VII.

Als sie sich erneut auf den Weg nach Burg Sternental machten, dämmerte bereits der Morgen herauf, und mit dem ersten blassen Licht des neuen Tages hielt der Frühling Einzug in der Enklave. Schnee und Kälte schwanden wie eine schlechte Erinnerung. Eine warme, sanfte Brise strich durch den Talkessel, zauberte den Frost von Bäumen und Sträuchern und ließ erste zarte Knospen und Blätter sprießen. Krokusse und Osterblumen brachen durch die fruchtbare schwarze Erde, während sich das Grün zusehends ausbreitete und bald hier, bald da vergessen ließ, dass Väterchen Frost je regiert hatte.

Die Allee der Kastanienbäume zum Portal der Großen Burg stand bereits in voller Blüte, als die Gefährten in gestrecktem Galopp durch die menschenleeren Gassen von Sternental preschten, doch keiner von ihnen hatte für dieses neuerliche Wunder mehr als einen flüchtigen Blick übrig. Winter oder Frühling, Sommer oder Herbst – nichts in der Enklave war so, wie es sein sollte. Es war alles nur Lug und Trug, nichts als schöner Schein, um von dem abzulenken, was hinter all diesem Zauber verborgen lag. Hier gab es nichts, das so war, wie es aussah, und niemanden, dem man Glauben schenken konnte. Und genau das bereitete Zara Sorge. Wigalf war es mit Leichtigkeit gelungen, sie in die Falle zu locken. Wie also konnten sie überhaupt jemandem trauen?

Doch sie behielt ihre Zweifel für sich. Jael war fest entschlossen, den Enklavenvorsteher um Unterstützung zu ersuchen, und auch, wenn die Vampirin weit weniger zuversichtlich war, dass Godrik ihnen helfen würde, so hatte Jael doch zumindest mit einem Recht: Niemand, der von dieser Bedrohung wusste und halbwegs klaren Verstandes war, konnte zulassen, dass der Sakkara-Kult das Tor zur Hölle auftat und ein Dämonenheer in die Welt entließ.

Doch wie sich zeigte, hatte das Ganze weniger mit klarem Menschenverstand zu tun, sondern vielmehr damit, ob man ihnen überhaupt Glauben schenkte. Und damit fingen die Schwierigkeiten erst an.

Als sie mit wehenden Umhängen den Korridor zum Großen Saal am oberen Ende der Wendeltreppe entlanghetzten, sagte Jael mit einem Seitenblick auf die Vampirin: „Überlass mir das Reden; ich denke, mit Diplomatie kommen wir hier weiter als mit roher Gewalt.“

Zara setzte ihre beste Unschuldsmiene auf, die so viel besagte wie: Ich und Gewalt? Niemals! „Wie du meinst“, erwiderte sie mit mildem Spott in der Stimme. „Du bist die Seraphim.“

Jael runzelte irritiert die Stirn, als wusste sie nicht recht, ob Zara sie nur auf den Arm nehmen wollte oder es ernst meinte. Doch bevor sie nachhaken konnte, erreichten sie das Portal zum Großen Saal, und die Seraphim beschloss, dass es jetzt Wichtigeres zu klären gab.

Nachdem sie ohne anzuklopfen den linken Flügel des Doppelportals aufgerissen hatte, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus, denn trotz der vergleichsweise frühen Stunde war Godrik, der Enklavenvorsteher, bereits anwesend. Zusammen mit seinen beiden schweigsamen Beisitzern thronte er hinter seinem endlosen Schreibtisch. Doch anders als gestern Abend standen in einem Halbkreis vor dem Tisch zwölf hohe lederbezogene Lehnstühle, und auf jedem dieser Stühle saß ein Zauberer, und jeder von ihnen drehte überrascht den Kopf zum Portal, als die Gefährten in den Saal stürmten, alle Anstandsregeln vergessend.

