ZEHN

Er zieht sich mit einem Ruck aus mir zurück, so dass ich zusammenzucke, setzt sich auf und streift das gebrauchte Kondom ab.

»Komm, wir müssen uns anziehen – das heißt, falls du meine Mutter kennen lernen willst.« Er springt aus dem Bett und schlüpft in seine Jeans – ohne Unterwäsche! Ich habe wegen meiner gefesselten Hände Mühe, mich aufzurichten.

»Christian, ich kann mich nicht rühren.«

Breit grinsend löst er die Krawatte. Der Stoff hat ein Muster auf der Haut meiner Handgelenke hinterlassen. Das ist irgendwie … sexy. Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

»Wieder eine Premiere«, gesteht er.

Ich habe keine Ahnung, was er meint.

»Ich habe nichts Sauberes zum Anziehen hier.« Mich überkommt Panik. Seine Mutter! Ach du liebe Güte! »Vielleicht sollte ich im Bad bleiben.«

»O nein, das tust du nicht«, knurrt Christian. »Du kannst was von mir haben.« Er hat ein weißes T-Shirt übergezogen und fährt sich mit der Hand durch die postkoitalen Haare. Seine Schönheit bringt mich noch mehr aus dem Konzept.

»Anastasia, du würdest selbst mit einem Sack über dem Kopf noch hübsch aussehen. Bitte mach dir keine Gedanken. Ich möchte, dass du meine Mutter kennen lernst. Zieh dir was an. Ich gehe inzwischen hinaus und versuche, sie zu beruhigen.« Sein Mund verhärtet sich. »Ich erwarte dich in fünf Minuten drüben, sonst zerre ich dich höchstpersönlich raus, und zwar, egal was du anhast. Meine T-Shirts sind in der Schublade da und meine Hemden im begehbaren Schrank. Nimm dir, was du möchtest.«

Christians Mutter. Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Doch möglicherweise hilft mir die Begegnung mit ihr, wieder ein Teilchen von dem großen Puzzle Christian an die richtige Stelle zu legen … Plötzlich freue ich mich darauf, sie kennen zu lernen. Als ich meine Bluse vom Boden aufhebe, stelle ich erfreut fest, dass sie die Nacht fast knitterfrei überstanden hat. Meinen blauen BH entdecke ich unter dem Bett. Ich ziehe ihn hastig an. Wenn ich eines hasse, dann schmutzige Slips. In Christians Kommode finde ich seine Boxershorts. Nachdem ich in graue von Calvin Klein geschlüpft bin, ziehe ich meine Jeans und meine Converse-Sneakers an.

Dann nehme ich meine Jacke, eile ins Bad und starre in meine leuchtenden Augen und mein gerötetes Gesicht. Mein Gott, meine Haare … postkoitale Zöpfe stehen mir überhaupt nicht. Ich sehe mich im Badschrank nach einer Bürste um und entdecke einen Kamm. Der muss genügen. Ich binde mir die Haare zurück und betrachte verzweifelt mein Outfit. Vielleicht sollte ich Christians Angebot, mir Kleider zu kaufen, doch annehmen. Mein Unterbewusstsein schürzt die Lippen. Ich schenke ihm keine Beachtung. Während ich mich in meine Jacke kämpfe, deren Ärmel über die verräterischen Abdrücke seiner Krawatte reichen, wage ich einen letzten Blick in den Spiegel. Besser geht’s im Moment nicht, also mache ich mich auf den Weg in den Wohnbereich.

»Da ist sie ja.« Christian erhebt sich vom Sofa.

Die Frau mit den sandfarbenen Haaren dreht sich zu mir um, strahlt mich an und steht ebenfalls auf. Sie trägt ein schickes kamelfarbenes Strickkleid und dazu passende Schuhe. Sie wirkt gepflegt, elegant, attraktiv. Ich würde am liebsten im Erdboden versinken, so sehr schäme ich mich für meinen Aufzug.

»Mutter, das ist Anastasia Steele. Anastasia, das ist Dr. Grace Trevelyan-Grey.«

Sie streckt mir die Hand hin. Christian T. Grey … T. für Trevelyan?

»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, begrüßt sie mich.

Wenn ich mich nicht täusche, liegen Verwunderung und Erleichterung in ihrer Stimme. Ihre haselnussbraunen Augen schimmern warm. Ich ergreife ihre Hand und erwidere ihr Lächeln.

»Dr. Trevelyan-Grey«, murmle ich.

»Sagen Sie doch Grace zu mir.« Sie schmunzelt. Christian runzelt die Stirn. »Für die meisten bin ich Dr. Trevelyan. Mrs. Grey ist meine Schwiegermutter.« Sie zwinkert mir zu. »Wie habt ihr zwei euch kennen gelernt?« Sie sieht Christian an.

»Anastasia hat mich für die Studentenzeitung der WSU interviewt, weil ich diese Woche die Zeugnisurkunden verteilen werde.«

Mist. Das hatte ich völlig vergessen.

»Bei der Abschlussfeier?«, erkundigt sich Grace.

»Ja.«

Mein Handy klingelt. Bestimmt Kate.

»Bitte entschuldigen Sie mich.« Das Handy liegt in der Küche. Ich gehe hinüber und nehme es von der Frühstückstheke, ohne die Nummer auf dem Display zu überprüfen.

»Kate?«

»Dios mío! Ana!« Scheiße, José. Er klingt verzweifelt. »Wo steckst du? Ich habe schon so oft versucht, dich zu erreichen. Ich muss dich sehen, mich für mein Benehmen am Freitag entschuldigen. Warum hast du nicht auf meine Anrufe reagiert?«

»José, im Moment ist’s gerade sehr schlecht.« Ich blicke besorgt zu Christian hinüber, der mich aufmerksam beobachtet, während er seiner Mutter etwas zuflüstert. Ich wende ihm den Rücken zu.

