, machte Mrs. Pollifax die Bekanntschaft von Marko Constantine.

»Sie sind also die sagenhafte Mrs. Pollifax, von der mir Robin so viel erzählt hat«, lächelte Marko und musterte sie aufmerksam. Dann reichte er ihr die Hand. »Die unschuldige Schönheit und die große Erdmutter in einer Person - die mit Begeisterung über Mauern klettert und Meisterin in der Kunst des Karate ist. Salute!« murmelte er und küßte ihr die Hand.

»Und die überrascht ist von ihrem Charme«, lachte Mrs. Pollifax. »Freut mich. Sie kennenzulernen, Marko.«

»Was kann ich dagegen tun?« grinste Marko selbstironisch. »Der Charme wurde mir in die Wiege gelegt, denn ich bin zur Hälfte Franzose und zur Hälfte Grieche, müssen Sie wissen. Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Mrs. Pollifax, dessen dürfen Sie sicher sein.« Er verbannte das freundliche Lächeln aus seinem Gesicht, und seine Stimme wurde plötzlich hart. »Nun sollten wir uns aber ernsthafteren Dingen zuwenden, denke ich«, fuhr er fort. »Ich habe die Nachrichten gehört. Robin, und ich nehme an, daß ihr beide bei diesem Mr. Hitchens wart, als er die Leiche entdeckte.«

»So ist es«, bestätigte Robin, »doch das ist nicht alles.«

»Heraus mit der Sprache«, sagte Marko und bot Mrs. Pollifax mit einer Handbewegung einen Sessel an. »Wollen wir uns nicht setzen?«

Sie ließ sich in den Sessel sinken und stellte fest, daß sie Markos Art zugleich amüsant und beeindruckend fand, denn sie fühlte, daß sich hinter seiner charmanten Fassade ein Mann aus Stahl verbarg. Er war nicht sehr groß, aber seine Bewegungen waren kraftvoll und geschmeidig; ein harter Mann, Mitte Dreißig, mit einem strahlenden Lächeln und einer tiefen Narbe, die sich vom linken Jochbein bis hinab zum Kinn zog. Seine Haut war dunkel, sein Haar schwarz und der Blick seiner dunkelbraunen Augen überraschend sanft. Sie fand, daß er ein wenig wie ein Affe aussah - ein sehr netter Affe allerdings ... Doch auf seine Art war er durchaus attraktiv - sehr attraktiv sogar, wenn sie es genau bedachte. Er trug offenbar noch immer die Chauffeursuniform; eine schwarze Hose und einen schwarzen Rollkragenpullover, doch als er sich ebenfalls in einen Sessel warf und die Füße unter die Beine zog, sah sie, daß er barfuß war.

Robin ließ sich auf der Couch nieder. »Zunächst solltest du wissen, was wir beide in Inspektor Wis Haus entdeckt haben, dem wir, nachdem wir die Leiche entdeckt hatten, einen kurzen und sehr unauffälligen Besuch abstatteten. Dann wird uns Mrs. Pollifax einiges über Feng-Imports erzählen.«

»Feng - was?«

Robin nickte in Richtung Mrs. Pollifax. »Ihr Auftrag, Marko. Der allerdings immer mehr Berührungspunkte mit unserem eigenen Auftrag aufweist, denn Eric der Rote...«

»Eric der Rote!« unterbrach ihn Marko bestürzt. »Mon Dieu...! Nein, ich will ganz offen sein: verdammte Scheiße!«

»So ist es«, stimmte Robin zu. Er angelte seine Brieftasche aus dem Jackett, zog das aus der Zeitung gerissene Bild hervor und reichte es Marko. Er berichtete, wie Mrs. Pollifax das Bild gefunden hatte und daß sie den Mann auf dem Foto an Bord derselben Maschine gesehen hatte, mit der sie nach Hongkong gekommen war. »Und gestern morgen, als sie vor Feng-Imports auf ihren Kontaktmann wartete, sah sie ihn aus dem Laden kommen«, fügte er triumphierend hinzu.

Marko stieß einen leisen Pfiff aus und wandte sich an Mrs. Pollifax. »Sie müssen verstehen, daß dies für uns äußerst verwirrend ist. Sie wissen, weshalb wir in Hongkong sind? Wahrscheinlich hat es Ihnen Robin erzählt. Sind Sie absolut sicher, daß dies derselbe Mann ist?«

»Ja«, erwiderte sie bestimmt. »Ich bin mir absolut sicher, denn ich hatte das Pech, ihm im Flugzeug in die Fersen zu treten. Mr. Hitchens wird dies bestätigen können, denn ich machte ihn später auf den Mann aufmerksam. Zeigen Sie ihm das Foto, wenn er zurück ist. Übrigens hatte der Mann einen kanadischen Paß.«

»Ihnen bleibt nichts verborgen!«

Mrs. Pollifax lächelte geschmeichelt. »Er beging den Fehler, ungewöhnlich barsch und feindselig auf meine Entschuldigung zu reagieren. Das erweckte meine Aufmerksamkeit. Jemand, der inkognito reisen will, darf sich solch gravierende Fehler nicht leisten, würde ich meinen. Seine Kleidung war nebenbei bemerkt auffallend elegant und stammte sicherlich von einem kanadischen Schneider. Als ich ihm auf die Füße trat, war seine Reaktion jedoch weniger elegant.«

»Bisher haben wir angenommen, daß er in Ostdeutschland untergetaucht ist; doch in letzter Zeit ging das Gerücht um, er habe sich nach Italien abgesetzt.«

»Und wann war er im Gefängnis?« fragte Mrs. Pollifax.

»Das ist mindestens zehn Jahre her, glaube ich«, antwortete Marko und wandte sich fragend an Robin. »In Westdeutschland - wenn ich mich nicht irre. Er konnte damals mit Hilfe einer Freundin entkommen und dann...« Er zuckte die Schultern. »Sie kennen die Geschichte: Wo er auftauchte, hinterließ er eine Spur von Gewalt und Terror... Aber noch einmal zu dem, was Sie sagten: Er ging nach seiner Ankunft direkt zu diesem.. » Feng-Imports?«

»Anscheinend - denn als ich ihn sah, hatte er noch sein Gepäck bei sich.«

»Wenn das stimmt«, murmelte Marko nachdenklich, »dann ändert das alles - alles! Wir wissen jetzt, was... Aber erzählen Sie doch bitte von diesem Feng-Imports. Weshalb haben Sie diesen Laden beobachtet?«

Mrs. Pollifax holte tief Atem und berichtete, aus welchem Grund und mit welchem Auftrag sie nach Hongkong gekommen war. Sie erwähnte Carstairs' Beunruhigung in bezug auf Detwiler, erzählte die Geschichte, wie sie Sheng Ti kennengelernt hatte, und weshalb er wichtig war. Sie beschrieb ihren Besuch bei Feng-Imports, das Gespräch mit Detwiler und erwähnte, daß sie danach beschattet wurde. Schließlich verschwieg sie auch nicht ihr Treffen mit Lotus und dem völlig verängstigten Sheng Ti.

»Elf Pässe!« brummte Robin. »Und einer davon war ganz sicher ein kanadischer?« Mrs. Pollifax nickte. »Und Sheng Ti und Lotus werden heute abend mit dir Kontakt aufnehmen?«

»Ja - zumindest nehme ich das an. Falls nichts dazwischenkommt.«

Robin und Marko wechselten einen bedeutungsvollen Blick. »Ich denke, wir sollten uns diesen Laden unbedingt mal ansehen - und zwar sofort«, sagte Marko. »Sie müssen uns dorthin führen, Mrs. Pollifax; selbst sollten Sie allerdings nicht m Erscheinung treten. Ich denke, wir brauchen - wie viele Männer werden wir benötigen, diesen Laden zu überwachen, falls Eric der Rote wieder auftaucht? Bis wir genügend Leute haben, wirst du wohl oder übel auf deinen Sekretär verzichten müssen. Robin.« Er zwinkerte Robin zu. »Soll ich anrufen oder erledigst du das?«

»Ich geh' schon«, erwiderte Robin. Er erhob sich, ging in das Nebenzimmer und schloß die Tür hinter sich.

