Der gescheiterte Feldzug Napoleons gegen Russland im Jahr 1812 ist bis zum heutigen Tag fest im kollektiven Gedächtnis Europas verankert. Die fast vollständige Vernichtung der französischen Grande Armée, die zu Kriegsbeginn etwa 600.000 Mann gezählt hatte, gilt weithin als die größte militärische Katastrophe der Neuzeit vor den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Das hohe öffentliche Interesse, das nach wie vor am französisch-russischen Krieg von 1812 besteht, fand im Gedenkjahr 2012 in verschiedenen Ländern, insbesondere in Russland, in zahlreichen Ausstellungsaktivitäten, Symposien, Vortragsveranstaltungen sowie in einer breiten Medienberichterstattung seinen Ausdruck.{76}
Vor allem zwei Faktoren dürften für die enorme Bedeutung des Russlandfeldzugs Napoleons in der europäischen Erinnerungskultur Ausschlag gebend sein. Zum einen die politischen Folgen des Krieges. Aus der Rückschau betrachtet, markierte die Niederlage des französischen Kaisers in Russland einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts. Die Herrschaft Napoleons über weite Teile West-, Mittelund Südeuropas wurde durch die Ereignisse des Jahres 1812 grundlegend erschüttert. Gut ein Jahr nach dem Ende des russischen Feldzugs existierte das Premier Empire nicht mehr. Zum anderen war es der dramatische Verlauf des französisch-russischen Krieges, der das Interesse an diesem militärischen Konflikt auch nach zwei Jahrhunderten noch weckt. Ereignisse wie die Feldschlacht bei Borodino, die Zehntausende das Leben kostete, vor allem aber der Brand Moskaus und der Rückzug der Grande Armée aus Russland bei Eis und Schnee verleihen dem Krieg von 1812 eine Bedeutung, die über das historische Geschehen hinausweist. Der Feldzug Napoleons erlangte in den vergangenen zwei Jahrhunderten eine symbolische Bedeutung für die Grausamkeit des Krieges an sich.
Die Vorgeschichte des französisch-russischen Konflikts von 1812 reicht bis in die 1790er-Jahre zurück.{77} Von 1795 bis 1807 hatten sich Zarin Katharina die Große sowie ihre Nachfolger, die Zaren Paul I. und Alexander I., regelmäßig und erfolglos an den Bündnissen gegen das revolutionäre bzw. napoleonische Frankreich beteiligt. Nach der Niederlage der von Preußen und Russland getragenen Vierten Koalition vollzog die russische Politik im Sommer 1807 eine Wende. Napoleon und Alexander schlossen im Juli 1807 in Tilsit am Niemen (dt.: Memel) ein Friedensabkommen, das gleichzeitig einen Allianzvertrag darstellte. Alexander akzeptierte die von Napoleon zum Teil bereits realisierte, zum Teil noch beabsichtigte territoriale Neuordnung West-, Mittel- und Südeuropas. Diese Reorganisation zielte auf eine französische Hegemonie über Italien, über die Schweiz, über die deutschen Staaten des Rheinbundes, über die Niederlande sowie über Ostmitteleuropa (Preußen, Polen) ab. Alexander verpflichtete sich zudem zum Anschluss an das französische Handelsembargo gegen Großbritannien, die sogenannte Kontinentalsperre. Russland und Frankreich versprachen sich daneben wechselseitige Unterstützung im Kriegsfall und steckten Interessensphären in Nordeuropa und — in allerdings unzureichender Weise — auch auf dem Balkan ab. Beispielsweise gestattete Napoleon Russland die Eroberung Finnlands, die 1808/09 erfolgte.
Die in Tilsit geschlossene Allianz zwischen den Kaiserreichen Frankreich und Russland war von Beginn an fragil. Hierfür waren vor allem langfristige politische Interessengegensätze zwischen den Bündnispartnern verantwortlich. Drei grundlegende Konfliktlinien lassen sich identifizieren. Erstens verkörperten das aus dem revolutionären Frankreich hervorgegangene Kaiserreich Napoleons und das dem Ancien Régime verhaftete Russland vollkommen verschiedene Herrschafts- und Gesellschaftsmodelle. Zweitens bestanden zwischen Frankreich und Russland starke geopolitische Gegensätze. Die beiden Imperien rivalisierten vor allem im östlichen Mitteleuropa (Polen, Preußen), aber auch auf dem Balkan und in Skandinavien. Drittens entsprach der erzwungene Anschluss an das Kontinentalsystem Napoleons nicht den wirtschaftlichen Interessen des Zarenreiches.
Außer durch politische Gegensätze war die in Tilsit geschlossene Allianz durch die konkreten Umstände ihrer Entstehung belastet. Der Kriegsverlierer Alexander musste im Sommer 1807 aus einer Position der Schwäche heraus verhandeln. Es kam aufgrund dieser Ausgangskonstellation zu keinem auf beiden Seiten gleichermaßen akzeptierten Ausgleich der Interessen. Der militärische Sieger Napoleon setzte vielmehr eine französische Suprematie im Bündnis voraus. Er versuchte in den Jahren nach 1807 wiederholt, diese Vorrangstellung zur Geltung zu bringen und Russland zum Erfüllungsgehilfen seiner Politik zu machen. Nicht nur politisch, sondern auch persönlich betrachtete der Empereur seinen Bündnispartner Alexander als nicht ebenbürtig. Diese Einschätzung war deshalb äußerst problematisch, weil sich die realen Machtverhältnisse nach 1807 zugunsten Russlands verschoben.
Die zahlreichen Konfliktherde in der imperialen Allianz zwischen Frankreich und Russland wurden in den Jahren nach 1807 sukzessive virulent. Das Bündnis war einem Erosionsprozess ausgesetzt, der sich über Jahre hinzog und der schließlich in offene Feindschaft einmündete. Die französisch-russischen Beziehungen zwischen 1807 und dem Ausbruch des Krieges im Frühjahr 1812 lassen sich in drei Phasen untergliedern. In den Jahren 1807 bis 1809 kooperierten die beiden Imperien, wenngleich die Schwierigkeiten im Bündnis bereits unübersehbar waren. Napoleon ordnete auf der Grundlage der Tilsiter Verträge den mitteleuropäischen Raum neu. Alexander führte siegreich Krieg gegen Schweden und gliederte anschließend Finnland in sein Imperium ein. Ein ernster Konflikt entspann sich jedoch aufgrund der französischen Kompensationsforderungen für die von Alexander geplante Annexion der osmanischen Provinzen Moldau und Walachei. Bei einem glanzvollen Treffen zwischen Napoleon und Alexander in Erfurt im September und Oktober 1808 war der Vertrauensbruch im Bündnis bereits offenkundig. In den Jahren 1809/10 kam es zum Bruch der Allianz. Hierfür waren mehrere Entwicklungen verantwortlich, die sich wechselseitig bedingten. Russland unterstützte Frankreich im Krieg gegen Österreich nur symbolisch, konspirierte unter der Hand sogar mit dem Gegner Napoleons. Der französische Kaiser reagierte, in dem er seinem Bündnispartner im Frieden von Schönbrunn nur einen kleinen Teil der von der Habsburgermonarchie abgetrennten galizischen Gebiete zusprach. Hingegen wurde das unter französischem Einfluss stehende, von Russland stets kritisch beäugte Herzogtum Warschau großzügig bedacht. Diese Ereignisse trugen wiederum dazu bei, dass Alexander das Ansinnen Napoleons zurückwies, die russische Großfürstin Anna zu ehelichen. Der französische Kaiser heiratete daraufhin die österreichische Erzherzogin Marie-Louise. Obwohl die französisch-russische Allianz durch die geschilderten Ereignisse Anfang 1810 weitgehend ausgehöhlt war, bestand das Tilsiter Bündnis formal bis 1812 weiter. In den letzten beiden Jahren vor Kriegsbeginn war das Verhältnis zwischen Frankreich und Russland durch zahlreiche konkrete politische Probleme massiv belastet. Dissens bestand vor allem über die Balkanpolitik Napoleons nach dem Frieden von Schönbrunn, die Wahl des französischen Marschalls Jean-Baptiste Bernadotte zum Kronprinzen von Schweden (Mai 1810), die zukünftige Rolle des Herzogtums Warschau sowie die faktische Wiederaufnahme des Handels mit Großbritannien durch Russland (31. Dezember 1810). Für erhebliche Verstimmung sorgte zudem die Annexion des Herzogtums Oldenburg durch Frankreich Anfang 1811. Durch die Ausweitung des Empire nach Norddeutschland verlor der Ehemann Großfürstin Katharinas, Herzog Peter von Oldenburg, seine Besitzungen; er emigrierte nach Russland.
Die zunehmende Entfremdung der Bündnispartner von Tilsit bewirkte, dass ein französisch-russischer Krieg sowohl in Paris als auch in Sankt Petersburg zunehmend als unausweichlich angesehen wurde. Die Jahre 1810 bis 1812 standen bereits im Zeichen der Kriegsplanung und Rüstung der nominell noch verbündeten Imperien. 1811 geriet Europa erstmals an den Rand des Krieges, als Alexander einen Präventivschlag gegen das Herzogtum Warschau erwog. Der militärische Konflikt brach schließlich ein Jahr später aus: Napoleon marschierte ab Juni 1812 an der Spitze einer etwa 600.000 Mann starken, von Soldaten aus weiten Teilen Europas gebildeten Grande Armée in Russland ein. Der damit ausgelöste Krieg sollte bis zum Frühjahr 1814 dauern.{78}
Der Verlauf des Feldzugs von 1812 war zunächst maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass die Armee Alexanders einer offenen Feldschlacht auswich und sich ins Innere des Zarenreiches zurückzog. Die französischen Streitkräfte hatten in den Sommermonaten aufgrund von ungünstiger Witterung, Versorgungsschwierigkeiten und dadurch bedingten Krankheiten hohe Verluste zu verzeichnen. Napoleon setzte dem zurückweichenden russischen Heer nach und errang schließlich in den Schlachten bei Smolensk (17./18. August) und Borodino (7. September) militärische Siege. Diese Erfolge vermochten den Krieg jedoch nicht zu entscheiden. Nach dem Eintreffen der bereits erheblich dezimierten Grande Armée in Moskau Mitte September ging die ehemalige Hauptstadt des Zarenreiches — wohl vor allem durch russische Brandstiftung — in Flammen auf; ihre Gebäudesubstanz wurde zu etwa 70 Prozent zerstört. Da Friedensverhandlungen Napoleons mit Alexander scheiterten und Moskau nicht gehalten werden konnte, trat die französische Armee am 19. Oktober den Rückzug an. Dieser geriet zur Katastrophe: Nahrungsmittelmangel, der Einbruch des Winters Anfang November, Krankheiten und Erschöpfung sowie Angriffe durch Teilverbände des russischen Heeres führten zu einem kontinuierlichen Verlust an Kampfkraft und schließlich zur weitgehenden Auflösung der französischen Formationen. Die besetzten Gebiete in Russland mussten sukzessive preisgegeben werden. In Weißrussland drohte vor dem Übergang über die Beresina zeitweilig sogar eine Einkesselung und völlige Vernichtung der verbliebenen Truppenkörper. Diese konnte zwar vermieden werden, doch erreichten ab Mitte Dezember nur schwache französische Verbände die Sammelplätze in Ostpreußen und im Herzogtum Warschau. Die Bilanz des ersten Kriegsjahres war für Frankreich desaströs: Von den 550.000 bis 600.000 Soldaten des napoleonischen Heeres, die in dem halben Jahr von Juni bis Dezember 1812 jenseits des Niemen eingesetzt gewesen waren, hatten etwa 400.000 entweder den Tod gefunden oder waren in Kriegsgefangenschaft geraten. Der Blutzoll, den das siegreiche Zarenreich Alexanders im ersten Kriegsjahr entrichtete, war ähnlich hoch: Auf der russischen Seite ist ebenfalls von etwa 400.000 toten Soldaten und Milizionären auszugehen. Hinzu kam die Verwüstung weiter Landstriche, die zum Durchzugsgebiet der feindlichen Armeen geworden waren.