»Wo bist du? Von Kate kriege ich nur ausweichende Antworten«, jammert José.

»In Seattle.«

»Was machst du denn in Seattle? Bist du bei ihm?«

»José, ich rufe dich später zurück. Im Augenblick kann ich nicht mit dir reden.« Ich drücke auf den roten Knopf.

Ich kehre zu Christian und seiner Mutter zurück.

»… Elliot hat angerufen und mir erzählt, dass du da bist«, sagt Grace gerade. »Ich habe dich zwei Wochen lang nicht gesehen, mein Lieber.«

»Tatsächlich?«, brummt Christian und mustert mich mit unergründlicher Miene.

»Ich dachte, wir könnten zusammen Mittag essen, aber wie ich sehe, hast du andere Pläne, und ich will dich nicht weiter stören.« Sie nimmt ihren langen cremefarbenen Mantel und hält Christian die Wange hin. Er küsst sie kurz und zärtlich. Sie berührt ihn nicht.

»Ich muss Anastasia nach Portland zurückbringen.«

»Natürlich, mein Lieber. Anastasia, es war mir ein Vergnügen. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.« Sie streckt mir die Hand entgegen.

Da erscheint wie aus dem Nichts Taylor.

»Mrs. Grey?«, fragt er.

»Danke, Taylor.« Er begleitet sie hinaus. Taylor war die ganze Zeit über hier? Wie lange? Und wo?

Christian sieht mich wütend an. »Der Fotograf ?«

Scheiße. »Ja.«

»Was wollte er?«

»Sich entschuldigen, für Freitag.«

Christians Augen verengen sich. »Aha.«

Taylor kommt zurück. »Mr. Grey, es gibt Probleme mit der Lieferung für Darfur.«

»Ist Charlie Tango wieder auf Boeing Field?«

»Ja, Sir.«

Taylor nickt mir zu. »Miss Steele.«

Ich erwidere sein Nicken, und er wendet sich ab und geht.

»Wohnt er hier? Ich meine Taylor.«

»Ja«, knurrt Christian.

Was hat er jetzt wieder für ein Problem?

Christian holt seinen BlackBerry aus dem Küchenbereich, um seine Mails zu überprüfen. Dann wählt er mit zusammengepressten Lippen eine Nummer.

»Ros, was ist los?«, fragt er in den Apparat. Er lauscht, ohne mich aus den Augen zu lassen, während ich mir mal wieder völlig fehl am Platz vorkomme.

»Die Crews dürfen nicht in Gefahr geraten. Nein, blasen Sie die Sache ab … Wir werfen die Lieferung aus der Luft ab … Gut.« Er beendet das Gespräch, geht nach einem kurzen Blick auf mich in seinen Arbeitsbereich und kehrt wenig später zurück.

»Hier ist der Vertrag. Lies ihn durch, damit wir uns nächstes Wochenende darüber unterhalten können. Ich würde dir raten, die Dinge zu recherchieren, damit du weißt, was Sache ist. Ich hoffe, dass du zustimmst«, fügt er in sanfterem, ein wenig besorgtem Tonfall hinzu.

»Recherchieren?«

»Du würdest dich wundern, was sich im Internet alles finden lässt.«

Internet! Ich habe selbst keinen Computer. In unserem Haushalt gibt es nur den Laptop von Kate, und den bei Clayton’s kann ich nicht benutzen, jedenfalls nicht für diese Art von »Recherche«.

»Was ist?«, erkundigt er sich.

»Ich besitze keinen Computer. Ich arbeite normalerweise an einem in der Uni. Aber ich kann Kate fragen, ob ich ihren Laptop benutzen darf.«

Er reicht mir einen braunen Umschlag. »Ich kann dir sicher … einen leihen. Pack deine Sachen, wir fahren zurück nach Portland. Unterwegs essen wir etwas. Ich muss mich anziehen.«

»Ich möchte kurz anrufen«, sage ich. Ich will Kates Stimme hören.

»Wen, den Fotografen?« Seine Kiefer mahlen, und seine Augen glühen. »Ich teile nicht gern, Miss Steele. Vergessen Sie das nicht«, warnt er mich in eisigem Tonfall, bevor er ins Schlafzimmer verschwindet.

Oje. Ich will doch bloß Kate anrufen, würde ich ihm gern nachrufen, aber seine unvermittelte Unnahbarkeit lähmt mich. Was ist nur aus dem großzügigen, entspannten, lächelnden Mann geworden, der vor kaum einer halben Stunde mit mir geschlafen hat?

»Fertig?«, fragt Christian, als wir uns an der Doppeltür zum Vorraum treffen.

Ich nicke unsicher. Er ist distanziert, höflich und verschlossen wie eh und je, trägt wieder seine Maske. In der Hand hält er eine Kuriertasche aus Leder. Wozu braucht er die? Vielleicht will er in Portland bleiben. Mir fällt die Abschlussfeier ein. Genau, er wird am Donnerstag dort sein. In seiner schwarzen Lederjacke sieht er überhaupt nicht wie ein Multimillionär oder -milliardär aus, sondern wie ein Junge aus den Slums, ein Rocker oder ein Model für ein Männermagazin. Ich würde mir nur ein Zehntel seiner Selbstsicherheit wünschen. Er wirkt so ruhig und beherrscht. Sein Ausbruch wegen José fällt mir ein … Nun ja, zumindest an der Oberfläche.

Taylor wartet im Hintergrund.

»Bis morgen dann«, sagt Christian zu ihm.

