Der Friedhof lag eine gute halbe Stunde von Iliam Zaks Turm entfernt am Rande der dichten, dunklen Nadelwälder, die an den Grenzen des Talkessels zu den Hängen hin zunehmend dichter und undurchdringlicher wurden. Düster und unheimlich schoben sie sich an den steil abfallenden Hängen des Tals in die Höhe.
Umgeben von einer mannshohen Bruchsteinmauer, die hier und da in sich zusammengefallen war, erstreckte sich ein nahezu quadratisches Gräberfeld, durch das sich ein schachbrettartiges Netz verschneiter Wege zog. Links und rechts des doppelfiügeligen Friedhofstors ragten aus rotem Bruchstein gemauerte Säulen empor, auf denen steinerne Fantasiewesen saßen wie stumme steinerne Wächter, und über dem Portal spannte sich ein moosbewachsener schmiedeeiserner Bogen, in den in kunstvoll schwungvollen Lettern ein Sinnspruch eingearbeitet war:
Das ist nicht tot, was ewig liegt,
Bis dass die Zeit den Tod besiegt
Die Gräber selbst waren schlicht: keine Blumen, keine Verzierungen, kein Schnickschnack. Da gab es bloß die Erdhügel unter der weißen Schneedecke und grobe Grabsteine, in die lediglich die Namen und Daten der Verstorbenen eingemeißelt waren, und hier und da auf einigen Gräbern kleine rote Glasgefäße mit Ewigen Lichtern, die den Nebel in waberndes Rot tauchten. Zuweilen ragten auch die Umrisse schlichter Holzkreuze auf, dort, wo Angehörige der Ein-Gott-Religion begraben waren. Der Nebel sickerte aus den umliegenden Wäldern und waberte in dichten, milchigen Schwaden über dem Totenacker, und im hinteren Teil des Friedhofs, wo sich im Schatten mehrerer riesiger verkrüppelter Trauerweiden die älteren Grabstätten befanden, sah man die Silhouetten zwar massiger, aber nichtsdestotrotz sehr ärmlich wirkender Krypten zwischen den Gräbern; vermutlich hatten dort die Vorgänger des Enklavenvorstehers Godrik ihre letzten Ruhestätten gefunden.
Obwohl Zara Friedhöfe, seit sie eine Vampirin war, stets als etwas Heimeliges empfunden hatte, bereitete ihr dieser Totenacker Unbehagen. Vielleicht lag es an dem Wissen, dass alle, die hier in der kalten, harten Erde lagen, Zauberer gewesen waren, die den Verbotenen Künsten nachgegangen waren und deren Geheimnisse womöglich nicht halb so tot waren wie sie selbst. Womöglich hatte es aber auch damit zu tun, dass von Ishmael Thurlak und seinen Mitverschwörern ebenso wenig zu sehen war wie von einer Schwarzen Messe.
Wigalf hatte sie von Zaks Turm durch die Wälder hierher geführt, und sie hatten erwartungsvoll die eisernen, mit scharfen Eisenspitzen gekrönten Torflügel des Friedhofstors aufgeschoben und den Totenacker betreten. Sie waren kampfbereit und auf alles gefasst. Doch statt schauriger Gesänge und Opferrituale im Fackelschein erwartete sie lediglich dräuende, allumfassende Stille. Das neblige Gräberfeld lag leer und verlassen vor ihnen im Zwielicht der Nacht; alles, was sich regte, war der Nebel, der in milchigen Schwaden zwischen den Gräbern umherkroch.
Gleichwohl, die Anspannung blieb, ein flaues Gefühl in Zaras Magengrube, das sie gemahnte, vorsichtig zu sein, als sie die Gräber Reihe für Reihe abschritt, um sich zu vergewissern, dass nirgends böse Überraschungen auf sie lauerten. Ihre Vorsicht war unbegründet: Sie waren allein auf dem Friedhof – allein mit den Toten.
Jael ließ ihren Blick über den verwaisten Friedhof schweifen und wandte sich missmutig zu Wigalf um, der noch immer unter dem Tor des Friedhofs stand, so als hätte er Angst, das Reich der Toten zu betreten. „Hier ist keine lebende Seele“, sagte sie. „Seid Ihr sicher, dass wir hier richtig sind? Vielleicht sind wir zu spät, oder Ihr habt Euch im Friedhof geirrt.“
„O nein, nein, nein – wir sind genau da, wo wir hinwollten!“, versicherte Wigalf eifrig, seinen Stock in der linken Hand.
Plötzlich ging eine seltsame Veränderung mit ihm vor; auf einmal fiel der traurige, leicht schwächliche Ausdruck von ihm ab und machte einem breiten, diabolischen Grinsen Platz, das so gar nicht zu diesem schüchternen, beinahe linkisch wirkenden Mann passen wollte.
„Oder zumindest ich bin da, wo ich hingehöre!“, rief er. „Ihr hingegen habt jetzt noch eine Reise vor Euch – Eure letzte Reise!“
Mit diesen Worten reckte der Zauberer die Arme gen Himmel, legte den Kopf in den Nacken und rief mit lauter, weithin hallender Stimme Worte in einer toten Sprache zum Sternenlosen Firmament empor, gutturale, abgehakte Silben, die sich zu einem grausigen Kauderwelsch vereinten, das keiner Sprache glich, die Zara je vernommen hatte:
„Ph’nglui mglw’nafh Sakkara A’ncarya wgah’nagl fhtagn! Ph’nglui mglw’nafh Sakkara A’ncarya wgah’nagl fhlogn!“
Und dann noch einmal, in einer tieferen, irgendwie vielstimmigen Tonlage, fast so, als würden auf einmal viele Stimmen aus Wigalf sprechen, nicht bloß seine eigene:
„Ph’nglui mglw’nafh Sakkara A’ncarya wgah’nagl fhtagn! Ph’nglui mglw’nafh Sakkara A’ncarya wgah’nagl fhlogn!“
Sobald die letzte Silbe des Zauberspruchs über seine Lippen war, zuckte ein gewaltiger, gezackter Blitz über den Himmel, begleitet von einem krachenden Donnerschlag, den man ebenso in seinen Eingeweiden fühlte wie hörte; flackerndes weißes Licht tauchte das verwaiste Gräberfeld einen Moment lang in blendende Helligkeit; die Umrisse der Grabsteine und Bäume traten schlaglichtartig hervor, grelle Impressionen in der allumfassenden Helligkeit.
Dann senkte sich von neuem Dunkelheit über den Friedhof, doch es schien, als wäre die Nacht auf einmal schwärzer als zuvor, und der Nebel über den Gräbern glomm plötzlich in einem matten, kranken Grün, nur hier und da vom Rot der Ewigen Lichter in waberndes Blut verwandelt.
Zara brauchte einen Moment, um ihre Überraschung zu überwinden. Das Grollen des Donners noch in den Ohren, starrte sie Wigalf beim Tor finster an. Der Zauberer hatte die Arme sinken lassen, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Zauberstock und erwiderte Zaras grimmigen Blick mit ungerührtem Gleichmut, als sie grollte: „So viel dazu, dem Leben selbst zu dienen, hm?“
Wigalf grinste breit und zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wie ich schon sagte: Man kann niemandem in Sternental mehr trauen!“ Seine Worte troffen vor Spott und Häme.
In Zara wallte unbändiger Zorn auf. Sie wollte sich gerade auf Wigalf stürzen, der keine zehn Meter entfernt stand – drei, vier lange Schritte, mehr nicht –, als mit einem Mal eine halb verweste Hand mit Wucht die Erde des Grabs durchstieß, neben dem Zara stand.
Die schmutzigen knochigen Finger packten zielsicher ihren rechten Knöchel, um sich mit der Kraft eines Schraubstocks darum zu schließen.
Zara stieß einen überraschten Laut aus, und bevor sie reagieren konnte, folgte der halb skelettierten Hand bereits ein halb verwester Kopf mit leeren Augenhöhlen. Die Reste alter Haut spannten sich straff und gelb wie altes Pergament über den teilweise frei liegenden Schädel, und als sich der Tote Stück für Stück aus seinem Grab wühlte, rieselte Erde aus den schulterlangen verfilzten Strähnen, die von seiner einstigen Haarpracht noch übrig waren. Der Tote stieß abgehackte Laute aus, die ähnlich klangen wie die des Zauberers. Es schien, als würde er dem Ruf Wigalfs antworten, der ihn zu untotem Leben erweckt hatte.