Noch während sie auf den Tisch des Rats zueilte, schleuderte Zara den deformierten Schädel von Wigalf an den Haaren von sich, geradewegs in den Stuhlhalbkreis. Der abgeschlagene Kopf rollte noch einige Meter über den Boden und blieb reglos inmitten der Zauberer liegen, die schwarzen Augen aufgerissen, der Mund eine gähnende Grube voller Reißzähne. Doch obgleich Wigalf am Ende kaum noch menschlich gewesen war, konnte man nach wie vor erkennen, dass es sein Kopf war, der da lag.

Ein entsetztes Raunen ging durch die Reihe der Versammelten.

Godrik sprang entrüstet auf. „Was zum ...“

Jael ließ ihn den Satz nicht zu Ende bringen. „Das“, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf den abgetrennten Schädel, „ist der Kopf eines Verräters. Eines Verräters an allem, wofür diese Magierbruderschaft steht; an allem, wofür die Menschheit steht. Während Ihr hier oben in Eurem Turm hockt und hehre Reden schwingt, wie sehr Euch das Wohl der Gemeinschaft am Herzen liegt, hat sich direkt unter Eurer Nase eine Senkgrube des Bösen gebildet, deren widerwärtiger Gestank sich mit jedem Tag mehr ausbreitet, und Ihr habt nichts dagegen unternommen!“

Godrik starrte sie grimmig an. Jetzt, da er seine erste Verblüffung halbwegs verwunden hatte, ließ er sich wieder auf seinen Stuhl zurückfallen. „Wir sind gerade in einer Unterredung“, sagte er, bemüht, seine Stimme gleichzeitig ruhig und autoritär klingen zu lassen. „Ich bin gerne bereit, Euch anzuhören, warum Ihr Euch genötigt saht, ein Mitglied unserer Bruderschaft zu entleiben, doch so gespannt ich auf Eure Erklärung für diese ungeheuerliche Tat bin, ist dies doch nicht die rechte Zeit dafür. Ich schlage vor, wir ...“

„Diese Angelegenheit duldet keinen Aufschub!“, unterbrach ihn Jael, blieb inmitten des Stuhlhalbkreises stehen und betrachtete reihum die Zauberer, die überrascht und neugierig gleichermaßen dasaßen und die Seraphim und ihre Begleiter voller Argwohn musterten. Wie die Männer, die sie gestern Abend in der Taverne gesehen hatten, waren die Zauberer auf gewisse Weise uniform, als sollte man auf einen Blick erkennen, wen man da vor sich hatte. Doch im Gegensatz zu den neugierigen Spielern strahlten die Zwölf auf den Stühlen genau wie Godrik und seine Beisitzer eine natürliche Autorität aus, wie man es häufig bei Würdenträgern findet, die es gewohnt sind, Macht auszuüben. Es waren ausnahmslos Männer in weiten, teilweise kunstvoll mit Symbolen bestickten Roben, und jeder von ihnen hielt einen Stab in Händen, der ebenso ein Statussymbol der Magierkaste war wie die langen Barte, die mal struppig, mal glatt, aber niemals übermäßig gepflegt den größten Teil der meist ältlichen Gesichter verbargen. Einige wirkten zudem, als hätte auch ihr Haupthaar seit Jahren keine Schere mehr gesehen, sodass nicht wenige einen Pferdeschwanz trugen. Das verlieh ihnen ein sonderbar jugendliches Aussehen, trotz der Falten und Krähenfüße, die sich wie durch Säure in ihre Gesichter gefressen hatten.

Doch den düsteren Blicken nach zu urteilen, mit denen die zwölf Zauberer Jael und ihre Gefährten bedachten, fanden sie den Anblick des Trios nicht minder seltsam, und das war durchaus nachvollziehbar angesichts der zerrissenen und schmutzstarren Kleidung der drei.