»Ja, Sir. Welchen Wagen nehmen Sie, Sir?«

Christian sieht mich an. »Den R8.«

»Gute Fahrt, Mr. Grey. Miss Steele.« Taylor bedenkt mich mit einem freundlichen Blick, in dem möglicherweise Mitleid mitschwingt.

Bestimmt glaubt er, ich wäre Mr. Greys fragwürdigen sexuellen Neigungen erlegen. Noch nicht, hätte ich ihm gern gesagt, lediglich seinen außergewöhnlichen sexuellen Fähigkeiten, aber vielleicht ist Sex ja für jeden etwas Außergewöhnliches. Ich habe keinerlei Vergleichsmöglichkeiten, und Kate kann ich nicht fragen. Das werde ich Christian gegenüber erwähnen müssen. Ich muss mich mit einer neutralen Person beraten – mit ihm ist das wegen seines ständigen Wechsels zwischen Offenheit und Arroganz nicht möglich.

Taylor hält uns die Tür auf. Christian holt den Aufzug.

»Was ist los, Anastasia?«, fragt er.

Woher weiß er, dass mich etwas beschäftigt?

»Nicht auf der Lippe herumkauen, sonst muss ich dich im Lift ficken, und dann ist es mir egal, wer einsteigt.«

Ich werde rot. Die Ahnung eines Lächelns spielt um seine Mundwinkel. Endlich scheint sich seine Laune zu bessern.

»Christian, ich habe ein Problem.«

»Ja?« Er ist ganz Ohr.

Der Aufzug kommt. Wir gehen hinein, und Christian drückt auf den Knopf fürs Erdgeschoss.

Wo soll ich anfangen? »Ich muss mit Kate reden. Ich habe so viele Fragen über Sex, und du stehst mir in dieser Hinsicht zu nahe. Woher soll ich wissen …?« Ich versuche, die richtigen Worte zu finden. »Ich habe keine Vergleichsmöglichkeiten.«

Er verdreht die Augen. »Dann sprich mit ihr. Aber sorg dafür, dass sie Elliot gegenüber nichts erwähnt.«

So ist Kate nicht, denke ich wütend.

»Das würde sie nie tun, und ich würde dir auch nichts von dem erzählen, was sie mir über Elliot anvertraut – falls sie das überhaupt tut«, füge ich hastig hinzu.

»Sein Sexleben interessiert mich nicht. Aber Elliot ist schrecklich neugierig. Erzähl ihr nur von dem, was wir bis jetzt gemacht haben«, ermahnt er mich. »Wenn sie wüsste, was ich mit dir vorhabe, würde sie mir wahrscheinlich die Eier abschneiden.«

»Okay.« Ich lächle erleichtert. Der Gedanke an Kate mit Christians Eiern gefällt mir nicht.

Er schüttelt den Kopf. »Je eher du dich mir unterwirfst, desto besser. Dann hat das ein Ende.«

»Was hat dann ein Ende?«

»Dass du dich mir ständig widersetzt.« Er küsst mich kurz auf die Lippen, als die Aufzugtüren sich öffnen. Dann ergreift er meine Hand und führt mich in die Tiefgarage.

Ich, mich ihm widersetzen … wie?

Neben dem Lift steht ein schwarzer Sportwagen, dessen Lichter kurz aufleuchten, als Christian die Türen mit der Fernbedienung entriegelt. Es handelt sich um eines jener Autos, auf deren Kühlerhaube man sich unwillkürlich eine langbeinige, halb nackte Blondine vorstellt.

»Hübscher Wagen«, sage ich trocken.

Er grinst. »Ja«, pflichtet er mir bei, und kurz ist er wieder der junge, unbekümmerte Christian. Er ist ganz aufgeregt. Jungs und ihre Spielsachen. Ich verdrehe schmunzelnd die Augen. Er öffnet die Tür für mich, und ich steige ein. Wow, ganz schön tief. Er geht eleganten Schrittes um den Wagen herum und setzt sich hinters Steuer. Woher kommt nur diese Anmut seiner Bewegungen?

»Was für ein Auto ist das?«

»Ein Audi R8 Spider. Es ist schönes Wetter, also fahren wir mit offenem Verdeck. Im Handschuhfach liegt eine Baseballkappe, nein zwei. Und eine Sonnenbrille, falls du eine brauchst.«

Er lässt den Motor an, schiebt seine Tasche zwischen die Sitze, betätigt einen Knopf, und das Dach öffnet sich. Ein weiterer Knopfdruck, und die Stimme von Bruce Springsteen ertönt.

»Bruce muss man einfach mögen.« Grinsend lenkt er den Wagen aus dem Parkplatz und die steile Rampe hinauf.

Kurz darauf sind wir oben im hellen Licht des strahlenden Seattler Maimorgens. Ich nehme die Baseballkappen aus dem Handschuhfach. Die Mariners. Er mag Baseball? Ich reiche ihm eine, und er setzt sie auf. Ich ziehe meine Haare durch die Öffnung an der hinteren Seite und schiebe den Schirm tief ins Gesicht.

Menschen sehen uns nach, während wir durch die Straßen fahren. Zuerst glaube ich, die Blicke gelten ihm, doch dann kommt ein ziemlich paranoider Teil von mir auf die Idee, dass sie mich anstarren, weil sie wissen, was ich in den letzten zwölf Stunden getrieben habe. Am Ende wird mir klar, dass sich die Leute für den Wagen interessieren. Christian wirkt nachdenklich.

Es ist nicht viel Verkehr, und schon bald befinden wir uns auf der Interstate 5 in südlicher Richtung. Der Wind streicht über unsere Köpfe. Bruce singt über seine flammende Begierde. Wie passend! Christian schaut kurz zu mir herüber. Da er seine Ray-Ban trägt, sehe ich seine Augen nicht. Sein Mund zuckt. Er legt seine Hand auf mein Knie und drückt es sanft. Mir stockt der Atem.

