IX.

Als die Gefährten Iliam Zaks Turm erreichten, war es Sommer. Jenseits des Waldes blühten die Feldblumen, die Bäume auf den Wiesen fingen an, Früchte zu tragen, und Mücken sirrten über dem Bachlauf, als sie durch die Brücke ritten. Es war angenehm warm – so warm, wie es in Sternental jeden Tag am frühen Nachmittag wurde –, doch selbst die Wärme dieses Sommernachmittags konnte die Gänsehaut nicht vertreiben, die sich beim Anblick von Iliam Zaks Turm unwillkürlich auf Zaras Unterarmen bildete. Es war ein seltsames Bild. Als sie letzte Nacht hierher gekommen waren, schneite es, die Lichtung rings um den windschiefen Turm war weiß, und an den Fenstern des Gemäuers blühten Eisblumen. Jetzt hingegen war die Lichtung grün und voller Blumen.

Doch die Schatten der Nacht hatten auch ihr Gutes gehabt, denn im matten Zwielicht des Tages wirkte der Turm weit mehr wie eine Ruine als in der vergangenen Nacht, als die Dunkelheit ein schmeichelndes Tuch um ihn gebreitet hatte. Das Mauerwerk war spröde und bröckelig, die Schindeln saßen schief auf dem Dach, und die Aura von Trostlosigkeit und Düsternis, die von dem Turm ausging, wurde durch die Helligkeit nur noch mehr betont.

Doch so düster der Ort auch wirken mochte, es gab keinen Anlass zur Sorge – der Bewohner des Turms lag noch genauso tot und verwesend oben in der Turmkammer, wie sie ihn zurückgelassen hatten, als sie zusammen mit Wigalf zum Friedhof aufgebrochen waren. Davon konnten sie sich mit eigenen Augen überzeugen, doch anders als bei ihrem letzten Besuch hatten sie kaum einen Blick für den Leichnam. Das Einzige, was Zara im Zusammenhang mit Zak in den Sinn kam, war, ob sich Godrik und der Rat der Bruderschaft nun, da sie wussten, dass er tot war, um ein angemessenes Begräbnis für Zak kümmern würden oder ob sie vorhatten, ihn hier einfach liegen zu lassen, bis die Natur ihnen diese Aufgabe abgenommen hatte.

Wenn der morgige Tag anbrach, ohne dass es ihnen gelungen war, die „letzte Stunde“ abzuwenden, stellte sich nicht einmal mehr diese Frage.

Nicht zuletzt deshalb verloren sie keine Zeit. Mit zielstrebigen Schritten ging Falk hinüber zum Tisch an der Wand, auf dem Zaks Versuchsanordnung stand, schnappte sich das Buch, das noch an derselben Stelle lag wie gestern Abend, und betrachtete kurz den grünlichen stockfleckigen Einband. Magische Portale und wie man sie öffnet, stand auf dem Buchrücken und dazu der Name des Verfassers: Abdul Alhazred. Sonst nichts.

Mit einer ungeduldigen Geste wischte Falk den Staub vom Einband, schlug das Buch am Anfang auf und studierte das Inhaltsverzeichnis. „Magische Portale und was sich dahinter verbirgt“, las er halblaut, während er mit dem Finger nach unten fuhr. „Magische Portale im Wandel der Zeit ... Magische Portale und ihre Auswirkungen auf das Raum-Zeit-Kontinuum ... Wie man sich magische Portale zu Nutze macht ... Ah, hier: Über das Öffnen magischer Portale!“

Er blätterte eifrig zur angegebenen Seite und begann zu lesen. Seine Augen glitten unstet hin und her, hin und her, indes er die Zeilen überflog. Jael schaute ihm dabei über die Schulter und las mit, während Zara ans zerbrochene Turmfenster trat, hinaus auf den Horizont über dem Waldrand spähte und abzuschätzen versuchte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis es dunkel wurde und die Nacht hereinbrach. Da die Sonne wie immer hinter einer dichten Wolkendecke verborgen lag, war das nur schwer zu sagen. Es konnten sechs Stunden sein, vielleicht aber auch nur vier.

Doch so oder so, ihnen blieb nicht viel Zeit, um ihren verwegenen Plan in die Tat umzusetzen, zumal wenn man bedachte, dass keiner von ihnen Erfahrung mit Zauberei hatte – oder zumindest nicht damit, selber Zauber zu wirken. Und genau das konnte sich als verhängnisvoll erweisen, denn auch wenn Falk mit seiner Theorie richtig lag und Iliam Zak mit Hilfe dieses unscheinbaren Bändchens tatsächlich im Stande gewesen war, durch ein magisches Portal von einem Ort zum anderen zu gelangen, hieß das noch längst nicht, dass sie ebenfalls in der Lage waren, diesen Zauber zu wirken.

