Der nächste Tag war ein böser Traum, doch zum Träumen blieb uns keine Zeit. Es war ein voller Akademie-Tag, der uns forderte.
Die Gezeiten warten nicht. Über dem Korallenportal des Verwaltungsgebäudes stand dies in großen Silberbuchstaben. Sie warteten auf nichts und niemanden, nicht auf Tragödien, verlorene Kameraden, auf Zwistigkeiten. David Craken war verschwunden, die Akademie lief weiter.
Wir standen in unseren leuchtendroten Uniformen auf der weißen Rampe aus Korallensand. Die heiße Bermuda-Sonne schien von einem tiefblauen, mit federigen Wolken durchzogenen Himmel, und die Kadettoffiziere bellten ihre Befehle. Ich riskierte einen Blick auf David Crakens Crew, doch die Lücke war schon aufgefüllt. Eladio Angels Gesicht sah angestrengt aus, doch ich hatte das Gefühl, David sei im Geist bei ihm.
Der offizielle Ausdruck für Davids Verschwinden hieß: Verschwunden, vermutlich ertrunken.
Die Band spielte die Tiefsee-Hymne, als wir uns vor der Inspektionsplattform am Verwaltungsgebäude aufstellten. Noch war nicht Mittag, doch die Sonne schien mörderisch heiß. Keiner verzog darüber eine Miene, keiner zuckte mit der Wimper, als die Oberklassenmänner durch die Reihen gingen. Der Kommandant hielt eine kurze Ansprache, dann schritt er die Reihen ab, kontrollierte Waffen und übersah keinen blinden Knopf und nicht das geringste Stäubchen an den Uniformen.
Dann marschierte eine Crew nach der anderen ab und wurde am Rampenende entlassen. Bob Eskow und ich trotteten in unser Quartier. Wir hatten zwanzig Minuten Zeit, ehe wir zur ersten Unterrichtsstunde des Tages antreten mußten.
Ein Kadett von den Posten hielt uns auf. »Eden? Eskow?« schnappt er. »Sofort beim Kommandanten melden. Beide. Aber plötzlich.«
Wir starrten einander an. Wir hatten doch nichts verbrochen, das einen Tadel verdient hätte ...
»He, plötzlich, hab’ ich gesagt, ihr Landratten! Worauf wartet ihr noch?« bellte der Posten. »Die Gezeiten warten nicht!«
Zuerst wurde ich aufgerufen. Bob blieb im Vorzimmer sitzen. Ich holte tief Atem und ging hinein. Meine Uniform war makellos - das dachte ich jedenfalls -, und die Mütze trug ich vorschriftsmäßig unter dem Arm. Ich salutierte zackig. »Sir, Kadett Eden, James, wie befohlen zur Stelle!«
Der Kommandant wischte sich den dicken Hals mit einem seeroten Taschentuch trocken und musterte mich. »Na, gut, Eden, stehen Sie bequem«, sagte er gemütlich. Dann ging er zur zweiten Tür des Büros. »Kommen Sie ‘rein, Lieutenant!« rief er.
Seetrainer Blighman marschierte steifbeinig herein. Der Kommandant stand am Fenster und schaute düster auf die weißen Stände hinaus. »Eden«, sagte er, ohne sich umzudrehen, »gestern haben wir bei den Tauchertests einen Mann verloren, David Craken. Ich hörte, Sie kannten ihn.«
»Jawohl, Sir, wenn auch nicht sehr gut. Ich lernte ihn erst kurz vor den Tests kennen.«
Er schaute mich nachdenklich an. »Aber Sie kannten ihn. Und ich sage Ihnen etwas, Eden, das Sie vielleicht nicht wissen. Es sind sehr wenige Kadetten an der Akademie, die das sagen können. Sein Zimmerkamerad, Kadett Angel. Sie. Sonst niemand. Es scheint, Kadett Craken lag nicht besonders viel daran, sich Freunde zu machen.«
Ich schwieg. Der alte Herr würde schon genauere Fragen stellen, wenn er etwas wissen wollte. Er schaute mich recht ernst an. Dann sagte er: »Lieutenant Blighman, haben Sie Ihrem Bericht über Kadett Craken noch etwas hinzuzufügen?«
»Nein, Sir«, ratterte Trainer Blighman. »Ich sagte schon, als Kadett Craken in angemessener Zeit nicht zurück war, alarmierte ich die Brücke und forderte eine Mikrosonarsuche an. Das Gerät war jedoch nicht voll einsatzbereit, und so wurden die Begleitschlepper um diese Suche gebeten. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Schlepper uns erreichten, und sie fanden keine Spur von Kadett Craken.«
Ich dachte an David, wie er im eisigen, dunklen Wasser ganz allein einem Druck von dreizehnhundert Fuß Wasser standhalten mußte. Kein Wunder, daß die Schlepper keine Spur mehr von ihm fanden. In den unendlichen Weiten des Ozeans ist ein menschlicher Körper winzig klein.
»Was war mit dem Mikrosonar?« erkundigte sich der Kommandant.