»Hunger?«, fragt er.

Nicht nach Essbarem.

»Keinen großen.«

»Du musst essen, Anastasia. Ich kenne ein tolles Lokal in der Nähe von Olympia. Da halten wir.« Abermals drückt er mein Knie, bevor seine Hand zum Lenkrad zurückkehrt und er das Gaspedal durchtritt. Ich werde in meinen Sitz gedrückt. Wow, dieser Wagen hat Power.

Es handelt sich um ein kleines, familiäres Holzchalet mitten im Wald mit rustikaler Inneneinrichtung: willkürlich angeordnete Stühle und Tische mit karierten Tischdecken, dazu Wildblumen in kleinen Vasen. CUISINE SAUVAGE steht über der Tür.

»Ich bin länger nicht hier gewesen. Man kann sich nichts aussuchen. Es gibt nur das, was sie gerade im Wald gefangen oder auf den Wiesen gesammelt haben.« Er hebt die Augenbrauen in gespieltem Entsetzen, und ich muss lachen. Die blonde Kellnerin nimmt unsere Getränkebestellung auf.

In Gegenwart von Christian wird sie rot. Sie meidet den Blickkontakt mit ihm. Er gefällt ihr! Es geht also nicht nur mir so!

»Zwei Gläser Pinot Grigio«, ordert Christian souverän.

Ich verziehe den Mund.

»Was?«

»Mir wäre eine Cola light lieber.«

Er schüttelt den Kopf. »Der Pinot Grigio hier ist anständig, und er wird gut zum Essen passen, egal was es gibt«, erklärt er geduldig.

»Egal, was es gibt?«

»Ja. Übrigens, du gefällst meiner Mutter«, bemerkt er.

»Tatsächlich?«

»Ja. Sie hält mich nämlich für schwul.«

Ich bekomme große Augen. Die Interviewfrage fällt mir ein. Oje.

»Warum?«

»Weil sie mich noch nie mit einer Frau zusammen gesehen hat.«

»Mit keiner der fünfzehn?«

Er lächelt. »Das hast du dir gemerkt. Nein, mit keiner der fünfzehn.«

»Ach.«

»Anastasia, für mich war das auch ein Wochenende voller Premieren«, stellt er mit leiser Stimme fest.

»Ja?«

»Ich habe noch nie zuvor mit jemandem die Nacht verbracht, noch nie mit jemandem in meinem Bett Sex gehabt, geschweige denn Blümchensex, meiner Mutter noch nie eine Frau vorgestellt und bin noch nie mit einer Frau in Charlie Tango geflogen. Was stellst du bloß mit mir an?«

Die Kellnerin bringt unseren Wein, und ich trinke sofort einen Schluck.

»Mir hat dieses Wochenende sehr gefallen«, gestehe ich.

»Nicht auf der Lippe kauen«, ermahnt er mich. »Mir auch.«

»Was ist Blümchensex?«, frage ich, um mich von seinem intensiven sexy Blick abzulenken.

Er muss lachen. »Schlichter, einfacher Sex, Anastasia. Ohne Toys und Brimborium. Wie schlichte Wald- und Wiesenpflanzen, wenn du so willst, da wir schon ausgerechnet hier essen.«

»Ach.« Ich hätte unseren Sex zwar nicht gerade mit einem Strauß Gänseblümchen, sondern eher mit einem extravaganten Bukett aus sauteuren Rosen verglichen, aber was verstehe ich schon davon?

Die Kellnerin serviert Suppe, die wir skeptisch betrachten.

»Brennnesselsuppe«, klärt sie uns auf, bevor sie wieder in die Küche verschwindet.

Ich glaube, es gefällt ihr nicht, von Christian ignoriert zu werden. Ich probiere einen Löffel von der Suppe, die köstlich schmeckt. Christian und ich sehen einander an. Ich kichere, und er neigt den Kopf ein wenig.

»Dein Kichern klingt hübsch.«

»Warum hast du nie zuvor Blümchensex gehabt? Machst du immer schon, was du … machst?«, frage ich.

Er nickt. »Schon irgendwie.« Er scheint mit sich zu ringen. »Eine Freundin meiner Mutter hat mich verführt, als ich fünfzehn war.«

»Oh.« So jung!

»Sie hatte einen sehr eigenwilligen Geschmack. Ich war sechs Jahre lang ihr Sklave.«

»Oh.« Abermals fällt mir nicht mehr als Antwort ein.

»Also weiß ich, wie sich das anfühlt, Anastasia.«

Ich sehe ihn stumm an – sogar meinem Unterbewusstsein hat es die Sprache verschlagen.

»In puncto Sex bin ich also nicht gerade auf die übliche Weise sozialisiert worden.«

»Du bist am College nie mit einem Mädchen gegangen?«

»Nein.«

Die Kellnerin räumt unsere Teller ab.

»Warum?«, frage ich, als sie weg ist.

Er lächelt süffisant. »Möchtest du das wirklich wissen?«

»Ja.«

»Weil ich es nicht wollte. Sie war alles, was ich wollte und brauchte. Außerdem hätte sie mich windelweich geschlagen.« Bei der Erinnerung spielt ein Lächeln um seine Mundwinkel.

Wow, so viel Information auf einmal – aber ich möchte noch mehr.

»Wie alt war die Freundin deiner Mutter?«

»Alt genug, um es besser zu wissen.«

»Triffst du dich noch mit ihr?«

»Ja.«

»Und seid ihr nach wie vor …?« Ich werde rot.