Auf dem Weg hierher hatte die Seraphim ihnen die Problematik des Zauberns noch einmal im Groben dargelegt und dass man mit einer gewissen Veranlagung geboren sein musste, um zaubern zu können. Die Natur hatte einigen Menschen diese mysteriöse innere Kraft gegeben, von der die wenigsten überhaupt wussten, dass sie sie hatten – es war, als hätten sie eine Tür in ihrem Inneren, zu der sie zwar den Schlüssel besaßen, jedoch nicht wussten, dass die Tür überhaupt existierte. Manche Menschen stießen zufällig auf diese Tür und schlossen sie auf, andere suchten ganz gezielt danach, und wieder andere lebten und starben, ohne auch bloß zu ahnen, welche Kräfte tief in ihnen ruhten.

Für sie galt es jetzt, diese Tür in ihrem Innern zu finden, und auch wenn Zara ziemlich überzeugt war, dass sie selbst da lange suchen konnte, hegte sie doch die Hoffnung, dass die Seraphim den Schlüssel zu ihrer Tür besaß. Verdammt, immerhin war sie doch von göttlicher Herkunft. Zu irgendetwas musste das doch gut sein!

Sie betrachtete eine Weile nachdenklich den Himmel über dem Wald, während sie Thor geistesabwesend das dichte Nackenfell kraulte, bis Falk hinter ihr entnervt schnaubte und weit weniger euphorisch als zuvor sagte: „Was für ein Kauderwelsch ... Wer, zum Geier, soll denn das verstehen?“

Jael schwieg und las weiter. Die Lektüre war tatsächlich ziemlich schwierig, voller hochtrabender Ausdrücke und Zaubervokabeln, doch anders als Falk konnte sie damit durchaus etwas anfangen. Der erste Abschnitt des Kapitels befasste sich auf eher nüchterne, sachliche Weise mit der Theorie von magischen Portalen: Wie funktionierten sie, welches Mysterium verbarg sich dahinter, was geschah, wenn man eines dieser Tore öffnete, und was, wenn es sich wieder schloss. Wenig davon war wirklich konkret nachvollziehbar.

Die zweite Hälfte des Kapitels jedoch war praktischer Natur. Dort stand beschrieben, wie man ein Portal zu einem bestimmten, beliebigen Ort öffnen konnte. Eigentlich klang es ganz einfach: Man musste mit Kreide einen so genannten Portalkreis auf den Boden malen, in dessen Mittelpunkt das Portal entstehen würde, sobald man ein bestimmtes Ritual durchführte und dazu die entsprechende Zauberformel aufsagte. In dem Buch stand exakt, was wann wie und womit zu tun war, sodass es hier kaum Unklarheiten gab.

Illustriert wurde das Ganze von einfachen, fast kindlichen Zeichnungen, mit denen der Portalkreis und die Anordnung der magischen Symbole im äußeren der beiden Ringe, aus denen der Kreis bestand, grob skizziert waren. Damit wusste die Seraphim alles, was sie wissen musste.

„Ich denke, das ist zu schaffen“, sagte sie, nahm Falk das Buch aus den Händen und legte es mit der Zeichnung des Portalkreises aufgeschlagen auf den verwüsteten Werktisch. „Wir brauchen geriebenen Klatschmohn, Wolfsbeeren, Wurmfarm, Tollkirsche, Schwefelsalz, Schafgabe, eine schwarze Kerze aus dem Fett einer tot geborenen Katze und Eisenhut“, zählte Jael auf, indes sie daran ging, die Trümmer auf dem Tisch nach den Substanzen abzusuchen, die sie brauchten. „Wenn Falks Theorie stimmt und Iliam Zak tatsächlich – wie in diesem Buch beschrieben – magische Portale geöffnet hat, dann müssten unter den Sachen hier in der Kammer auch die Substanzen zu finden sein, die man braucht, um den Zauber zu wirken.“

Als sich ihre Gefährten nicht sofort in Bewegung setzten, fügte sie voller Ungeduld hinzu: „Worauf wartet ihr? Wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Falk und Zara warfen sich einen Blick zu. Dann zuckte der junge Mann mit den Schultern, ließ sich auf die Knie nieder und begann, den Boden nach den entsprechenden Kräutern und Pulvern abzusuchen, indes die Vampirin daran ging, die Regale und Schränke zu durchforsten.

Auch wenn sie anfangs – genau wie Jael – gewisse Zweifel gehegt hatte, dass Falks Portal-Theorie wirklich zutraf, schwanden diese, als sie in der verwüsteten Dachkammer tatsächlich auf Reste der Zauberkräuter stießen, die laut des Buchs von Abdul Alhazred nötig waren, um ein Portal zu einem anderen Ort zu öffnen. Einige Zutaten lagen inmitten der Trümmer auf der Werkbank, andere auf dem Boden.