Geschmeidig wie eine Katze kam Marko aus seinem Sessel hoch. »Sind Sie bereit, in unser Spiel einzusteigen, Mrs. Pollifax?« fragte er ernst. »Sie wissen selbst, daß dabei auch der Tod mitmischt!«

»Worauf es meiner Meinung nach jetzt ankommt«, erwiderte sie, ohne auf ihre eigene Person näher einzugehen, »ist, zu verhindern, daß es noch mehr Tote gibt. Wir wissen nicht, was mit Alec geschehen ist, und wenn Sie dasselbe befürchten wie ich... « Sie beendete den Satz nicht, doch Marko warf ihr einen verstehenden Blick zu und nickte bekümmert.

»Ja«, murmelte er und ließ sich wieder in den Sessel sinken.

Robin kam zurück und berichtete: »Heute abend um neun können wir mit zwei Männern rechnen: Krugg und Upshot. Und ein dritter, Witkowski, wird im Laufe der, Nacht zu uns stoßen. Mehr Leute können sie uns im Moment nicht geben, aber zumindest scheinen sie allmählich zu begreifen, daß sich hier etwas zusammenbraut.«

Marko nickte. »Gut. Ich übernehme bis neun. Ich muß nur noch schnell meine Sachen packen.«

»Interpol - aber noch immer keine einheimische Polizei?« bemerkte Mrs. Pollifax, während sie vor dem Spiegel ihren Hut aufsetzte und mit einer mächtigen Hutnadel befestigte.

»Vergiß nicht, daß auch Damien Wi im Alleingang arbeitete«, entgegnete Robin. »Und wenn die geraubten Diamanten tatsächlich für Bestechungsgelder verwendet wurden, dann wurde damit das halbe Polizeipräsidium von Hongkong gekauft. Eine gesunde Paranoia ist in unserem Job oft ganz nützlich. Ich bin zwar überzeugt, daß die meisten Kollegen hier ebenso vertrauenswürdig sind wie du und ich, aber falls Inspektor Wi tatsächlich das Opfer einer Verleumdungskampagne war und dann umgelegt wurde, weil er die Finger nicht von der Sache ließ, müssen wir verdammt vorsichtig operieren. Wir wissen nicht, wem wir vertrauen können. Es ist einfach zu riskant, mit offenen Karten zu spielen. Die Männer, die uns zur Unterstützung zugeteilt wurden, kommen aus Tokio und Bangkok.«

»Was packt denn Marko eigentlich zusammen?« fragte Mrs. Pollifax ungeduldig.

»Was zum Essen, Funkgeräte, Batterien, Kamera, Filme und wahrscheinlich seine Kanone - schätze ich. Ich hoffe nur, wir finden in der Dragon Alley ein geeignetes Versteck für ihn.«

Mrs. Pollifax fühlte, wie allmählich Erregung von ihr Besitz ergriff. Nervös sah sie auf ihre Uhr. Es war kurz vor zwei, und wie es aussah, würde sie wieder nicht zum Essen kommen. Doch für den Vorzug, zwei Profis bei der Arbeit beobachten zu können, war sie gerne bereit, auf ihren Lunch zu verzichten. »Ich bin soweit«, erklärte sie aufgeräumt, als Marko mit einer Tasche in der Hand aus dem anderen Zimmer kam. »Wir nehmen wieder den Frachtaufzug - oder?«

Die erste Lektion, die Mrs. Pollifax in der Kunst der Überwachung erhielt, war das absolute Verbot, auch nur einen Fuß in die Dragon Alley zu setzen. Stattdessen umgingen sie die Dragon Alley in weitem Bogen und näherten sich ihr über die Straße oberhalb des schmalen Gäßchens. Sie schlüpften in Hinterhöfe und stolperten über Berge von Schutt, bis Mrs. Pollifax endlich das hohe, schräggestellte Fenster von Detwilers Hinterzimmer entdeckte. Robin skizzierte in seinem Notizblock die Lage von Feng-Imports und wandte seine Aufmerksamkeit dann sogleich einem ziemlich heruntergekommenen Gebäude in der Nähe zu, dessen oberes Stockwerk offenbar leerstand.

Sie kehrten auf die Straße oberhalb der Dragon Alley zurück, gingen bis zur Parallelstraße zur Dragon Alley und versuchten von dort, sich durch die Hinterhöfe Feng-Imports zu nähern. Sie zwängten sich durch enge Zaunlücken, spähten unter dem Schutz von Bäumen über die Dächer der Schuppen und Häuser, bis sie endlich das Haus, das Feng-Imports gegenüberlag, entdeckten. Wie sich herausstellte, war dies die kleine Pension, die Mrs. Pollifax bereits am ersten Tag aufgefallen war; eine windschiefe Bude, die sich mit beängstigender Schlagseite zur Dragon Alley neigte. Der Besitzer dieser stolzen Herberge war nirgends zu entdecken, und Mrs. Pollifax beobachtete mit Staunen, mit welcher Unverfrorenheit Marko und Robin dieses Problem lösten: Sie schlüpften einfach durch die Hintertür, gingen im Haus von Tür zu Tür und klopften so lange, bis sie jemanden fanden, der zu Hause war.

Der Mann nannte sich Pi und war von ihnen offenbar aus dem Schlaf gerissen worden. Er habe vor einer Woche seinen Job verloren, erklärte er seinen Nachmittagsschlaf, und wollte dann wissen, wer sie seien. Mrs. Pollifax spähte über die Schulter des Mannes in den winzigen Verschlag, den er bewohnte, und stellte fest, daß das Zimmerchen ein Fenster besaß, das direkt auf die Ladentür von Feng-Imports hinabsah. Zwanzig Minuten später hatte Pi seine wenigen Habseligkeiten gepackt - ein Bündel, nicht viel größer als Markos Tasche -, und er strahlte über das ganze Gesicht wegen der Summe, für die er sein Zimmer eine Woche lang weitervermietet hatte. Für das Geld, das sie ihm für sein Schweigen und für das Zimmer bezahlt hatten, konnte er es sich ohne weiteres leisten, in das Hongkong-Hilton umzuziehen, fand Mrs. Pollifax. Robin und Marko hatten inzwischen im Zimmer den idealen Platz für die Beobachtung von Feng-Imports gefunden. Nachdem Pi verschwunden war, waren Mrs. Pollifax und Robin Marko dabei behilflich, die wenigen Möbel in dem winzigen Raum umzustellen und das Funkgerät aufzubauen, dann gingen auch sie und ließen Marko alleine zurück.

»Was machen wir jetzt?« fragte Mrs. Pollifax, als sie die Parallelstraße zur Dragon Alley erreicht hatten - bereit zu neuen Taten und begierig, mehr über die Arbeit von Interpolagenten zu erfahren.

»Jetzt werde ich dich zunächst mal im Hotel absetzen«, lautete Robins ernüchternde Antwort. »Und ich werde versuchen, das obere Stockwerk in dem Haus hinter Feng-Imports zu mieten. Dafür brauche ich jedoch ein paar Geschäftskarten, die ich erst drucken lassen muß, und einen seriösen Businessanzug. Dann werde ich das Funkgerät im Hotel aufbauen und den Kontakt mit Marko herstellen. Du könntest inzwischen versuchen, Mr. Hitchens für mich aufzutreiben und ihn bitten, sich mit mir zu treffen. Ich würde ihm gerne das Foto von Eric dem Roten vorlegen und ihn... « Robin grinste Mrs. Pollifax verlegen an. »Ihn...«

Sie lächelte mitfühlend. »Du möchtest seine parapsychologischen Fähigkeiten in Anspruch nehmen? Mit all der Publicity, die im Augenblick um seine Person gemacht wird, müssen wir uns möglicherweise auf die Warteliste setzen lassen.«

Robin stoppte den Renault in der Straße hinter dem Hilton. »Quatsch!« knurrte er, zog die Handbremse und ließ den Motor laufen. »Erinnere ihn daran, wer ihm gestern nacht Unterschlupf gewährt hat. Laß ruhig eine Bemerkung über internationalen Terrorismus fallen. Erzähle ihm was von Gerechtigkeit, Gesetz und Ordnung und so weiter... Und dann bete zu Gott, daß er eine Antwort auf das >WANN?< von Inspektor Wi findet. Wir brauchen unbedingt das Datum - am besten den genauen Tag - zumindest aber die Woche oder den Monat.«

»Was du verlangst, ist nicht gerade bescheiden«, murrte Mrs. Pollifax.