Im zweiten Kriegsjahr 1813 wurde Mitteleuropa zum Kriegsschauplatz. Napoleon gelang es nach der Niederlage in Russland, rasch eine neue Armee aufzustellen. Zar Alexander konnte nach dem militärischen Erfolg des Jahres 1812 Bündnispartner gewinnen: Im Februar 1813 trat zunächst Preußen auf die russische Seite, im Verlauf der Sommermonate verstärkten Großbritannien, Schweden und Österreich die antinapoleonische Allianz. Die Kampfhandlungen, deren Brennpunkte vor allem in Sachsen und in Schlesien lagen, lassen sich in zwei Phasen einteilen. Im Frühjahrsfeldzug siegte Napoleons Heer bei Lützen/ Großgörschen (2. Mai) und Bautzen (20./21. Mai). Allerdings gelang dem französischen Kaiser wiederum kein Sieg, der den Krieg entschied. Nach einem über zweimonatigen Waffenstillstand vom 4. Juni bis zum 10. August zeigte sich, dass sich die relative Stärke der Kriegsparteien verändert hatte. Im Herbstfeldzug errang Napoleon zwar in der Schlacht um Dresden (26./27. August) einen Sieg, doch unterlagen in den folgenden Wochen mehrfach detachierte französische Verbände den alliierten Truppen. Die Entscheidung über die Kontrolle Mitteleuropas fiel schließlich in der Völkerschlacht bei Leipzig (16.—19. Oktober), die Napoleon mit einer zahlenmäßig unterlegenen Armee verlor. Die französische Herrschaftsordnung in den deutschen Ländern brach im Anschluss an diese Schlacht rasch zusammen, die Reste der Grande Armée zogen sich nach Frankreich zurück.
In den Wochen um den Jahreswechsel 1813/1814 gab es mehrere diplomatische Initiativen zur Beendigung des Krieges, die jedoch zu keinen greifbaren Ergebnissen führten. Besonders Russland und Preußen, die auf einen Sturz Napoleons abzielten, waren an einem Friedensschluss vor einem endgültigen militärischen Triumph nicht interessiert. Napoleon gelang es nach der Niederlage bei Leipzig im Unterschied zum Vorjahr nicht mehr, eine schlagkräftige Armee aufzustellen. Zum Hauptkriegsschauplatz wurde in den ersten Monaten des Jahres 1814 der Norden und Osten Frankreichs. Die französischen Truppen leisteten unter der im Kriegsjahr 1814 zum Teil brillanten Führung Napoleons zwar einige Wochen erfolgreich Widerstand, konnten die Niederlage aber nicht abwenden. Nach der Schlacht bei Arcis-sur-Aube (20. März) war der Weg für die Alliierten nach Paris frei. Am 31. März zogen Zar Alexander von Russland, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und der österreichische Oberbefehlshaber Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg an der Spitze ihrer Truppen in Paris ein. Napoleon dankte wenige Tage später ab.
Politik und Militär
Württemberg, seit 1495 Herzogtum im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und traditionell Vormacht im Schwäbischen Reichskreis, zählte zu denjenigen deutschen Mittelstaaten, die durch die Umbrüche der napoleonischen Zeit außerordentlich profitierten.{79} Der von 1797 bis 1816 regierende Fürst Friedrich (1754—1816) — bis 1805 als Herzog Friedrich II., dann als König Friedrich I. — wechselte während seiner Regierungszeit zwei Mal das Bündnis. Er brachte sich durch diese, von den Umständen weitgehend erzwungene Politik auf die Seite der jeweils späteren Sieger. Friedrich, der selbst unter Katharina der Großen einige Jahre als russischer Offizier gedient hatte und den seit der Heirat seiner Schwester Sophie Dorothee (Maria Feodorowna) mit dem späteren Zaren Paul I. (1777) ein sehr enges Verwandtschaftsverhältnis mit dem Haus Romanow verband, stand nach seinem Regierungsantritt zunächst auf der Seite der antifranzösischen Allianz.{80} Nach der Niederlage der zweiten Koalition im Jahr 1800 geriet das Württemberg in eine äußerst kritische Situation. Nicht zuletzt russischer Unterstützung war es zu danken, dass nicht nur die Existenz des Herzogtums gesichert werden konnte, sondern der Staat Friedrichs sogar gestärkt aus dieser Lage hervorging. Durch die Mediatisierung bisher reichsunmittelbarer Reichsstände sowie die wenig später erfolgte Säkularisation geistlicher Staaten konnte Württemberg sein Territorium in den Jahren 1802/1803 um etwa 2.250 qkm vergrößern. Die neu erworbenen Gebiete bildeten zunächst das verfassungsrechtlich vom Herzogtum getrennte „Neuwürttemberg“. Der vergrößerte Staat wurde zudem 1803 zum Kurfürstentum des Heiligen Römischen Reiches erhoben. Die erste einschneidende Wende der Außenpolitik Friedrichs erfolgte im Oktober 1805. Zu Beginn des Dritten Koalitionskrieges wurde der württembergische Herzog und Kurfürst durch Napoleon zum Abschluss eines Bündnisses mit Frankreich gezwungen. Württembergische Truppen kämpften daraufhin in den Kriegen der Jahre 1805, 1806/1807, 1809, 1812 und 1813 auf französischer Seite. Der Bündniswechsel Friedrichs machte sich rasch bezahlt: Württemberg wurde wenige Wochen nach dem Sieg Napoleons in der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz (2. Dezember 1805) aufgrund der Bestimmungen des Friedens von Pressburg zum Königreich erhoben. Wenige Monate später trat der südwestdeutsche Mittelstaat dem unter französischem Protektorat stehenden Rheinbund bei, dessen Gründung unmittelbarer Anlass für die Niederlegung der Krone des Heiligen Römischen Reiches durch Kaiser Franz II. war. Württemberg profitierte wiederum durch Gebietszuwächse: Unter anderem wurden nun das Fürstentum Hohenlohe sowie eine größere Zahl oberschwäbischer Herrschaften mediatisiert. Im Anschluss an den Sieg Napoleons im Krieg gegen Österreich 1809 erfuhr Württemberg durch Grenzbereinigungen mit Bayern nochmals territoriale Erweiterungen, diesmal im Osten des Landes. Insgesamt hat sich das Territorium Württembergs zwischen 1802 und 1810 von 9.500 qkm auf etwa 19.500 qkm mehr als verdoppelt. Die Bevölkerungszahl stieg von etwa 620.000 auf etwa 1,3 Millionen. Anlass für die zweite Wende der württembergischen Politik Ende 1813 waren die französischen Niederlagen im Feldzug gegen Russland 1812 sowie in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813. Württemberg trat durch eine Militärkonvention mit Bayern vom 23. Oktober und durch einen Vertrag mit Österreich vom 2. November auf die Seite der Gegner Frankreichs über. Durch seinen abermaligen Bündniswechsel, der durch die bestehenden verwandtschaffliehen Bindungen nach Russland erleichtert wurde, sicherte König Friedrich seinem Land langfristig die Fortexistenz. In den Verhandlungen des Wiener Kongresses 1814/15 blieben sowohl der territoriale Bestand Württembergs als auch der Status als Königreich unangetastet.
Die politische Konstitution Württembergs erfuhr in der Epoche Napoleons tief greifende Umwälzungen. Herzog Friedrich, von einem autokratischen Herrschaftsverständnis geprägt, nutzte am 30. Dezember 1805 die bevorstehende Erhebung seines Staates zum Königreich, um die altwürttembergische landständische Verfassung aufzuheben. Gleichzeitig wurde das bisherige Herzogtum mit den neuwürttembergischen Gebieten vereinigt. Das Königreich Württemberg wurde unter Friedrich im Sinne des „Aufgeklärten Absolutismus“ regiert, d. h. durch eine starke fürstliche Spitze und die ihr verpflichtete Bürokratie. Erst in der nach-napoleonischen Zeit, im Jahr 1819, erhielt Württemberg unter Friedrichs Sohn und Nachfolger, König Wilhelm I. (1781—1864, reg. 1816—1864), eine Verfassung und wurde damit in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt.