Doch Jael war vollkommen gleichgültig, welchen Eindruck die Zauberer von ihr hatten. Sie war hier, weil die Welt am Rande des Abgrunds stand, und so kam Jael gleich auf den Punkt; sie hatten keine Zeit für lange Vorreden. „Der Sakkara-Kult ist dabei, das Tor zur Hölle zu öffnen“, erklärte sie geradeheraus. „Sie haben vor, die Chaos-Dämonen zurück in die Welt zu lassen, um Unheil und Vernichtung über Ancaria zu bringen – und jeder von Euch, der davon Kenntnis hat, ohne etwas dagegen unternommen zu haben, ist entweder ein verdammter Verräter oder ein elender Feigling!“

Unter den zwölf Zauberern brach aufgeregtes Gemurmel aus, doch es blieb unklar, ob die Aufregung auf Grund Jaels Enthüllung über den Kult oder darüber entstanden war, dass sie die Männer gerade pauschal als feige verurteilt hatte.

Als Godrik beinahe gleichmütig einen Arm hob, verstummten die Zauberer schlagartig, und der einäugige Enklavenvorsteher übernahm es, als Sprachrohr zu fungieren.

„Der Sakkara-Kult?“, wiederholte Godrik mit diesem süffisanten, arroganten Lächeln in den Mundwinkeln, das Zara bereits bei ihrem letzten Besuch angewidert hatte. „Das Tor zur Hölle? Chaos-Dämonen?“ Er schüttelte mitleidig den Kopf. „Verehrte Seraphim, bei allem gebotenen Respekt für Euch und den König, aber was Ihr da sagt, ist so absurd, dass mir schier die Worte fehlen. Was, bei allen Göttern, bringt Euch nur zu diesen Fantastereien?“

„Von Fantastereien kann hier keine Rede sein“, erklärte Jael düster und berichtete den versammelten Zauberern mit knappen Worten von den Morden in Moorbruch, Biberringen, Finsterwinkel und Galadur; von den Blutbestien, die Jagd auf Jungfrauenherzen machten; von den Verschwörern, die diese Bestien dirigierten; davon, dass alle Hinweise darauf hindeuteten, dass der verbotene Sakkara-Kult beabsichtigte, dort weiterzumachen, wo Iliam Zak seinerzeit gescheitert war; dass nicht Iliam Zak, sondern seine ehemalige rechte Hand Ishmael Thurlak der Drahtzieher dieses ganzen Wahnsinns war; und dass einiges vermuten ließ, dass Zauberer der Enklave dem Kult angehörten, so wie Wigalf, der versucht hatte, sie zu töten, damit sie dem Kult nicht in die Quere kamen.

Tiefes Schweigen folgte ihren Worten. Eine Weile sagte niemand etwas, so als müssten die Zauberer all diese neuen Informationen erst verdauen – oder sich zumindest damit abfinden, dass die Sache mit dem Sakkara-Kult, die sie so lange ignoriert und klein geredet hatten, eskaliert und ihnen über die Köpfe gewachsen war, wenn auch nur ein Bruchteil der Geschichte stimmte, die Jael ihnen gerade erzählt hatte.

Das Erste, was Godrik schließlich in das dräuende Schweigen sagte, war: „Dann habt Ihr mich also belogen, was den Grund Eures Hierseins betrifft.“ Das Zweite, im gleichen arroganten, verurteilenden Plauderton vorgetragen, war: „Glaubt Ihr allen Ernstes, dass wir auch nur ein einziges Wort von Eurer Märchengeschichte für bare Münze nehmen?“

Er strafte die Gefährten einen nach dem anderen mit vernichtenden Blicken. „Ich muss zugeben, dass ich von einer Hüterin des Lichts kaum erwartet hätte, dass sie einem offensichtlich geistig Verwirrten aufsitzt.“ Bei diesen Worten betrachtete er Wigalfs Kopf, der noch immer – grässlich deformiert – auf dem Boden lag. „Gleichgültig, was Wigalf – die Götter seien seiner Seele gnädig – so verunstaltet haben mag und was er Euch erzählte, das alles ist doch weiter nichts als Unsinn!“ Jetzt wurde seine Stimme lauter, schneidender, aufgebrachter. „Ein riesiger Haufen Blödsinn und Unfug, der jeder Grundlage entbehrt! Dieser Sakkara-Kult ist tot, und es gibt in dieser Enklave keine Verschwörung mit dem Ziel, das Tor zur Hölle zu öffnen!“