Da zumindest Falk nicht die geringste Ahnung hatte, wie Wurmfarn oder Eisenhut aussahen und deshalb bei jedem vermeintlichen Fund nachfragen musste, dauerte es eine ganze Weile, die Kammer zu durchsuchen. Doch am Ende fanden sie tatsächlich alle Zutaten, die im Buch aufgelistet waren; einige der Kräuter waren von der Explosion verdreckt und halb vertrocknet, schmutzige Pflanzenstrunken, die nicht den Eindruck erweckten, als wären sie zu irgendetwas gut, schon gar nicht zum Zaubern, und das Schwefelsalz mussten sie quasi in einzelnen Krümeln vom Boden aufklauben, da der Tegel, in dem Zak das Salz aufbewahrt hatte, bei der Explosion zu Boden gefallen und zerbrochen war. Dann jedoch hatten sie alles beisammen – so hofften sie.

Falk hielt eine bereits halb niedergebrannte schwarze Kerze in der Hand, beschaute sie sich prüfend und murmelte: „Ob die aus dem Fett einer tot geborenen Katze ist? Wie kriegt man das raus? Kann man das schmecken?“

Zara nahm ihm die Kerze ab und sagte unwirsch: „Wenn sie aus dem Fett eines tot geprügelten Hundes ist, fahren wir alle zur Hölle. Dann wissen wir’s.“

Nach einem letzten Blick in das Buch begannen sie mit den Vorbereitungen.

Jael wischte mit dem Fuß wie mit einem Besen über den Boden, um in der Mitte der Dachkammer eine freie Fläche von fünf oder sechs Schritten Durchmesser zu schaffen. Dann ging die Seraphim in die Knie und begann unter den wachsamen Blicken ihrer Gefährten, mit Kreide einen Portalkreis auf die rissigen Holzdielen zu malen. Dabei fielen ihr auf dem Holz verwischte Kreidespuren von der gleichen Art auf, wie sie sie gerade zeichnete: stilisierte Symbole und Zeichen in einer uralten arkanen Sprache, die lediglich von einem elitären, verschworenen Zirkel Eingeweihter verstanden und gesprochen wurde. Einige der Symbole erinnerten mit ihren ineinander übergehenden Formen von Halbkreisen, Bögen und Monden an astronomische Sternzeichen, andere an fremdländische Schriftzeichen, die allein aus horizontalen und diagonalen Linien bestanden. Einzeln, jedes für sich, waren es nur irgendwelche Symbole, doch im Zusammenspiel bildeten sie, im äußeren Ring des Portalkreises angeordnet, eine Art magische Straße, die überall hinführte und zugleich nirgends.

Nachdem Jael den Kreis auf den Boden gemalt hatte, trat sie einen Schritt zurück, überprüfte, ob alles so war, wie im Buch abgebildet, und nickte zufrieden. „Das war der einfache Teil“, sagte sie. „Jetzt wird’s knifflig.“ Sie reichte Falk das Buch, in dem der Ablauf der Zeremonie beschrieben war. „Du bist dran“, sagte sie, und es klang mehr wie eine Bitte als wie ein Befehl; über den Punkt, an dem sie einander vorschrieben, was zu tun war, waren sie längst hinaus. „Es war deine Idee, also solltest du es als Erster versuchen.“

Falk nahm das Buch entgegen und nickte unsicher. Er war ungeheuer nervös. Vielleicht lag es daran, dass er wusste, dass es jetzt ernst wurde, vielleicht hatte er aber auch einfach nur Angst zu versagen. Denn auch wenn das Ritual im Buch nicht allzu kompliziert zu sein schien, war noch ein gewisses Maß an natürlichem Zauber nötig, damit die Kräuter und die Symbole ihre Wirkung auch so entfalteten, wie es gewünscht war.

Falk begann damit, dass er eines der sechs verschiedenen Kräuter auf jedes der sechs abstrakten Symbole legte, die wie Gestirne um den inneren Kreis aufgereiht waren. Dann stellte er die schwarze Kerze – von der er hoffte, dass sie nicht aus dem Fett eines tot geprügelten Hundes war – in den mittleren Kreis, riss an seinem linken Daumennagel ein Zündholz an und entzündete den Docht, der mit einem leisen Knistern eine ruhig brennende grüne Flamme bildete, die weder Wärme noch Helligkeit abstrahlte.

Alles, was jetzt noch übrig war, war das stinkende Schwefelsalz.

Das Salz in der hohlen Hand haltend, wandte er sich zu seinen Gefährtinnen um, die interessiert jede seiner Bewegungen verfolgten.