»Kein Wunder«, konterte Robin, »denn was wir bisher in Händen haben, ist nun mal etwas dürftig.« Er beugte sich zu ihr und öffnete ihre Wagentür. »Es ist schon recht spät, und da der Himmel weiß, wann Mr. Hitchens wieder im Hotel auftaucht, und ich noch eine Menge zu erledigen habe, würde ich vorschlagen, wir treffen uns mit Mr. Hitchens morgen früh. Lade ihn doch zu einem opulenten Frühstück in unserer Suite ein. Sagen wir um acht? Schließlich ist sein Auftraggeber verschwunden, und möglicherweise fragt sich der arme Mr. Hitchens verzweifelt, wo er seine nächste warme Mahlzeit herbekommt.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Mrs. Pollifax überrascht. »Robin, du bist wirklich ein netter Kerl.«

»Klar«, grinste er. »Hast du das nicht gewußt? Sollte irgend etwas Unvorhergesehenes passieren - ich sitze bis etwa acht, halb neun am Funkgerät, dann muß ich zum Flughafen, um unsere Leute abzuholen. Also bis bald!« Er winkte ihr zu und fuhr dann weiter, um einen Parkplatz zu finden. Mrs. Pollifax schlenderte in Gedanken versunken zum Hintereingang des Hilton.

Als sie durch die Ladenstraße im Untergeschoß des Hotels ging, überlegte sie, daß sie keinerlei positive Neuigkeiten über Alecs Verbleib hatte, die sie Mr. Hitchens erzählen konnte. Und Mr. Hitchens erste Frage würde Alec gelten, denn schließlich war er wegen Alec nach Hongkong gekommen. Siedend heiß fiel ihr ein, daß der eigentliche Grund ihres Aufenthalts in Hongkong Detwiler war. Sie war hier, um Detwiler auf den Zahn zu fühlen, doch während des ganzen Tages hatte sie kaum einen Gedanken an ihn verschwendet. Sie war mit Mr. Hitchens' Problemen beschäftigt gewesen, mit Alecs Verschwinden, mit der Ermordung Inspektor Wis und der Identität des Mannes mit der schwarzen, gewalttätigen Aura. Zwar hatte es ihr großen Spaß gemacht. Robin und Marko bei der Arbeit zu beobachten, doch sie hatte kein einziges Mal konzentriert über ihren eigenen Auftrag, über Detwiler und Sheng Ti nachgedacht.

Sie blieb stehen und betrachtete in einer der Auslagen müßig die Titelseiten von Zeitschriften. Doch die Titel klangen alle irgendwie ähnlich: Blick, Fokus, Spion oder Horizont. Sie versuchte, ihre Gedanken auf den Fall zu konzentrieren. Wenn eine Verbindung zwischen Detwiler, Eric dem Roten und dem Verschwinden von Alec existierte, war es dann nicht denkbar, daß Detwiler Alec in seiner Wohnung festhielt? Wo und wie wohnte Detwiler eigentlich? Entschlossen, das nächste verfügbare Telefonbuch von Hongkong zu Rate zu ziehen, ließ sie Zeitschriften Zeitschriften sein und steuerte auf den Aufzug zu, um in die Halle des Hotels emporzufahren.

Sie hatte Detwilers Adresse gefunden und war soeben damit beschäftigt, sie in ihr Notizbuch zu schreiben, als ihr jemand auf die Schulter klopfte und sagte: »Seit Stunden versuche ich. Sie zu finden!«

Sie fuhr herum und starrte in zwei verblüffend helle Augen. Sie erkannte ihn nicht sogleich, denn Mr. Hitchens' Kopf und Schultern verschwanden fast ganz unter einem riesigen, breitkrempigen Schlapphut. Mrs. Pollifax unterdrückte den fast unwiderstehlichen Impuls, loszulachen und fragte statt dessen: »Sind Sie inkognito, Mr. Hitchens?«

»Nein, nein«, brummte er unglücklich. »Ich habe nur einen Eisbeutel auf dem Kopf, und da ich dachte, es könnte vielleicht Aufsehen erregen, wenn ich mit einem Eisbeutel auf dem Kopf in der Halle sitze, habe ich mir vom Manager des Hotels einen Hut geliehen. Können wir uns dort drüben hinsetzen?«

»Ja, natürlich«, erwiderte sie, und sie gingen zu der nächstgelegenen Sitzgruppe.

»Die Leute hier waren so furchtbar nett zu mir, daß ich gar nicht weiß, wo ich zu erzählen beginnen soll«, berichtete er begeistert. »Man hat mir ein anderes Zimmer gegeben, offenbar weil ich mich gestern nacht doch recht heftig gegen diesen... diesen Schläger gewehrt habe. Das Zimmermädchen stand heute morgen in meinem Zimmer vor einem Chaos. Ich bin jetzt in Zimmer 302 und...« - er machte eine Pause, um Luft zu holen, und strahlte dann über das ganze Gesicht -»...und heute abend können Sie mich in den Nachrichten sehen. Das Fernsehen hat mich interviewt! Und sehen Sie!« Er hielt ihr eine Zeitung hin. »Ganz frisch aus dem Druck!«

Mrs. Pollifax ließ sich auf die Couch sinken und schlug die Zeitung auf. Die Titelseite zierte ein Foto von Mr. Hitchens, der - eingerahmt von zwei Polizisten - in die Sonne blinzelte. Weiter unten auf der Seite war ein zweites Bild von Mr. Hitchens zu sehen; ein Porträt vor einem dunklen Hintergrund, der den weiß leuchtenden und verwegen um die Stirn geschlungenen Kopfverband besonders vorteilhaft betonte. Die Schlagzeile lautete: BERÜHMTER AMERIKANISCHER PARAPSYCHOLOGE IN HONGKONG.

»Ich bin berühmt!« strahlte Mr. Hitchens glücklich.

»Wie schön für Sie«, sagte Mrs. Pollifax. »Ihre Story nimmt fast die ganze Titelseite ein. Das freut mich für Sie, aber sagen Sie mir: Wie fühlen Sie sich, Mr. Hitchens? Ich meine, wie geht es Ihrer Verletzung?«

Seine Hände tasteten nach seinem Kopf. »Das Eis ist anscheinend geschmolzen, denn mein Kopf dröhnt wie ein chinesischer Gong. Aber das ist wahrscheinlich nur die Müdigkeit.« Er nahm den Hut ab, und der Eisbeutel fiel in seinen Schoß. Mit zwei Fingern hob er ihn hoch und sagte: »Sie haben keinen Platz dafür in Ihrer Handtasche?«

»Nein«, erwiderte sie ungerührt. »Da ist bereits 'ne Beretta und der Abschiedsbrief eines angeblichen Selbstmörders drin. Für einen Eisbeutel ist da kein Platz.«

Er nickte schicksalsergeben und stopfte den Eisbeutel in seine Jackentasche. »Sie haben Alec nicht gefunden?«

»Noch nicht - leider«, antwortete sie und verstummte, als ein Mann in prächtig wallendem Gewand und über und über mit Schmuck behängt in die Halle des Hotels segelte - in seinem Kielwasser ein Gefolge von nicht minder exotisch anmutenden Personen. Sie durchquerten die Lobby und verschwanden im Aufzug.

»In Squantum gibt's so etwas nicht«, bemerkte Mr. Hitchens kopfschüttelnd.

»Squantum?«

»Der Ort, wo ich lebe. In der Nähe von Boston. Aber wir sprachen über Alec.«

»Keine Spur von ihm. Aber wir haben etwas anderes gefunden«, sagte Mrs. Pollifax. »Robin hat uns beide für morgen früh um acht in seine Suite zum Frühstück eingeladen. Er möchte mit Ihnen sprechen.«

Mr. Hitchens war hocherfreut.

»Er möchte Ihnen ein Foto zeigen und ...« Sie verstummte, als sie bemerkte, daß Mr. Hitchens ihr offenbar gar nicht zuhörte. Sie folgte seinem Blick zu einer Gruppe müde und erschöpft aussehender amerikanischer Touristen, die von einer chinesischen Reiseführerin in das Hongkong-Hilton begleitet wurden. Mr. Hitchens stieß einen unterdrückten Laut aus, sein Kinn klappte nach unten, und seine Augen weiteten sich vor Staunen.