Das württembergische Militärwesen war während der Regierungszeit Herzog bzw. König Friedrichs häufigen und grundlegenden Reformen unterworfen.6 In den Jahren 1798 bis 1800 setzte Friedrich — zum Teil gegen den Landtag — eine Erhöhung der Mannschaftsstärke des württembergischen Heeres von etwa 3.000 auf über 6.300 Mann und eine Neuaufstellung der Formationen durch. In einem für „Neuwürttemberg“ gültigen Rekrutierungsgesetz vom 21. Februar 1803 wurde erstmals eine allgemeine Dienstpflicht der Untertanen formuliert. Der französisch-württembergische Allianzvertrag vom Oktober 1805 brachte eine Erhöhung der Mannschaftsstärke und eine Neuformierung der Truppen. Anfang 1806 hielt Württemberg knapp 10.000 Mann unter Waffen. Bereits im Januar 1806 und nochmals im Jahr 1807 wurde das nunmehrige königliche Armeekorps erneut reorganisiert. Im März 1806 wurde zudem neben dem bereits seit 1704 bestehenden, kollegial organisierten Kriegsrat das Amt eines Kriegsministers geschaffen und mit Herzog Wilhelm von Württemberg, einem Bruder des Königs, besetzt. De facto spielte jedoch der Kriegsrat weiterhin die wichtigste Rolle in der Militärverwaltung. Für die folgenden Entwicklungen auf dem Gebiet des Militärwesens waren die Verpflichtungen maßgebend, die Friedrich beim Beitritt zum Rheinbund im Sommer 1806 eingegangen war. Württemberg oblag, im Kriegsfall 12.000 Mann für die französische Armee zu stellen. Kurz nach der Gründung des Rheinbundes erließ König Friedrich am 6. August 1806 {81} {82} eine Militärkonskriptionsordnung, in der eine Wehrdienstverpflichtung aller Untertanen festgeschrieben wurde. Die militärische Dienstzeit bei der Infanterie betrug acht, bei der Kavallerie zehn Jahre. Zudem war vorgesehen, die Veteranen in sogenannte Landbataillone einzugliedern. Faktisch existierten nach 1806 noch zahlreiche Ausnahmen von der allgemeinen Wehrpflicht. Diese wurden in den Jahren 1809 und 1810 erheblich eingeschränkt. Eine vom König am 20. August 1809 erlassene Militärkonskriptionsordnung, ausführlichere „Instruktionen zum Konskriptionsgesetz“ vom 19. September 1809 sowie einzelne Anweisungen Friedrichs weiteten die militärische Dienstpflicht auf nahezu alle männlichen Württemberger aus. Die Bestimmungen Friedrichs ermöglichten eine Vermehrung der württembergischen Armee auf knapp 29.000 Mann. Die Erhöhung der Mannschaftsstärke machte bereits 1809 eine erneute Reorganisation der Streitkräfte nötig. Auch in den folgenden Jahren fanden Umstrukturierungen der einzelnen Truppenteile statt, deren Zahl sich jedoch nicht mehr grundlegend änderte. Der Kriegsrat, dessen Leitung ab 1809 faktisch der Vizepräsident übernommen hatte, war seit dem 1. Juli 1811 nicht mehr kollegial, sondern monokratisch organisiert. Die tatsächliche Leitung der württembergischen Militärverwaltung lag seit 1810 in den Händen von Friederich August Freiherr von Phull (1767—1840), einem Cousin des früheren preußischen Generalstabschefs Karl Ludwig von Phull, der im Dezember 1806 in russische Dienste getreten war.{83} Für den Feldzug gegen Russland stellte Württemberg ein Kontingent von 15.800 Mann, von denen im Winter 1812/13 nur etwa 500 Mann ins Herzogtum Warschau zurückkehrten. Der fast vollständige Verlust des ins Feld gezogenen Armeekorps machte im Winter 1813 umfangreiche Rekrutenaushebungen sowie eine rasche Reorganisation der Armee erforderlich. Im Frühjahr 1813 umfasste das württembergische Heer etwa 24.000 Mann, von denen 11.600 Mann ins Feld zogen, während die übrigen 12.400 in den Garnisonen verblieben. Auch das württembergische Armeekorps des Jahres 1813 erlitt schwerste Verluste. Ende Oktober 1813 langten etwa 1.200 Mann in der Heimat an. Da sich Friedrich bei seinem Bündniswechsel auf die Seite der Gegner Napoleons Ende Oktober/ Anfang November zur Stellung großer Truppenkontingente (je 12.000 Mann 1813 und 1814) verpflichtet hatte, musste erneut binnen kurzer Frist eine Armee aufgebaut werden. Württemberg rief zudem im Januar 1814 den Landsturm auf, der das Land bei einem eventuellen französischen Angriff verteidigen sollte. Die entsprechenden Planungen gingen von 100.000 bis 110.000 Mann aus und erfassten alle Waffenfähigen zwischen 18 und 60 Jahren. Aufgrund der alliierten Erfolge in Frankreich im Frühjahr 1814 kamen sie allerdings nicht zur Umsetzung. Weitere Reformen, die das württembergische Militärwesen auf eine neue Grundlage stellten, folgten nach dem Sieg über Frankreich im März 1814 bzw. nach dem definitiven Ende der napoleonischen Herrschaft im Jahr 1815. Sie wurden zum Teil noch von König Friedrich, im Wesentlichen jedoch von seinem Nachfolger Wilhelm durchgeführt und brachten eine Anpassung der Militärverwaltung und der Heeresgliederung an die Erfordernisse eines Friedensheeres. In diesem Zusammenhang wurde der Personalbestand des württembergischen Heeres deutlich reduziert.
Württemberg war als Rheinbundstaat zur Stellung eines Truppenkontingents für den im Jahr 1812 ausgebrochenen Krieg zwischen Frankreich und Russland verpflichtet.{84} Bereits im Frühjahr 1811, als sich die Spannungen zwischen den Imperien Napoleons und Alexanders zugespitzt hatten und eine russische Militäroffensive gegen das Herzogtum Warschau gedroht hatte, war ein württembergisches Infanterieregiment nach Danzig kommandiert worden. Anfang Februar 1812 erhielt König Friedrich von Napoleon den Befehl zur Mobilmachung eines Armeekorps zum Feldzug gegen Russland.{85}
Der württembergische König stand einem Krieg gegen das Zarenreich ablehnend gegenüber. Er versuchte im Vorfeld des militärischen Konflikts — vergeblich — mäßigend auf Napoleon einzuwirken und eine Durchführung des Feldzugs zu verhindern. Vor allem zwei Gründe waren hierfür Ausschlag gebend. Zum einen war das Haus Württemberg, wie bereits erwähnt, dynastisch eng mit der Zarenfamilie verbunden. Eine Schwester Friedrichs, Maria Feodorowna, war die Mutter des amtierenden Zaren Alexander. Andere Mitglieder des Hauses Württemberg, zum Beispiel Alexander Herzog von Württemberg, ein Bruder des Königs, sowie Eugen Herzog von Württemberg, ein Neffe aus der schlesischen Linie, dienten in hoher Funktion in der russischen Verwaltung bzw. im Militär.{86} Zum anderen versprach ein
Feldzug gegen Russland für Württemberg und seinen König Friedrich keine politischen Vorteile. Arrondierungen des Staatsgebiets, die Friedrich nach dem französisch-österreichischen Krieg 1809 noch erlangen konnte, waren 1812 unabhängig vom Ausgang des Krieges nicht zu erwarten. Hingegen musste Friedrich, der die Verhältnisse im russischen Heer aus seiner eigenen Militärzeit im Zarenreich gut kannte, befürchten, dass ein Großteil seiner Streitmacht für französische Kriegsziele geopfert werden würde.
Da der König keine Möglichkeit hatte, sich seinen Bündnisverpflichtungen zu entziehen, rückte im März 1812 ein württembergisches Truppenkontingent ins Feld. Es umfasste etwa 10.000 Mann Infanterie, 1.000 Mann Artillerie und 2.300 Mann Kavallerie. In späteren Kriegsphasen sollten noch das seit Frühjahr 1811 in Danzig stationierte Infanterie-Regiment Nr. 7 sowie Ergänzungstruppen in den Krieg gegen Russland involviert werden. Das Oberkommando über die württembergischen Regimenter hatte König Friedrich seinem Sohn, Kronprinz Friedrich Wilhelm, dem späteren König Wilhelm I., übertragen. Der König verband mit dieser Personalentscheidung unter anderem die Hoffnung, dass die württembergischen Truppen als geschlossener Verband am Krieg teilnehmen konnten. Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen: Der Großteil der württembergischen Regimenter bildete seit Ende März die 25. Division des französischen Heeres, die Teil des dritten, von Marschall Michel Ney geführten Armeekorps war. Hingegen wurde das Kavallerie-Regiment Nr. 3 Jäger Herzog Louis dem 40.000 Mann starken Kavalleriereservekorps der Grande Armée zugeschlagen, welches vom neapolitanischen König Joachim Murat befehligt wurde.{87} {88} In der ersten Phase des Feldzuges hatte die Ernennung des Kronprinzen zum Oberbefehlshaber der württembergischen Truppen sogar deutlich negative Rückwirkungen auf die Situation der Soldaten. Napoleon, der durch die Berufung der hochgestellten fürstlichen Persönlichkeit seine unumschränkte Befehlsgewalt über die württembergischen Regimenter — wohl nicht zu Unrecht — gefährdet sah, zielte darauf ab, Friedrich Wilhelm und seine Truppen zu demütigen. Aus diesem Grund benachteiligte er das württembergische Kontingent bei der Verpflegung und bei der Zuweisung von Quartieren. Hohe Befehlshaber der 25. Division stellte er beim Durchmarsch durch Polen ungerechtfertigterweise vor der ganzen Armee bloß. Der Kaiser bemängelte die Disziplin der württembergischen Regimenter und behauptete, schwäbische Soldaten hätten gegen seinen Befehl im Land geplündert. Erst nachdem Kronprinz Friedrich Wilhelm im Juli wegen einer Erkrankung die Armee verlassen musste, besserte sich die Behandlung der Württemberger durch die französische Armeeführung.
Nach dem Überschreiten des Niemen durch die Grande Armée war das Gros des württembergischen Kontingents zunächst als Nachhut des von Michel Ney geführten Armeekorps eingesetzt. Die schwäbischen Truppen zogen nördlich an Vilnius vorbei und wandten sich anschließend gegen die Düna. Die Einteilung als Arrièregarde trug erheblich dazu bei, dass der Feldzug für die württembergischen Soldaten bereits in den Sommermonaten desaströs verlief. Da die Regimenter stets durch Landstriche zogen, die durch die vor ihnen ziehenden Truppen aller Lebensmittel beraubt waren, litten sie besonders stark unter den Nahrungsmittelengpässen in der französischen Armee und waren nicht zuletzt deshalb von Krankheiten in katastrophaler Weise betroffen. Ohne dass die Truppen König Friedrichs im Gefecht gestanden hätten, reduzierte sich der Personalbestand der nach Russland kommandierten Infanterie in den ersten sechs Kriegswochen von knapp 10.000 auf etwa 4.000 Mann. Etwas besser als den württembergischen Truppen, die dem III. französischen Armeekorps zugewiesen waren, erging es dem Kavallerie-Regiment Nr. 3 Jäger Herzog Louis, das unter dem Befehl Murats stand. Dieses Regiment war Teil der Avantgarde der Grande Armée und hatte zunächst weniger unter Versorgungsschwierigkeiten zu leiden. Die Formation nahm am 5. Juli am Gefecht bei Daugeliszky (Dauksiské) sowie am 8. August an den Kämpfen bei Inkowo teil.
Während die Louisjäger anschließend bis kurz vor der Schlacht von Borodino im Rückraum der französischen Armee operierten, kam das Gros der württembergischen Truppen in den Feldschlachten im Raum Smolensk erstmals ins Gefecht. Bei der Belagerung und Einnahme der Stadt Smolensk sowie im Kampf mit der russischen Nachhut im sogenannten Heiligen Tal (Walutina Gora) hatten die schwäbischen Formationen überaus schwierige operative Aufgaben zu lösen. Dies war kein Zufall, war es doch ein Prinzip Napoleons, die Truppen der Verbündeten mit eher problematischen Aufträgen zu betrauen. Die Württemberger kämpften nach den vorliegenden Berichten sowohl bei Smolensk als auch wenige Wochen später bei Borodino tapfer und hatten ihren Anteil an den französischen Erfolgen. Dieser ist allerdings aufgrund der geringen Personalstärke des württembergischen Kontingents nicht allzu hoch zu veranschlagen. Wie sehr Napoleon dennoch den Einsatz der schwäbischen Soldaten zu schätzen wusste, zeigte sich unter anderem daran, dass er nach den Gefechten zahlreiche Württemberger mit dem Orden der Ehrenlegion bedachte. Nach der Schlacht von Borodino verlieh der Kaiser Marschall Michel Ney, dem Befehlshaber des III. Armeekorps der Grande Armée (und damit auch des Großteils der württembergischen Truppen), den Ehrentitel eines „Fürsten von der Moskwa“.