»Nein.« Er schüttelt nachsichtig den Kopf. »Sie ist eine sehr gute Freundin.«

»Aha. Weiß deine Mutter Bescheid?«

Er sieht mich an, als wollte er sagen: Für wie dumm hältst du mich? »Natürlich nicht.«

Die Kellnerin serviert Wild, aber mir ist der Appetit vergangen. Was für eine Neuigkeit. Christian als Sklave … Ich trinke einen großen Schluck Pinot Grigio – natürlich hat er wie üblich Recht: Der Wein ist köstlich. So viel Stoff zum Nachdenken. Ich brauche Zeit, das alles zu verdauen, allein, ohne ihn. Er weiß, wie das Sklavendasein ist.

»Du warst doch nicht die ganze Zeit ihr Sklave, oder?«, frage ich verwirrt.

»Doch, obwohl ich nicht ständig mit ihr zusammen war. Es hat sich … schwierig … gestaltet. Immerhin war ich zuerst in der Schule und dann am College. Iss, Anastasia.«

»Ich habe wirklich keinen Hunger, Christian.« Mir schwirrt der Kopf.

»Iss«, wiederholt er mit mörderisch leiser Stimme.

Ich sehe ihn an. Dieser Mann, der als Heranwachsender sexuell missbraucht wurde … er klingt so bedrohlich.

»Gib mir noch ein bisschen Zeit«, bitte ich ihn.

»Okay«, murmelt er und isst weiter.

So wird es sein, wenn ich die Vereinbarung unterschreibe: Er wird mich herumkommandieren. Will ich das? Ich schneide ein Stück von dem Wild ab und stecke es in den Mund. Es schmeckt mir.

»Wird unsere … äh … Beziehung so laufen?«, flüstere ich. »Dass du mich herumkommandierst?« Ich schaffe es nicht, ihm in die Augen zu sehen.

»Ja.«

»Verstehe.«

»Und du wirst es wollen«, teilt er mir mit.

Das wage ich zu bezweifeln. Ich schneide einen weiteren Bissen Fleisch ab. »Es ist ein großer Schritt«, gebe ich zu bedenken, bevor ich kaue.

»Ja.« Er schließt kurz die Augen. »Anastasia, hör auf deinen Bauch. Lies den Vertrag durch, mach deine Recherche – ich bespreche gern alle Einzelheiten mit dir. Ich bin bis Freitag in Portland, wenn du bis dahin mit mir darüber reden möchtest. Ruf mich an. Vielleicht können wir miteinander zu Abend essen, sagen wir, am Mittwoch? Ich möchte wirklich, dass es klappt. Ich habe mir noch nie etwas sehnlicher gewünscht.«

Ich begreife es immer noch nicht: Warum ich? Warum keine der fünfzehn? O nein … werde ich auch eine Nummer bekommen? Sechzehn von vielen?

»Was ist mit den fünfzehn passiert?«, platze ich heraus.

Er hebt erstaunt die Augenbrauen. »Unterschiedliche Dinge, aber im Wesentlichen …« Er scheint nach den richtigen Worten zu suchen. »… läuft es wohl darauf hinaus, dass wir nicht zusammengepasst haben.«

»Und du glaubst, dass ich zu dir passen könnte?«

»Ja.«

»Dann triffst du dich mit keiner der anderen mehr?«

»Nein. Innerhalb meiner Beziehungen lebe ich monogam.«

Ach … Das ist ja mal was Neues. »Verstehe.«

»Widme dich der Recherche, Anastasia.«

Ich lege Messer und Gabel weg, weil ich keinen weiteren Bissen hinunterbringe.

»Das war’s schon? Mehr willst du nicht essen?«

Ich schüttle den Kopf. Er sieht mich finster an, sagt jedoch nichts. Ich stoße einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus. Von all den neuen Informationen habe ich ein flaues Gefühl im Magen, und der Wein hat mich beschwipst gemacht. Ich beobachte, wie er seinen Teller leer isst. Er hat einen gesunden Appetit. Um trotzdem einen solchen Körper zu haben, muss er Sport treiben. Die Erinnerung an seinen nackten Körper lässt mich unruhig auf meinem Stuhl hin und her rutschen. Als er mich ansieht, werde ich rot.

»Ich würde viel darum geben zu wissen, was du gerade denkst«, bemerkt er mit einem anzüglichen Grinsen und fügt hinzu: »Obwohl ich es mir vorstellen kann.«

»Gott sei Dank kannst du meine Gedanken nicht lesen.«

»Deine Gedanken nicht, Anastasia, aber deine Körpersprache – die kenne ich seit gestern ziemlich gut.« Seine Stimme klingt beinahe drohend.

Wie kann seine Stimmung nur so schnell umschlagen? Er ist schrecklich sprunghaft … Ich schaffe es kaum, seine Schwankungen nachzuvollziehen.

Er winkt die Kellnerin heran und bittet sie um die Rechnung. Sobald er bezahlt hat, steht er auf und streckt mir die Hand hin.

»Komm.« Er ergreift sie und führt mich zurück zum Wagen. Diese vertraute Berührung überrascht mich immer wieder aufs Neue. Es fällt mir schwer, eine solche normale, zärtliche Geste mit dem in Einklang zu bringen, was er in der Kammer der Qualen mit mir vorhat.

Während der Fahrt von Olympia nach Vancouver schweigen wir, beide vertieft in unsere eigenen Gedanken. Als er den Wagen vor meinem Haus anhält, ist es fünf Uhr nachmittags. Drinnen brennt Licht – Kate ist daheim. Bestimmt packt sie. Es sei denn, Elliot ist noch da. Als Christian den Motor ausschaltet, wird mir bewusst, dass ich mich gleich von ihm verabschieden muss.