»Was ist denn?« fragte Mrs. Pollifax verwirrt.

Mr. Hitchens schloß den Mund und schluckte vernehmbar. »Das ist doch...!« murmelte er - und dann: »Das ist doch...!« Ein verklärtes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Das ist doch Ruthie!« rief er aus. Er sprang auf und rief laut ihren Namen.

Eine der Frauen in der Gruppe drehte sich um und sah herüber. Sie entdeckte Mr. Hitchens, und ihr Gesichtsausdruck war nicht weniger verblüfft, als der von Mr. Hitchens vor einem Augenblick. Sie löste sich aus der Gruppe, machte ein paar zögernde Schritte, blieb zaudernd stehen und eilte dann auf Mr. Hitchens zu. Sie trafen sich in der Mitte der Halle, und Mr. Hitchens umarmte sie schüchtern. Die Art, wie sich die beiden begrüßten, ließ auf eine schwierige und komplizierte Trennung vor langer Zeit schließen.

Mrs. Pollifax beobachtete das Paar lächelnd. Ruthie war die einzige seiner Frauen gewesen, die von Mr. Hitchens kein aufregendes Leben erwartet hatte - wenn sich Mrs. Pollifax recht erinnerte. Vorausgesetzt, sie brachte nichts durcheinander, dann war seine erste Frau Kindergärtnerin gewesen, seine zweite eine ehrgeizige junge Schauspielerin und seine dritte Frau eine ehrgeizige junge Zauberkünstlerin. Ruthie mußte seine erste Frau gewesen sein, denn wohl keine Frau, deren Ehrgeiz im Showbusineß Befriedigung suchte, würde ihr Äußeres so charakterfest ihren wahren, tieferen Eigenschaften unterordnen. Ruthie war klein und auf den ersten Blick unscheinbar, doch beim näheren Hinsehen mußte Mrs. Pollifax diesen Eindruck revidieren: Sie hatte große, empfindsame braune Augen, eine ganz reizende Stupsnase, die im interessanten Kontrast zu ihrem kleinen Kinn stand, das eine gehörige Portion Selbstbewußtsein und Stand-haftigkeit verriet. Sie trug ein braunes Kleid, bequeme Schuhe und ging - nach Mrs. Pollifax' Schätzung - auf die Vierzig zu. Eine sensible, kleine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht, entschied Mrs. Pollifax. Nur die leichte Röte, die in Ruthies Gesicht gestiegen war, verriet, wie sehr sie sich freute, ihn wiederzusehen.

»Aber ich verstehe nicht...«, hörte Mrs. Pollifax sie sagen. »Was in aller Welt machst du in Hongkong?«

Mr. Hitchens wandte sich zu Mrs. Pollifax um. »Was für eine Überraschung!« rief er. »Das ist Ruthie!«

Ruthies Augen folgten Mr. Hitchens' Blick, und Mrs. Pollifax sah in ihnen eine plötzliche Angst aufkeimem, als sie die Person suchten, zu der ihr Ex-Mann gesprochen hatte. »Sie liebt ihn noch immer«, dachte Mrs. Pollifax, »und fürchtet wahr-scheinlich, wieder eine dieser jungen Schauspielerinnen zu sehen.«

Aus Ruthies Blick wich die Angst, als sie Mrs. Pollifax entdeckte. »Oh!«, machte sie. »Oh!«

Lächelnd erhob sich Mrs. Pollifax von der Couch und gesellte sich zu den beiden. »Die Gründe für Mr. Hitchens' Aufenthalt hier sind ziemlich kompliziert und - übrigens, ich bin Mrs. Pollifax -, und er steckt bis über beide Ohren... Weshalb zeigen Sie ihr nicht einfach die Zeitung, Mr. Hitchens?«

Die Röte auf Ruthies Gesicht wurde noch eine Nuance tiefer, als Mr. Hitchens die Zeitung auseinanderfaltete und ihr stolz die Fotos auf der Titelseite zeigte. »Verzwickte Geschichte«, erklärte er vage, »aber im Augenblick nicht so wichtig. Du siehst prächtig aus, Ruthie!«

»Leider müssen Sie mich nun entschuldigen«, erklärte Mrs. Pollifax. »Ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen.«

»Oh, nein, bitte«, widersprach Ruthie verwirrt. »Sie dürfen nicht glauben... Ich bin mit einer Reisegruppe hier, und wir haben ein sehr gedrängtes Programm. Heute abend stehen einige Nachtclubs auf der Liste, und ich... «

»Großartig«, strahlte Mr. Hitchens. »Warum stürzen wir beide uns nicht gemeinsam in das Nachtleben, Ruthie?«

Mrs. Pollifax ergriff die Gelegenheit, sich zurückzuziehen, und überließ die beiden den Gefahren und Freuden ihres Wiedersehens. Sie fuhr in ihr Zimmer hoch, um eine betont unauffällige Garderobe für den Abend auszuwählen, denn sie hatte keineswegs die Absicht, den Abend in den Nachtclubs von Hongkong zu verbringen.

8

In ihrem Zimmer angekommen, zog sich Mrs. Pollifax sogleich um. Sie entschied sich für einen einfachen Baumwollrock, eine gestreifte Bluse, bequeme Sandalen und ein blaugestreiftes Halstuch, das sie sich um den Kopf band. Dann kramte sie in ihrem Koffer nach dem Notizbuch, das sie auf Reisen stets bei sich hatte. Sie riß die erste Seite heraus, auf die sie im Vogelhaus des Zoologischen Gartens die Notizen für Cyrus gekritzelt hatte, und betrachtete kritisch die restlichen unbeschriebenen Seiten des Blocks. Schließlich nickte sie zufrieden, riß etwa zwanzig Blätter heraus und steckte sie in ihre Handtasche. Sie verließ das Zimmer. Auf ihrem Weg zum Haupteingang nahm sie einen Umweg durch das Untergeschoß in Kauf, um in einem der Läden eine sehr professionell aussehende Klemmappe zu erstehen. Auf der Straße angelangt, winkte sie ein Taxi heran und nannte dem Fahrer die Straße, in der Detwiler wohnte, ohne allerdings die Hausnummer zu nennen. Sie sollte eine Überraschung erleben: Mr. Detwiler wohnte auf einer Insel zu Füßen des Victoria-Peak, auf der Grundstücke sicherlich sündhaft teuer waren, doch in der von schattenspendenden Bäumen gesäumten Straße, in der Detwilers Haus lag, schien dies absolut kein Problem zu sein, denn zwischen den Häusern erstreckten sich großzügige und sorgfältig gepflegte Rasenflächen. Mrs. Pollifax zahlte das Taxi, dankte dem Fahrer und blieb, unentschlossen um sich blickend, am Bordstein stehen. Sie wünschte, sie hätte ihr Kleid und den Hut anbehalten, doch dann gab sie sich einen Ruck und schlenderte die Straße hinauf. Vor dem Haus mit der Nummer 3216 blieb sie stehen und entdeckte ein diskret zwischen den Büschen am Eingang des Gartens angebrachtes Schild: DETWILER - HAUS JASMIN.

»Klein, aber fein«, murmelte sie und verglich das Anwesen ganz unwillkürlich mit dem mehr als bescheidenen, winzigen Laden, den Detwiler in einer der entlegensten und schäbigsten Geschäftsgegenden der Stadt betrieb. Doch dann erinnerte sie sich, daß Detwiler ja schließlich mit Diamanten handelte. Sie seufzte tief. »Mut, Emily! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, flüsterte sie fast beschwörend und schlenderte weiter — zum Haus mit der Nummer 3218 - FINCH-BERTRAMS - HAUS ZU DEN BUCHEN.