„Grundgütiger ...“, raunte Falk irgendwo hinter ihr fassungslos.
Zara achtete nicht auf ihn. Mit ekelverzerrtem Gesicht wich sie hastig einen Schritt zurück, doch der Untote hielt mit seiner Knochenhand ihren Fuß fest, während er sich ungelenk aus seinem Grab wühlte; schon war er bis zur Hüfte frei. Der „Blick“ seiner leeren Augenhöhlen richtete sich auf die Vampirin, und die Kiefer öffneten und schlössen sich, und jedes Mal, wenn die Zähne aufeinander schlugen, gab es ein klackendes Geräusch.
Gut möglich, dass dieser Bursche schon eine ganze Weile tot war, doch es steckte noch immer jede Menge unseliges Leben ihn ihm – und seine Kiefer verlangten nach etwas zu beißen!
Fluchend zog Zara ein paar Mal heftig an ihrem Fuß, um ihn aus der Klaue des Untoten zu befreien, der sich grunzend aus seinem Grab wand, doch der Griff des Zombies war eisenhart; erst als Zara statt zu ziehen mehrmals mit voller Wucht gegen den Knochenschädel des Untoten trat, stieß der Zombie ein irgendwie unwilliges, erdiges Grummeln aus, und die unbarmherzige Klammer seiner Finger öffnete sich soweit, dass Zara ihren Fuß freibekam.
Sie stand fassungslos da, starrte den Toten schockiert an und versuchte zu begreifen, was sie da sah, genau wie ihre Begleiter, die nicht minder geschockt waren als die Vampirin. Selbst Jael, die in ihrem langen ereignisreichen Leben schon viel Absonderliches gesehen hatte, verschlug es die Sprache.
Dann war der Untote seinem Grab entstiegen, schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt, und schleuderte Erdklumpen und Gewürm von sich, ehe sich die untote Fratze wieder Zara zuwandte, so zielsicher, wie sich ein Kompass immer nach Norden ausrichtet. An seinem ausgezehrten verwesten Körper hingen noch die schmutzigen Überreste des Umhangs, in dem man ihn beigesetzt hatte.
Der Untote stieß ein wütendes feuchtes Fauchen aus und schlurfte in seltsam verkrümmter Haltung auf Zara zu, ein Bein wie gelähmt hinter sich herziehend, eine Hand gierig nach der Vampirin ausgestreckt, die spinnenartigen Finger zuckend vor Verlangen.
„Bei allen Göttern“, raunte Falk hinter ihr. Er war starr vor Entsetzen. „Was ... was ist das für ein ... Ding?“
Niemand antwortete ihm. Stattdessen griff Zara mit der rechten Hand über ihre linke Schulter und zog mit einer raschen Bewegung eines ihrer Schwerter aus den Lederschneiden, indes sich der durch schwärzeste Magie wieder zum Leben erweckte Tote gierig näherte. Seine Zähne klappten unablässig aufeinander – Klapp-klapp! Klapp-klapp!
Als er Zara fast erreicht hatte, riss er sein Maul weit auf und fauchte; ein Ekel erregender Verwesungsgestank schlug der Vampirin entgegen. Seine Finger zuckten vor, auf Zaras Gesicht zu, doch bevor seine langen, schmutzigen Nägel ihr Antlitz berühren konnten, schlug Zara zu – und trennte dem Untoten mit einem einzigen wuchtigen Hieb den Kopf vom Rumpf.
Der Schädel wackelte noch einen Moment auf dem durchtrennten Hals, als wüsste er nicht recht, ob er wirklich fallen sollte; dann kippte er vornüber, schlug mit einem widerlich fleischigen Laut auf die hart gefrorene Erde und rollte noch ein paar Schritte weiter. Der kopflose Leib wankte ungelenk ein Stück nach vorn, bevor die Beine schließlich unter der Leiche nachgaben und der Untote zu Boden ging, um reglos zu Zaras Füßen liegen zu bleiben.
Das Schwert halb erhoben, die schimmernde Klinge befleckt mit einem widerlichen öligschwarzen Schleim, stand Zara da und starrte voller Abscheu auf die ungeheuerliche Abnormität vor sich herab. Natürlich wusste sie, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als die ancarianische Schulweisheit sich träumen ließ – sie selbst war der wandelnde Beweis dafür –, doch so unmittelbar damit konfrontiert worden wie in den vergangenen Tagen war sie noch nie. Es war eine Sache, zu wissen, dass es solche Monstren wie die Blutbestien, die Monsterspinne oder jetzt diesen Untoten hier gab – aber sie mit eigenen Augen vor sich zu sehen und sogar zu riechen, das war etwas vollkommen anderes.
Falk schien es ähnlich zu ergehen. Er trat vorsichtig neben Zara, als hätte er Angst, der kopflose Rumpf könne nach ihm greifen, und sagte wieder: „Was, zum Geier, ist das für ein Ding?“
„Ein Zombie“, sagte Jael endlich. „Ein lebender Toter, allein von dem Drang beseelt, zu fressen und seinem Meister zu gehorchen.“ Bei der Erwähnung des „Meisters“ warf sie unwillkürlich einen Blick hinüber zum Tor des Friedhofs, wo Wigalf noch immer seelenruhig auf seinen Stock gestützt stand, und noch immer hatte er dieses böse, selbstgefällige Grinsen auf den Lippen. „Ich habe davon gehört, dass die Dunklen Götzen während der Götterkriege ganze Armeen dieser seelenlosen Geschöpfe ins Leben zurückgerufen haben, um sie für sich kämpfen zu lassen, doch ich hätte niemals gedacht, dass noch jemand anderes als die Götter selbst die Macht besitzen, Tote aus den Gräbern zu rufen.“ Ihr Blick wich keine Sekunde von Wigalf. „Wenn diese Kerle dazu im Stande sind, ist nicht auszudenken, wozu sie sonst noch fähig ...“ Sie verstummte, als hinter ihnen plötzlich ein vertrautes Geräusch erklang.
Klapp-klapp! Klapp-klapp! Klapp-klapp ...
Jael runzelte verwirrt die Stirn, drehte sich zu dem abgeschlagenen Kopf des Untoten um – und sog scharf die Luft ein, als sie sah, dass die Kiefer des Schädels wieder aufeinander schlugen, als wäre noch immer Leben in dem abgetrennten Kopf.
Und dann begann sich auch der kopflose Torso des Toten auf einmal wieder zu regen; erst zuckten seine dürren, spinnenbeingleichen Finger mit den schartigen gelben Nägeln über die Erde. Dann stützte sich der Untote auf dem Boden ab, rappelte sich schwankend, mit zittrigen Beinen auf und tastete sich kopflos und mit ausgestreckten Armen auf sie zu, während die Kiefer des Schädels ein paar Schritte weiter immer wieder aufeinander schlugen.
Klapp-klapp! Klapp-klapp! Klapp-klapp ...
Zara blinzelte unmerklich. Dann glitt die Schwerklinge beinahe wie von selbst in die Höhe. Doch gerade, als sie erneut zuschlagen und den Rumpf des Untoten mit einem waagerechten Hieb in zwei Hälften spalten wollte, nahm sie in den Augenwinkeln eine Bewegung wahr.
Plötzlich tauchte ein deformierter, halb verwester Schädel aus dem grün wabernden Nebel auf, die Haut fleckig und schwarz, die Augäpfel wie Gelee aus den Höhlen quellend, und wie bei dem ersten Untoten richtete sich der Blick der verfaulten Augen sogleich auf die Gefährten und war voller Gier. Sein Mund schnappte auf und zu, wobei sich die verschrumpelten Stränge der Kaumuskeln wie Würmer unter der stockfleckigen Haut bewegten.
Auch die Erde anderer Grabstätten geriet in Bewegung. Kleine Hügel wuchsen auf den verschneiten Grabflächen wie Vulkane, die kurz vor dem Ausbruch standen. Bei einem Grab stießen zwei skelettierte Hände gleichzeitig an die Oberfläche, gefolgt von einem beinahe vollkommen blanken Totenschädel, der nur noch von den kläglichen Überresten verfaulten Gewebes auf dem Hals gehalten wurde, und Falk machte: „O-oh...“
Drüben beim Friedhofstor begann Wigalf zu lachen, ein hohes, gehässiges Gackern, das seine ganze Bosheit beinhaltete. Er lachte, lachte sie aus, weil sie ihm so blauäugig hierher gefolgt waren.
