2. Plünderer der See

Die gedrungenen Tiefseeschlepper tuckerten und zerrten an den Kabeln und zogen uns langsam mit neun Knoten zu den vor der Küste liegenden Gefällstrecken. Nun war heller Tag, vor uns stand eine riesige goldene Sonne, und der Himmel leuchtete in roten Farbtönen. Am Horizont hing dünner Wol-kendunst.

»Marinia?« fragte Bob Eskow. »Du kommst aus Marinia? Aber was tust du denn hier?«

»Ich bin in der Nähe von Kermadec im Südpazifik geboren und kam als Austauschstudent zur Akademie. Da sind noch ein paar aus Europa, Asien, Südamerika - und ich von Marinia.« Er lächelte. »Und du hast mich für eine Landratte gehalten, die nie die See sah. Bis vor zwei Monaten habe ich nichts anderes gesehen, weißt du. Wenn man in vier Meilen Tiefe geboren ist, dann erscheinen einem Himmel, Sonne und Sterne einfach so märchenhaft wie dir die Seeschlange.«

»Aber der Meeresboden ist doch gründlich erforscht .«

»Nein. Das ist er nicht. Es gibt etliche Städte, die durch Tunnels miteinander verbunden sind, es gibt auch Forscher und Prospektoren in allen Tiefen, Tiefsee-Farmen rund um die Kuppelstädte, aber, Bob, der Meeresboden ist von mehr als der dreifachen Fläche der Trockengebiete. Mit Mikrosonar findet man einiges, durch Beobachtung noch etwas dazu, aber der Rest des Meeresbodens ist kaum bevölkert und ebenso unbekannt wie die Antarktis.«

Das war das Ende unserer Unterhaltung, denn der Alarm erklang, und schon hörten wir den Seetrainer Blighman, der uns zu den Tiefsee-Injektionen aufrief. »In zehn Minuten wird getaucht!« warnte er uns.

Ein dunkler, magerer Kadett kam zu uns, als wir liefen. David machte uns mit ihm bekannt; es war Eladio Angel, ebenfalls Austauschstudent, aber aus Peru. Und während wir rannten, schaute er genauer hin zum Heck und blieb stehen. Wir taten es auch, aber da kam Blighman aus der Luke herauf, und wir rasten weiter.

Da stellte sich heraus, daß ein Fadenmesser fehlte. Er hatte noch auf der Ladebühne gestanden, und jetzt war er verschwunden, ein etwa hundert Pfund schweres Gehäuse, wasserdicht und noch nicht befestigt gewesen. Spurlos verschwunden!

Fairfane meinte, als wir uns zur Injektion anstellten, da müsse wohl eine große Welle gekommen sein, die das Ding mitgerissen habe.

»Es gab aber keine Welle«, bemerkte David Craken leise.

Fairfane funkelte uns an, und wir schwiegen. Aber David Craken hatte recht; es hatte keine Welle gegeben, die einen Instrumentenkasten von hundert Pfund über Bord hätte spülen können. Ich erinnerte mich auch genau, daß dies nicht der erste derartige Vorfall war. In der Woche vorher war ein pneumatisch angetriebenes Tiefsee-Dory verschwunden, direkt vom Freizeitstrand weg. Jemand in einem Tiefsee-Dory konnte, während die Crew an Deck vollauf beschäftigt war, heimlich auf das Floß gekommen und den Fadenmesser gestohlen haben.

Nein, unmöglich! Das Dory war nicht schnell genug, das Floß einzuholen, und die Mikrosonaranlage hätte es auf jeden Fall entdeckt. Vielleicht ein sehr raffinierter Sporttaucher ... Aber so weit draußen im Atlantik war kein Sporttaucher zu vermuten.

Da fiel mir David Crakens Bemerkung von der Seeschlange ein. Nein, das war doch lächerlich! Doch da kam der Tauch-alarm, das Tiefseefloß senkte die Nase und ging in die Tiefe. Über uns würden ständig die kleinen, stärken Schlepper kreuzen, um im Notfall zur Hand zu sein und uns vor anderen Schiffen zu warnen.