Mrs. Pollifax ging zielstrebig zur Haustür und klingelte. Ein Dienstmädchen, eine zierliche Chinesin in einer voluminösen Schürze, erschien in der Tür. »Guten Tag«, grüßte Mrs. Pollifax freundlich. »Ich führe eine Umfrage im Auftrag unserer Wirtschaftsredaktion durch und interessiere mich dafür, wie viele Stunden Sie täglich fernsehen.«

Die Chinesin betrachtete sie mit verständnislosem Blick. »Wer ist das, Ming?« rief eine Stimme in strengem, eindeutig englischen Tonfall, und eine sehr gepflegte und elegant gekleidete junge Frau trat neben das Dienstmädchen. Sie musterte Mrs. Pollifax eingehend, zuckte mit den Schultern und bat sie einzutreten.

»Weshalb nicht?« sagte sie. »Mein Mann kommt erst in ein paar Stunden nach Hause, und da Ming kein Englisch spricht, ist es oft recht langweilig, alleine in dem großen Haus zu sein.«

Fünfunddreißig Minuten später - nachdem sie mehr, als ihr lieb war, über Mrs. Finch-Bertrams, deren Bridge-Partien und Lieblingsboutiquen erfahren hatte und darüber, wie wenig sie von ihrem Gatten sah, der die paar Stunden, die er nicht im Büro war, am Telefon oder im Club in der Gesellschaft von Geschäftsfreunden verbrachte - mußte sich Mrs. Pollifax förmlich losreißen, wollte sie nicht unter den Belanglosigkeiten begraben werden, die Mrs. Finch-Bertrams interessant fand. Leider gehörten die Nachbarn in Haus Nummer 3216 nicht zu den Dingen, die Mrs. Finch-Bertrams' Interesse erweckten. Ja, natürlich sehe sie fern, und Mrs. Pollifax notierte sorgfältig, was Mrs. Finch-Bertrams zu diesem Thema zu sagen hatte: Vor allem Familienserien sehe sie sich oft an, wenn sie alleine zu Hause sei, die sie allerdings »zum Sterben langweilig« fände, und »alles, was spannend ist - wo man sehen kann, was die Dame heutzutage trägt«. Das Problem bei solchen Interviews, fand Mrs. Pollifax, als sie wieder die Straße erreicht hatte, lag darin, daß man ungebeten in irgendwelche Ehegeheimnisse und Klatschgeschichten eingeweiht wurde - und meist in solche, die einem nicht weiterhalfen...

Gegenüber, bei den Wongs in Haus Nummer 3217 hatte sie mehr Glück. Eine erstaunlich junge Mutter, eine Chinesin in Bluejeans, öffnete die Tür, während sie ihre drei kichernden Kinder in Schach zu halten versuchte.

»Vom Fernsehen? Oh, das ist mein Babysitter«, erklärte Mrs. Wong lachend. »Sie haben das richtige Haus gefunden. Er ist bei uns ständig an, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht ein stilles Dankgebet an das RTV spreche.«

Gott sei Dank, wurde Mrs. Pollifax diesmal nicht hereingebeten, und nachdem sie Mrs. Wongs Antworten bezüglich der fiktiven Umfrage notiert hatte, erkundigte sie sich interessiert: »Und die Familie, die gegenüber wohnt - haben die Kinder?«

Mrs. Wong schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Da wohnt Tom Detwiler. Er ist Junggeselle. Ich habe ihn schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen. Aber seine Haushälterin sieht sicherlich fern... «

Ein Junggeselle... eine Haushälterin... Mrs. Pollifax bedankte sich überschwenglich, winkte den Kindern fröhlich zum Abschied und entschied kurzentschlossen, daß es das beste sei, Mr. Detwilers Haus direkt anzusteuern, ehe sie möglicherweise einer zweiten Mrs. Finch-Bertrams in die Hände fiel. Während sie die Straße überquerte, betrachtete sie erneut das Haus -diesmal mit besonderem Augenmerk für diskrete Winkel und Verstecke, die geeignet wären, den lästigen Sohn eines ermordeten Polizeiinspektors vor unbefugten Blicken zu verbergen. Am Ende der Auffahrt zum Beispiel entdeckte sie eine recht geräumige Garage, über der offenbar auch einige Wohnräume lagen. Das Haus selbst schien auf den ersten Blick gar nicht so groß, doch bei näherem Hinsehen entdeckte Mrs. Pollifax einen angebauten Seitenflügel, der wegen der dichten Büsche und Bäume von der Straße her nicht zu sehen war. Das Haus konnte mit Recht als eine gekünstelte - je nach Geschmack mehr oder weniger gelungene - Mischung aus 118 europäischen und asiatischen Stilelementen bezeichnet werden: Über der glatten, modernen Frontfassade, in die dezent Teakholz- und Natursteinelemente integriert waren, türmte sich ein an den vier Ecken nach oben geschwungenes chinesisches Pagodendach. Die Haustür zierte ein schwerer Knauf aus massivem Messing, der die Form eines Delphins hatte. Mrs. Pollifax klingelte und wartete. Sie hoffte inständig, Mr. Detwiler war nicht ausgerechnet an diesem Nachmittag, einem unwiderstehlichen Bedürfnis folgend, in sein Haus zurückgeeilt, und sie wünschte sich, seine Haushälterin würde ebensoviel Anlaß zum Klagen haben wie Mrs. Finch-Bertrams und würde einer geduldigen Zuhörerin nicht widerstehen können.

Wie sich herausstellte, hatte Mr. Detwilers Haushälterin nur einen einzigen Grund zu klagen - einen sehr unerwarteten zwar, doch ihr Bedürfnis nach einem geduldigen Ohr und einer verständnisvollen Stimme war nichtsdestoweniger sehr ausgeprägt: Kaum hatte Mrs. Pollifax erwähnt, daß sie eine Umfrage durchführe, wurde sie in die Küche gebeten, um die weiteren Einzelheiten bei einer guten Tasse Tee zu erörtern.

»Manchmal fühle ich mich schon sehr einsam«, vertraute sie Mrs. Pollifax an und nickte dabei - ihre Einsamkeit bekräftigend - heftig mit dem Kopf. »Übrigens -ich heiße O'Malley... Jane O'Malley. Offen gestanden, wenn ich den Fernseher nicht hätte, ich wüßte nicht... Ich glaube, ich würde verrückt werden. Mr. Detwiler bezahlt mich zwar sehr großzügig - nichts gegen ihn -, aber wenn er nicht bald nach Hause kommt...« Sie führte Mrs. Pollifax in die Küche, setzte ihr in einer wunderhübschen Havilandtasse Tee vor und nahm ihr gegenüber am Küchentisch Platz.

Etwas verwirrt von Mrs. O'Malleys Klagelied schüttelte Mrs. Pollifax mitfühlend den Kopf. »Sie sind den ganzen Tag allein?« erkundigte sie sich teilnahmsvoll. »Vermutlich müssen Sie das Essen für jeden der Familie immer wieder aufwärmen, anstatt es - wie es sich gehört - für die ganze Familie zu servieren?«

»Familie!« rief Mrs. O'Malley frustriert. »Er lebt alleine! Und essen tut er auch nicht zu Hause! Er ist schon seit zwei Monaten nicht mehr hier gewesen.«

»Er ist seit zwei...«, Mrs. Pollifax unterbrach sich. »Jaja -natürlich. Dann verstehe ich, daß Sie sich einsam fühlen.« Konnte es sein, daß sie die Wahrheit sagte? überlegte Mrs. Pollifax. Seit zwei Monaten war er nicht mehr zu Hause gewesen... ?

Mrs. O'Malley nickte bekräftigend. »So ist es. Und wenn man vierundzwanzig Stunden am Tag ganz alleine ist - Sie müssen wissen, ich wohne auch hier: in dem Apartment über der Garage -, dann... Manche würden natürlich sagen: >Was für ein bequemer Job<, aber für wen soll ich denn kochen? Eine Frau braucht nun mal einen Mann, den sie bekochen kann.«

»Und Sie sind sicherlich eine gute Köchin«, warf Mrs. Pollifax ein.