Ehe Zara ihrer Wut nachgeben und sich auf ihn stürzen konnte, spürte sie die Klauen des Kopflosen an ihrem Arm, hart und kalt wie der Tod selbst, und dann hörte der abgetrennte Kopf des Untoten mit einem Mal mit dem Kieferklappern auf und stieß einen hohlen, gurgelnden, irgendwie wütenden Laut aus, und die anderen Untoten folgten seinem Ruf!
Begleitet vom vielstimmigen Seufzen und Stöhnen verwester Stimmbänder und abgefaulter Zungen entstiegen zwei Dutzend Tote ihren Gräbern, vermoderte Gestalten in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Während einige aussahen, als hätten sie noch keinen Monat in der Erde gelegen, gab es andere, an deren Skeletten bloß noch zerfetzte fleckige Reste von Fleisch und Haut hingen; teuflische knöcherne Fratzen mit abgefaulten Nasen und abgefressenen Ohren; leere und weniger leere Augenhöhlen unter scharf hervorspringenden Stirnknochen; ledrige Arme mit zu Klauen gekrümmten Fingern, unter deren schartigen langen, gelben Nägeln noch Reste der Friedhofserde klebten, durch die sie sich an die Oberfläche gegraben hatten; seelenlose Kreaturen, einzig und allein vom Wunsch nach dem Fleisch der Lebenden erfüllt...
Der Grauen erregende Anblick der ihren Gräbern entsteigenden Toten lenkte Zara einen Moment lang ab. Dann griff der Kopflose blind und dennoch mit erschreckender Genauigkeit nach ihrer Kehle, und als wären die knochigen, kalten Skelettfinger an ihrem Hals nötig, um sie zum Handeln zu bringen, schüttelte Zara ihre Lethargie ab, zog ihr zweites Schwert aus der Scheide hinter ihrer rechten Schulter und ließ die Klinge in einer einzigen fließenden Bewegung nach unten sausen, ohne Übergang, ohne Verzögerung.
Der blitzende Stahl trennte den Arm des Zombies in Höhe! des Ellbogens ab, doch die Totenhand weigerte sich trotzdem, Zara loszulassen, und die Finger drückten ihr die Kehle zu, während der Untote mit der anderen Hand nach ihr griff, als wäre nichts geschehen.
Zara machte kurzen Prozess, schlug dem Zombie den zweiten Arm knapp unterhalb der Schulter ab, riss den anderen von ihrer Kehle und schleuderte ihn von sich. Der Arm landete ein paar Schritte weiter zwischen zwei Grabsteinen mit der Handfläche nach oben, und die Finger zuckten wie! die Beine einer auf dem Rücken liegenden Spinne, noch immer so lebendig, als säße der Arm nach wie vor am Körper.
„Das gibt’s doch nicht!“, murmelte Falk fassungslos; seine Bemerkung galt ebenso Zara und dem abgetrennten Arm wie auch den auferstandenen Leichen, die überall aus ihren Gräbern stiegen und über den Friedhof von allen Seiten auf sie zukamen, eine Wand aus toten und doch nicht toten Leiern; Kreaturen des Schreckens, beseelt von finsterster Magie. Falks Kehle wurde eng vor Angst. „Das kann‘s doch nicht geben! Ich kann das einfach nicht glauben ...“
„Glaub es besser!“, zischte Jael neben ihm und zog ihr Schwert aus der Schneide. „Glaub es – und kämpf um dein Leben!“
Falk starrte sie einen Augenblick lang benommen an, so als habe er sie nicht richtig verstanden. Dann tauchte rechts von ihm ein Untoter mit grotesk eingefallenen Wangen und grauer Haut auf, der Hals gezeichnet von einem wulstigen Schnitt, wo dem Toten die Kehle aufgeschlitzt worden war. Die gallertartigen weißen Augäpfel des Toten starrten Falk mit dem gleichen Ausdruck an, mit dem ein Verhungernder ein saftiges Stück Fleisch betrachtet. Die verfaulte, aufgedunsene Zunge des Untoten zuckte wie ein dicker schwarzer Wurm aus der klaffenden Höhle seines Mundes, als sich der Zombie voller Vorfreude auf sein Mahl die rissigen, aufgequollenen Lippen leckte und knurrend und grummelnd auf Falk zugestolpert kam. Der zog sein Messer aus dem Gürtel und wedelte damit wild vor sich herum.
„Na los, Madenfutter!“, rief er. „Kommt her, und ich schlitze euch auf wie Fische!“ Doch das, was verwegen klingen sollte, hörte sich allenfalls ängstlich an, und dazu ab es auch allen Anlass, denn als Zara den Blick über den Totenacker schweifen ließ, spürte sie, wie sich in ihr etwas regen begann, das sie schon seit langem nicht mehr verspürt hatte: Furcht. Das hier waren keine dahergelaufenen Attentäter; das hier waren Zombies, Untote, von verderbter Magie zum „Leben“ erweckt, die weder Schmerz noch Tod kannten, denen Erbarmen und Gnade ebenso fremd waren wie Reue oder Mitleid. Sie hatten keine Gefühle, gleich welcher Art. Sie konnten nicht denken. Sie waren Kreaturen ohne Verstand, denen alles Menschliche im Augenblick ihres Todes verloren gegangen war.
Überall um sie herum wankten und schwankten die Toten durch den Nebel auf ihre Opfer zu, eine schlurfende, geifernde Horde, die in geistloser Gier ihre Hände nach den Gefährten ausstreckten. Diese drängten sich inmitten des Gräberfeldes Rücken an Rücken dicht zusammen, die Waffen kampfbereit, und versuchten, nicht den Mut zu verlieren.
Thor, zwischen Zara und Falk, zog die Lefzen zurück und enthüllte knurrend sein mächtiges Gebiss, eine Bärenfalle riesiger elfenbeinfarbener Zähne, das dichte Nackenfell gesträubt. Seine Raubtieraugen glitten unermüdlich hin und her, während er die Untoten wütend anknurrte.
Die Zombies kamen näher, ein geschlossener Kreis aus halb verfaulten Leibern, der sich mit jedem Augenblick enger um sie zusammenzog. Noch zehn Schritte trennten sie von den Untoten.
Sieben.
Fünf ...
Es war Thor, der als Erster zum Angriff überging. Sein Knurren wurde zu einem aggressiven, tiefen Brüllen, seif Muskeln spannten sich, und dann sprang er dem erstbeste Untoten mit einem so gewaltigen Satz an, dass er den Zombie durch die Wucht des Aufpralls zu Boden riss. Der Untote stürzte ungelenk auf eines der Gräber und versuchte sich mit steifen, unbeholfenen Bewegungen wieder aufzurappeln. Da schlossen sich die gewaltigen Kiefer des Wolfes um seinen Kopf, der beinahe gänzlich im Maul des Tieres verschwand, und zermalmten den verwesten Schädel. Ein lautes Knirschen und Knacken war zu hören, als die morschen Knochen zerbrachen.
Der abgeschlagene Schädel des ersten Toten stieß wieder diese seltsamen gurgelnden Laute aus, beinahe wie einen Schlachtruf, und im nächsten Moment brach die Hölle los!
Plötzlich waren die Untoten bei ihnen, überall um sie herum, Dutzende von toten Körpern, die mit weit aufgerissenen Mündern und wild in den Höhlen rollenden Augäpfeln nach ihnen grapschten. Aus jeder Richtung griffen halb verfaulte Hände nach ihnen, gierige Finger mit bleichen Knochenspitzen, dahinter die verzerrten Gesichter der Toten.
Die Knochenfinger eines Untoten berührten Falks Arm, und er holte unwillkürlich mit seinem Messer aus und schlug mit vor Ekel verzerrter Miene zu. Die Klinge drang tief in die linke Schulter des Untoten. Mit einem Wutschrei riss Falk die Klinge wieder heraus und hieb erneut zu, und noch einmal, indes Zara und Jael mit meisterlicher Präzision ihre Schwerter wirbeln ließen, sirrende metallene Blitz im grünlichen Zwielicht des Nebels, die durch verwestes Fleisch, faulige Muskeln, Sehnen und Knochen schnitten.
Gliedmaßen fielen zu Boden, abgeschlagene Arme, Hände und Köpfe, selbst dann noch von untotem Leben beseelt, als sie abgehackt auf der Erde lagen. Thor preschte knurrend mitten durch die Reihen der Zombies. Sein gewaltiger haariger Schädel schnappte mal nach links, mal nach rechts, und jedes Mal, wenn sich seine mörderischen Hauer in totes Fleisch gruben, knirschten Knochen, und Muskeln rissen.