„Wie könnt ihr Euch da so sicher sein?“, forschte die Seraphim, ungerührt von Godriks Ausbruch. „Was ist mit diesem Ishmael Thurlak? Offenbar war er einst Iliam Zaks rechte Hand, bevor er beschloss, selbst an die Spitze des Kults aufzusteigen. Wo können wir ihn finden?“

„Dort, woher Ihr gerade kommt“, sagte Godrik düster. „Auf dem Friedhof von Sternental.“ Als er Jaels verblüffte Miene sah, kräuselten sich seine Mundwinkel zu einem verstohlenen, bösen Lächeln. „Thurlak ist schon seit Jahrzehnten tot und begraben“, erklärte er spöttisch, und wie um Jael zuvorzukommen, fügte er hinzu: „Und nein, er wurde nicht ermordet. Er starb ganz unspektakulär an einer gewöhnlichen Lungenentzündung. Doch auch, wenn er noch am Leben wäre, könnte er Euch nicht weiterhelfen, denn genau wie Iliam Zak – genau wie wir alle hier – hatte er den Verbotenen Künsten längst abgeschworen und versuchte, im Rahmen seiner Möglichkeiten wieder ein anerkanntes Mitglied der ancarianischen Gesellschaft zu werden. Seine Absichten waren tugendhaft.“

Er starrte die Seraphim mit seinem einen Auge durchdringend an, und jede Andeutung eines Lächelns war plötzlich wie weggewischt. „Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Es gab nie eine Sakkara-Verschwörung in Sternental. Es gibt keine Zauberer in der Enklave, die sich diesem Irrglauben verschrieben haben! Und es wird auch in Zukunft keinen geben, der ...“ Er wollte noch mehr sagen, doch die Vampirin unterbrach ihn.

„Was ist dann mit den toten Zauberern?“, rief Zara, die es leid war, Godriks Gerede zuzuhören. Er war so sehr darauf bedacht, sie vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was sie mit absoluter Sicherheit wussten, dass Zara längst stutzig geworden war und in ihm einen Feind vermutete.

Godrik blinzelte irritiert mit seinem zweifarbigen Auge, einen Moment lang aus dem Konzept gebracht. Dann hatte er sich wieder gefasst, und er sah Zara scharf an. „Noch so eine Sache, die Wigalf Euch erzählt hat?“, fragte er spöttisch.

„Dann stimmt es also nicht, dass es in den letzten Monaten und Jahren immer wieder brutale Morde in Sternental gegeben hat? Morde, die alle nach dem selben Muster verübt wurden?“ Zara ließ sich von Godrik nicht aus der Ruhe bringen. Ihr war keineswegs entgangen, dass sich die zwölf Zauberer immer wieder viel sagende Blicke zuwarfen, die zunehmend besorgter geworden waren, je mehr Jael ihnen über die Pläne des Sakkara-Kults enthüllt hatte. „Dass einem Dutzend Zauberern die Halsschlagader aufgeschnitten worden ist, weil sie sich gegen den Kult gewehrt und sich geweigert haben, ihre Kräfte in die Dienste des Sakkara-Ordens zu stellen?“

Godrik machte eine wegwerfende Handbewegung. „Papperlapapp!“, brauste er auf, lauter, als notwendig gewesen wäre. „Dummes Geschwätz, nichts weiter! Natürlich, auch hier in der Enklave sterben Menschen – das ist der Lauf des Lebens. Alles, was entsteht, ist wert, dass es zu Grunde geht, sagt man! Das gilt für Sternental wie für den Rest der Welt. Aber niemand wurde hier je ermordet!“

Er wollte noch mehr sagen, seine Triade fortsetzen, doch ehe Zara oder Jael ihm über den Mund fahren konnten, ergriff überraschend einer der zwölf Zauberer das Wort.