»Das bin ich - ja. Die beste, hat mein Mann immer gesagt., . Gott habe ihn selig. Er war in der Britischen Armee, und wir waren so lange hier, daß ich einfach nicht mehr nach England zurück konnte. Ich fühlte mich dort nicht mehr zu Hause... Und Mr. Detwiler war immer so zufrieden mit meinen Dinnerpartys - als er noch welche gab... Ich habe nämlich einen GourmetKochkurs besucht, müssen Sie wissen.«

Nur mit Mühe konnte Mrs. Pollifax verbergen, wie sehr sie die monatelange Abwesenheit Mr. Detwilers von zu Hause überraschte, doch es gelang ihr, ganz beiläufig zu fragen: »Er ist wohl auf einer längeren Geschäftsreise?«

Ein seltsamer Ausdruck stahl sich in Mrs, O'Malleys rundes, biederes Gesicht; eine Mischung von Verwirrtheit und Verlegenheit, entschied Mrs. Pollifax, die versuchte, den Ausdruck genauer zu definieren. »Irgendwelche geschäftlichen Angelegenheiten - ja«, sagte Mrs. O'Malley. »Einmal in der Woche schickt er mir mit einem Botenjungen seine Wäsche; ohne ein Wort der Erklärung, wo er ist. Und ich gebe dem Jungen immer die sauberen und frisch gestärkten Hemden mit... Es ist schon deprimierend, das dürfen Sie mir glauben: Früher, da hatten wir Dinnerpartys - oft zwei oder drei in der Woche. Und er hatte auch seine Freundinnen - doch ja... Überhaupt war das Haus voller Leben - bis vor zwei Monaten. Und jetzt kommt nur noch der Botenjunge einmal in der Woche. Was soll ich anderes tun als fernsehen? Bei Ihrer Umfrage können Sie mich zu den Leuten zählen, die ihre meiste Zeit vor der Kiste verbringen. Ich glaube, ich würde sonst anfangen, mit mir selbst zu sprechen.«

Zwei Monate! Wie benommen wiederholte Mrs. Pollifax in Gedanken diese Information. Das war äußerst bemerkenswert! Hatte Bishop nicht gesagt, daß Detwilers Berichte an das Ministerium seit zwei Monaten irreführend und offenbar gefälscht seien? Laut sagte sie: »Das kann ich sehr gut verstehen, Mrs. O'Malley.« Sie legte die Klemmappe auf den Tisch und zückte ihren Kugelschreiber. »Mrs. Wong von gegenüber geht es auch nicht viel anders. Bei ihr ist die... eh... Kiste auch den ganzen Tag an.«

Mrs. O'Malleys Miene hellte sich auf. »Sie ist ja ein so liebes Ding. Und seit ihr Schwiegervater gestorben ist, geht es ihr auch viel besser.« Mrs. O'Malley schüttelte mißbilligend den Kopf. »Er war ein fanatischer Nationalist, wissen Sie. Er redete und redete und redete - den ganzen Tag. Und sie war so geduldig, das kleine Ding.«

»Ein Nationalist?«

»Ja... Das, was China war, ehe die Roten die Macht übernahmen. Dieser General Soundso... Tschiang Kaischek, oder so ähnlich, der die Regierung nach Taiwan verlegte und immer davon redete, aufs Festland zurückzukehren.« Mrs. O'Malley, der Mrs. Pollifax' Erstaunen nicht entgangen war, fügte erklärend hinzu: »Für Sie liegt das alles bestimmt lange zurück - das, was damals geschah -, aber nicht hier in Hongkong. Sie dürfen nicht vergessen, daß die meisten der Flüchtlinge damals nach Hongkong flohen, und viele können das alles nicht vergessen - wie der alte Mr. Wong von gegenüber, der die Flagge der Nationalisten jeden Tag in seinem Garten hißte. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß das nun vorbei ist. Also, was wollten Sie mich fragen?«

Mrs. Pollifax begann mit ihrer Umfrage, und Mrs. O'Malley kommentierte, ohne lange überlegen zu müssen, die Sendungen, die sie sich täglich ansah. Als sie fertig waren, hatte Mrs. Pollifax das vollständige TV-Programm von morgens bis Mitternacht auf ihrem Block stehen.

Als sie endlich Stift und Klemmappe beiseite schob, fragte Mrs. O'Malley: »Sind Sie auch Witwe?«

Mrs. Pollifax verbannte Cyrus vorübergehend aus ihren Gedanken und bejahte die neugierige Frage. »Schon seit vielen Jahren«, fügte sie hinzu.

Mrs. O'Malley nickte verständnisinnig. »Und dann noch diese Inflation hier, und was das für die Witwenrenten bedeutet - ich weiß Bescheid!... Wo wohnen Sie eigentlich, meine Liebe?«

»In der Nähe der Lion Rock Road«, erwiderte Mrs. Pollifax, der im Moment außer der Adresse von Inspektor Wi keine andere einfiel, und mit einem Blick auf ihre Uhr fügte sie hinzu: »Aber ich muß jetzt wirklich gehen. Ich habe noch eine Menge Leute zu befragen, und es ist schon fast fünf... «

»Die holen das Letzte aus einem heraus, nicht wahr?« seufzte Mrs. O'Malley mit einem Nicken. »Suchen Sie sich doch auch einen Platz als Haushälterin, meine Liebe. Es ist beinahe so, als hätte man ein eigenes Heim, sage ich immer.«

Mrs. Pollifax erhob sich lachend. »Sicherlich - vorausgesetzt, der Hausherr verschwindet nicht wochenlang.«

»Kommen Sie doch morgen wieder vorbei, wenn Sie noch in der Gegend zu tun haben«, sagte Mrs. O'Malley, als sie ihr die Haustür öffnete. »Wie sagten Sie noch mal, ist Ihr Name?«

Mrs. Pollifax versuchte verzweifelt, einen Gedanken zu fassen, doch in ihrem Kopf herrschte plötzliche Leere. »Leer -Irma Leer«, stammelte sie und floh.

Der Besuch in Detwilers Haus hatte Mrs. Pollifax einen Schock versetzt, dessen sie auf dem Weg zum Hotel und später in ihrem Zimmer verzweifelt Herr zu werden versuchte. Das Gespräch mit Mrs. O'Malley hatte sie verwirrt, denn Detwiler war ganz sicher nicht auf einer Geschäftsreise außerhalb Hongkongs - dessen war sie sich sicher. Schließlich hatte sie erst gestern mit ihm in Feng-Imports gesprochen. Und doch war er seit zwei Monaten nicht mehr zu Hause gewesen! Die quälende Frage, auf die sie noch keine Antwort wußte, war: weshalb?

Sie versuchte sich zu erinnern, was sie in seinem Haus zu finden erwartet hatte: etwas Unheilvolles, natürlich - denn warum sonst hätte sie die Beretta in ihrer Handtasche gelassen, als sie das Hotel verließ? Inzwischen fand sie die Vorstellung, Detwiler könnte Alec in einem Mansardenzimmerchen oder einem ähnlich entlegenen Winkel des Hauses gefangenhalten, gar nicht mehr so überzeugend. Statt dessen hatte sie eine elegante Vorstadtvilla und eine ergebene Haushälterin vorgefunden; und was Mrs. O'Malley betraf, war Mrs. Pollifax überzeugt, sie hätte Alec - würde er tatsächlich im Hause festgehalten - in die Küche geschleppt, um mit ihm bei einer Tasse Tee ein Schwätzchen zu halten.

»Irgend etwas muß ich übersehen haben«, dachte sie. »Ich muß endlich aufhören, irgendwelchen Hirngespinsten und vorgefaßten Meinungen nachzujagen ...Ich muß meine Gedanken davon freimachen, um klarsehen zu können, was mir bisher entgangen ist... «

Um zehn Uhr desselben Abends fuhr Mrs. Pollifax erneut durch die Straßen von Hongkong, um zum zweiten Mal heimlich Sheng Ti zu treffen: diesmal jedoch war sie in Begleitung von Robin.