„Und jetzt?“, sagte er und wirkte dabei sehr verloren. „Wie öffnen wir jetzt das Portal nach Drakenschanze? Ich meine, wie stellen wir sicher, dass wir nicht in Mascarell landen oder in irgendeiner Einöde am Ende der Welt, fernab der nächsten Siedlung?“

Jael griff nach dem Buch und überflog ein paar Zeilen. „Hier steht, dass der Gedanke an den Ort, an den man zu gelangen wünscht, ausreicht, um das Portal dorthin zu öffnen.

Du musst also die Zauberformel aufsagen, das Salz in den Portalkreis werfen und dabei an den Ort denken, zu dem wir wollen. Den Rest erledigt die Magie dann von selbst – zumindest theoretisch!“

„Aber ich war noch nie in Drakenschanze!“, protestierte Falk. „Ich kann es mir also nicht vorstellen!“

„Dann denk einfach an den Namen“, sagte Jael. „Denk ,Drakenschanze‘. Das sollte genügen.“

Zara warf Jael einen skeptischen Seitenblick zu, als wäre sie davon nicht allzu überzeugt, sagte aber nichts, während Falk das Buch nahm, um es aufgeschlagen in einer Hand zu halten, indes die andere Hand mit Schwefelsalz gefüllt war. Unsicher stand er am Rande des Portalkreises, atmete noch einmal tief durch und begann dann mit stockender Stimme, die Zauberformel abzulesen, die das magische Portal öffnen sollte.

Es war ein abgehacktes, gutturales Gekrächze, vollkommen unverständlich für all jene, die dieser seltsamen Sprache nicht mächtig waren, und es klang ganz ähnlich wie die Beschwörung, mit der Wigalf auf dem Friedhof von Sternental die Toten aus ihren Gräbern hatte steigen lassen:

„Ph’angli agwa’nafhti, wgah’nagl fhtagn! Eyt Ph’nglui mglw’nafh, wgah’nagl fhlogn!“

Falk hatte seine liebe Mühe, die verqueren, beinahe ausschließlich aus Konsonanten bestehenden Silben über die Lippen zu bekommen, und als er damit fertig war, warf er – wie im Buch beschrieben – eine Hand voll Schwefelsatz in den Kreidekreis und wich hastig einen Schritt zurück, als befürchtete er, das Ganze könne explodieren und sie ebenso zerreißen wie den bedauernswerten Iliam Zak.

Doch es gab keine Explosion – nicht einmal eine kleine –, und auch sonst geschah nichts Spektakuläres, als das Schwefelsalz in die Kerzenflamme traf. Der Turm wurde nicht von einem gewaltigen Donnerschlag erschüttert, und es zuckten auch keine Blitze über den Himmel. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es geschah überhaupt nichts.

Mit halb erwartungsvollen, halb enttäuschten Mienen warteten sie noch eine geschlagene Minute, für den Fall, dass der Zauber vielleicht eine gewisse Zeit brauchte, um seine Wirkung zu entfalten. Doch als sich auch dann noch nichts regte, schüttelte Zara den Kopf, als hätte sie nichts anderes erwartet. „Das war wohl nichts“, brummte sie.

„Vielleicht habe ich irgendwas falsch gemacht“, mutmaßte Falk. „Vielleicht habe ich den Zauberspruch falsch ausgesprochen oder abgelesen, oder ich habe nicht intensiv genug an Drakenschanze gedacht...“

Er griff in die kleine Schale, in der sie das Schwefelsalz gesammelt hatten, und rezitierte den Zauberspruch erneut:

„Ph’angli agwa’nafhti, wgah’nagl fhtagn! Eyt Ph’nglui mglw’nafh, wgah’nagl fhlogn!“

Dieses Mal kamen die seltsamen Worte schon flüssiger und weniger abgehackt über seine Lippen, doch als er das Salz in den Kreis warf, tat sich wieder nichts. Die grüne Flamme brannte ruhig weiter, die Kräuter ruhten auf den Symbolen, Falk dachte so angestrengt an Drakenschanze, dass ihm der Kopf wehtat, aber ohne Erfolg.

Nichts rührte sich.