Die Injektion war nur ein Stich, mehr nicht. Ich fühlte mich danach auch nicht anders als vorher. Bob zuckte dabei zusammen und versuchte sich nichts anmerken zu lassen.

Das Übungsschiff vibrierte leise unter unseren Füßen. Die Motoren waren gerade stark genug, um Tiefe und Position beizubehalten. Die Frischluft von oben war abgeschnitten, und nun roch es hier richtig nach Schiff. Ich konnte mir vorstellen, wie die grünen Wellen über das Deck spülten, während wir in die geheimnisvolle Tiefe tauchten. Bob fühlte so wie ich; wir waren beide aufgeregt, da wir die See um uns hatten.

Da kam Cadet Captain Fairfane zu mir, und seine Augen blitzten zornig. »Eden, ich habe mit dir zu reden. Von Mann zu Mann.«

»Jawohl, Sir.« Ich war erstaunt. Mit Roger Fairfane stand ich nicht besonders gut. Als Bob und ich zurückkamen, hatte er sich erst sehr freundlich gezeigt, dann plötzlich aber recht kalt. Bob hatte gemeint, er glaube vielleicht, ich würde den Posten als Cadet Captain, also den seinen, anstreben, doch der hing ausschließlich von der allgemeinen Beurteilung ab, und die Fairfanes war ausgezeichnet. Bob mochte ihn nicht. Er hatte zuviel Geld, und sein Vater gehörte einer der größten TiefseeSchiffahrtslinien an. Er mußte ein wichtiger Mann sein.

»Eden«, sagte er scharf zu mir, »wir werden betrogen, du und ich. Dieser Craken schwimmt wie ein Teufelsfisch. Wenn wir den gegen uns haben, bleibt uns keine Chance.«

»Schau mal, Roger, das ist doch kein Rennen«, antwortete ich. »Es spielt keine Rolle, daß er ein paar Faden mehr Druck erträgt als wir ...«

»Für dich ist es vielleicht unwichtig, für mich nicht. Hör mal, Eden, er ist ja nicht einmal Amerikaner, sondern Transferstudent. Er weiß mehr über Druckverhältnisse als der Trainer. Ich will bei Lieutenant Blighman protestieren, ihm sagen, es sei nicht fair, wenn Craken gegen uns schwimmt. Das heißt, du sollst das tun.«

»Warum tust du das nicht selbst?«

»Schau mal, ich bin doch Cadet Captain und so ... Und außerdem .«

»Und außerdem hast du das schon getan und eine Abfuhr gekriegt, was?« warf Bob ein.

»Vielleicht«, gab Fairfane zu. »Nun, genau protestiert habe ich nicht, aber das spielt keine Rolle. Auf dich wird er hören, Eden. Von mir meint er vielleicht, ich sei voreingenommen.«

»Und bist du’s etwa nicht?« fragte Bob.

»Möglich«, schnappte Fairfane. »Aber ich bin besser als er und sein Freund, dieser Peruaner. Ich mag nur nicht wie ein Trottel dastehen, wenn er in seinem natürlichen Element ist. Eskow, wir tauchen gegen Menschen, nicht gegen Fische!«

Bob war sehr ärgerlich geworden, und ich berührte seinen Arm, um ihn zu beruhigen. »Tut mir leid, Roger«, sagte ich. »Aber ich glaube, ich kann dir da nicht helfen.«

»Hör mal, Jim, du als Stewart Edens Neffe .«

Das hatte Fairfane trotz seiner ausgezeichneten Beurteilung noch immer nicht gelernt, daß ich mir für Onkel Stewarts Ruf nichts kaufen konnte oder wollte, jedenfalls nicht an der Akademie. Die kümmerte sich nur darum, wer wie und was ist und tun kann. »Entschuldige, Fairfane, ich muß mich jetzt umziehen«, sagte ich.