Auch Falk kämpfte – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben kämpfte er wirklich. Nicht, wie bei einer Kneipenschlägerei, wenn man ihn mal wieder beim Falschspielen ertappt hatte, oder um einem Mädchen zu imponieren – er kämpfte um sein nacktes Leben, und es gab niemanden, der ihm dabei helfen konnte, denn alle anderen hatten genug mit sich selbst zu tun. Er war auf sich allein gestellt, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit Furcht, die ihn beinahe verzagen ließ; nun war er selbst für sich verantwortlich, niemand anders. Wenn er leben wollte, musste er dafür kämpfen. Und; das tat er, so gut er nur konnte!
Anfangs unsicher und auch ein wenig unentschlossen, mit jedem erfolgreich geführten Hieb jedoch zusehends mutiger, stürzte sich Falk in die Schlacht. Bald war die Klinge; seines Messers klebrig von geronnenem Blut und einer stinkenden eitrigen Flüssigkeit. Es war schwer, den Überblick zu behalten, denn die Untoten kamen von allen Seiten, und egal, wie viele Falk und seine Gefährten in Stücke hackten, es schienen nicht weniger zu werden.
Bald war sein ganzer Körper bedeckt von kaltem Schweiß, und die Anstrengung ließ ihn keuchen; er war die ganze Zeit über in Bewegung, wirbelte hierhin, wich dort den zuschnappenden Kiefern der Toten aus, und immer wieder schnitt und ratschte und hieb das Messer in untote Leiber. Doch selbst mit abgetrennten Armen und Beinen setzte die grauenvolle Horde weiter vor, und jeder von ihnen – Seraphim, Vampirin und Mensch – hatte seine liebe Mühe, sich die greifenden Klauen und die schnappenden Kiefer vom Hals zu halten, indes sie wie Tänzer inmitten eines wilden Durcheinanders herum wirbelten.
Neben Falk hieb Zara mit beiden Schwertern gleichzeitig auf die Untoten ein. Es war ein groteskes, zutiefst furchteinflößendes Bild, das sich bot. Da waren Zombies, deren Arme unter den Schultern in Stümpfen endeten; kopflose Leiber, ohne Augen eigentlich blind, die doch so zielstrebig agierten, als könnten sie sehen; Kreaturen mit gespaltenen Schädeln; Untote mit zerhackten Beinen, die sich über den hart gefrorenen Boden auf die Gegner zuschleppten, die Münder auf- und zuschnappend vor Gier.
Klapp-klapp! Klapp-klapp! Klapp-klapp ...
Als Zara aus dem Nebel zu ihrer Rechten eine staksende Gestalt auf sich zutaumeln sah, wirbelte sie herum, ließ die Klingen parallel zueinander von links und von rechts gleichzeitig in einem flachen Bogen schwingen, wie eine Schere, und der Rumpf des Untoten wurde an Brust und Bauch komplett durchgeschnitten.
Zara schnellte wieder herum und nahm sich einen weiteren Untoten vor, während Thor knurrend zwischen den am Boden liegenden Leichenteilen herumsprang und versuchte, den zuckenden Gliedern endgültig den Garaus zu machen.
Keuchend und schnaubend hackte Falk mit seinem Messer auf die Untoten ein. Einen Zombie stieß er mit einem Tritt von sich und wirbelte keuchend herum, um sich dem nächsten Untoten entgegenzustellen – doch es waren keine mehr da. Oder zumindest keine, die noch auf den Beinen standen.
Außer Atem ließ Falk den Blick über den Friedhof schweifen, der sich in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Ihm bot sich ein groteskes Bild: Überall auf den Gräbern und Wegen verstreut lagen abgetrennte Gliedmaßen, und in allen steckte noch Leben. Die Hände krabbelten wie Spinnen über den Boden, und über allem lag das hohle Klappern, mit dem die Zähne der abgeschlagenen Schädel selbst jetzt noch gierig aufeinander schlugen.
Klapp-klapp! Klapp-klapp! Klapp-klapp …
Das Geräusch machte Falk wahnsinnig, doch nun, da keine Klauen mehr nach ihm griffen und die Kiefer ihm nicht mehr gefährlich werden konnten, war es nur noch halb so schlimm wie zuvor. Vor Anstrengung keuchend, stützte er sich mit der freien Linken auf einem Grabstein und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während Thor noch immer hier und da an den herumfliegenden Gliedmaßen riss.
Dann erlahmten die Bewegungen auf der schneebedeckten Erde, das Leben wich endgültig aus den Untoten. Starr lagen sie da, als wären sie eingefroren. Das widernatürliche Leben der untoten Kreaturen war endgültig erloschen ...
Zara und Jael hatten ihre Aufmerksamkeit Wigalf drüben beim Tor zugewandt, der noch immer auf seinen Stab gestützt dastand und keinerlei Anstalten machte zu fliehen, einen weiteren Zauber zu wirken oder sonst irgendetwas zu unternehmen. Er stand einfach nur da wie zuvor, bedachte die Gefährten mit diesem fiesen Grinsen und schwieg.
„Irgendetwas stimmt hier nicht“, murmelte Zara grimmig, die Schwerter halb erhoben, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, während sie den Zauberer fixierte. „Das war noch nicht alles ...“
Falk runzelte die Stirn. „Noch nicht alles?“ echote er. „Was soll das heißen, das war noch nicht a...“
Er brachte den Satz nicht zu Ende; die Erde jener Gräber, die bislang unversehrt waren, begann plötzlich zu beben und sich aufzutürmen, und ihm wurde schlagartig klar, warum der Zauberer so provozierend entspannt wirkte.
Weitere Untote entstiegen ihren Ruhestätten!
Und diesmal waren es nicht nur zwei Dutzend, sondern mindestens doppelt so viele, die sich aus der kalten Umklammerung der Friedhofserde wühlten: verfaulte Gestalten mit bloßliegenden Knochen, denen Fleisch und Haut in Fetzen am Körper hingen wie zerrissene Banner; eine hungrige Armee des Todes, die ihren Gräbern entstieg, um das fortzuführen, bei dem die erste Delegation versagt hatte.
Zara wandte sich halb zu ihren Gefährten um, die hinter ihr standen. Ihre Miene war hart und grimmig, als sie knurrte: „Wenn es irgendwelche Götter gibt, zu denen ihr betet, dann ist jetzt vielleicht die letzte Gelegenheit dazu.“ Sie verstummte, zögerte einen Augenblick und fugte dann mit einem kleinen, irgendwie resignierten Lächeln hinzu: „Vielleicht könnt ihr dabei ja auch ein gutes Wort für mich mit einlegen...“
Damit warf sich die Vampirin herum, riss die Schwerter mit einem Wutschrei in die Höhe und stürmte über das Gräberfeld auf die Untoten zu. Schon schwirrten die Klingen mit ihrem tödlichen Singen durch die Luft, untermalt vom Knurren des Wolfes, der Zara mit langen Sätzen folgte und sich mit seinem gesamten Gewicht in die Mauer aus Zombies warf, von denen einige ungelenk umfielen wie Kegel.
Jael und Falk warfen sich einen Seitenblick zu, in dem ebenso Furcht wie Entschlossenheit lag. Dann nickte die Seraphim den Menschen zu, stürzte sich mit gezückter Klinge auf die nächstbesten Untoten und überließ Falk sich selbst, der die näher kommenden Zombies einen Moment lang mit ängstlichem Blick anstarrte, bevor er sich innerlich einen Ruck gab, die Finger fester um den Griff seines Messers krampfte – und entsetzt Augen und Mund aufriss, als sich die Kiefer eines Untoten, der sich unbemerkt und ungesehen aus dem Grab unmittelbar hinter ihm gewühlt hatte, um seine Schulter schlossen.
Falk schrie auf. Der Schmerz schoss durch seinen rechten Arm bis in die Fingerspitzen, und er ließ das Messer fallen. Durch den siedenden Schmerz, der ihn gleichzeitig lähmte und innerlich in Brand steckte, nahm er es kaum wahr. Er wankte benommen, kämpfte um sein Gleichgewicht, während der Untote – ein dicklicher Kerl mit leeren Augenhöhlen und einem mit dunklen Leichenflecken übersäten Schädel – an seiner Schulter hing und nicht von ihm lassen wollte.