Fluchend stampfte er auf dem Boden auf wie ein trotziges Kind. „Verdammter Mist!“, grollte er. „Warum funktioniert das nicht?“

„Vielleicht hat keiner von uns die Magie in sich, die nötig ist, um diesen Zauber zu wirken“, grübelte Zara. „Nicht jeder ist zum Zauberer geboren.“

„Vielleicht“, stimmte Jael zu, „doch ein wenig Magie wohnt in uns allen – Reste unserer göttlichen Herkunft, schließlich stammen wir alle – egal, ob Mensch oder Seraphim, Dunkelelf oder Ork – in irgendeiner Form von den Göttern ab. Also muss ein Funken ihres Zaubers in uns allen sein.“

Sie trat vor, nahm Falk das Buch aus der Hand und griff in die Schale mit dem Schwefelsalz, um es selbst zu versuchen. Ihre Stimme hallte entschlossen von den Wänden der Turmkammer wieder, als sie laut die Beschwörungsformel aufsagte: „Ph’angli agwa’nafhti, wgah’nagl fhtagn! Eyt Ph’nglui mglw’nafh, wgah’nagl fhlogn!“

Doch genau wie zuvor bei Falk tat sich nicht das Geringste.

„Ich hab ihn nicht gesehen, den Funken“, spöttelte Zara.

Jael warf ihr einen grimmigen Blick zu und versuchte es noch einmal, das Gesicht starr vor Anspannung, als sie verbissen nach jenem Funken Magie in ihrem Innern forschte, wie ein Grubenarbeiter, der in den Eingeweiden der Erde nach einem funkelnden Edelstein sucht. Sie erinnerte sich ihrer göttlichen Herkunft und bemühte sich, den Zauber in sich selbst zu finden, doch auch, als sie das Ritual nun wiederholte, regte sich nichts, und auch ihr dritter Versuch zeigte keine Wirkung.

Frustriert nahm sich Jael noch einmal das Buch vor und überprüfte erneut jedes Symbol und jede Zeile, um sicher zu gehen, dass sich nicht irgendwo ein Fehler eingeschlichen hatte, während Falk ihre Position einnahm und da weitermachte, wo Jael aufgehört hatte: Das Schwefelsalz in der hohlen Hand, versuchte er, sich ganz auf das Ritual zu konzentrieren. Er zwang sich, in seinem Innern nach der Tür zu suchen, von der Jael gesprochen hatte, sprach die Zauberworte und warf das Salz.

Doch auch nach seinem nächsten Versuch und nach dem danach öffnete sich kein Portal. Nichts geschah. Der einzige Erfolg ihrer Bemühungen war, dass ihnen allmählich das Schwefelsalz ausging, doch obgleich er im Hintergrund Zara vernahm, die ihn aufforderte, aufzuhören – „Spar dir die Mühe! Das wird nie was!“ –, machte er mit einer Verbissenheit weiter, die ebenso sehr etwas von Verzweiflung wie von Besessenheit hatte. Ohne auf die resignierten Kommentare seiner Begleiterinnen zu achten, richtete Falk den Blick auf die schwarze Kerze im Zentrum des Portalkreises, zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, ruhig und gleichmäßig, und tauchte in sich selbst ab.

Doch egal, wie oft er die Beschwörungsformel wiederholte oder wie viel Schwefelsalz er in den Kreis warf- es war sinnlos!

Kein Donnerschlag ertönte.

Kein magisches Tor tat sich auf.

Es geschah einfach gar nichts. Und im selben Maße, wie seine Misserfolge zunahmen und das Licht draußen vor dem Turmfenster allmählich diffuser und die Schatten in der Kammer länger wurden, desto verzweifelter wurden Falks Bemühungen, der einfach nicht bereit war, aufzugeben und zu akzeptieren, dass es ihnen letztlich doch nicht bestimmt war, die Welt zu retten.

Seine Gefährtinnen waren da realistischer.

Lass es!“, fuhr Jael ihn schließlich mit lauter Stimme an und packte ihn an der Schulter. „Hör auf, Falk! Es hat keinen Sinn.“ Ein trauriger Schatten fiel über ihr blasses Gesicht, und sie seufzte; Zara kam der Gedanke, dass sich so ein Sterbender anhörte, der seinen letzten Atemzug tat – und wusste, dass es sein letzter war. „Wir sind einfach nicht dazu bestimmt“, sagte sie müde. „Wir haben nicht den Zauber.“

Ihr vielleicht nicht“, murmelte Falk trotzig, „aber ich schon ...“

Entschlossen schüttelte er Jaels Hand ab, wandte sich wieder dem Kreis zu und versuchte, seinen eigenen Mittelpunkt zu finden und seelisch zur Ruhe zu kommen.

„Der innere Funken“, murmelte er, mehr zu sich als zu seinen Gefährten, und starrte konzentriert auf die ruhige Flamme der schwarzen Kerze, indes er versuchte, alles andere um sich herum auszublenden – die Turmkammer, seine Gefährten, die Gedanken in seinem Kopf, ja, sogar sich selbst. Er dürfte nicht an die Bedrohung denken, die über Ancaria schwebte; er musste frei und offen sein, ohne Druck, ohne Zwang.