»Willst du mit reinkommen?«, frage ich, um unsere gemeinsame Zeit zu verlängern.

»Nein, ich muss arbeiten.«

Plötzlich bin ich den Tränen nahe. Christian nimmt meine Hand, hält sie an seinen Mund und küsst sanft ihren Rücken. Was für eine altmodische, aber liebevolle Geste. Mein Herz macht einen Sprung.

»Danke für dieses Wochenende, Anastasia. Das war das schönste seit Langem. Bis Mittwoch? Ich hole dich von der Arbeit ab«, verspricht er.

»Mittwoch«, flüstere ich.

Er küsst meine Hand noch einmal und legt sie zurück in meinen Schoß. Dann steigt er aus, geht um den Wagen herum und öffnet mir die Tür. Warum fühle ich mich plötzlich einsam? Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Er darf mich nicht so sehen. Lächelnd klettere ich aus dem Auto und gehe zum Haus. Auf halbem Weg drehe ich mich zu ihm um. Kinn hoch, Steele, ermahne ich mich.

»Übrigens trage ich deine Unterwäsche«, teile ich ihm mit einem kleinen Lächeln mit und ziehe den Bund der Boxershorts ein wenig hoch, so dass er ihn sehen kann. Christian fällt die Kinnlade herunter. Was für eine Reaktion! Sofort bessert sich meine Laune. Ich stolziere ins Haus. Am liebsten würde ich vor Freude einen Luftsprung machen. Meine winzig kleine innere Göttin ist begeistert.

Kate packt im Wohnzimmer ihre Bücher in Kisten.

»Du bist wieder da. Wo ist Christian? Wie geht’s dir?«, fragt sie besorgt, kommt auf mich zu und betrachtet mich eingehend, bevor ich sie überhaupt begrüßt habe.

Scheiße … Jetzt muss ich mich mit Kates Inquisition auseinandersetzen, obwohl ich eine juristische Vereinbarung unterzeichnet habe, die mich zum Schweigen verpflichtet. Keine gute Mischung.

»Und, wie war’s? Sobald Elliot weg war, hab ich die ganze Zeit an dich gedacht.« Sie grinst spitzbübisch.

Ich schmunzle angesichts ihrer Sorge und ihrer brennenden Neugierde, werde aber verlegen. Die Sache mit Christian war sehr intim. Ich muss sie mit Informationen füttern, weil sie mir sonst keine Ruhe lässt.

»Es war gut, Kate, sogar sehr gut, glaube ich«, antworte ich mit leiser Stimme.

»Du glaubst?«

»Ich habe schließlich keine Vergleichsmöglichkeiten, oder?« Ich zucke entschuldigend mit den Achseln.

»Hat er dich zum Orgasmus gebracht?«

Gott, sie nimmt wirklich kein Blatt vor den Mund.

Ich werde tiefrot. »Ja«, murmle ich.

Kate zieht mich auf die Couch und nimmt meine Hände. »Das ist doch super, immerhin war es das erste Mal für dich. Christian scheint echt sein Handwerk zu verstehen.«

Kate, wenn du wüsstest …

»Für mich war das erste Mal schrecklich«, gesteht sie mir mit traurigem Gesicht.

»Ach.« Das hat sie mir noch nie erzählt.

»Ja, mit Steve Patrone, an der Highschool. Sportskanone, aber keine Eier. Er war grob und ich nicht bereit. Wir waren beide betrunken. Typisches Desaster nach dem Schülerball. Hab Monate gebraucht, bis ich wieder einen Versuch gewagt habe. Natürlich nicht mit ihm. Ich war einfach zu jung. Du hast schon Recht gehabt, so lange zu warten.«

»Kate, das klingt furchtbar.«

»Ja, es hat fast ein Jahr gedauert, bis ich durch Penetration zum ersten Mal einen Orgasmus hatte, und du kriegst schon beim ersten Mal einen.«

Ich nicke verlegen. Meine innere Göttin sitzt mit einem verschmitzten, selbstgefälligen Lächeln im Lotossitz da und scheint mit einem Mal gewachsen zu sein.

»Gott sei Dank hast du deine Unschuld an jemanden verloren, der wusste, was er tut.« Sie zwinkert mir zu. »Wann siehst du ihn wieder?«

»Am Mittwoch. Zum Abendessen.«

»Dann liegt dir was an ihm?«

»Ja. Aber ich weiß nicht … wie sich die Zukunft gestalten wird.«

»Warum?«

»Er ist kompliziert und lebt in einer vollkommen anderen Welt als ich.« Prima Erklärung. Und plausibel. Viel besser als: Er hat eine Kammer der Qualen und möchte mich zu seiner Sexsklavin machen.

»Bitte sag jetzt nicht, dass es am Geld scheitert, Ana. Elliot behauptet, es ist ausgesprochen ungewöhnlich, dass Christian mit jemandem ausgeht.«

»Tatsächlich?«, frage ich mit viel zu hoher Stimme.

Reiß dich zusammen, Steele! Mein Unterbewusstsein bedenkt mich mit einem wütenden Blick, droht mir mit einem dürren Finger und verwandelt sich unvermittelt in Justitia, um mich daran zu erinnern, dass er mich verklagen kann, wenn ich zu viel verrate. Ha … was will er denn machen? Mir mein ganzes Geld wegnehmen? Ich darf nicht vergessen zu googeln, welche Strafen zu erwarten sind, wenn man sich nicht an eine Verschwiegenheitsvereinbarung hält. Klingt ein bisschen wie Hausaufgaben für die Schule. Vielleicht bekomme ich sogar eine Note. Ich werde rot, als mir meine Eins in der mündlichen Prüfung heute Morgen im Bad einfällt.