Sie hatten sich im Lastenaufzug getroffen, als sie gerade das Hotel verlassen wollte. »Hier trifft man das erlesenste Publikum«, hatte Robin gespöttelt, als im Untergeschoß sich die Tür des Aufzugs langsam öffnete und sie verblüfft in Robins Gesicht gestarrt hatte. »Wohin des Wegs, meine liebe Mrs. P.?«

»Lotus hat angerufen«, erwiderte sie hastig. »Ich bin unterwegs zur Dragon Alley, und hab's eilig, denn sie konnte sich ihrer Zimmergenossinnen nur für eine halbe Stunde entledigen.«

»Ich begleite dich«, sagte er kurzentschlossen und nahm sie beim Arm. »Der Renault steht vor dem Eingang, und ich würde diesen jungen Mann sehr gerne kennenlernen.«

»Warst du am Flughafen?«

Er hielt ihr die Wagentür auf. »Ja. Die beiden Männer von Interpol habe ich bereits mit Marko zusammengebracht. Krugg löst Marko in der Dragon Alley ab, der dann Upshot zu unserem Beobachtungspunkt in der Seitenstraße bringt und anschließend ins Hotel zurückkehrt, um was zu essen und sich aufs Ohr zu hauen. Bisher habe sich nichts Besonderes getan, meinte Marko; außer daß Sheng Ti gegen halb sechs den Laden verlassen hat, mit zwei in braunem Papier verpackten Päckchen unter dem Arm. Um sieben kam er dann zurück - ohne die beiden Päckchen. Ich würde verdammt gerne wissen, was er da weggebracht hat.«

»Und ich«, sagte Mrs. Pollifax, »werde ihn fragen, wo sich Mr. Detwiler aufhält.« Sie berichtete ihm von der Umfrage und schilderte kurz, was sie dabei in Erfahrung gebracht hatte.

»Du warst fleißig, Mrs. Pollifax«, bemerkte Robin und warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?«

»Ich habe die ganze Geschichte noch einmal durchgedacht und mich erinnert, daß ich schließlich seinetwegen in Hongkong bin«, erwiderte sie.

»Natürlich - ja«, gab er etwas verwundert zu.

Sie lächelte. »Außerdem habe ich Cyrus geschrieben, meine Yogaübungen nicht vergessen und Mr. Hitchens in den Abendnachrichten bewundert. Ich fand, er hat seine Sache sehr professionell gemacht - wie er mit den Fragen der Journalisten umging und dabei niemals der Eindruck entstand, er könnte außer Alec Wi irgend jemanden in Hongkong kennen.«

»Um so besser für ihn. Mir fällt ein Stein vom Herzen.«

»Übrigens«, fügte sie hinzu, »bringt die Abendausgabe der Zeitung auf der Titelseite ein Bild von Alec Wi mit der Überschrift: >WER HAT DIESEN MANN GESEHEN?< Ich hab' sie dabei, um das Bild Lotus und Sheng Ti zu zeigen.«

»Allmählich finde ich es unheimlich, daß dir anscheinend nichts entgeht«, bemerkte Robin mit einem Augenzwinkern.

»Ich erzähle das nur, damit du Alec nicht vergißt. Ich könnte es mir zumindest vorstellen - jetzt, wo auch noch Eric der Rote aufgetaucht ist. Aber Mr. Hitchens ist sehr besorgt wegen Alec. Ich habe Mr. Hitchens übrigens getroffen. Er wird morgen um acht mit uns frühstücken. Er war entzückt... Und von den Terroristen hat er natürlich keine Ahnung; seine Gedanken kreisen noch immer um gestern und um Alec.«

»Gestern... als wir alle noch eine Spur unschuldiger waren und... Weshalb fühle ich mich bloß ständig in der Defensive und schuldig? Zum Beispiel, daß ich Mr. Hitchens todunglücklich machen könnte... «

Sie lachte. »So unglücklich nun auch wieder nicht!« Sie berichtete von Ruthie, und ein erleichtertes Schmunzeln trat in sein Gesicht.

»Die Wege des Schicksals!« rief er theatralisch. »Und sie ist auf einer dieser furchtbaren Pauschalreisen, die einen bei jeder Jahreszeit durch ihr Programm jagen? Ich würde sie gerne kennenlernen; ich bin nämlich neugierig.«

Mrs. Pollifax nickte. »Ich denke, sie würde dir gefallen. Natürlich ist sie keine Schönheit wie etwa Court...«

»Court ist unvergleichlich«, stellte Robin apodiktisch fest.

Amüsiert erwiderte Mrs. Pollifax: »Natürlich - zumindest für dich... Aber Mr. Hitchens sieht das möglicherweise anders. Ich bin gespannt, was sich zwischen ihm und Ruthie anbahnt. Ich finde, er ist ein sehr sensibler und verständnisvoller Mann, und er hat reagiert, als würde er Zeuge eines mittleren Wunders... Da vorne rechts ist ein Parkplatz«, fügte sie schnell hinzu.

Gekonnt manövrierte Robin den Renault in die Parklücke. »Ein gewöhnliches oder ein göttliches Wunder?«

»Kein Wunder ist gewöhnlich«, lächelte sie. »Aber jede Frau, die wie Mr. Hitchens grüne Bananen und Wiederholungen von alten Fernsehserien liebt, kann mit Fug und Recht als ein göttliches Wunder bezeichnet werden. Wir müssen von hier noch zwei Blocks laufen.

An der Ecke mit der Neonschrift >JEDEN ABEND JAZZ, GIRLS< müssen wir abbiegen.«

Als sie die knarrende Holztür zu dem winzigen Hinterhof der Dragon Alley 40 vorsichtig hinter sich zuschob, entdeckte Mrs. Pollifax sogleich Lotus, die auch diesmal im Schatten der Hütte wartete. Als das Mädchen sah, daß Mrs. Pollifax nicht alleine gekommen war, sprang sie auf, um wegzulaufen. Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Er ist ein Freund«, flüsterte Mrs. Pollifax. »Ein guter Freund, glauben Sie mir. Es ist alles in Ordnung.«

Lotus bedachte Robin mit einem mißtrauischen Blick, doch dann führte sie die beiden durch die schmale Hintertür in das düstere, winzige Zimmer, in dem Mrs. Pollifax schon einmal gewesen war.

»O Gott - sieht aus wie eine Opiumhöhle«, murmelte Robin, der hinter ihr ins Zimmer trat.

Zu Mrs. Pollifax' Verwunderung schien Sheng Ti Robins Gegenwart in keiner Weise zu beunruhigen; was sie überaus rührend fand. Doch dann begriff sie, daß dies ein Ausdruck von Sheng Tis bedingungslosem und blindem Vertrauen in sie war - ein Umstand, der sie mit Sorge erfüllte. »Freund!« sagte Sheng Ti und schüttelte Robin strahlend die Hand. »Neuer Freund. Bitte - setzen.«

Sie setzten sich um die blakende Lampe, deren gespenstischer Schein ihren Gesichtern eine seltsam unnatürliche Röte verlieh, und Mrs. Pollifax eröffnete die Zusammenkunft, indem sie eine Serviette auf den Tisch legte, in die sie einige Süßigkeiten eingeschlagen hatte. Daneben legte sie 20 Hongkong-Dollar. »Als Zuschuß zur Miete - weil wir das Zimmer eine halbe Stunde benützen können«, erklärte sie Lotus. »Und nun zu den wichtigeren Dingen. Sheng Ti, hast du heute für Mr. Detwiler Botengänge erledigt?«

Sheng Ti nickte. »Ja. Und ich habe mir alles gemerkt.« Er schloß die Augen und schnarrte drauflos:

»Zwei Päckchen mit Diamanten: eines für Donald Chang, Nga Tsin Wai Road, in der Nähe des Flughafens in Kowloon, und das andere auf die Post, versichert, an Gern Märt, Bombay, Indien.« Er öffnete die Augen und lächelte stolz.

»Mich interessiert vor allem die Adresse in Hongkong«, sagte Robin. »Können Sie mir die genaue Adresse von Donald Chang geben, Sheng Ti?«

Sheng Ti nickte, brachte ein Stück Papier zum Vorschein und las die Adresse noch einmal vor, diesmal mit der Hausnummer und der Nummer des Apartments. »Ich arbeite gut?« fragte er Mrs. Pollifax eifrig.

Sie lächelte. »Du arbeitest gut - ja.« Sie zog die Zeitung aus ihrer Handtasche und hielt Sheng Ti das Bild von Alec Wi hin. »Hast du diesen Mann schon einmal bei Feng-Imports gesehen?«

»Nein. Nicht dort«, antwortete er kopfschüttelnd.

»Du meinst, du hast ihn anderswo gesehen?« fragte Mrs. Pollifax atemlos.