Der Aufenthalt in Moskau bedeutete für die Mehrzahl der noch etwa 1.200 kampffähigen württembergischen Soldaten eine willkommene Erholungsphase. Die Militärangehörigen konnten neue Kräfte schöpfen und ihr Gerät wieder instand setzen. Zudem wurden ein sogenanntes Marschbataillon, das zum größten Teil aus Rekonvaleszenten bestand, sowie die Kompanie von Valois, die den erkrankten Kronprinzen Friedrich Wilhelm nach Vilnius zurückbegleitet hatte, herangeführt. Der eklatante Mangel an Pferden, unter dem die württembergischen Regimenter wie zahlreiche andere Einheiten der Grande Armée litten, ließ sich allerdings nicht beheben. Nicht in Moskau stationiert waren die nach wie vor unter Joachim Murats Kommando stehenden Louisjäger, deren Zahl sich von 580 auf 115 reduziert hatte. Sie bezogen eine Position südlich von Moskau und nahmen am 18. Oktober an der Schlacht von Tarutino (Winkowo) teil. Anschließend löste sich das Regiment wegen Personalmangel auf (20. Oktober).{89}
Auf dem Rückmarsch von Moskau bis zur Grenze des Russischen Reiches teilten die württembergischen Soldaten das Los der gesamten napoleonischen Armee. Sukzessive reduzierte sich die Personalstärke der eingesetzten Regimenter. Viele Militärangehörige starben an Hunger, Kälte, Entkräftung und Krankheit oder gerieten in Kriegsgefangenschaft. Letztmals kämpften die Württemberger am 3. November bei Wiazma im geschlossenen Verband. Bei Krasnoi (Krasnyj), etwa 50 km westlich von Smolensk, drohte den verbliebenen Resten der schwäbischen Formationen die völlige Vernichtung, als das von Ney geführte Armeekorps Gefahr lief, abgeschnitten zu werden. Diese Katastrophe konnte abgewendet werden. Nichtsdestotrotz fanden sich Anfang Januar am Sammelplatz der Württemberger in Inowrazlaw (Inowroclaw, Neubrenslau) westlich von Thorn lediglich etwa 500 Mann ein.
Nach der zügigen Neuaufstellung der württembergischen Regimenter Anfang 1813 konnte im April dieses Jahres ein Korps von gut 7.200 Mann, darunter allerdings viele schlecht ausgebildete Soldaten, in Richtung des sächsischen Kriegsschauplatzes in Marsch gesetzt werden. Die württembergischen Truppen empfingen in der für Napoleon siegreichen Schlacht von Bautzen am 20./21. Mai ihre Feuertaufe. Zehn Tage später standen sie in einem kleineren Gefecht bei Jauer. Auch wenn diese Kämpfe erfolgreich bestritten werden konnten, wogen die Verluste von etwa einem Viertel der eingesetzten Soldaten schwer. Während des Waffenstillstandes zwischen
Anfang Juni und Mitte August 1813 kamen weitere 4.360 Mann aus Württemberg ins Feld. Die schwäbischen Regimenter kämpften am 6. September in der Schlacht bei Dennewitz gegen die alliierte Nordarmee. Bei der französischen Niederlage erlitten sie hohe Verluste von über 2.200 Mann. In der Völkerschlacht bei Leipzig war die württembergische Division — bereits stark dezimiert — vor allem mit Verteidigungsaufgaben betraut und hatte nur geringe Feindberührung. Ein Skandalon war der Übergang einer von Graf Normann geführten Reiterbrigade auf die Seite der Alliierten. Ende Oktober langten die Reste des württembergischen Armeekorps, etwa 1.200 Mann, in Württemberg an.
Der Herbstfeldzug des Jahres 1813 war der letzte Waffengang, in der württembergische Truppen auf der Seite Napoleons kämpften. Nach dem Bündniswechsel König Friedrichs in den Wochen nach der Völkerschlacht bei Leipzig nahmen neu aufgestellte schwäbische Regimenter unter dem Kommando von Kronprinz Friedrich Wilhelm am Frühjahrsfeldzug in Frankreich teil. Unter anderem waren sie an den Schlachten von La Rothiere, Montereau, Arcis-sur-Aube und Fere-Champenoise beteiligt. Unter den alliierten Truppen, die am 31. März in die französische Hauptstadt Paris einzogen, befanden sich auch zwei württembergische Infanteriebataillone.
Aus dem frühen 19. Jahrhundert ist eine deutlich größere Zahl an soldatischen Selbstzeugnissen (v. a. Briefe, Tagebücher, Erinnerungen) überliefert als aus früheren Epochen der europäischen Geschichte.{90} Dies hat viele Gründe.{91} Ein wichtiger Faktor war, dass durch die lange Dauer der französischen Revolutionskriege und der napoleonischen Kriege die Zahl der Militärangehörigen stark angestiegen war. Daneben spielte eine Rolle, dass sich in vielen Staaten in der Zeit um 1800 die soziale Zusammensetzung der Heere verändert hatte. Die Einführung der „levée en masse“ in Frankreich im Jahr 1793 und die Verbreitung der Konskription in den französisch dominierten Teilen Europas bedingten, dass in größerer Zahl Bürgerliche Militärdienst leisteten. Viele von diesen neigten — nicht zuletzt aufgrund ihres zum Teil exzellenten Bildungshintergrunds — dazu, ihre Soldatenzeit sowie die Kriegsereignisse, an denen sie teilnahmen, intensiv zu reflektieren.
Die soldatischen Selbstzeugnisse des frühen 19. Jahrhunderts können in zwei Gruppen geschieden werden: die zeitgenössischen Dokumente und diejenigen, die erst nach den Kriegsereignissen, in der Regel nach dem Ende der napoleonischen Epoche, entstanden sind. Die Zahl der zeitgenössischen Aufzeichnungen ist insgesamt geringer als die Zahl der später angefertigten Texte. Die autobiografischen Dokumente von Militärangehörigen sind wie alle Selbstzeugnisse als „Ich-Konstruktionen“ (Rutz) zu verstehen.{92} Persönliche Kriegserfahrungen sind in diesen Quellen in medial vermittelter Form greifbar.{93} Die wissenschaftliche Auswertung der Selbstzeugnisse von Soldaten, die an den Kriegen um 1800 teilgenommen haben, wirft zum Teil gravierende methodische Probleme auf. Dies gilt besonders für diejenigen Dokumente, die längere Zeit nach den geschilderten Geschehnissen entstanden sind. Bei diesen Aufzeichnungen kam es häufig zu Umdeutungen von Kriegserfahrungen durch den jeweiligen Verfasser. Wissenschaftliche Editionen von Erinnerungswerken sowie quellenkundliche Analysen liegen nur in sehr geringer Zahl vor.{94}
Auffallend viele soldatische Selbstzeugnisse, welche die Zeit der Revolutionskriege oder der napoleonischen Kriege zum Gegenstand haben, beziehen sich ausschließlich oder zum Teil auf den französischen Feldzug gegen Russland im Jahr 1812.{95} Bei diesen Dokumenten handelt es sich ebenfalls mehrheitlich um Werke, die nach 1815 entstanden sind. Zu den Selbstzeugnissen zum Russlandfeldzug Napoleons zählen neben textlichen Kriegserinnerungen auch Zeichnungen und Gemälde, welche die kriegerischen Ereignisse vergegenwärtigen. Zahlreiche autobiografische Dokumente, vor allem Kriegsmemoiren, wurden im Verlauf der vergangenen zwei Jahrhunderte ganz oder in Teilen veröffentlicht. Doch befinden sich immer noch unpublizierte Aufzeichnungen in Archiven, in Bibliotheken oder im privaten Besitz.
Unter den Selbstzeugnissen deutscher Soldaten und Offiziere, die im Jahr 1812 in Napoleons Grande Armée Dienst leisteten, nehmen die Erinnerungswerke von Württembergern eine wichtige Rolle ein.{96} Eine herausragende Bedeutung für die visuelle Vergegenwärtigung des Feldzugs gegen das Zarenreich erlangten die Aquarelle und Zeichnungen von Christian Wilhelm von Faber du Faur (1780—1857).{97} Diese bildlichen Darstellungen wurden weltweit rezipiert und sind in nahezu allen Publikationen über die französische Invasion nach Russland wiedergegeben. Daneben haben aber auch zahlreiche Kriegserinnerungen schwäbischer Militärangehöriger die Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Forschung auf sich gezogen. Zu nennen sind insbesondere die Memoiren von Christian von Martens, Heinrich von Roos, Karl von Suckow und Jakob Walter. Auszüge aus diesen Werken fanden Eingang sowohl in Quellensammlungen als auch in historiografische Darstellungen.{98}
Von insgesamt 25 württembergischen Teilnehmern am Feldzug von 1812 sind Kriegserinnerungen in Textform überliefert. Interessant ist ein Blick auf das biografische Profil der Memoirenschreiber. 17 der 25 Autoren waren Offiziere. In Schwaben griffen überwiegend junge, zumeist zwischen 1785 und 1793 geborene Offiziere (Seconde- und Premierleutnante, Hauptleute) zur Feder und hielten ihre Erinnerungen an den französischrussischen Krieg fest. Die württembergischen Verfasser von Kriegsmemoiren waren mehrheitlich bürgerlicher Herkunft, erlangten aber in der Regel — durch militärischen Aufstieg bzw. durch Ordensverleihung — die Nobili- tierung.{99} Mindestens 14 Autoren stammten aus Altwürttemberg, also aus dem Gebiet des Herzogtums in den Grenzen von 1802. Die überwältigende Mehrheit der Veteranen, die Erinnerungen hinterließen, gehörte der evangelischen Konfession an: Lediglich vier Personen waren katholisch. Memoiren sind in Württemberg von Soldaten aller Waffengattungen überliefert: 17 der 24 Autoren, deren Einheit bekannt ist, dienten in einer Infanterieformation (darunter zwei Ärzte), sechs bei der Kavallerie (darunter drei Ärzte), einer bei der Artillerie. Auffallend ist, dass viele württembergische Autoren von Kriegserinnerungen im Lauf ihrer militärischen Karriere, die sie zum Teil nach 1815 fortsetzten, hohe Auszeichnungen erlangten. Für insgesamt 15 Autoren lässt sich eine Verleihung des württembergischen Militärverdienstordens nachweisen, an drei Ärzte, die Erinnerungswerke verfassten, verlieh König Friedrich den Zivilverdienstorden. Fünf Autoren waren Ritter, zwei sogar Offiziere der französischen Ehrenlegion.