»Nun, Sir, ich verstehe es nicht recht. Es klingt so unvernünftig.«
»Das entscheide ich«, erklärte der Kommandant gereizt.
»Jawohl, Sir.« Der Trainer fühlte sich sehr unbehaglich und sah mich düster an. »Erst ging offensichtlich schon ein Fadenmesser vom Deck des Übungsschiffs verloren, ehe wir tauchten. Das Mikrosonargerät war auf zwei Fadenmesser eingestellt, und vielleicht lag hier der Grund für die Funktionsstörung. Jedenfalls meldete der Suchtrupp ein ... Geisterbild. Als Craken verschwunden war, bauten sie das ganze Gerät auseinander, um die Fehlerquelle zu finden.«
»Ein Geisterbild«, wiederholte der Kommandant. »Erzählen Sie mal Kadett Eden, wie das aussah, Lieutenant.«
»Die Sonarcrew hielt es für ... hm ... eine Seeschlange.«
»So. Eine Seeschlange. Kadett Eden, der Lieutenant erzählte mir, Sie hätten etwas von einer Seeschlange erwähnt.«
»Jawohl, Sir«, bestätigte ich steif. »Bei elfhundert Fuß glaubte ich so etwas gesehen zu haben. Aber es hätte auch etwas anderes sein können, Sir, ein Fisch . Oder auch nur ein Fantasiegebilde von mir; Tiefenrausch oder so, Sir. Aber .«
»Aber Sie sprachen von einer Seeschlange, nicht wahr?«
»Jawohl, Sir.«
»Hm. Ich verstehe.« Der Kommandant setzte sich wieder. »Kadett Eden, ich habe das Verschwinden von Kadett Craken so gründlich durchgehen lassen, wie ich konnte. In verschiedenen Punkten sehe ich noch nicht recht klar. Dieser Fadenmesser ... Sicher, er war noch nicht angeschraubt, und die verantwortliche Crew hat dafür ihren Anpfiff schon bezogen; er kann über Deck gerutscht sein. Aber es gab mehrere ähnliche Vorfälle, und die haben uns jedenfalls einen Kadetten gekostet.
Und dann könnte ja wirklich eine Seeschlange damit zu tun haben. Eden, ich neigte bisher immer zu der Ansicht, alle Seeschlangen kämen aus Flaschen. Ich bin seit sechsundvierzig Jahren im Dienst und habe vieles gesehen, aber noch keine Seeschlange. Die Crew vom Mikrosonar ist sich dessen nicht ganz sicher, was sie gesehen hat - falls sie überhaupt etwas sahen -, und das Gerät arbeitete wegen des fehlenden Fadenmessers nicht einwandfrei. Können Sie positiv sagen, daß Sie eine Seeschlange gesehen haben?«
Ich überlegte fieberhaft. »Nein, Sir. So ganz sicher kann ich das nicht sagen. Es könnte eine Reaktion vom Tiefenserum oder vom Druck gewesen sein.«
»Hm. Das dachte ich mir. Bleibt also Punkt drei. Kadett Eden, ich habe schon mit Cadet Captain Roger Fairfane gesprochen. Er sagte, es habe zwischen ihm und Kadett Craken Unstimmigkeiten gegeben, und Craken könnte vor dem letzten Tauchversuch irgendwie verwirrt gewesen sein. Mit anderen Worten: Captain Fairfane deutete an, Craken könne absichtlich nach unten oder seitlich weggeschwommen sein, um Selbstmord zu begehen.«
Ich vergaß alle Akademiedisziplin. »Sir!« platzte ich heraus. »Das ist absolut lächerlich! Fairfane ist wahnsinnig, wenn er glaubt, David habe sich selbst umgebracht. Der Streit ging doch von Fairfane aus, und David hatte nicht den geringsten Grund, an so etwas zu denken! Sicher, er hat sich nicht besonders angeschlossen, aber er war ganz entschieden kein Selbstmordkandidat! Er war .«
Blighman starrte mich wütend an, und auch der Kommandant kniff die Augen zusammen.
»Verzeihung, Sir«, sagte ich schnell. »Aber es ist ausgeschlossen, daß Kadett Craken sich selbst getötet hat.«
Der Kommandant überlegte. »Na, schön, Kadett Eden. Wenn es für Sie von Interesse ist, sollen Sie hören, daß sich Ihre Meinung mit der von Lieutenant Blighman deckt. Er sagte, Craken sei, so etwa wie Sie, wenn ich das sagen darf, ein sehr vielversprechender junger Mann gewesen. Abtreten!«
Ich salutierte und ging, bemerkte aber, daß Blighman etwas verlegen dreinsah. Dieser alte Hai! Hinter diesen wütenden, hungrigen Augen war er also doch ein Mensch .
Am Nachmittag hatten wir nur eine Klasse, und da war Eladio Angel dabei. Bob war noch nicht vom Kommandanten zurück, und deshalb gingen Laddy, wie David ihn genannt hatte, und ich zusammen hin.