„Aber was, wenn sie Recht haben?“, schnitt der Mann dem Enklavenvorsteher mit leiser, doch ernster Stimme das Wort ab, und sofort wandte sich alle Aufmerksamkeit im Saal ihm zu. Jener Zauberer war ein dicker Patron mit rosa Pausbacken, schlohweißem Zauselbart und einer von geplatzten Äderchen durchzogenen Knollennase, und er war alles andere als erfreut über die plötzliche Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Trotzdem sprach er unbeirrt weiter; vielleicht ahnte er als Einziger, dass sie an einem Scheideweg angelangt waren. „Was, wenn wir unsere Augen die ganze Zeit vor etwas verschlossen haben, vor dem wir sie niemals hätten verschließen dürfen, keine Sekunde lang?“

Salman!“, bellte Godrik, um den Zauberer zum Schweigen zu bringen; es klang, als wollte ein Herrchen seinen Hund dazu bringen, mit dem Kläffen aufzuhören.

Doch Salman hatte schon zu lange geschwiegen. Sein Blick glitt in die Runde, und seine Miene war ernst und voller Sorge, als er aufstand und beinahe provozierend vor den Tisch trat, an dem Godrik saß und ihn mit versteinerter Miene anstarrte wie ein Insekt, das es zu zertreten galt. „Wir alle haben die Zeichen gesehen. Über Monate hinweg. Wir haben die Gerüchte gehört. Wir haben unsere Kameraden der kalten schwarzen Erde übergeben, einen nach dem anderen, und dabei haben wir uns eingeredet, dass wir alles unter Kontrolle haben – Ihr habt uns eingeredet, dass Ihr alles unter Kontrolle habt.“ Er zeigte mit dem Zeigefinger auf Godrik; wenn der einäugige Blick des Enklavenvorstehers hätte töten können, wäre Salman auf der Stelle zusammengebrochen.

Doch auch, wenn man dem dicklichen Zauberer ansah, dass es ihn große Überwindung kostete, sich Godrik so offen zu widersetzen, sprach er aus, was ihm schon seit langem auf der Seele zu lasten schien. „Wir haben uns mit dem Gedanken beruhigt, dass niemand so dumm wäre, sich mit dem Sakkara-Kult einzulassen; vielleicht wollten wir es aber auch einfach nur nicht wahrhaben, aus Furcht davor, was dies für uns und den Rest der Welt bedeuten würde. Doch jetzt können wir nicht länger die Augen vor dem verschließen, was offensichtlich ist: Der Sakkara-Kult plant Schreckliches, und ich persönlich glaube jedes Wort von dem, was hier gerade gesagt wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis so etwas geschehen würde. Ein Wunder, dass es nicht schon viel früher dazu gekommen ist.“

Er drehte sich langsam um, den Stock in Händen, und sah die übrigen Zauberer einen nach dem anderen an, doch die meisten wichen seinem Blick aus. „Wir müssen eine Entscheidung fällen“, sagte er eindringlich. „Nicht nur für uns, sondern vor allem für all die Unschuldigen dort draußen ...“ Er machte mit dem Stock eine Geste, die nicht nur Sternental einschloss, sondern die ganze Welt. „Wir sind vielleicht die Einzigen, die die Macht haben, die Katastrophe zu verhindern.“

„Und warum sollten wir das tun?“, fragte Godrik lauernd, in einem Ton, der an Selbstgefälligkeit und Arroganz nicht zu überbieten war, und sofort richteten sich sämtliche Blicke auf ihn.