»Das wird dir noch leid tun«, platzte Fairfane heraus. »Er weiß mehr über die Tiefen als ... Er hat etwas Merkwürdiges an sich .« Aber damit wandte er sich abrupt ab und ging.

Bob und ich schauten uns nur kurz an und beeilten uns, denn die anderen Kadetten stellten sich schon gruppenweise auf. Unsere Sporttaucherausrüstung war aber schnell angelegt.

Wir hatten die neueste Entwicklung einer Elektrolunge in unserer Ausrüstung, die durch Elektrolyse des Seewassers Sauerstoff erzeugt. Dechlorinatoren ziehen giftige Gase aus dem Salz heraus. Damit sparten wir Gewicht und hatten eine viel größere Reichweite, denn Seewasser stand uns ja unbegrenzt zur Verfügung. Solange die Strontium-Batterie Strom erzeugte, hatten wir also auch reichlich Atemluft, Bob legte seine Elektrolunge ein wenig zögernd an, und ich kannte den Grund. Die alten Sporttaucher hatten die Erfahrung gemacht, reiner Sauerstoff sei nicht ganz ungefährlich, und dosierte man ihn nicht ganz genau, konnte man leicht und früher als mit der alten Aqualunge dem Tiefenrausch verfallen. Vielleicht halfen da die Injektionen ...

Wir hatten engsitzende Thermoanzüge erhalten, und daraus war zu schließen, daß dies keine ganz gewöhnliche Tauch-übung wurde. Wir mußten also so tief hinabgehen, daß das Wasser vor Kälte biß.

Als wir auf den Bänken der Schleuse saßen, gab uns Trainer Blighman die letzten Anweisungen: »Jeder von euch hat eine Nummer. Wenn wir die Schleusenkammer fluten, schwimmt ihr zum Bugaufbau, sucht dort eure Nummer und drückt den Knopf darunter. Dann geht das Licht über der Nummer aus. Wir wissen dann, daß ihr den Test gemacht habt. Danach schwimmt ihr hierher zurück und kommt in die Schleuse. Damit keiner von euch verlorengeht - es gibt eine Führungsleine, an die ihr euch haltet. Denn wenn ihr das nicht tut, müssen wir für euch - oder für eure Leiche - eine Suchgruppe hinausschicken. Das wird eine teure Sache.«

Er schaute einen nach dem anderen an und wartete. Niemand sagte etwas. Bestand denn eine Gefahr, daß wir verlorengehen konnten? Doch kaum. Allerdings, ein Fadenmesser fehlte, aber wir hatten ja eine ausgezeichnete Mikrosonaranlage. Aber wenn ein vom Tiefenrausch benommener Taucher herumirrte Ich beschloß, genau auf Bob aufzupassen.

»Noch Fragen?« schnarrte Trainer Blighman. »Keine? Gut. Gesichtsmasken aufsetzen und befestigen. Ventile eins und drei öffnen .«

Der Kadett am Instrumentenbrett salutierte und drehte zwei Plastikknöpfe. Die See strömte herein; weißes, schäumendes Wasser donnerte an das Schott, Gischt besprühte unsere Linsen, und die Kälte war sofort in den Füßen zu spüren.

Trainer Blighman hatte sich zum Kommandoport zurückgezogen und beobachtete uns hinter dickem Glas. »Seetüren offen!« hörten wir über den Kommunikator seine hohlklingende Stimme. Die Motoren surrten, die Türblende öffnete sich weit. »Abzählen und hinaus!«

Bob Eskow war Nummer vier in unserer Crew, direkt vor mir. Er klopfte viermal, ich fünfmal. Dann waren wir draußen.

Rausch der Tiefe. Deshalb war ich ja auf der Akademie. Die See hatte mich längst berauscht. Sie war mein Leben.