Falk hätte nicht für möglich gehalten, dass es einem Menschen möglich war, solche Schmerzen zu ertragen – einem Gott vielleicht, aber keinem einfachen Menschen, wie er einer war. Die Pein war so gewaltig, dass Falk die Tränen in die Augen schössen.
Mit letzter Kraft riss er sich los, schrie erneut gellend auf, als eine weitere Schmerzwelle durch seinen Körper toste, und taumelte vorwärts. Er rang würgend nach Luft, schwarze Schleier vor den Augen, und taumelte weg von dem Toten, der seinem Opfer schlurfend folgte, einzig von Wunsch beseelt, zu fressen. Falk versuchte vor dem Untoten zu fliehen, eine Hand auf die schmerzende Schulter gepresst, ohne zu registrieren, wohin er trat, während ihm der Zombie ohne Hast, aber unbeirrbar folgte.
Falk sah sich benommen nach seinen Gefährten um. Zara und Jael kämpfen ein paar Meter weiter gegen die Untoten, unterstützt von Thor, der wie ein Irrwisch zwischen den Zombies umhersprang und seine mächtigen Zähne immer wieder knurrend in untotes Fleisch grub.
Falks Lippen formten bereits einen Hilfeschrei, doch in diesem Moment gaben seine Beine unter ihm nach, und er stürzte zu Boden, direkt auf eins der Gräber.
Seine Lider flatterten, und die Verlockung, einfach die Augen zu schließen und zu vergessen, war so groß und überwältigend, dass man ihr nur nachgeben konnte.
Da fiel der Schatten des Untoten auf ihn, der ihn inzwischen erreicht hatte, und Falk riss die Augen wieder auf, als der Zombie knurrend und geifernd die Klauen nach ihm ausstreckte, die knochige Totenfratze eine Maske unbändiger Gier.
Falk hatte nicht mehr die Kraft, wegzukriechen; sein ganzer Körper schien vor Schmerz wie gelähmt. Er hoffte nur noch, dass es schnell gehen würde; allein der Gedanke daran, dass er Ela jetzt nie wieder sehen würde, ihr nie würde sagen können, was er für sie empfand, erfüllte ihn mit einer unsagbaren Traurigkeit.
Doch er tröstete sich damit, dass er sie ohnehin nicht hätte glücklich machen können. Er hätte ihr nie der Mann sein können, den sie verdiente. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er sie enttäuscht und sie gemerkt hätte, was für jein armseliger schwacher Wicht er war; es war immer bloß eine Frage der Zeit gewesen, bis die anderen feststellten, dass hinter seiner großen Klappe nicht viel steckte, sein ganzes Leben lang, seit dem unglückseligen Tag seiner Geburt...
Vielleicht, dachte er resigniert, ist es so am besten ...
In Erwartung des Todes schloss Falk die Augen.
„Falk!“, rief Zara.
Falk schlug die Augen wieder auf und drehte den Kopf schwerfallig in die Richtung, aus der ihre Stimme erklungen war, und er registrierte vage, dass die Vampirin ihm irgendetwas zuwarf, das als schwirrender Lichtreflex durch die Luft wirbelte. Instinktiv streckte er die Hand danach aus, um mehr zufällig als absichtlich genau im richtigen Moment zuzugreifen. Plötzlich hielt er Zaras Jagdmesser mit der langen Klinge zwischen den Fingern.
Im selben Moment ließ sich der Untote mit einem gierigen Knurren, wie ein wütender Köter, einfach vornüber auf ihn fallen, wie ein Baum, und die schnappenden Kiefer stürzten geradewegs auf Falks Gesicht zu.
Es war, als hätte ihm die Klinge in seiner Hand einen Hauch Überlebenswillen wiedergegeben; er war vielleicht kein Held, aber so zu sterben – bei lebendigem Leibe aufgefressen von einem Untoten –, das war sogar unter seiner Würde!
Im allerletzten Moment gelang es ihm, die Klinge mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte, nach oben zu rammen, direkt in den Hals des Untoten. Doch die widerlichen Zähne des Zombies mahlten weiter, krachten rhythmisch aufeinander.
Falk hielt das Messer mit beiden Händen fest und drückte den Toten keuchend von sich weg, doch die knorrigen Finger des Zombies krallten sich in seinen Rock. Benommen vor Schmerz und Entsetzen riss Falk mit einem heiseren Wutschrei die Beine hoch und stieß den Untoten mit beiden Füßen angewidert von sich.
Als hätte er damit endgültig den letzten Rest Kraft verbraucht, sank Falk stöhnend nach hinten. Der Untote aber wollte sich wieder auf seine Beute stürzen und ...
Ein grauer Schatten sprang auf ihn zu, prallte gegen ihn, riss ihn nieder und weg aus Falks Sichtfeld. Der junge Mann hörte Thors wütendes Knurren, das Gurgeln des Untoten, das Zerreißen ledrigen Fleisches und das Knacken und Brechen von Knochen.
Reglos, mit Lidern, die flatterten wie Mottenflügel, lag Falk da und erwartete, dass die Ohnmacht nun über ihn hinwegtosen würde wie eine Woge aus schwarzem Vergessen, doch obwohl er sich nicht rühren konnte und die Welt um sich herum wie durch eine fettige Scheibe wahrnahm, blieb ihm der Segen der Bewusstlosigkeit verwehrt. Benommen, wie von Ferne, sah er, wie Zara und Jael mit wirbelnden Klingen durch die Reihen der Untoten schritten, doch selbst in seinem benommenen Zustand, irgendwo zwischen Wachsein und Ohnmacht, wusste er, dass es sinnlos war; sie konnten diesen Kampf nicht gewinnen, denn für jeden Zombie, den seine Gefährtinnen zerhackten, entstiegen zwei weitere Untote ihren Gräbern, um mit ausgestreckten Armen auf den Ort des Gemetzels zuzustolpern.
Beiläufig sah er, wie ein Zombie mit wallendem, speckigem grauen Haar Jael an den Schultern packte, und als sie sich umdrehte, um ihm den Kopf abzuschlagen, grub ein anderer Untoter seine Zähne in ihren linken Arm. Jael schrie auf, brachte ihren Schwerthieb jedoch zu Ende, köpfte den ersten Untoten und rammte seinem Kumpan dann den Griff ihres Schwerts mit solcher Wucht ins Gesicht, dass der Zombie mit zerschmettertem Kiefer zu Boden geschleudert wurde.
Er hatte ihr in den Arm gebissen, aber die Wunde war zum Glück nicht tief; sie blutete kaum.
Im nächsten Moment näherte sich ihr von der anderen Seite bereits der nächste Untote. Ein zweiter kam von rechts. Zwei weitere von hinten. Es war unmöglich, all diese Gegner gleichzeitig abzuwehren und ...
Falk wurde abgelenkt, als plötzlich der Schatten eines Toten auf ihn fiel, der riesig wie ein Baum über ihm emporragte. Beim Anblick des am Boden liegenden Mannes stieß der Zombie ein erdiges Brummen aus, stakste näher und streckte die Klauen nach Falk aus, der zwar alles sah und hörte, was geschah, sich aber völlig unbeteiligt fühlte, so als würde es nicht um ihn selbst gehen, als wäre er lediglich Zeuge dessen, was jemand anderem widerfuhr. Wie ein stummer Beobachter verfolgte er seltsam teilnahmslos, wie der Untote auf die Knie fiel, mit beiden Händen Falks rechten Arm umklammerte und gerade seine Zähne hineinschlagen wollte, als plötzlich Zara hinter ihm auftauchte und ihre Schwerter wirbeln ließ.
Dann war auch Jael da, und gemeinsam drängten sie den Untoten von Falk weg. Sie stellten sich neben ihrem verletzten Kameraden, um ihn gegen die stetig nachrückenden Zombies zu verteidigen. Falk sah seine Gefährtinnen vage – wie durch Nebel – über sich aufragen, und ihre Stimmen drangen gedämpft an sein Ohr.
„Es geht nicht“, keuchte Zara angestrengt, während sie einem weiteren Gegner den Schädel vom Rumpf trennte. „Wir können sie nicht besiegen!“
Sie hatte Recht: Die Untoten waren überall, und es wurden einfach nicht weniger. Sie waren vielleicht nicht schnell und nicht besonders klug, aber sie waren zahlreich, und sie würden einfach immer weitermachen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Jael und Zara konnten nicht gewinnen!