Godrik wartete, bis er sich der Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher sein konnte, ehe er leise fortfuhr: „Selbst wenn sie Recht haben und dieses Gerede mehr ist als ein Hirngespinst: Warum, bei allen Göttern, sollten ausgerechnet wir Ancaria retten? Warum sollten wir verhindern, dass der König vom Thron gestoßen und die Welt in eine neue Ordnung gezwungen wird? Wir sind nur hier, weil der König uns wegen dem ablehnt, was wir sind und vermögen. Nur weil wir Kräfte haben, die er nicht kontrollieren und erst recht nicht begreifen kann. Weil wir Dinge wissen, die er nicht weiß. Und weil die Mächtigen alles ablehnen, was sich ihrer Kontrolle entzieht. Weil sie dadurch ihre Macht bedroht sehen. Darum – nur darum! – hat man uns vor tausend Jahren hierher verbannt, in diese Einöde.“

Godriks Worte wurden immer geringschätziger, bis er sie ausspie wie Brocken faulen Fleisches. „Was schulden wir dem König? Sein Geschlecht hat uns dieses Leben am Rand der Welt aufgezwungen, weitab von allem, was uns einst lieb und teuer war. Seine Vorfahren haben uns wie Tiere gejagt und eingepfercht, wo immer die Inquisition unsrer habhaft werden konnte. Nur wegen des Königs hausen wir hier, am Ende der Welt! Und ausgerechnet wir sollen helfen, die herrschende Ordnung aufrechtzuerhalten, in der wir nichts weiter sind als abnormes Menschenvieh?“

Er starrte mit wildem Blick in die Runde. Seine Wangen waren vor Erregung gerötet, und sein Atem ging keuchend, als er voller Zorn und Verbitterung hervorstieß: „Wir schulden dem König nicht das Geringste!“

„Es geht hier nicht um den König“, hielt die Seraphim dagegen, „sondern um die Menschen dieses Reichs.“

Godrik starrte Jael hasserfüllt an, und als er sprach, war seine Stimme kalt wie Gletschereis: „Was haben diese Menschen je für uns getan, dass sie unserer Hilfe wert wären?“

„Was habt Ihr jemals für diese Menschen getan, um Euch ihren Respekt zu verdienen?“, fragte Jael zurück. Godriks einäugiger Blick durchbohrte die Seraphim wie ein Dolch des Zorns, doch sie ließ sich nicht einschüchtern. Stattdessen bot sie dem Enklavenvorsteher die Stirn: „Ihr seid voller Verbitterung über die vermeintliche Ungerechtigkeit, die Euch und Euresgleichen hierher gebracht habt. Was ist mit Eurem Geschwafel, dass Ihr der Welt mit Euren magischen Studien und Eurem ganzen Hokuspokus nur helfen wollt? Ihr interessiert Euch in Wirklichkeit nicht im Mindesten für die Welt, nur für Euch selbst!“

Einige der zwölf Zauberer protestieren, doch Jael hob die Hand und brachte sie mit einer barschen Geste zum Schweigen. „Eins ist mir klar geworden“, sagte sie, nun ruhiger, und musterte die Zauberer reihum mit ernstem Blick. „Ihr habt vielleicht Macht, doch dass große Macht auch große Verantwortung mit sich bringt, ist Euch offenbar fremd!“

Sie starrte in die Runde, doch keiner der Zauberer wagte es, sie offen anzusehen, auch Salman nicht. Wie die meisten der Zauberer hatte auch er den Blick gesenkt und starrte betreten auf seine Stiefelspitzen. Lediglich Godrik schnaubte voller Zorn, und schließlich stieß er hervor: „Wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, so mit uns zu reden?“

Jael antwortete ihm nicht. Stattdessen wandte sie sich an Salman, der noch immer vor dem Tisch des Enklavenvorstehers stand, die Hände um seinen Stab gekrampft wie ein Ertrinkender um einen Rettungsanker. „Wann ist die nächste Mondfinsternis?“, fragte sie. „Und am welchem Ort könnte der Sakkara-Kult dieses Ritual abhalten?“

Salman hob den Kopf. „Die nächste Mond ...“ Er brach irritiert ab und warf Godrik einen ängstlichen Blick zu, doch dann sammelte er sich und sagte angespannt: „Die nächste Mondfinsternis ist in der kommenden Nacht.“ Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Es ist eine besondere Nacht. Die Gestirne werden in einer Konstellation stehen wie schon seit tausend Jahren nicht mehr: im Zeichen der Jungfrau.“

Jaels Miene verfinsterte sich. „Dann bricht in der kommenden Nacht die letzte Stunde an“, murmelte sie, mehr zu sich als zu den anderen. „Die letzte Stunde der Welt, wie wir sie kennen ...“

Salman starrte sie aus großen Augen an.