Die Elektrolunge wisperte und blubberte hinter meinem Ohr, maß meinen Atem und lieferte mir den Sauerstoff, der mich am Leben hielt. Oben war heller Tag, aber hier unten herrschte schwachgrünliches Licht. Das Deck des Übungsschiffs war graugrün, eine Zauberhöhle mit transparenten Wänden. Die Führungsleine glich einer glühenden grünlichen Schlange, die sich in das grünliche Wasser spannte. Ich hatte nicht das Gefühl, im Wasser zu sein, sondern zu fliegen. Die Führungsleine berührte ich nicht, doch ich hielt mich an sie.

Bob schwamm vor mir, so langsam, daß ich ein wenig ungeduldig wurde. Am Bug fummelte er etwas ungeschickt herum. Dort waren unsere Nummern, und die Troyon-Röhre blühte bläulich über den Signalknöpfen. Sie waren sehr klar zu sehen, doch Bob schien Schwierigkeiten zu haben.

Helfen durfte ich ihm nicht, denn an der Akademie war es Ehrensache, jede gestellte Aufgabe selbst zu erfüllen. Er schien sich kaum mehr an die Führungsleine halten zu können und schwamm ziellos herum - in nur hundert Fuß Tiefe! Was würde bei dreihundert oder fünfhundert Fuß passieren?

Endlich waren wir alle wieder in der Schleuse, die Pumpen begannen ihr tiefes Surren. Kaum schauten unsere Oberkörper aus dem Wasser, fauchte uns Trainer Blighman an: »Eden, Eskow! Ihr Geleeheringe, was habt ihr so herumgetrödelt? Ihr habt die ganze Crew aufgehalten!«

Wir warteten auf einen gründlicheren Anpfiff, doch der kam nicht. Die Ärzte waren schon da, als das Wasser noch nicht ganz abgelaufen war. Einer der Kadetten tat einen Schrei und stürzte, ich fing ihn auf und hielt ihm den Kopf aus dem Wasser, und die Ärzte nahmen ihn mir schnell ab und streiften ihm die Maske herunter. Er war bewußtlos, sein Gesicht sah schmerzverzerrt aus.

»Ohrstöpsel!« schrie Trainer Blighman, der hereingestapft kam. »Hundertmal hab ich schon erklärt, daß sie unterhalb eines Fadens nutzlos sind. Wenn ihr die See nicht ertragen könnt, dann versteckt das nicht hinter Ohrstöpseln. Man kann damit nur ein bißchen mehr Druck aushalten, aber dann ist die Wirkung plötzlich beim Teufel, nur euer Trommelfell ist es auch. Dann seid ihr aber aus der Akademie draußen. So wie Dorritt hier.«

Schade um Dorritt. Aber da torkelte Bob, und ich mußte ihn auffangen. »Was ist los?« fragte ich ihn. Er schaute mich merkwürdig an, dann entglitt er mir.

Ich durfte mit ihm zum Lazarett gehen, ich trug sogar das eine Ende der Trage. Er wachte auf, als wir sie absetzten. »Jim«, fragte er, »kannst du mich hören?«

»Natürlich, Bob. Ich ...«

»Du bist so weit weg ... Bist du’s auch wirklich, Jim? Ich sehe dich nicht ... Da ist nur grüner Nebel mit Blitzen ... Jim, wo bist du?«

»Im Lazarett, Bob, und Lieutenant Saxon wird dich gleich wieder in Ordnung haben .«

Er schloß die Augen, als einer der Ärzte ihm eine Injektion gab, auf die er sofort einschlief. Er wisperte mir nur noch zu! »Ich wußte doch, daß ich es nicht schaffen würde ... Benommenheit .«

»Tut mir leid, Eden«, sagte Lieutenant Saxon.

»Er ist ... Ihn hat es hinausgewaschen, Sir?«

Er nickte.

»Druckempfindlich. Tut mir leid. Und Sie, Eden, gehen jetzt besser zu Ihrer Crew zurück.«

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