„Wir können“, widersprach Jael, mit dem Rücken zu Zara. „Und wir werden!“
Die Seraphim schlug noch einmal mit ihrem Schwert zu, um sich ein wenig Bewegungsfreiheit zu verschaffen, und dann tat sie etwas Seltsames, ja, Unbegreifliches: Sie rammte ihr Schwert vor sich in den Boden, sodass der Schwertgriff ein wippendes Kreuz bildete, das Symbol jener Ein-Gott-Religion, die in Ancaria immer mehr Anhänger fand. Jael fiel auf die Knie, schloss die Augen, faltete die Hände – und begann wortlos zu beten!
Falk sah aus seiner verzerrten Perspektive, wie Zara verblüfft blinzelte. Die Vampirin wollte Jael gerade anbrüllen, was, bei allen Göttern, sie da eigentlich tat, doch dann hielt sie plötzlich inne, als sie sah, dass mit Jael irgendetwas vorging. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie sprechen, doch kein Laut drang aus ihrem Mund; dafür war es, als würde feiner weißer Nebel daraus hervorquellen, der irgendwie zu strahlen schien, zumindest kam es Falk so vor. Der Nebel war von einem hellen Weiß, als wäre es eher nebelförmiges Licht, das aus Jaels Mund floss und geistergleich um ihren Kopf wallte, während die Zombies von allen Seiten heranrückten, doch Jael ließ nicht erkennen, dass sie davon überhaupt etwas mitbekam. Sie kniete einfach nur da und betete mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen, während dieser seltsame weiße Lichtnebel aus ihrem Mund drang – und dann, gerade, als die ersten der Untoten die Hände nach ihr ausstreckten, lief plötzlich ein heftiger Ruck durch ihren Körper, Jael versteifte, und als sie ihre Augen plötzlich wieder öffnete, war es, als wäre von einer Sekunde zur anderen helllichter Tag. Grelles weißes Licht toste durch die Gräberreihen.
Falk starrte in die Helligkeit, und die Schleier der Benommenheit vor seinen Augen wurden formlich weggebrannt, um einer Erschöpfung Platz zu schaffen, wie er sie noch nie empfunden hatte. Sein Blick verschwamm, sein Verstand flackerte wie eine Kerze im Wind, die jeden Moment zu verlöschen drohte. Er stöhnte. Alles, was danach geschah, nahm Falk nur noch in Fragmenten wahr, wie einen bruchstückhaften Traum – oder vielmehr so, als würde er immer wieder für kurze Zeit aus einem traumlosen Schlaf erwachen und flüchtig mitbekommen, was vorging, schlaglichtartige Bilder und Eindrücke, auf die er sich keinen rechten Reim machen konnte.
Da war dieses alles umfassende weiße Licht, das die ganze Welt in grelle Helligkeit zu tauchen schien wie ein Blitz in dunkler Nacht, der am Himmel einfror. Alles wurde weiß und unwirklich, und in diesem Weiß zeichneten sich die Schemen der Untoten als vage Silhouetten ab, Schatten innerhalb der Helligkeit, die irgendwie von Jael auszugehen schien, die noch immer auf dem Boden kniete und die Hände wie zum Gebet gefaltet hatte. Doch da, wo einmal ihre Augen gewesen waren, waren jetzt strahlende Gruben; gleißende weiße Lichtbalken schossen aus ihren Augenhöhlen wie Speere. Ihr Gesicht strahlte so hell wie die Sonne, und dann riss sie den Mund auf, und eine weitere Woge Helligkeit brandete über den Friedhof, eine Welle aus Licht, die über die wieder auferstandenen Toten hinwegspülte und sie mit sich fortriss.
Benommen sah Falk, wie die Zombies in dem weißen Licht schmolzen wie Kerzen, so als würde die Helligkeit sie verbrennen.
Das, was von ihrem Fleisch und ihren Muskeln noch übrig war, schien sich wie bei großer Hitze zu verflüssigen. Die unheimlichen Totenfratzen zerliefen wie Honig in einem Tiegel. Sogar die Knochen lösten sich auf. Einer nach dem anderen stürzten die Untoten zu Boden und schmolzen an Ort und Stelle.
Das alles bekam Falk mit, doch begreifen konnte er es nicht. Es war schon nicht zu fassen, dass er in dieser gleißenden Helligkeit überhaupt sehen konnte, dass seine Netzhäute nicht verbrannten.
Auch Zara konnte trotz des grellen Lichts alles sehen und war nicht weniger fassungslos. Mit trotz der Fluten aus Helligkeit weit aufgerissenen Augen sah sie, wie die Zombies dahinschmolzen.
Das Licht, das aus Jaels Augen und ihrem Mund drang und den ganzen Friedhof erfüllte, verbrannte die Untoten, von denen nun keiner mehr aufstand!
Zaras Blick glitt zu Jael, die inmitten des Gleißens kniete, ihre Gestalt umstrahlt von göttlichem Licht, das Antlitz zugleich so schrecklich entstellt und so überirdisch schön, dass es nicht in Worte zu fassen war. Für einen kurzen Moment glaubte die Vampirin, über Jaels Schultern Schwingen aus sphärischer Helligkeit zu erblicken. Dann lief plötzlich ein Zittern durch Jaels Körper, und genauso abrupt, wie sie stocksteif geworden war, schwand schlagartig alle Spannung aus ihr. Jael war mit ihrer Kraft am Ende. Mit einem resignierten Stöhnen schloss sie die Augen, und das strahlende weiße Licht war weg – wie abgeschnitten, so als habe sie die göttliche Helligkeit, die in ihr wohnte, wieder dort eingesperrt, wohin sie gehörte. Tröstliche Dunkelheit senkte sich über den Friedhof, während die Seraphim entkräftet in sich zusammensackte.
Zara schaffte es gerade noch, sie aufzufangen, und ließ sie sanft zu Boden gleiten, wo Jael reglos, mit unbewegtem Gesicht, liegen blieb. Ihr porzell an weißes Antlitz war noch blasser geworden, und aus ihren Nasenlöchern schwebten letzte Schwaden weißen Lichts wie Nebel, der langsam in der Schwärze der Nacht verging. Und dann war das Licht fort, und sie waren allein.
Neben Jael kniend, hob Zara den Kopf und ließ ihren Blick über den jetzt friedlich daliegenden Totenacker schweifen.
Drüben beim Tor erregte eine hastige Bewegung ihre Aufmerksamkeit: Wigalf hatte seine arrogante Überheblichkeit verloren und machte sich davon, so schnell er konnte; offenbar hatte er keine weiteren Zaubertricks mehr im Ärmel. Er griff nach Kjells Zügeln, doch der Hengst wieherte wütend, stieg auf die Hinterläufe und trat nach dem Zauberer aus, der fluchend einige Schritte zurückwich und hinüber zum Friedhof starrte, das Gesicht eine Fratze der Wut und Enttäuschung.
Dann wirbelte er herum und eilte mit wehendem Mantel und wippendem Stock davon. Zumindest hatte er vorhin bei einer Sache nicht gelogen: Er war schlecht zu Fuß.
Jael starrte Wigalf mit müdem Blick nach; mit dem Licht schien auch alle Kraft aus ihrem Körper gewichen zu sein. „Er darf ... nicht entkommen ...“, sagte sie schwach, die Worte kaum mehr als ein Murmeln.
„Das wird er nicht“, knurrte Zara, stemmte sich mit einem Ruck in die Höhe, schob ihre Schwerter in die Scheiden zurück und nahm die Verfolgung auf, indes Thor bei Jael und Falk blieb, um sie zu beschützen, falls sich neuer Ärger regen sollte.
Als Zara das Friedhofstor erreichte, hastete der Zauberer bereits mit ausgreifenden Schritten auf den Waldrand zu, vielleicht hundert Schritte entfernt, doch die Vampirin hatte keine Mühe, ihn einzuholen. Noch ehe Wigalf den Schatten der ersten Bäume erreichte, war sie bei ihm, flink und lautlos wie ein Geist, und ohne jede Warnung gruben sich ihre Finger von hinten in seine Schulter, sodass Wigalf ein gequältes Keuchen ausstieß.