Jael nickte. „Wenn sich die Erde zwischen Licht und Schatten drängt“, sagte sie leise und wiederholte damit, was Wigalf auf dem Friedhof gesagt hatte. „Der Sakkara-Kult wird in der kommenden Nacht das Tor zur Hölle öffnen, aber an einem Ort, den wir nicht kennen, und das, weil Ihr nicht den Mut hattet, etwas gegen diese Bedrohung zu unternehmen, als noch die Möglichkeit dazu bestand!“ Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Godrik, der mit hasserfüllter Miene auf seinem Stuhl saß und mit weißen Knöcheln seinen Stock umklammert hielt. „Wenn dieses Reich untergeht“, knurrte sie, „könnt Ihr Euch das auf die Fahnen schreiben!“

„Wenn Ancaria untergeht“, hielt Godrik finster dagegen, „dann, weil dieses Land es nicht besser verdient hat!“

Salman holte tief Luft und setzte zu einer Erwiderung an, doch Godrik warf ihm einen Blick zu, der ihn zum Schweigen brachte, dann wandte sich der Enklavenvorsteher wieder der Seraphim zu: „Ich denke, wir haben unseren Standpunkt deutlich gemacht“, sagte er, als spräche er für alle im Saal, und keiner wagte es, Einspruch zu erheben oder ihm zu widersprechen, obwohl außer Salman noch zwei oder drei andere der zwölf Zauberer den Eindruck machten, dass sie keineswegs mit Godrik einer Meinung waren. „Ob Ihr nun einem Hirngespinst nachjagt oder nicht, von uns habt Ihr keine Hilfe zu erwarten. Natürlich kann ich Euch nicht zwingen, die Enklave umgehend zu verlassen, aber Euch sollte bewusst sein, dass Ihr von dieser Sekunde an nicht länger unsere Gäste seid. Ihr habt unsere Gastfreundschaft mit Füßen getreten. Ihr seid nicht länger in Sternental willkommen, und ich übernehme keinerlei Verantwortung für etwaige Fährnisse, die Ihr womöglich erleidet, wenn Ihr hier bleibt.“

„Natürlich nicht“, entgegnete die Seraphim kühl. „Wie Ihr auch für sonst nichts die Verantwortung übernehmt!“ Jael schaute angespannt in die Runde, doch die anderen Zauberer wagten nicht einmal, sie offen anzusehen, geschweige denn, ihr beizupflichten.

„So viel zur Diplomatie“, sagte Zara leise. „Besser hätte ich es auch nicht sagen können.“

Jael starrte die Vampirin an. Ihre Augen funkelten vor Zorn und Verzweiflung. Erneut suchte sie unter den zwölf Zauberern nach Zustimmung, nach einem Zeichen dafür, dass sie doch nicht allein waren, aber keiner der Zauberer wagte es, gegen Godrik aufzubegehren.

Als Jael das klar wurde, wirbelte sie mit einem wütenden und zugleich resignierten Schnauben herum und eilte mit ausgreifenden Schritten auf das Portal zu, einen Schwall gar nicht himmlischer Flüche und Verwünschungen auf den Lippen. Sie drehte sich nicht noch einmal um. Sie wusste, dass sie hier keine Unterstützung erhalten würde.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Die „letzte Stunde“, die Salieri angekündigt hatte, stand kurz bevor. Sobald die Nacht hereinbrach, würde es keinen Morgen mehr geben. Oder zumindest keinen, für den es sich zu Leben lohnte. Und das alles, weil sich ein ins Exil verbannter Zauberer, den Wut und Verbitterung offenbar um den Verstand gebracht hatten, weigerte, ihnen zu helfen ...

Noch nie zuvor in ihrem langen, langen Leben hatte sich Jael so entsetzlich hilflos gefühlt.

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