Laddy war ebenso wütend wie ich wegen Fairfanes Andeutung, David könne Selbstmord begangen haben. »David ist ein erstklassiger Taucher, nicht? Dieser Tintenfisch will seinen Namen zerstören. Und ich glaube nicht, daß David tot ist.«
Ich blieb stehen und starrte ihn an. »Aber .«
»Nein, bitte sage nicht, er sei tot. Ich kenne David, und ich weiß, daß er lebt. Ich kann nicht sagen, warum ich es weiß, aber ich weiß es. Er ist vermißt, ja. Man glaubt, er wäre ertrunken. Und ich muß akzeptieren, was die Akademie sagt. Ich packe daher seine Sachen, um sie an seinen Vater zu schicken ... Willst du etwas sehen, Jim?«
»Vielen Dank, Laddy. Aber ich will nicht neugierig sein.«
»Nein, das hat nichts mit Neugier zu tun, aber es mag interessant sein für dich. Du solltest das Bild anschauen, bevor ich es einpacke.«
Nun ja, warum nicht? Ich begleitete ihn also auf sein Zimmer und sah es sofort. Den Platz an der Wand über dem Kopfende des Bettes kann der Kadett so verwenden, wie er will. Die meisten hängen dort Fotos ihres Mädchens oder ihrer Familie auf, Bilder ihrer Lieblingsschiffe oder Sportidole. Aber über David Crakens Bett hing ein ungerahmtes Aquarell.
Er hatte es selbst gemalt und mit DC rechts unten signiert. Und es stellte eine Tiefsee-Szene dar. Aus einem Wald von Tiefseepflanzen brach eine Kreatur .
Die Vegetation war mir fremd, und auch sonst erschien mir die Szene unglaubhaft. Die dicken Blätter der Pflanzen schienen im dunklen Wasser zu glühen. Die Kreatur hatte einen merkwürdigen langen Hals, ein Maul mit spitzen Fangzähnen und genau den Kopf, den ich über dem Geländer des TiefseeFloßes gesehen hatte.
Als ich das Bild noch genauer anschaute, sah ich, daß es nicht allein war. Auf dem Rücken hockte wie ein Mahut auf einem Elefanten mit einem langen Stachelstock in der Hand eine menschliche Gestalt.
Seeschlangen .
Nein, ich glaubte doch nicht daran. Dieses Bild war etwas, wie es die Sonarleute gesehen zu haben glaubten, wie ich es mir selbst vielleicht vorgesagt, wovon David gesprochen hatte.
Aber die menschliche Gestalt auf dem Rücken des gepanzerten Tieres - nein, das Monstrum war das Phantasiegebilde eines Jungen aus Marinia.
Ich bedankte mich bei Eladio, daß er mir das Bild gezeigt hatte und ging.
Bob war noch immer nicht zurück. Ich ging zum Essen und kam zurück; Bob war noch nicht da. Könnte es sein, daß Trainer Blighman Bob hatte disqualifizieren lassen? Nun, ein Grenzfall war er jetzt ganz gewiß. Jeder von uns mußte jährlich, um auf der Akademie bleiben zu können, besondere Leistungen in einem Tiefsee-Sport aufweisen. In drei von vier Möglichkeiten hatte es Bob nicht geschafft. Jetzt hatten wir nur noch das Marathon-Tiefsee-Schwimmen vor uns. Und wenn er da auch .
Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln. Ich setzte mich also an den Tisch und begann einen Brief an David Crakens Vater in Marinia. Die Adresse hatte ich von Eladio: Mr. J. Craken, c/o Morgan Wensley, Esq. Kermadec Dome, Marinia.
Natürlich würde die Akademie selbst an den Vater schreiben, aber ich wollte ihm etwas über das Allzuförmliche hinaus sagen. Wenn ich jedoch von der Seeschlange spräche oder vom Zwist mit Cadet Captain Roger Fairfane, so wäre dies sicher sehr töricht.
Ich schrieb also nur, daß ich David zwar noch nicht lange gekannt habe, doch er sei ein tapferer und geschickter Schwimmer gewesen, und er hinterlasse eine sehr bedauerliche Lücke. Falls er irgendwelche Fragen zu stellen habe, möge er mir schreiben.
Ich klebte gerade den Umschlag zu, als Bob kam.
Er sah erschöpft drein, aber nicht besorgt oder betrübt, eher aufgeregt. Ich bestürmte ihn mit Fragen, was geschehen sei, ob es Neues zu Davids Verschwinden gebe.
Er lachte, und ich fühlte mich erleichtert. »Jim, mach dir nicht so viele Sorgen. Nein, es gibt nichts Neues. Natürlich wurde ich wegen David gefragt, doch ich wußte ja nichts.«
»Und dazu hast du so lange gebraucht?«
Er schüttelte den Kopf und sah wieder aufgeregt drein. »Nein, dazu habe ich nicht so lange gebraucht«, antwortete er, und damit hatte sich’s. Mehr erfuhr ich nicht. Ich fragte auch nicht weiter. Aber ganz sicher hatte man ihn durch eine Mangel gedreht.
Vielleicht ging es doch um den Sport, und je mehr ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich.
Später erfuhr ich, wie sehr ich danebengeraten hatte.