»Ana, was ist los?«

»Mir ist gerade was eingefallen, das Christian gesagt hat.«

»Du siehst verändert aus«, erklärt Kate.

»Ich fühle mich auch anders. Wund«, gestehe ich.

»Wund?«

»Ja, ein bisschen.« Wieder werde ich rot.

»Ich auch. Männer«, meint sie mit gespieltem Ekel. »Tiere.«

Wir müssen beide lachen.

»Du bist wund?«, wiederhole ich erstaunt.

»Ja, vom vielen Vögeln.«

Ich pruste los. »Erzähl mir von Elliot, dem wilden Vögler«, bitte ich sie, nachdem ich mich halbwegs gefangen habe. Zum ersten Mal seit Tagen entspanne ich mich. Was für glückliche, unkomplizierte Zeiten waren das noch vor ein paar Tagen!

Kate wird rot. Na so was … Katherine Agnes Kavanagh macht einen auf Anastasia Rose Steele. So habe ich sie noch nie auf einen Mann reagieren sehen. Ich bin verblüfft. Wo ist Kate? Elliot, was hast du mit ihr angestellt?

»Ach, Ana. Er ist einfach … unglaublich. Und wenn wir … Mann, er ist echt gut.« Sie bringt kaum einen zusammenhängenden Satz heraus, so hin und weg ist sie von Elliot.

»Soll das heißen, dass du ihn magst?«

Sie nickt dümmlich grinsend. »Ich sehe ihn am Samstag wieder. Er hilft uns beim Umzug.« Sie klatscht in die Hände, springt vom Sofa auf und dreht Pirouetten zum Fenster.

Der Umzug. Den hatte ich glatt vergessen, trotz der Kisten überall.

»Das ist aber nett von ihm«, bemerke ich. Bei der Gelegenheit werde ich ihn besser kennen lernen. Vielleicht erhalte ich durch ihn neue Einblicke in das Wesen seines merkwürdigen Bruders.

»Was habt ihr gestern Abend gemacht?«, erkundige ich mich.

»So ziemlich das Gleiche wie ihr. Allerdings haben wir uns zuvor ein Abendessen gegönnt.« Sie grinst mich an. »Ist wirklich alles in Ordnung? Du wirkst irgendwie überfordert.«

»So fühle ich mich auch. Christian ist ziemlich anstrengend.«

»Das habe ich gemerkt. Aber er hat dich anständig behandelt?«

»Ja«, versichere ich ihr. »Ich habe einen Mordshunger. Soll ich uns was kochen?«

Sie nickt und wendet sich wieder den Büchern und Kisten zu.

»Was willst du mit den Erstausgaben machen?«, fragt sie.

»Die gebe ich ihm zurück.«

»Echt?«

»Ein viel zu teures Geschenk. Ich kann es nicht annehmen.«

»Verstehe. Es sind ein paar Briefe für dich gekommen, und José ruft stündlich an. Er klingt verzweifelt.«

»Ich rufe ihn zurück«, verspreche ich. Wenn ich Kate die Sache mit José erzähle, reißt sie ihm den Kopf ab. Ich nehme die Briefe vom Esstisch und öffne sie.

»Hey, ich bin zu Vorstellungsgesprächen eingeladen! Übernächste Woche, in Seattle.«

»Bei welchem Verlag?«

»Bei beiden.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass dein Abschluss dir Tür und Tor öffnet, Ana.«

Kate hat natürlich bereits eine Praktikantenstelle bei der Seattle Times. Ihr Vater kennt jemanden, der wiederum jemanden kennt …

»Wie findet Elliot es, dass du wegfährst?«, frage ich.

Kate kommt in die Küche. Zum ersten Mal an diesem Abend wirkt sie niedergeschlagen.

»Er hat Verständnis. Ein Teil von mir würde am liebsten nicht verreisen, aber die Aussicht, ein paar Wochen lang in der Sonne zu liegen, ist verlockend. Außerdem meint Mom, dass das unser letzter richtiger Familienurlaub wird, bevor Ethan und ich uns in die Arbeitswelt verabschieden.«

Ich habe das amerikanische Festland noch nie verlassen. Kate wird mit ihren Eltern und ihrem Bruder Ethan zwei Wochen auf Barbados verbringen. Was heißt, dass ich in unserem neuen Apartment erst einmal ohne sie zurechtkommen muss. Das wird sicher seltsam. Ethan reist seit seinem Abschluss vergangenes Jahr in der Welt herum. Ob ich ihn vor ihrem Urlaub noch sehen werde? Ich kann ihn gut leiden. Das Klingeln des Telefons reißt mich aus meinen Überlegungen.

»Das ist bestimmt José.«

Seufzend nehme ich den Apparat in die Hand. »Hi.«

»Ana, du bist wieder da!«, ruft José erleichtert aus.

»Ganz offensichtlich«, antworte ich sarkastisch und verdrehe die Augen.

»Kann ich dich sehen? Tut mir leid wegen Freitagabend. Ich hatte zu viel getrunken … und du … na ja. Ana, bitte verzeih mir.«

»Natürlich verzeihe ich dir, José. Aber bitte mach das nicht wieder. Du weißt, dass ich nicht so für dich empfinde.«

Er stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ja, Ana. Ich dachte nur, wenn ich dich küsse, ändert das vielleicht was an deinen Gefühlen.«

»José, ich mag dich wirklich sehr, und du bedeutest mir viel. Du bist wie der Bruder, den ich nie hatte. Daran wird sich nichts ändern. Das dürfte dir klar sein.«

»Dann bist du jetzt mit ihm zusammen?«, fragt er voller Verachtung.