Er richtete seinen Blick nach innen, auf seine Seele, und suchte behutsam nach dieser besonderen Tür, die irgendwo in seinem Inneren sein musste, indes er langsam und bedächtig anfing, den Zauberspruch aufzusagen, und während die arkanen Worte über seine Lippen kamen, versuchte er, eine Verbindung zwischen diesen Worten und jener magischen Tür herzustellen, von der er nicht wusste, wo sie war oder ob es sie überhaupt gab. Doch er ließ keine Selbstzweifel zu, sondern richtete seine ganze Aufmerksamkeit, seinen ganzen Verstand, sein ganzes Sein auf diese Verbindung zwischen den Worten, die aus seinem Mund kamen, und der Tür ...

... und plötzlich war es, als würde sich der Vorhang lüften, der über seiner Seele lag, und ein roter Faden, den ausschließlich ersehen konnte, wand sich durch die verwickelten Windungen seines Selbst tief in sein Inneres. Falk folgte dem Faden im Geiste, hangelte sich daran entlang in seine Seele vor wie in ein zwar vertrautes, aber doch unbekanntes Gebäude, und dann tauchte die Tür mit einem Mal vor ihm aus dem Zwielicht seines Verstandes auf!

Einen magischen Augenblick lang sah er sie so deutlich vor sich, als stünde er tatsächlich davor: Es war eine kleine, überraschend unscheinbare Holztür, mit Eisenbeschlägen und einem rostigen alten Vorhängeschloss, und obwohl er keine Ahnung hatte, wieso, wusste er plötzlich, dass er den Schlüssel dafür nicht zu suchen brauchte. Er war hier, lag in seiner Hand, ein großer, klobiger alter Türschlüssel, und irgendetwas sagte ihm, dass er ihn schon immer in Händen gehalten hatte, diesen ganz besonderen imaginären Schlüssel, sein ganzes Leben lang, nur hatte er bis jetzt nicht gewusst, zu welchem Schloss er passte.

Jetzt wusste er es, und ohne Zögern schob er den Schlüssel ins Schloss.

Der Schlüssel passte perfekt.

Falk spürte, wie er ins Schloss glitt, ohne jeden Widerstand, und während die letzten Silben der Beschwörungsformel über Falks Lippen rollten, drehte er den Schlüssel im Geiste um. Drakenschanze, dachte er dabei, so intensiv und konzentriert, wie er nur konnte – Drakenschanze, Drakenschanze – und einen Moment lang war es, als zuckten Bilder vor seinem inneren Auge auf, vage Impressionen eines Ortes, an dem er selbst noch nie gewesen war – Sümpfe, Trauerweiden und darüber ein nachtschwarzer Himmel voll strahlend heller Sterne.

Plötzlich war es, als erhebe er sich in die Lüfte, als hätte er die Schwerkraft abgestreift wie einen mit Wasser voll gesogenen Mantel und stiege einfach in die Höhe, immer höher, wie schwerelos. Dann klackte es vernehmlich, als der Schlüssel seine Drehung vollendete, Falk warf das Schwefelsalz in den Portalkreis, das Schloss schnappte auf – und …

Falk riss voll freudiger Erwartung die Augen auf, jetzt wieder ganz bei sich, überzeugt davon, es geschafft zu haben. Er war sicher, dass sich jetzt vor ihm das Tor öffnen würde, dass Funken sprühten und sich im Zentrum des Portalkreises ein flirrendes magisches Portal öffnen würde, eine Tür zu einem anderen, weit entfernten Ort.

Stattdessen geschah – nichts.

Schon wieder.

Falk konnte es nicht glauben. Fassungslos starrte er auf die Flamme der Kerze, die ebenso ruhig und kalt brannte wie zuvor, so als wäre nichts geschehen. Er blinzelte mehrmals, doch es nützte nichts.

Es passierte einfach nichts, so sehr er auch darauf hoffte.

Falk konnte es nicht begreifen. Dabei war er sich so sicher gewesen, dass es diesmal klappen würde ...

Mit einem resignierten Seufzen wandte er sich zu den anderen um. „Ich geb’s auf, sagte er niedergeschlagen, und seine Entschlossenheit war plötzlich wie fortgewischt. „Ich war mir so sicher, dass es diesmal funktionieren würde. Ich habe sie gefunden, die Tür – und den Schlüssel auch! Ich habe den Zauber gespürt – wie eine Kraft, die mich durchströmte und mich von Kopf bis Fuß erfüllt hat. Und ich habe Drakenschanze gesehen. Ich weiß nicht wie, aber ich hab’s gesehen!“ Er fluchte verhalten. Er konnte es noch immer nicht fassen, nichts von dem, was er gerade erlebt hatte. Dass er die Magie in sich gespürt hatte, schien ihm ebenso unwahrscheinlich wie der Umstand, dass es doch nichts bewirkt hatte. Wieder seufzte er enttäuscht. Er ließ die Schultern hängen. „Aber wie es scheint, bin ich wirklich nicht in der Lage, dieses verdammte Portal ...“

Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, ertönte hinter ihm mit einem Mal ein hohles Fauchen, wie von Luft, die in ein Vakuum gesaugt wurde. Falk wirbelte überrascht herum und wurde Zeuge, wie über der Kerze eine Art wabernder, undurchsichtiger Spiegel materialisierte, schillernd wie eine ovale Seifenblase, die aus der Flamme der Kerze in die Höhe stieg und zunehmend größer wurde, bis die sanft in allen Primärfarben schillernde ovale Fläche mannshoch war. Die Oberfläche des „Spiegels“ war in ständiger Bewegung.

Falk starrte das Portal mit großen Augen an. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es doch geklappt hatte, aber sobald es soweit war, kehrte das breite, spitzbübische Grinsen auf Falks Gesicht zurück. „Ich hab’s euch ja gesagt!“, rief er triumphierend. „Ich hab euch gesagt, dass ich’s schaffe!“

„Ja“, sagte Jael, und auch sie musste lächeln. „Ja, das hast du ...“

Zara schwieg. Fasziniert betrachtete sie das wabernde, in den verschiedensten Farben schillernde Oval, das vor ihnen in der Luft hing, scheinbar auf der Flamme der Kerze balancierend, und sie ging staunend und ehrfurchtig um das Portal herum. Es hatte keine Tiefe; wenn man direkt daneben stand, konnte man nicht einmal sehen, dass es überhaupt da war. Doch von hinten sah das Portal genauso schillernd aus wie von vorn.

Kein Laut drang aus dem Dimensionstor, und man konnte auch nicht erkennen, was sich dahinter befand. Neugierig streckte Zara die Finger aus und berührte versuchsweise die Oberfläche – und zog die Hand schnell wieder zurück!

„Was ist?“, fragte Falk respektvoll. „Wie fühlt es sich an?“

„Unbeschreiblich“, erwiderte Zara und streckte erneut die Hand nach der spiegelnden Fläche aus, um sie behutsam mit den Fingerspitzen zu berühren. Ein sanftes Wogen ging durch die schillernde bunte Oberfläche, als habe jemand einen Stein in einen See geworfen. „Es ist nicht warm und nicht kalt“, sagte die Vampirin nachdenklich. „Es fühlt sich an, als würde von dem Portal ein gewisser Sog ausgehen, der meine Finger anzieht. Ein bisschen wie Wasser, nur dass es nicht nass ist.“

Neugierig traten auch die anderen näher; selbst Thor verließ seinen Platz in der Ecke, wo er die ganze Zeit über gelegen und gelangweilt ihren erfolglosen Bemühungen, das Portal zu öffnen, zugeschaut hatte. Er trottete heran und schnüffelte interessiert an der geheimnisvollen Spiegelfläche.

„Unglaublich“, murmelte Jael fasziniert, während sie das Portal umrundete und die schillernde Oberfläche betrachtete. „Wer hätte das gedacht.“ Sie wandte sich an ihre Begleiter. „Sagte ich schon, dass beim Öffnen solcher Portale eine Menge schief gehen kann? Wer weiß, ob dieses Portal wirklich nach Drakenschanze führt. Vielleicht fuhrt es irgendwo in die Luft, tausend Fuß über dem Boden, oder auch nirgendwohin.“ Sie wiegte den Kopf. „So froh ich bin, dass es Falk gelungen ist, das Tor zu schaffen, so sehr beunruhigt mich der Gedanke, hindurchzugehen.“

„Doch es ist unsere einzige Möglichkeit, das Grauen doch noch zu verhindern“, sagte Falk ernst, „und schließlich ... ist es nicht gerade die Ungewissheit darüber, was auf der anderen Seite der Tür liegt, die das Leben lebenswert macht?“

Jael zog eine Grimasse. „Schwätzer.“

Falk grinste.