Die zeitliche Abfolge, in der die Memorialwerke der Württemberger über den Feldzug Napoleons gegen Russland 1812 entstanden, weist ein markantes Profil auf. Insgesamt vier Erinnerungstexte wurden in den Jahren unmittelbar nach dem Sturz des französischen Kaisers verfasst. Weitere Werke, insgesamt fünf, entstanden in den ausgehenden 1820er- und in den 1830er-Jahren bzw. wurden in dieser Zeit vollendet. Die Niederschrift dieser Memoiren fällt in eine Zeit, in der sowohl der Russlandfeldzug Napoleons als auch die sogenannten „Befreiungskriege“ in der württembergischen Erinnerungskultur eine zunehmende Bedeutung erlangten: Die früheren Kriegsteilnehmer organisierten sich seit Mitte der 1820er-Jahre in Veteranenbruderschaften, später auch in Vereinen, 1830 und 1837 fanden Veteranentreffen statt und nicht zuletzt erschienen seit 1831 die Aquarelle und Zeichnungen von Christian Wilhelm von Faber du Faur im Druck.{100} Zu den Kriegserinnerungen, deren Niederschrift in die Zeit um 1830 fiel, zählt unter anderem der bedeutende Text von Heinrich von Roos, eines württembergischen Arztes, der 1812 in Kriegsgefangenschaft geraten und anschließend in Russland verblieben war.{101} Stellten die 1830er-Jahre eine Phase intensiven Erinnerns an die Kriege der napoleonischen Zeit dar, so gilt dies weniger für das folgende Jahrzehnt. In den 1840er-Jahren wurde dementsprechend in Württemberg lediglich ein Erinnerungswerk an den Feldzug von 1812 publiziert.{102} Hingegen verfassten in den 1850er-Jahren und zu Beginn der 1860er-Jahre neun württembergische Veteranen ihre Texte bzw. überarbeiteten in dieser Zeit früher erstellte Textfassungen. Die Autoren, die etwa vierzig Jahre nach dem Ende des Premier Empire ihre Memoiren zu Papier brachten, waren primär von einem persönlichen Interesse geleitet. Sie blickten nach dem Ende ihrer beruflichen Laufbahn auf einen bedeutenden Abschnitt ihres Lebens zurück und zielten darauf ab, ihre Erfahrungen der Nachwelt zu übermitteln.
Über die Schreibpraxis der württembergischen Autoren von Kriegs- memoiren liegen nur fragmentarische Informationen vor. Die meisten Veteranen des Feldzugs von 1812 dürften ihre Darstellung auf der Grundläge von Aufzeichnungen verfasst haben, die sie im Feld angefertigt hatten. Diese Materialien sind in der Regel nicht überliefert. Bei der Ausarbeitung der — zumeist wenig detaillierten — originalen Notizen zu ausführlichen Kriegsmemoiren schöpfte die Mehrzahl der Autoren in erster Linie aus der persönlichen Erinnerung. In verschiedenen Fällen benutzten die Veteranen bei der Niederschrift von Memorialwerken die vorhandene historiografische Literatur, die Berichte anderer Felzugsteilnehmer sowie, in seltenen Fällen, amtliche Dokumente. Nur von wenigen Soldaten, die über ihre Kriegserfahrungen in den Jahren 1812 bis 1814 berichteten, sind mindestens zwei Textzeugen erhalten; in diesen Fällen lässt sich die Entstehung der jeweiligen Memoiren etwas konkreter nachvollziehen.{103}
Die überlieferten Erinnerungswerke württembergischer Soldaten unterscheiden sich in Form und Inhalt stark. So beziehen sich die Memoiren auf unterschiedliche Zeitspannen. Zum Teil handelt es sich um Autobiografien, die das gesamte Leben des Autors behandeln, zum Teil wird nur ein bestimmter Lebensabschnitt, zum Beispiel die Teilnahme an einem Feldzug, thematisiert. Einige Memoiren sind als Erzählung, andere in der Tagebuchform der originalen Aufzeichnungen verfasst. Die subjektive Perspektive des autobiografischen Berichts ist in den Erinnerungswerken unterschiedlich stark ausgeprägt. In einigen Werken wird sie durch eine Schilderung des allgemeinen Kriegsverlaufs ergänzt. Grundlegend verschieden ist auch der intellektuelle Anspruch der Texte. Während viele Memoiren primär eine Chronologie der Kriegsereignisse bieten, bemühen sich einige Autoren erkennbar um eine gedankliche Durchdringung und Analyse ihrer individuellen Erfahrungen. Schließlich differiert auch das sprachlich-stilistische Niveau der Memoiren enorm.
Die große Mehrzahl der württembergischen Erinnerungswerke zum Feldzug von 1812 wurde veröffentlicht.{104} Die Publikation erfolgte dabei zum Teil zu Lebzeiten des jeweiligen Autors, zum Teil posthum. Nicht wenige Texte wurden erst viele Jahrzehnte nach ihrer Entstehung herausgegeben.{105}
Einige derjenigen Autoren, deren Aufzeichnungen zu Lebzeiten erschienen, publizierten anonym.{106}
Mehrere württembergische Erinnerungswerke, die bereits im 19. Jahrhundert zum Druck gelangten, stießen auf großes Interesse des Lesepublikums und erfuhren bis zum Ersten Weltkrieg mehrere Auflagen. Zu diesen Texten zählen die Kriegsmemoiren von Christian von Martens, Heinrich von Roos, Karl von Suckow und Christoph Ludwig von Yelin.{107} Der Text von Roos wurde 1912 ins Russische und 1913 ins Französische übersetzt.{108} Die Erinnerungen von Suckow erschienen 1901 in französischer Sprache.{109} Eine überaus beeindruckende Rezeptionsgeschichte wurde in jüngerer Vergangenheit den Erinnerungen des einfachen Infanteristen Jakob Walter zuteil. Das Werk Walters, 1938 erstmals in deutscher und englischer Sprache publiziert, liegt inzwischen in sieben Sprachen im Druck vor (Deutsch, Englisch, Niederländisch, Dänisch, Schwedisch, Französisch, Spanisch).{110}
KÖNIGLICH-WÜRTTEMBERGISCHER OFFIZIER UND BEAMTER
Heinrich August Gottlieb Vossler (Voßler, Vosseier, Voßeler) wurde am 3. November 1791 in Tuttlingen geboren, einer etwa 3.500 Einwohner zählenden Oberamtsstadt, die im äußersten Süden des Herzogtums Württemberg gelegen war.{111} Er entstammt einer bürgerlichen Familie.{112} Der Vater Johann Vossler (1735—1808) bekleidete in Tuttlingen das Amt eines „Heiligenvogts“. Unter der Oberaufsicht des evangelischen Kirchenrats in Stuttgart war er verantwortlich für die Verwaltung der örtlichen „pia Corpora“, d. h. der frommen Stiftungen sowie der von der Kirche getragenen Sozialeinrichtungen.{113} Die Mutter Heinrichs, Maria Magdalena (1765—1840), stammte aus der Tuttlinger Apothekerfamilie Megenhart.{114} Heinrich hatte drei Geschwister: zwei Brüder, Johann Christian Friedrich (1786—1866) und Gustav Friedrich Rudolph (1797—1847), sowie eine Schwester, Christiana Magdalena Judith (1788—1847).
In der Familie Vossler wurde Wissen und Bildung ein hoher Stellenwert eingeräumt. Deutlich erkannte der Vater Johann die damit verbundenen Aufstiegschancen für seine Kinder. Er ließ seinen beiden ältesten Söhnen, deren Entwicklung er bis an die Schwelle des Erwachsenenseins erlebte, eine gute Ausbildung angedeihen. Dies war nicht selbstverständlich, weil die Familie Vossler wie alle Einwohner Tuttlingens am 1. November 1803 von einer Katastrophe betroffen war: An diesem Tag brannte die gesamte württembergische Oberamtsstadt innerhalb der Mauern nieder. Die Bildungsund Karrierewege der ältesten Vossler-Söhne verliefen sehr unterschiedlich: Der Erstgeborene, Johann Christian Friedrich, studierte Jurisprudenz an der Universität Tübingen und trat anschließend in den württembergischen Staatsdienst ein.{115} Er sollte bis zum Ober-Tribunalrat in Tübingen aufsteigen. Heinrich besuchte das Gymnasium Illustre in Stuttgart, das einzige weiterführende Gymnasium, das im Herzogtum Württemberg bestand. Er war — wie er selbst schreibt — wie sein Bruder „zum Studiren bestimmt“. Doch war es Heinrich nicht möglich, eine Universität zu besuchen, da er im Jahr 1809 die hierfür erforderliche königliche Erlaubnis nicht erhielt. Kurzzeitig in einer Schreibstube tätig, wo er nicht glücklich wurde, trat Heinrich Vossler am 8. Juni 1809, mit 17 Jahren, als Freiwilliger in das württembergische Heer ein.{116} Eine Einberufung zum Militär war angesichts der Zeitläufte ohnehin zu erwarten gewesen.
Kurz nach seinem Dienstbeginn in der Armee als Kadett der Depotkompanie beim Garde-Regiment zu Fuß nahm Heinrich Vossler an der Niederschlagung des Aufstands der Vorarlberger gegen die bayerische Herrschaft teil. Im Frühjahr 1810 wechselte er auf eigenen Wunsch zur Kavallerie: Er gehörte zunächst vier Wochen lang als Kadett dem Leibregiment Chevauxlegers an. Seit dem 2. Juni 1810 diente er als Unterleutnant beim Jäger-Regiment zu Pferd Herzog Louis, das seit den Militärreformen von 1811/12 offiziell den Namen Kavallerie-Regiment Nr. 3 Jäger Herzog Louis trug.{117} Das Regiment Vosslers stellte eine Neuformation des Jahres 1805 dar; es war seit März 1807 nach Herzog Ludwig von Württemberg (1756—1817), einem Bruder König Friedrichs, benannt.{118} Vosslers Garnisonsorte — Zwiefalten, Ehingen und Riedlingen — waren alle in Oberschwaben, d. h. im südlichen Landesteil des Königreichs Württemberg, gelegen.
Mit den Louisjägern nahm Heinrich Vossler im Jahr 1812 am Russlandfeldzug Napoleons teil. Seine Einheit zählte, wie bereits erwähnt, zum französischen Kavalleriereservekorps, das unter dem Befehl von Joachim Murat stand. Vossler war aktiv an den Gefechten bei Daugeliszky (5. Juli) und Inkowo (8. August) sowie an der Schlacht bei Borodino (7. September) beteiligt. Trotz verschiedener Erkrankungen und einer Verwundung, die er bei Borodino erlitt, gelang ihm Anfang 1813 die Rückkehr nach Württemberg. Er wurde am 24. Januar 1813 zum Oberleutnant befördert.