„Wohin so eilig?“, zischte Zara ihm ins Ohr und riss ihn zu sich herum. „Ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten!“
„Ich ... ich habe dir nichts zu sagen!“, giftete Wigalf. Seine breiten Nasenflügel bebten, und der Hass strahlte ihm aus den Augen wie Jael das göttliche Licht. Er versuchte sich loszureißen, doch der einzige Erfolg war, dass Zara noch fester zupackte. „Du bist meine Verachtung nicht wert!“, zischte Wigalf.
Zara legte in gespielter Betroffenheit den Kopf schief. „Aber, aber ... Redet man etwa so mit einer Dame?“
Wigalf wollte etwas darauf erwidern, ihr Flüche und Verwünschungen an den Kopf schleudern, doch er hatte kaum den Mund aufgemacht, als Zara zuschlug. Links und rechts klatschte ihre Hand in sein Gesicht, und jammernd ging er zu Boden.
Zara packte den Zauberer am Kragen und zog ihn wie einen Sack Kartoffeln hinter sich her, zu ihren Gefährten zurück, die noch immer an jener Stelle des Friedhofs warteten, wo die Vampirin sie zurückgelassen hatte, doch beide sahen bereits um einiges besser aus. Falk hatte sich mit dem Rücken gegen einen Grabstein gelehnt, während die Seraphim mit Stofffetzen, die sie aus ihrem Rock gerissen hatte, seine Schulter verband. Die Wunde blutete zwar, war aber nicht tief und – wenn sie sich nicht entzündete – auch nicht lebensbedrohlich. Der plötzliche grauenvolle Schmerz und der Schock darüber, von einem Toten gebissen zu werden, der ihn bei lebendigem Leib fressen wollte, hatten Falk am allermeisten zugesetzt, weniger die Verletzung an sich.
Thor hockte neben den beiden auf den Hinterläufen wie eine Sphinx und knurrte böse, als Zara den Zauberer in ihre Mitte schleifte und ihn losließ, sodass er benommen liegen blieb. Seinen Stock hatte er irgendwo auf dem Weg hierher verloren. Zusammengekrümmt lag er da und stöhnte weinerlich; so hatte er sich ihren Besuch auf dem Friedhof wohl nicht vorgestellt.
Zara ging neben ihren Gefährten in die Knie und betrachtete Falks Schulter. „Wie geht’s ihm?“, fragte sie Jael, doch Falk war schon wieder soweit obenauf, dass er seine große Klappe aufriss.
„Ich werd’s überleben“, brummte er. „Diesem widerlichen Zombie wäre ich schlecht bekommen, weißt du, Zara? Ich bin nämlich ein verdammt zäher Brocken!“ Er ließ den Blick über den Totenacker schweifen, der ruhig und friedlich dalag, als wäre nichts geschehen, und trotzig fugte er hinzu: „Diesen untoten Pennern haben wir’s gezeigt, hm?“
Zara nickte. „Ja, denen haben wir’s gezeigt“, sagte sie und bedachte Jael mit einem undeutbaren Blick. „Mit ein wenig göttlichem Beistand ...“ Sie und die Seraphim sahen sich einen langen Moment schweigend an, und selbst Falk bemerkte, dass zwischen ihnen irgendetwas vorging, die nächste Stufe eines Prozesses, der sie schon auf ihrer ganzen Reise begleitete. Was auch immer zwischen diesen beiden so ungleichen Geschöpfen in der Vergangenheit vorgefallen war, nun standen sie auf derselben Seite, kämpften für dieselbe Sache, und da, wo Jahrhunderte lang Abscheu und Vorsicht gewesen waren, entstand allmählich Respekt und Anerkennung. Sie waren keine Freundinnen, und sie würden es vermutlich nie werden, aber sie achteten einander.
Zara warf Jael noch einen letzten Blick zu, bevor sie sich umwandte, sich vor Wigalf aufbaute und ihn auf die Füße zog. Er starrte Zara voller Bosheit an und zischte: „Spart es euch, eure Zeit mit mir zu verschwenden. Kein Wort kommt über meine Lippen! Ich werde euch nicht sagen, was ihr so dringend zu wissen wünscht, selbst wenn euch dieses Wissen nun auch nicht mehr helfen würde – weder euch noch dem erbärmlichen Rest dieser vor Schwäche und Mitleid stinkenden Welt!“
„Dann ist die letzte Stunde nah?“, forschte Zara.
Wigalf stockte, und für einen Moment schien sich sein Blick zu verdüstern. Doch dann zogen sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen auseinander, und er giftete: „Nichts, was ihr sagen oder tun könnt, wird mich dazu bringen, euch in die Hände zu spielen, ihr verkommenen Maden!“
Zara starrte den Zauberer ein paar Sekunden lang mit seltsam unbewegter Miene an. Dann schlug sie mit der freien Linken zu, ohne ihn loszulassen. Der Zauberer krümmte sich, doch als er den Kopf wieder hob, war sein Wille ungebrochen.
„Mach, was du willst, Schlampe!“, zischte er trotzig. „Von mir erfährst du nichts! Ich fürchte weder den Tod noch den Schmerz, den du mir zuzufügen vermagst! Töte mich ruhig! Ich habe keine Angst vor dir, Hexe!“
Aus seinen Worten sprach der blanke Hass, doch die Vampirin verzog keine Miene. Sie sah dem Zauberer tief in die Augen, fast so, als wollte sie in ihnen lesen, um herauszufinden, wie ernst es ihm war, und schließlich kräuselten sich ihre Mundwinkel zu einem kleinen sardonischen Lächeln, das Falk einen kalten Schauer über den Rücken jagte. „Vor dem Tod brauchst du keine Angst zu haben“, sagte Zara. „Und vielleicht auch nicht vor mir. Vor ihr aber schon ...“
Und mit diesen Worten ließ sie ihre menschliche Maske fallen und zeigte dem Zauberer ihr wahres Gesicht!
Plötzlich wölbten sich ihre Augen- und Wangenknochen vor, das Weiß in ihren Augen durchzog sich mit roten Adern, und aus ihrem Oberkiefer wuchsen zwei lange elfenbeinfarbene Hauer. Einen Moment lang schien es, als wären die Muskeln unter Zaras Gesicht in hellem Aufruhr; es sah aus, als würden sie hin- und herwogen. Dann festigte sich der Ausdruck, und Zara zog Wigalf mit einem brutalen Ruck so nah zu sich heran, dass sein vor Schmerz verzerrtes Gesicht nur Zentimeter von ihrer grauenhaften Dämonenfratze entfernt war.
Wigalfs Augen waren groß und weiß wie Taubeneier – offenbar hatte er damit nicht gerechnet –, und sein trotziges Gehabe fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
„Jetzt solltest du Angst haben!“, zischte Zara böse. Sie riss Wigalfs Kopf ruckartig zur Seite, ihr Gesicht mit den Fangzähnen zuckte unversehens vor, und ihre langen, nadelspitzen Hauer gruben sich tief in seinen Hals.
„Zara!“, rief Jael entsetzt. Die Seraphim wollte aufspringen und die Vampirin von ihrem Opfer wegreißen, doch Falk ergriff Jaels Unterarm und hielt sie zurück.
Einen Moment lang sah es trotzdem so aus, als würde Jael dazwischengehen, um Wigalf aus Zaras Fängen zu retten, doch irgendetwas hielt sie davon ab, und so blieb sie, wo sie war, und verfolgte gebannt und furchtsam, wie Zara den zappelnden Zauberer mühelos in ihrem eisernen Griff hielt und ihm mit tiefen, schlurfenden Zügen das Leben aussaugte.
Schließlich begannen Wigalfs Abwehrbewegungen fahriger und schwächer zu werden, und der Blick seiner weit aufgerissenen Augen umwölkte sich. Seine Mundwinkel zuckten. Sein Antlitz wurde zusehends blasser, je mehr Blut Zara ihm nahm.
Und mit jedem Zug, den sie trank, spürte Zara, wie ihre Gier zunahm, Wigalf bis zum letzten Tropfen auszusaugen. Einen schrecklichen Moment lang drohte die Bestie tief in ihr, die seit dem Massaker im Felskessel nahe Moorbruch ungeduldig an ihren Ketten zerrte, sich loszureißen und auszubrechen, doch Zara zwang sich, nicht die Kontrolle zu verlieren, und trank gerade so viel, wie nötig war.
Dann ließ sie von Wigalf ab, richtete sich auf und grinste den erschöpften Zauberer mit blutigen Fangzähnen an, die Augen rot wie Blut.