„Ich unterbreche euer Geplänkel ja nur ungern“, mischte sich Zara ein. „Aber wenn wir da jetzt durchgehen, gleichgültig, wohin das Portal führt – wie kommen wir dann wieder hierher zurück?“

Jael schnalzte mit der Zunge. „Ich glaube nicht, dass dies der richtige Zeitpunkt ist, um sich darüber Gedanken zu machen. Ich will aber deutlich zum Ausdruck bringen, dass niemand dazu gezwungen ist, durch dieses Portal zu gehen und sich dem zu stellen, was auch immer uns auf der anderen Seite erwartet. Ihr seid niemandem irgendetwas schuldig. Im Gegenteil. Ihr habt bereits mehr für diese Welt getan, als man von euch erwarten konnte. Nicht, weil man euch dazu gezwungen hat, sondern weil ihr euch dazu verpflichtet fühltet; weil ihr gute Menschen seid, die nicht einfach untätig die Augen vor dem Unheil verschließen, das Ancaria droht, auch wenn ihr dafür weder Ruhm noch Reichtümer erhaltet. Vermutlich wird nie jemand erfahren, dass all dies überhaupt passiert ist – zumindest wenn es uns gelingt, den Kult aufzuhalten.“

Sie hielt inne und starrte einen Moment lang intensiv auf das Portal, als würde sie versuchen, durch die schillernde Oberfläche zu spähen, um zu sehen, was dahinter lag. Doch schließlich schüttelte sie nur unmerklich den Kopf und sah Zara und Falk direkt an.

„Auch wenn es euch freisteht zu gehen“, sagte sie leise, „wäre ich froh und dankbar, euch an meiner Seite zu wissen, denn egal, was uns auf der anderen Seite erwartet – man wird uns kaum mit offenen Armen empfangen.“

„Ein Portal, das überall und nirgends hinfuhren kann“, brummte Zara. „Eine Schar verrückter Zauberer, die das Höllentor zu öffnen versucht. Geringe Aussicht auf Erfolg. Der Tod als Gewissheit ...“ Sie grinste verschmitzt. „Worauf warten wir noch?“

Ihr Blick ruhte auf dem flirrenden Portal, und ihr Grinsen fiel ein wenig in sich zusammen. Jael hatte Recht: Die Götter allein wussten, wohin das Portal führte oder was sie auf der anderen Seite erwartete. Doch warum machte sie sich überhaupt Gedanken darüber? Es gab nur zwei Alternativen: sich dem Kampf stellen oder sich von den Dämonenheeren, die Ancaria überschwemmen würden, abschlachten lassen.

Und doch wagte sie es nicht, als Erste durch das Portal zu treten. Ebenso wenig Jael, die nervös auf ihren Lippen kaute.

Schließlich war es Falk, der sich einen Ruck gab und mit unsicheren Schritten vor das Dimensionstor trat, das seinem inneren Zauber entsprungen war. Lange hatte er davon geträumt, ein Held zu sein; etwas Besonderes zu schaffen und Taten zu vollbringen, an die sich die Welt erinnern würde. Jetzt war seine Chance gekommen, sich selbst zu beweisen.

Und er würde sie nutzen!

„Das Glück ist mit den Tapferen“, murmelte Falk, wie um sich selbst Mut zuzusprechen. Er holte noch einmal tief Luft, den ängstlichen Blick auf das Portal gerichtet. Dann gab er sich innerlich einen Ruck. Er nickte seinen Begleiterinnen wie zum Anschied zu, trat entschlossen durch das schillernde, ovale Portal – und verschwand, als wäre er durch eine Tür in einen anderen Raum gegangen!

Mit einem Mal war er einfach nicht mehr da.

Thor legte verwundert den Kopf schief und spitzte die Ohren.

Zara und Jael wechselten einen schnellen Blick. Dann streckte die Vampirin in einer einladenden Geste den Arm aus. „Alter vor Schönheit“, erklärte sie mit einem kleinen Lächeln. Aber auch ihr Versuch, die Spannung zu lockern, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr alles andere als wohl war. Keine Frage, das Schicksal der freien Völker Ancarias lastete auf ihren Schultern, doch das bedeutete nicht zwangsläufig, dass es sie in Hochstimmung versetzte.

Der Seraphim ging es ähnlich, doch sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb. Und so nickte sie Zara nur unmerklich zu, so wie Falk es zuvor getan hatte, und ging mit entschlossenen Schritten durch die Spiegelfläche, um ebenso spurlos zu verschwinden wie Falk vor ihr.

Thor folgte ihr neugierig und ohne Furcht.

Nun war Zara allein in der verwüsteten Turmkammer – allein mit der Leiche von Iliam Zak, allein mit sich und ihren Gedanken.

Sie schaute noch einmal zum zerborstenen Fenster und hindurch, sah die Wipfel des Waldes, die sich träge vor dem nachtschwarzen Himmel wiegten, während die ersten Schneeflocken dieses „Winterabends“ zu Boden schwebten. Dann stieß sie ein vernehmliches Seufzen aus, schüttelte unmerklich den Kopf, als wäre sie sich selbst nicht sicher, was sie hier eigentlich tat oder warum – und dann ...

Dann trat auch Zara durch das magische Portal, ohne zu wissen, wohin es führte, was sie auf der anderen Seite erwartete oder ob sie jemals wieder zurückkehren würde.

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