Gesundheitlich noch nicht wieder hergestellt, gehörte Heinrich Vossler als Offizier des Kavallerie-Regiments Nr. 3 Jäger Herzog Louis auch dem württembergischen Armeekorps des Jahres 1813 an. Seine Einheit, die nach dem Russlandfeldzug neu aufgestellt worden war, verließ Württemberg Mitte April in Richtung des sächsischen Kriegsschauplatzes. Vossler wurde, ohne zuvor in ein größeres Gefecht verwickelt worden zu sein, am 14. Mai bei einer Patrouille bei Schwepnitz nordöstlich von Dresden von russischen Kosaken gefangen genommen. Als Kriegsgefangener gelangte er bis nach Chernigow in „Kleinrussland“ (heute in der Nordukraine). Die Gefangenschaft Heinrich Vosslers endete offiziell im November 1813, als Württemberg sich der antifranzösischen Allianz anschloss. Vossler gelangte fünf Monate später, im März 1814, zurück nach Schwaben. In Abwesenheit war er im Zuge einer Reorganisation der württembergischen Kavallerie, die König Friedrich im November 1813 angeordnet hatte, in das neu formierte Kavallerie-Regiment Nr. 5 Jäger versetzt worden. Am 6. März 1814, ebenfalls noch vor seinem Eintreffen in der Heimat, hatte Heinrich Vossler das Ritterkreuz des württembergischen Militärverdienstordens erhalten. Diese Auszeichnung war verbunden mit der Verleihung des persönlichen Adels. Noch am Tag seiner Rückkehr nach Württemberg, am 22. März 1814, wurde Vossler dem Leib-Kavallerie-Regiment Nr. 1 zugewiesen.
Obgleich Heinrich von Vossler ein dekorierter Soldat war, war im Sommer 1814 eine Weiterführung seiner militärischen Karriere nicht möglich. Gesundheitliche Probleme machten dem 23jährigen zu schaffen. Vossler schreibt darüber in seinen Erinnerungen: „An den Füssen hatte ich viele offene Wunden, der Magen war in hohem Grade geschwächt, und ertrug kaum die leichteste Speise, die Brust fühlte mit Schmerzen jede heftigere Bewegung.“ Der Tuttlinger hielt sich nach seiner Rückkehr aus Russland, die zeitlich mit dem Einzug der Alliierten in Paris und damit mit dem (vorübergehenden) Kriegsende fast zusammenfiel, zunächst acht Wochen zur Kur in Wildbad im Schwarzwald auf. Seine durch die Entbehrungen der zurückliegenden zwei Jahre ruinierte Gesundheit ließ sich jedoch in dieser Zeit nicht wiederherstellen. Am 1. Juli 1814 zum Invaliden-Corps versetzt, bat er bereits wenige Tage später — am 5. Juli — um seine Entlassung aus dem Militärdienst. Sie wurde ihm gewährt. Insgesamt hatte Vossler knapp fünf Jahre lang den Waffenrock König Friedrichs I. von Württemberg getragen.
Nach dem Ende seiner Militärzeit knüpfte Heinrich von Vossler an seine ursprüngliche Berufsplanung an. Er immatrikulierte sich am 24. November 1814 als Student der Kameralwissenschaft an der Universität Tübingen.{119} Sein Berufziel war eine Beamtenlaufbahn. Nach seinem Studium wirkte Vossler zunächst als Referendär bei der Hofdomänenkammer.{120} Bei dieser Behörde, die für die Verwaltung des Kronguts zuständig war, erhielt er im Juni 1819 eine feste Anstellung als Sekretär. Verbunden war die Tätigkeit bei der Hofdomänenkammer mit der Übernahme weiterer Funktionen im württembergischen Hofstaat: So war Vossler in den Jahren nach 1819 auch als Sekretär beim Oberhofrat, der Zentralbehörde des Hofstaats, und beim Oberstkammerherrenstab tätig. Darüber hinaus bekleidete er die Position eines Ökonomieverwalters der Hofkrankenpflege. Im November 1831 gelang Vossler ein beruflicher Aufstieg. König Wilhelm ernannte ihn zum Hofkameralverwalter in Herrenberg, einem etwa 2.000 Einwohner zählenden Städtchen knapp 40 Kilometer südwestlich von Stuttgart.{121} Ausschlag gebend für die Berufung waren neben Vosslers bisherigen Verdiensten im Militär- und Zivildienst seine ökonomischen Fachkenntnisse sowie seine für eine Führungsposition geeignete Persönlichkeit. Auch in seiner neuen Funktion erfüllte Heinrich von Vossler die in ihn gesetzten Erwartungen. In
Anerkennung seiner langjährigen Dienste zeichnete König Wilhelm ihn im Sommer 1839 mit dem Orden der württembergischen Krone aus.{122} Diesen Orden hatte zwei Jahre zuvor bereits Heinrichs Bruder Johann Christian Friederich erhalten.{123}
Seine Militärzeit blieb für Heinrich von Vossler auch nach 1814 eine prägende Phase seines Lebens. Dies zeigt sich am augenfälligsten daran, dass er in den Jahren 1828/29 auf der Grundlage von Aufzeichnungen, die er im Feld erstellt hatte, seine Erinnerungen an die Feldzüge der Jahre 1812 und 1813 sowie an seine anschließende Kriegsgefangenschaft in Russland niederschrieb. Vosslers Memoiren zählen zu den früh entstandenen Erinnerungswerken württembergischer Feldzugsteilnehmer der napoleonischen Zeit. Heinrich von Vossler war auch in württembergische Veteranenkreise integriert: Bei den Gedenkfeiern der Veteranen des Russlandfeldzugs, die am 23. Mai 1830 und am 6. November 1837 stattfanden, ist er jeweils unter den Anwesenden registriert.{124} Er blieb jedoch während dieser Feierlichkeiten im Hintergrund, trat auch sonst — soweit erkennbar — in den Vereinigungen der Veteranen nicht hervor.
Seit dem 7. August 1821 war Heinrich von Vossler mit Charlotte Friedericke, geb. Kinzelbach (1803—1879) verheiratet.{125} Die Ehefrau des Veteranen — es handelte sich um seine Cousine — stammte aus einer Stuttgarter Handwerkerfamilie; ihr Vater wirkte gleichzeitig als Stadtrat.{126} Das Ehepaar Vossler hatte fünf Kinder, drei Söhne und zwei Töchter, die zwischen 1825 und 1835 geboren wurden.
Heinrich von Vossler bekleidete die Stelle des Kameralverwalters in Herrenberg bis zum Revolutionsjahr 1848. Im Frühjahr dieses Jahres erkrankte er schwer und musste seine Amtsgeschäfte einem Vertreter übertragen. Noch bevor ein Antrag auf Pensionierung eingereicht werden konnte, starb Heinrich von Vossler am 20. September 1848 im Alter von knapp 57 Jahren an „Schleimfieber“.{127}
Die Aufzeichnungen, die Heinrich von Vossler bei seinem Tod hinterließ, stellen in verschiedener Hinsicht überaus interessante historische Quellen dar. Vossler ist einer der wenigen Soldaten, in dessen Nachlass sich außer Kriegserinnerungen auch die Notizen erhalten haben, die im Feld bzw. in der russischen Kriegsgefangenschaft entstanden sind. Das Originaltagebuch des Tuttlingers ist zwar verloren, doch eine in den Jahren 1828/29 angefertigte Abschrift ist als authentisch einzustufen. Die Überlieferung sowohl des Tagebuchs als auch der Kriegserinnerungen Vosslers ermöglicht, Einblick in den Entstehungsprozess der Memoiren zu nehmen. Außer von Vossler sind lediglich von einem weiteren württembergischen Teilnehmer an den Feldzügen der Jahre 1812 und 1813, dem späteren Generalmajor Leo Ignaz von Stadlinger, Originalaufzeichnungen aus dem Feld erhalten.{128} Zudem liegt von Christian Wilhelm von Faber du Faur ein Skizzenbuch aus dem Jahr 1812 vor, das mit den ab 1827 entstandenen, inzwischen weltbekannten Zeichnungen und Aquarellen verglichen werden kann.{129} Die württembergische Quellenlage, die durch wenige originale Selbstzeugnisse aus der napoleonischen Epoche charakterisiert ist, ist keinesfalls als untypisch zu bewerten. Julia Murken musste etwa in ihrer vor einigen Jahren erschienenen Arbeit über die Kriegserfahrungen bayerischer Teilnehmer am Russlandfeldzug Napoleons konstatieren, dass überhaupt keine Tagebücher überliefert sind, die mit Sicherheit in das Jahr 1812 zu datieren sind.{130}
Als Heinrich von Vossler in den ausgehenden 1820er-Jahren mit der Niederschrift seiner Kriegsmemoiren begann, stützte er sich auf seine älteren Aufzeichnungen. Er verfugte damit über ein zuverlässiges Datengerüst. Doch aus welchen sonstigen Quellen speisten sich die Erinnerungen Vosslers, die immerhin den vierfachen Umfang des Tagebuchs aufweisen? Es ist zu vermuten, dass der Tuttlinger Veteran seine Memoiren vor allem aus der persönlichen Erinnerung schrieb. Das gilt vor allem für diejenigen Textpassagen, die sein eigenes Schicksal zum Gegenstand haben. Inwieweit Vossler Kontakte zu anderen Feldzugsteilnehmern ausnützte, um seine Erinnerung aufzufrischen, muss offenbleiben.