Sheng Ti zeigte auf das Bild. »In der Zeitung, heute abend... Ich lese jeden Abend die Zeitung, um Englisch zu lernen.«

»Verstehe«, sagte Mrs. Pollifax enttäuscht. »Und Sie, Lotus?«

»Nein, noch nie«, erwiderte Lotus.

»Und diesen Mann?« fragte Mrs. Pollifax und zog das zerknitterte Zeitungsfoto von Eric dem Roten aus ihrer Tasche. »Habt ihr ihn schon einmal im Laden gesehen?«

»Nein«, sagte Lotus, und Mrs. Pollifax erinnerte sich, daß das Mädchen erst zur Arbeit gekommen war, nachdem der Mann mit der gewalttätigen Aura Feng-Imports bereits verlassen hatte.

Sheng Ti jedoch studierte das Bild mit zusammengekniffenen Augen. Er nickte heftig. »Ja. Er kam sehr früh -gestern, glaube ich. Ja, gestern. Er brachte Yudee...«

»Jade«, erklärte Lotus.

»Shi, Jade... Und als er kam... sie schickten mich weg, um Qishui zu kaufen.«

»Limonade«, warf Lotus ein.

Sheng Ti nickte ungeduldig. »Aber ich habe ihn trotzdem gesehen - als ich ging. Er hat... komische Narben in... « Er tupfte mit dem Finger auf seine Wangen. »Das ist der Mann.«

»Ja«, sagte Mrs. Pollifax und nickte.

Robin beugte sich über den Tisch. Mit heiserer Stimme fragte er: »Haben Sie ihn ein zweites Mal gesehen? Wissen Sie, wo er hinging? Haben Sie seinen Namen gehört?«

Sheng Ti schüttelte traurig den Kopf.

»Noch eine Frage«, sagte Mrs. Pollifax und schob Sheng Ti die Serviette mit den Süßigkeiten hin. »Nimm doch eins. Sie sind köstlich.«

»Köstlich?«

»Ja... Wo schläft Mr. Detwiler? Bleibt er am Abend im Laden? Wohnt er jetzt dort?«

Sheng Ti sah sie hilflos an. »Ich gehe um acht, neun, zehn... Er noch da -Xiänsbeng - ich weiß nicht.«

»Na so was!« knurrte Robin. »Und wann fangen Sie zu arbeiten an?«

»Sechs Uhr - manchmal acht Uhr«, erwiderte Sheng Ti.

»Sklavenarbeit!«

»Und Sie, Lotus, wissen Sie etwas?« wandte sich Mrs. Pollifax an das Mädchen.

Lotus runzelte verwirrt die Stirn. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, aber seit Wochen ist Mr. Detwiler noch im Laden, wenn ich um sechs gehe. Das ist eigentlich ungewöhnlich, denn sonst ging er immer um fünf oder halb sechs. Er hat nämlich ein Haus...«

»Ich weiß«, warf Mrs. Pollifax ein. »Und wo wohnt Mr. Feng?«

Die Miene des Mädchens hellte sich auf. »Er hat eine Wohnung über dem Laden.«

Mrs. Pollifax begegnete Robins fragendem Blick mit einem triumphierenden Lächeln. Eine Wohnung über dem Laden! Detwiler konnte also ohne weiteres bei Feng wohnen, um jederzeit verfügbar zu sein - zum Beispiel. Mrs. O'Malley würde Detwiler so lange nicht zu Gesicht bekommen, bis das, was sie planten - was immer es sein , mochte - über die Bühne gegangen war.

Was immer er auch vorhaben mochte... Mrs. Pollifax seufzte. Die Information, daß Detwiler nachts in der Stadt blieb, war keine umwerfende Sache, aber sie war trotzdem froh zu wissen, wo er seine Nächte verbrachte.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Sheng Ti besorgt.

»Ist einem von Ihnen jemals ein Funkgerät bei Feng-Imports aufgefallen?« erkundigte sich Robin.

»Es gibt ein Radio - für Musik...«, antwortete Lotus. »Shouyinji«, erklärte sie Sheng Ti. »Ich weiß nicht, was über dem Laden ist. Ich glaube, es sind zwei Räume. Weshalb fragen Sie?«

Mrs. Pollifax warf Robin einen kurzen Blick zu. Unmerklich schüttelte er den Kopf. »Es ist besser, wenn ihr das nicht wißt -noch nicht«, entgegnete sie. »Aber es ist sehr wichtig. Und dieser Mann...«, sie deutete auf das Bild von Eric dem Roten, »... dieser Mann ist sehr gefährlich. Ein übler Bursche. Sollte er wieder bei Feng-Im-ports auftauchen oder wenn ihr sonst etwas über ihn, hört, sagt uns sofort Bescheid!« ;

»Ihm auch?« fragte Lotus und warf einen Blick auf Robin.

»Ihm auch«, erwiderte Mrs. Pollifax.

Robin war bereits dabei, seine Telefonnummer aufzuschreiben. »Sollten Sie Mrs. Pollifax nicht erreichen können, an diesem Telefon ist immer jemand.« ;

»Oder Sie kommen zum Hotel, wenn es sehr wichtig ist«, sagte Mrs. Pollifax und zog weitere zwanzig Dollar aus ihrer Handtasche. Zehn gab sie Lotus und zehn Sheng Ti. »Für das Taxi.«

»So viel Geld!« murmelte Sheng Ti beeindruckt. »Wir rufen morgen wieder an?«

»Ja, bitte«, sagte Mrs. Pollifax, und als sich Robin erhob, stand auch sie auf und gab Sheng Ti und Lotus zum Abschied die Hand. »Vielen Dank, ihr beiden«, lächelte sie.

»Dein junger Mann gefällt mir«, sagte Robin, als sie wieder im Auto saßen und durch die von Neonreklamen hell erleuchteten Straßen Hongkongs fuhren. »Allerdings hat er vor irgend etwas furchtbare Angst.»

»Ja«, stimmte Mrs. Pollifax zu und fügte dann hinzu:

»Ich auch übrigens... Du etwa nicht?«

Im Hotel angekommen, fuhr dieses Mal nur Robin mit dem Lastenaufzug nach oben. Mrs. Pollifax machte den Umweg durch die Halle, um zu fragen, ob ein Telegramm für sie da sei. Möglicherweise versuchte Car-stairs, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Es lag tatsächlich ein Telegramm für Mrs. Reed-Pollifax am Empfangsschalter. Ungeöffnet nahm sie es mit in ihr Zimmer, und während sie nach oben fuhr, ließ sie in Gedanken den Tag noch einmal Revue passieren. Er hatte damit begonnen, daß sie beim Erwachen Mr. Hitchens auf ihrer Couch vorgefunden hatte. Dann hatten sie die Leiche Inspektor Wis entdeckt. Sie hatte von Robin die wahre Identität des Mannes mit der schwarzen Aura erfahren, und es war ihnen gelungen, um Feng-Imports vielversprechende Beobachtungsposten einzurichten. Anschließend hatte sie ihre Umfrage durchgeführt, und am Abend war sie auch noch mit Sheng Ti und Lotus zusammengetroffen. Was für ein Tag! Kein Wunder, daß sie sich ausgepumpt und hundemüde fühlte.

Sie trat in ihr Zimmer und legte die Handtasche auf den Schreibtisch neben die Buddhastatue. Nachdenklich betrachtete sie die Figur, und der Ausdruck heiterer Gelassenheit, der auf dem glatten Jadegesicht lag, erfüllte sie mit Neid. Mit einem tiefen Seufzer öffnete sie das Telegramm. Es war nicht von Carstairs - es war von Cyrus! Sie las: DAUERREGEN STOP KAM FRÜHER ZURÜCK STOP KOMME MIT DER ERSTEN MASCHINE STOP DONNERSTAG ABEND HONGKONG' STOP DU FEHLST MIR STOP BIS BALD IN LIEBE CY-RUS.

Sie las es noch einmal und fühlte, wie die Müdigkeit wie ein abgetragener Mantel von ihr abfiel. Cyrus war auf dem Weg zu ihr! Cyrus!

Sie jauchzte vor Freude hell auf, und einen Augenblick schien es ihr, als lächelte ihr der Buddha gütig zu. Einer spontanen Eingebung folgend verneigte sie sich leicht vor der Statue. Dann löschte sie das Licht.

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