»José, ich bin mit niemandem zusammen.«

»Aber du hast die Nacht mit ihm verbracht.«

»Das geht dich nichts an!«

»Liegt’s am Geld?«

»José! Wie kannst du es wagen!«, brülle ich ihn an, verärgert über seine Dreistigkeit.

»Ana«, jammert er und entschuldigt sich.

Im Moment kann ich mich wirklich nicht mit seiner kleinlichen Eifersucht beschäftigen, auch wenn er verletzt ist. Ich habe alle Hände voll mit Christian Grey zu tun.

»Vielleicht trinken wir morgen einen Kaffee zusammen. Ich ruf dich an«, versuche ich einzulenken. Schließlich ist er mein Freund, und ich mag ihn.

»Gut, dann also morgen. Du rufst an?«

Sein hoffnungsvoller Tonfall versetzt mir einen Stich.

»Ja. Gute Nacht, José.« Ich lege auf, ohne auf seine Antwort zu warten.

»Was war denn das?«, fragt Katherine, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Er hat mich am Freitag angemacht.«

»José? Und Christian Grey? Ana, deine Pheromone scheinen Überstunden zu machen. Was hat der Idiot sich dabei gedacht?« Sie wendet sich kopfschüttelnd wieder den Büchern und Kisten zu.

Fünfundvierzig Minuten später machen wir eine Pause, um uns über die Spezialität des Hauses, meine Lasagne, herzumachen. Kate öffnet eine Flasche billigen Rotwein, und wir setzen uns zum Essen zwischen die Kisten und schauen uns ein paar echt schlechte Fernsehsendungen an. Das ist die Normalität. Wie schön nach den vergangenen achtundvierzig Stunden des … Wahnsinns. Meine erste friedliche Mahlzeit ohne Eile und Genörgel seit einigen Tagen. Was hat er nur für ein Problem mit dem Essen? Kate räumt das Geschirr ab, und ich packe die letzten Sachen aus dem Wohnzimmer ein. Am Ende sind nur noch das Sofa, der Fernseher und der Esstisch übrig. Bleiben die Küche und unsere Zimmer, doch dazu haben wir den Rest der Woche Zeit.

Wieder klingelt das Telefon. Es ist Elliot. Kate zwinkert mir zu und hüpft in ihr Zimmer wie eine Vierzehnjährige. Eigentlich sollte sie ihre Abschiedsrede schreiben, aber Elliot scheint ihr wichtiger zu sein. Was haben diese Grey-Männer nur an sich? Was macht sie so unwiderstehlich? Ich trinke noch einen Schluck Wein.

Beim Zappen durch die Fernsehprogramme wird mir klar, dass ich das Unangenehme nur hinauszögere. Der Vertrag brennt ein leuchtend rotes Loch in meine Handtasche. Werde ich die Kraft besitzen, ihn heute Abend zu lesen?

Ich lege den Kopf in die Hände. José und Christian, sie wollen beide etwas von mir. José ist kein Problem. Aber Christian … Mit ihm muss ich völlig anders umgehen. Ein Teil von mir würde am liebsten weglaufen oder sich verstecken. Was soll ich nur tun? Seine grauen Augen kommen mir in den Sinn, und unwillkürlich ziehen sich die Muskeln in meinem Unterleib zusammen. Ich schnappe nach Luft. Er törnt mich sogar an, wenn er nicht da ist. Nur um den Sex kann es doch nicht gehen, oder? Ich erinnere mich an sein sanftes Necken heute Morgen beim Frühstück, an seine Begeisterung über meine Freude an dem Helikopterflug und an sein melancholisches Klavierspiel.

Er ist so schrecklich kompliziert. Allmählich beginne ich zu ahnen, warum. Ein junger Mann, um die Jugend gebracht, missbraucht von der Hexe Mrs. Robinson … Kein Wunder, dass er älter wirkt, als er ist. Bei der Vorstellung, was er durchgemacht haben muss, werde ich traurig. Noch weiß ich zu wenig, doch meine Recherchen werden Licht in die Sache bringen. Will ich es wirklich erfahren? Möchte ich seine Welt kennen lernen? Es ist ein großer Schritt.

Wäre ich ihm nicht begegnet, würde ich immer noch in seliger Ahnungslosigkeit leben. Meine Gedanken wandern zur letzten Nacht und zu diesem Morgen … und zu dem unglaublich sinnlichen Sex, den ich erlebt habe. Will ich auf den verzichten? Nein!, kreischt mein Unterbewusstsein … und meine innere Göttin stimmt ihm mit einem stummen Zen-Nicken zu.

Kate kehrt, von Ohr zu Ohr grinsend, ins Wohnzimmer zurück. Vielleicht ist sie verliebt. So war sie noch nie.

»Ana, ich gehe ins Bett. Ich bin hundemüde.«

»Ich auch, Kate.«

Sie drückt mich. »Ich bin froh, dass du heil wieder da bist. Christian hat so etwas …«

Ich versuche, sie mit einem Lächeln zu beruhigen, und denke dabei: Woher zum Teufel weiß sie das? Ihr untrüglicher Instinkt wird sie eines Tages zu einer großartigen Journalistin machen.

Ich schnappe mir meine Handtasche und gehe in mein Zimmer. Ich bin ausgelaugt von den körperlichen Anstrengungen des vergangenen Tages und von dem schrecklichen Dilemma, in dem ich stecke. Ich setze mich aufs Bett, nehme vorsichtig den braunen Umschlag aus der Tasche und drehe ihn in den Händen hin und her. Will ich das Ausmaß von Christians Verderbtheit tatsächlich kennen lernen? Es ist so beängstigend. Ich hole tief Luft und reiße den Umschlag auf.

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