Anzunehmen ist, dass Vossler bei der Niederschrift seiner Memoiren Publikationen zu Rate zog. Eine Regimentsgeschichte des Kavallerie-Regiments Nr. 3 Jäger Herzog Louis lag im Jahr 1828 noch nicht vor. Sie wurde erst 1861 veröffentlicht, also nach dem Tod Vosslers. Hingegen standen dem ehemaligen Offizier aus Tuttlingen zwei in den Jahren 1820 und 1822 publizierte Darstellungen zur Militärgeschichte der napoleonischen Zeit zur Verfügung, die aus der Feder von schwäbischen Autoren stammten: Ein zweibändiges Werk über die Feldzüge der Württemberger während der Regierungszeit König Friedrichs von Rössler sowie die Schilderung des Krieges von 1812 durch den späteren württembergischen Kriegsminister Moriz von Miller.{131} Es ist zu vermuten, dass Vossler diese Werke kannte. Rösslers Darstellung bot unter anderem eine konzise Zusammenfassung des Einsatzes des württembergischen Armeekorps in den Feldzügen der Jahre 1812 und 1813. Im Abschnitt über das Jahr 1812 wurde das aus dem Korps Marschall Neys ausgegliederte und dem französischen Reservekavalleriekorps zugeordnete Kavallerie-Regiment Nr. 3 Jäger Herzog Louis in einem eigenen Abschnitt behandelt.{132} Das Werk Moriz von Millers hatte im Unterschied zum Buch Rösslers den Anspruch, den napoleonischen Feldzug des Jahres 1812 kriegsgeschichtlich zu analysieren. Das Schicksal der württembergischen Truppen wird zwar dargestellt, steht jedoch nicht im Zentrum der Ausführungen. Millers Publikation war also bestens dazu geeignet, die Aktionen der „Louisjäger“ im allgemeinen Kriegsgeschehen zu verorten. Neben den Büchern der Schwaben Rössler und Miller dürfte Vossler weitere kriegsgeschichtliche Darstellungen über die Feldzüge Napoleons in den Jahren 1812 und 1813 rezipiert haben. Zu vermuten ist etwa eine Kenntnis der einflussreichen Schilderung von Philippe-Paul Comte de Ségur (1780—1873).{133} Dieses Buch, 1824 erstmals erschienen, war bereits im folgenden Jahr vom schwäbischen Verleger Johann Friedrich Cotta in deutscher Sprache herausgegeben worden.{134} Als Übersetzer aus dem Französischen fungierte der in württembergischen Diensten stehende General Joseph Apollinaris Honoratus von Theobald.{135}
Kann die Lektüre historiografischer Darstellungen durch Vossler als sehr wahrscheinlich gelten, so lässt sich nur schwer bestimmen, inwieweit der ehemalige württembergische Offizier auch Erinnerungswerke von Soldaten gekannt hat, die 1812 oder 1813 in der französischen Grande Armée gekämpft hatten. Die wenigen, vor 1828 bzw. 1829 entstandenen Memoirenwerke württembergischer Veteranen haben seinen Text — wenn überhaupt — nur in geringem Maße beeinflusst: Der 1817 veröffentlichte Bericht des Arztes Carl von Dillenius konzentrierte sich auf die Erörterung medizinischer Themen; diese Thematik spielt bei Vossler keine zentrale Rolle.{136} Vergleichsweise wenige Berührungspunkte hat der Text des Tuttlingers auch mit den von Ludwig von Schlaich 1819 in literarischer Form dargebotenen Kriegserinnerungen: Sie konnten Vossler stilistisch kein Vorbild bieten, zudem unterschieden sich Schlaichs konkrete Kriegserfahrungen erheblich von denjenigen Vosslers, da er im Korps Neys, nicht im Reservekavalleriekorps unter Murat gedient hatte.{137} Dem württembergischen Infanterie-Regiment Nr. 2 Herzog Wilhelm hatte Christoph Ludwig von Yelin angehört, der 1817 Erinnerungen an den Feldzug von 1812 publizierte.{138} Yelin, ein scharfer Napoleonkritiker, stellte im Unterschied zu Vossler in einseitiger Weise die Leiden des Rückzugs und der Kriegsgefangenschaft in den Mittelpunkt seines Berichts. Ludwig Friedrich von Stockmayer, der vierte Feldzugsteilnehmer, der bereits vor 1828 seine Memoiren niedergeschrieben hatte, hat seinen Text der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht.{139} Es kann als ausgeschlossen gelten, dass Vossler die Aufzeichnungen Stockmayers kannte, die erst Jahrzehnte nach dem Tod des Autors publiziert werden sollten.
Der Text Vosslers lässt vermuten, dass der Württemberger bei der Niederschrift seiner Erinnerungen neben militärgeschichtlichen Veröffentlichungen — und gegebenenfalls ausgewählter Erinnerungsliteratur — Publikationen zu Rate zog, die Informationen über die naturräumlichen sowie die politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten der Länder enthielten, in der er als Offizier gekommen war (z. B. Reiseliteratur). Derartige landeskundliche Informationen wurden im Tagebuch nicht systematisch notiert, sie nehmen jedoch in den Memoiren Vosslers einen beachtlichen Umfang ein.
Die Aufzeichnungen Heinrich von Vosslers sind nicht nur aufgrund der Überlieferungslage, sondern auch aus inhaltlichen Gründen von hohem Interesse. Das Tagebuch bietet, wie bereits erwähnt, im Wesentlichen ein Itinerar zur Kriegsteilnahme Vosslers in den Jahren 1812 bis 1814. Es enthält darüber hinaus aber auch Bemerkungen, die Rückschlüsse auf die Kriegserfahrungen des Autors erlauben. Der Text der Erinnerungen hat drei thematische Schwerpunkte: Vossler berichtet erstens über die militärischen Bewegungen und Aktionen seines Regiments, zweitens über seine
Einführung persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen im Krieg und drittens, wie bereits angedeutet, über seine Wahrnehmung der Landschaften, die er während seiner Feldzüge kennengelernt hatte, sowie ihrer Bewohner. Auch wenn Vossler die Ereignisse der Jahre 1812 bis 1814 durchweg aus seiner eigenen Perspektive schildert, gibt er nur selten Einblick in sein Inneres. Stattdessen steht die Schilderung der äußeren Erlebnisse im Mittelpunkt.
Heinrich von Vossler erscheint in seinen Memoiren insgesamt als ein nüchterner Beobachter des Kriegsgeschehens. Sichtlich ist der württembergische Veteran darum bemüht, ein authentisches, unvoreingenommenes Bild der dramatischen Ereignisse zu zeichnen, die er als gut 20jähriger Offizier auf den Schlachtfeldern Europas erlebt hatte. Vossler verzichtet in seinen Aufzeichnungen darauf, das militärische Geschehen der napoleonischen Zeit in der Rückschau in einen — wie auch immer gearteten — „ideologischen“ Bezugsrahmen einzubetten. Bewertungen der vergangenen Ereignisse werden in der Regel nicht aus einer bestimmten Weitsicht, sondern aus dem eigenen, durchaus als komplex und widersprüchlich erinnerten Kriegserleben abgeleitet. Vossler gelangt auf diese Weise vielfach zu differenzierten Urteilen über einzelne Gegebenheiten, Personen und Personengruppen. Beispielsweise werden Napoleons Generale zum Teil kritisch gesehen, zum Teil erscheinen sie aber auch als echte soldatische und menschliche Vorbilder. Eine nachträgliche Verklärung seines Kriegseinsatzes liegt Vossler fern. Im Gegenteil: Vieles spricht für die Vermutung, dass der Autor in seinen Memoiren bewusst seine jugendlichen Irrtümer zu dokumentieren beabsichtigte. Vossler schildert eindrücklich, dass die Begeisterung, mit der er und seine Kameraden 1812 in den Krieg gezogen waren, dass der Wunsch, Ruhm und Ehre zu erwerben und in der militärischen Hierarchie aufzusteigen, sich in der Realität des Krieges als Trugbilder entpuppt und in die Katastrophe geführt hatten.
Ungeachtet allen Bemühens um „Objektivität“, das als wichtiger Grundzug der Kriegserinnerungen Heinrich von Vosslers hervorgehoben werden kann, ist der Text des Württembergers nicht frei von einseitigen oder pauschalen Urteilen. Zumeist muss die Frage offenbleiben, inwieweit entsprechende Bewertungen die Anschauungen Vosslers in den Jahren 1828/29 oder bereits seine Sichtweise während seiner Soldatenzeit zum Ausdruck bringen. Unausgewogene Werturteile im Text des Tuttlinger Veterans haben zwei Wurzeln. Zum einen sind die Kriegserfahrungen Vosslers (und seine spätere Erinnerung daran) maßgeblich von vorgängigen Deutungsmustern und Wertvorstellungen bestimmt, die der Sozialisation des Autors in Württemberg geschuldet sind. Diese Dispositionen stehen bisweilen dem Bemühen um eine unvoreingenommene Darstellung entgegen. Der schwäbische Offizier war beispielsweise geprägt von einem deutlichen Antiklerikalismus, vor allem Antikatholizismus, der bei der Schilderung des Durchzugs durch Polen erkennbar wird und der vor seinem familiären Hintergrund beachtenswert ist. Auch das Selbstverständnis des Württembergers, als Vertreter einer fortschrittlichen Zivilisation und eines materiell gut gestellten Landes gegen rückständige Völker in den Krieg zu ziehen, dürfte — zumindest zum Teil — zu diesen vorgängigen Prägungen zu rechnen sein. Zum anderen zielt Vossler in einigen Passagen seiner Memoiren offenkundig darauf ab, generalisierende bzw. typologisierende Feststellungen zu treffen. Dieses Bestreben führt dazu, dass er die Komplexität seiner Kriegserfahrungen nicht mehr adäquat wiedergibt. Beispiele für verallgemeinernde und gleichzeitig einseitig wertende Darstellungsweisen Vosslers stellen seine Ausführungen über die einzelnen Völker und Kulturen Ostmittel- und Osteuropas dar. Harschen Urteilen des württembergischen Offiziers über die Brandenburger, die Westpreußen und insbesondere über die Polen steht im Bericht schroff eine hohe Wertschätzung der Sachsen und der Ostpreußen gegenüber. Russland erscheint in den Aufzeichnungen Vosslers als rückständiges Land, doch begegnet der Schwabe dem Kriegsgegner mit Achtung. Vor allem von Polen, dem Verbündeten Frankreichs, hebt sich Russland in den Memoiren Vosslers vorteilhaft ab. Die Sicht der ostmittel- und osteuropäischen Juden ist negativ.
Heinrich von Vosslers Sprache ist klar und unprätentiös. Sie weist in Wortschatz und Syntax eine dialektale — schwäbisch-alemannische — Färbung auf. Diese ist jedoch nicht allzu stark. Phonologische Besonderheiten gegenüber der heutigen Hochsprache zeigen sich beispielsweise in der Rundung des „i“ zu „ü“ (z. B. „Erzgebürge“, „Sprüchwort“) oder — vergleichsweise häufig — in hyperkorrekten Schreibweisen (z. B. „bergigt“ statt „bergig“, „waldigt“ statt „waldig“, „löchericht“ statt „löch(e)rig“, „hügelicht“ statt „hügelig“). Morphologische Spezifika treten unter anderem in der Pluralbildung (z. B. „Rasttäge“ statt „Rasttage“, „Wägen“ statt „Wagen“, „Böten“ statt „Booten“) zu Tage. Entsprechend dem Usus seiner Zeit verwendet Vossler zahlreiche, im heutigen Deutsch vielfach nicht mehr gebräuchliche Fremdwörter, die in der Mehrzahl aus der französischen Sprache übernommen bzw. aus ihr abgeleitet sind (z. B. Defileen, Meubles, Soupes, militärisches Fachvokabular). Aber auch Begrifflichkeiten und Ableitungen aus dem Lateinischen (z. B. Subordination, Prästationen, Dissidien, insultieren) sowie in Ausnahmefällen aus der italienischen Sprache (z. B. Agio) finden sich im Text. Ferner enthält das Manuskript einige Begrifflichkeiten zum Teil schwäbisch-alemannischen Ursprungs, die heute veraltet sind (z. B. Anglen, Fährlichkeiten, Nervenfieber). Vosslers Text weist insgesamt nicht allzu viele grammatikalische Fehler auf. Mehrere Male stimmen der Numerus von Substantiv und dazugehörigem Verb nicht überein. Die Rechtschreibung, die im frühen 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum noch nicht normiert war, wird in den Texten Vosslers nicht immer konsequent und nach einheitlichen Prinzipien angewandt. Beispielsweise ist die Verwendung von s, ss und ß nicht stimmig. Auch die Schreibweise der ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Ortsnamen variiert. Die Interpunktion ist häufig sinnwidrig.
Ob Heinrich von Vossler eine Publikation seiner ausgearbeiteten Kriegs- erinnerungen beabsichtigt oder zumindest in Erwägung gezogen hat, ist unbekannt. Ebenso wenig sind Gründe überliefert, die ihn gegebenenfalls von einer Veröffentlichung abgehalten haben könnten. Wie bereits erwähnt, sind Vosslers Aufzeichnungen bei Weitem nicht die einzigen Memoiren eines württembergischen Veterans der napoleonischen Zeit, die nicht zu Lebzeiten des Autors publiziert wurden.
Bemerkenswert ist die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der Aufzeichnungen Heinrich von Vosslers nach dessen Tod im Jahr 1848. Tagebuch und Kriegsmemoiren, die der württembergische Veteran in einem Band zusammenfasste, gelangten im 19. Jahrhundert nach Virginia (USA). Vermutlich hat sie Vosslers Sohn Emil Gustav (geb. 1835), der 1855 aus Württemberg emigrierte, dorthin gebracht.{140} Nachdem die Texte etwa einhundert Jahre unbeachtet blieben, unternahm um 1960 der damalige Assistant Professor John T. Amendt aus Long Beach einen ersten Versuch, die Erinnerungen in englischer Sprache herauszugeben.{141} Dieses Übersetzungsprojekt scheiterte. Die Manuskripte wurden anschließend vom Verlag Folio Fine Art Ltd. (London) bei einer Auktion erworben. Der Verlag beabsichtigte eine rasche Publikation des Textes in englischer Sprache. Für das Editionsvorhaben wurde Walter Wallich gewonnen, der eine Übersetzung der Erinnerungen Vosslers anfertigte. Sie erschien 1969 im Verlag The Folio Society.{142} Das Tagebuch blieb unpubliziert. Wallich stellte seiner Übersetzung eine kurze Einführung voran, in der er unter anderem Informationen verarbeitete, die er von Hermann Streng, Museumsleiter in Tuttlingen, sowie Archivaren des Hauptstaatsarchivs Stuttgart erhalten hatte. Die Aufzeichnungen Vosslers wurden nach erfolgter Publikation des englischen Textes der Stadt Tuttlingen, dem Landkreis Tuttlingen sowie dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart zum Kauf angeboten. Der Erwerb kam wegen des von den deutschen Kulturinstitutionen als sehr hoch erachteten Kaufpreises nicht zustande. Wallich übergab jedoch eine Reproduktion des Manuskripts an das Heimatmuseum
Tuttlingen; für das Hauptstaatsarchiv Stuttgart wurde hiervon eine zweite Kopie angefertigt.{143} Nachdem der Verkauf nach Deutschland gescheitert war, erwarb der niederländische Mediziner, Jurist und Sammler historischer Dokumente Baron Cornelius Verheyden de Lancey (1889—1984) den Band Vosslers. Im Jahr 1994, wenige Monate nach dem Tod der Witwe Verheyden de Lanceys, Henrietta, im September 1993, wurde das Manuskript wiederum zum Verkauf angeboten. Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart konnte die Aufzeichnungen bei einer Auktion der Autografenhandlung J. A. Stargardt (Berlin) am 3./4. März 1994 käuflich erwerben. Wenige Jahre nach dem Kauf des Originalmanuskripts durch das Hauptstaatsarchiv und fast dreißig Jahre nach der Erstausgabe einer englischen Übersetzung erschien im Jahr 1998 eine Neuausgabe des Textes Wallichs.{144} Die englische Ausgabe diente ihrerseits als Grundlage für eine italienische Übertragung der Kriegserinnerungen, die 2009 vom Verlag Chillemi publiziert wurde.{145} Bereits 2008 war eine französische Übersetzung erschienen.{146} Die Memoiren Heinrich Vosslers liegen demnach bis dato in englischer, französischer und italienischer Übersetzung, merkwürdigerweise jedoch nicht in der deutschen Originalsprache im Druck vor. Das Tagebuch ist noch nicht veröffentlicht worden. Die 1969 und 1998 publizierte englische Textversion wurde in der internationalen Forschung in verschiedenen historiografischen Darstellungen rezipiert, so etwa im Werk von Adam Zamoyski.{147}
Die Manuskripte von Tagebuch und Erinnerungen Heinrich von Vosslers werden im Hauptstaatsarchiv Stuttgart unter der Signatur E 294 Bü 6a verwahrt. Die Aufzeichnungen — es handelt sich um Reinschriften mit nur sehr wenigen Autorenkorrekturen — sind in einem in Leder gebundenen, 22 x 25,5 cm großen Band überliefert. Der Einband weist auf Deckeln, Rücken und Stehkanten Vergoldungen sowie auf den Deckeln je eine Blindpressung auf. Der Buchschnitt ist gelb gefärbt. Im Band findet sich zunächst der Text der Erinnerungen unter dem Titel „Meine Schicksale in den Jahren 1812. 1813. und 1814. geschrieben 1828. und 1829. Heinrich VOSSLER aus
Stuttgart“ (S. 1—184). Dann folgt — als Anhang — die Abschrift der im Feld erstellten Aufzeichnungen unter dem Titel „Tagebuch vom 17. Februar 1812. bis Ende März 1814.“ (S. 1—64). Der Band trägt auf dem vorderen Vorsatzblatt (Rückseite) ein Exlibris des zeitweiligen Eigentümers Cornelius Verheyden de Lancey.
Vossler schrieb seine Texte in einer gut lesbaren, ästhetisch ansprechenden deutschen Kurrentschrift. Worte lateinischen oder französischen Ursprungs sowie verschiedene Bezeichnungen, v. a. Personen- und Ortsnamen, die er hervorheben wollte, gab der württembergische Veteran häufig in lateinischer Schreibschrift wieder. Daneben finden sich in den Manuskripten verschiedentlich Unterstreichungen; dies betrifft sowohl Textstellen, die in deutscher Kurrentschrift verfasst sind, als auch — weit häufiger — solche, die bereits durch das lateinische Schriftbild herausgehoben wurden.
Tagebuch und Erinnerungen Heinrich von Vosslers werden in der vorliegenden deutschsprachigen Edition originalgetreu wiedergegeben. Dies gilt sowohl für die Orthografie als auch für die Interpunktion. Auch heute ungewohnte Schreibweisen des Autors, wie beispielsweise die Angewohnheit, nicht nur hinter Ordnungszahlen, sondern auch hinter Kardinalia einen Punkt zu setzen, wurden übernommen. Textstellen, die Vossler durch Verwendung der lateinischen Schrift (teilweise zusätzlich durch Unterstreichung) hervorhob, sind in der Edition durch Kursivdruck kenntlich gemacht. Unterstreichungen von Überschriften und von einigen wenigen, von Vossler als wichtig empfundenen Aussagen wurden übernommen. Abkürzungen wurden aufgelöst, die jeweiligen Ergänzungen sind in eckige Klammern gesetzt. Die Texte sind in der Edition nicht in der von Vossler gewählten Reihenfolge, sondern in chronologischer Ordnung gedruckt, d. h. die Tagebuchaufzeichnungen von 1812, die 1828 oder 1829 lediglich abgeschrieben wurden, stehen vor dem Text der Erinnerungen.
Die Edition wird illustriert durch Aquarelle, die den Kriegserinnerungen der württembergischen Offiziere Christian von Martens und Christoph Ludwig von Yelin entnommen sind. Im Unterschied zu den vielfach abgedruckten Zeichnungen und Aquarellen von Christian Wilhelm von Faber du Faur wurden diese Bilder in der wissenschaftlichen Fachwelt bisher nicht rezipiert.
Christian von Martens (1793—1882) nahm als Leutnant am Feldzug von 1812 teil.{148} Er verfasste zu unbekannter Zeit, höchstwahrscheinlich in den 1850er-Jahren, Erinnerungen an den französisch-russischen Krieg und illustrierte diese mit mehr als 150 Aquarellen.{149} Die Illustrationen gingen zum Teil auf Skizzen zurück, die er selbst im Feld gefertigt hatte, zum Teil handelte es sich um Kopien von Aquarellen der Militärmaler Albrecht Adam und Christian Wilhelm von Faber du Faur. Das Manuskript Martens’, das im Hauptstaatsarchiv Stuttgart überliefert ist, gelangte mit einigen Änderungen im Jahr 1862 zum Druck. Eine — leicht bearbeitete — Neuauflage datiert in das Jahr 1896. Die Aquarelle blieben jeweils unpubliziert; sie sind heute im Online-Angebot des Hauptstaatsarchivs Stuttgart einsehbar. In der vorliegenden Edition gelangen ausschließlich Bilder Martens’ zum Abdruck, die auf eigenen Skizzen des Württembergers basieren.
Die Aquarelle von Christoph Ludwig von Yelin (1787—1861) entstanden bereits wenige Jahre nach dem Ende der napoleonischen Epoche. Die Originalbilder sind in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart überliefert.{150} Als Yelin 1817 seine Erinnerungen an den Feldzug von 1812 sowie an seine anschließende, bis 1814 dauernde Kriegsgefangenschaft in Russland publizierte, wurde ein Teil der von ihm gefertigten Bilder gedruckt.{151} Die Ausgabe von 1817 der Yelinschen Memoiren erlangte jedoch keine weite Verbreitung und ist heute kaum mehr im gedruckten Original greifbar. Eine überarbeitete Version der Erinnerungen Yelins aus den 1850er- Jahren, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts publiziert wurde, erfuhr eine breitere Rezeption.{152} Sie enthielt jedoch keine Abbildungen.
Sowohl Martens als auch Yelin waren Infanteristen und nahmen am Feldzug von 1812 im Unterschied zu Heinrich Vossler im Verband des württembergischen Kontingents teil, d. h. sie gehörten dem von Michel Ney geführten III. französischen Armeekorps an. Ihre spezifischen Kriegserfahrungen differieren nicht unerheblich von denjenigen Vosslers. Die Bilder, die der vorliegenden Edition beigegeben werden, sind aus diesem Grund nicht direkt auf die Textaussagen Vosslers bezogen. Sie sind jedoch geeignet, die Kriegserfahrungen des Tuttlingers zu visualisieren — in ähnlicher Weise wie die Zeichnungen und Aquarelle von Albrecht Adam und Christian Wilhelm von Faber du Faur dies in vielen Publikationen zum Krieg von 1812 tun.