„Die Schwelle des Todes liegt nun direkt vor deinen Füßen“, sagte sie mit grausamer Gelassenheit. „Du musst sie nur noch überschreiten, und du wirst zu einem Kind der Nacht, so wie ich es bin.“ Sie schnalzte mit der Zunge, als wäre ihr gerade etwas eingefallen, und sie verbesserte sich spöttisch: „Naja, nicht ganz so wie ich, denn wenn ich dir nicht so viel Blut aussauge, dass du in meinen Armen stirbst, breitet sich der dunkle Keim nur langsam in deinem noch lebenden Körper aus, und je weiter er sich ausbreitet, desto mehr wird sich dein Körper dagegen wehren, jedoch erfolglos; du wirst nach und nach sterben, und dein Verstand wird mehr und mehr in Fetzen gehen und du dem Wahnsinn anheim fallen, und wenn der dunkle Keim schließlich die Herrschaft über dich gewonnen hat, wirst du als lebender Toter durch die Welt wandeln wie diese Zombies hier, eine tumbe, wahnsinnige Kreatur ohne Verstand, einzig getrieben vom Durst nach Blut, so erbärmlich, dass selbst Orks bloß Verachtung und Abscheu für dich übrig haben. So wirst du durch die Welt wandeln bis ans Ende der Zeit – tot und doch nicht tot, lebendig und doch nicht lebendig, ohne Verstand, ohne Seele und doch irgendwie noch immer du selbst.“
Wigalf starrte sie mit müdem Blick an. Hätte sie ihn nicht gehalten, er wäre nicht im Stande gewesen, sich auf den Beinen zu halten. Seine Gesichtsmuskeln zuckten träge, und der Ausdruck auf seinen bleichen Zügen zeigte kaum eine Regung, als hätte er Mühe, zu begreifen, was sie sagte. Doch er hatte sie verstanden; man sah es an seinen Augen, aus denen alle Arroganz gewichen war.
„Ich allein kann dir dieses Schicksal ersparen“, sagte Zara, jetzt sanft und voller Mitgefühl. „Doch nicht einmal dieser Tod ist umsonst. Das ewige Leben hatte schon immer seinen Preis. Wenn du leben willst, wie ich es tue, frei von allen irdischen Banden, stark und jung für immer, unsterblich wie die Götter, dann verdien es dir!“
Wigalfs Körper war durch den Blutverlust zu geschwächt, um den Hass, den er bis dato zur Schau gestellt hatte, weiter aufrecht zu halten. Auch schien sein Verstand nur noch eingeschränkt zu funktionieren. Wigalf blinzelte mehrmals träge, wie um seine Benommenheit abzuschütteln, den Mund halb geöffnet, sodass ein Speichelfaden über sein Kinn rann, und plötzlich kehrte so etwas wie Begreifen in seinen Blick zurück. Er starrte Zara an, und gegen seine Benommenheit ankämpfend stieß er mit brüchiger, leiser Stimme hervor: „Die letzte Stunde ... sie ist jetzt nicht mehr fern...“
„Das wissen wir bereits“, erwiderte Zara. „Aber wann? Wann ist diese Stunde? Und was passiert dann?“
Einen Moment lang starrte Wigalf sie nur teilnahmslos an, als müsste er den Sinn ihrer Worte erst ergründen. Dann blinzelte er wieder träge und murmelte: „Die letzte Stunde ... ist gekommen, wenn sich die Erde zwischen Licht und Schatten drängt. Dann wird sich die Welt ... auf ewig verdunkeln ... und mit ihr alles, was in ihr ist ...“
Zara runzelte verwirrt die Stirn. „Licht und Schatten?“
„Eine Mondfinsternis“, erklärte Jael. „Dabei tritt die Erde zwischen Sonne und Mond – Licht und Schatten.“
Zara grunzte und wandte sich wieder Wigalf zu, der schlaff in ihrem Griff hing, kaum noch fähig, die Augen offen zu halten. „Wann?“, fragte sie. „Wann bricht die letzte Stunde an?“
Doch statt auf die Frage einzugehen, murmelte Wigalf träge: „Die letzte Stunde ... für das freie Ancaria. Die letzte Stunde ... der erbärmlichen Menschheit ...“ Er kicherte schwachsinnig, ein jämmerliches Glucksen ohne jede Heiterkeit. Dann wurde er ebenso schlagartig wieder ernst, als er schwerfällig den Kopf hob und zum Nachthimmel emporschaute, wo die Wolken die Gestirne verbargen, als hätte sich das Firmament bereits verdunkelt, wie er es prophezeit hatte.
„Nicht mehr lange“, murmelte er, „und alles, was einst war, kommt wieder ... wenn die Dunklen Götter durch die Lande Ancarias ziehen, um sich zu nehmen, was ihnen seit Anbeginn der Zeit zusteht – und was ihr ihnen genommen habt.“ Dabei heftete sich sein Blick auf Jael, und für einen Moment schien es, als würde die alte Bösartigkeit wieder aufblitzen. „Seraphim.“ Er spie das Wort regelrecht aus. „Aus dem Himmel verbannt, von den Mächtigen verachtet... Armselige Kreaturen.“
Jael schwieg, doch ihre Miene sprach Bände.
Falk beugte sich ungläubig vor. „Die Dunklen Götter?“, sagte er. „Was soll das heißen, die Dunklen Götter werden auf Erden wandeln?“ Er sah Jael an. „Und was, zum Geier, hast du damit zu tun?“
„Es waren die Götter des Lichts, die einst die Seraphim schufen, um gegen die Handlanger des Bösen zu Felde zu ziehen, die versuchten, die Welt zu unterjochen“, erklärte Jael tonlos. „Die Dunklen Götter – das sind die Dämonen des Chaos, die zu Anbeginn der Zeit mit den Alten Göttern um die Vorherrschaft über die Welt stritten; so kam es zu den Götterkriegen, die tobten, lange bevor der erste Mensch über Ancarias Boden wandelte. Diese Kriege währten viele Äonen, und irgendwann wurden es die Götter müde, die Heerscharen der Dunklen Mächte ein ums andere Mal zurückzuschlagen. So schufen sie die Seraphim, die Hüterinnen des Lichts, auf dass wir diese ehrenvolle Aufgabe fortan für sie erledigten. Mit Schwert gegen Feuer, mit Licht gegen Dunkelheit...“
„Und ihr habt gewonnen“, mutmaßte Falk.
Jael nickte. „Nach Äonen des Kampfes gelang es den Seraphim schließlich, die Macht des Bösen zu brechen und die Dämonen des Chaos zu bezwingen. Nur waren die Dämonen so mächtig und stark, dass sogar die Götter selbst nicht im Stande waren, sie endgültig zu bezwingen; alles, was sie tun konnten, war, sie auf ewig an den Ort zu verbannen, aus dem sie stammten: die Hölle.“
„Es gibt die Hölle?“, fragte Falk fassungslos.
Die Frage entlockte Jael ein kleines Lächeln. „Genauso wie es den Teufel gibt – und Engel wie mich. Alles im Leben hat zwei Seiten. Es gibt für alles eine Entsprechung. Wichtig ist nur, dass das Gleichgewicht erhalten bleibt.“ Sie richtete das Wort an Wigalf, und das Lächeln in ihrem Gesicht erlosch. „Sag uns alles!“, forderte sie. „Sag uns, was du weißt!“
Wigalf erwiderte ihren Blick mit leeren Augen. Erst nachdem Jael ihre Forderung noch einmal wiederholt hatte, murmelte er träge: „Mit Feuer und Schwert ... treten sie in die Welt der Sterblichen ... Dämonen... Tausende, Millionen davon!“ Wieder dieses glucksende, schreckliche Lachen. „Die Höllenbrut... wird über Ancaria hinwegfegen und alles vernichten, was einst blühte und voller Leben war ...“
„Dann ist es das, was der Sakkara-Kult vorhat?“, sagte Zara. „Sie wollen die Dämonen des Chaos aus ihrem Höllengefängnis befreien und ihnen dabei helfen, die Welt zu unterjochen, so wie sie es eigentlich schon damals, in den Tagen der Götterkriege, vorhatten?“
Wigalf nickte grinsend. „Wir werden sein wie Götter“, lallte er. „Ja, wie Götter werden wir sein ...“
„Aber wie?“, drängte Jael. „Die Dämonen sind in der Hölle gefangen. Wie will der Kult sie in die Welt zurückholen?“
„Wir öffnen ... das Tor“, brummte Wigalf.
„Das Tor?“
„Zur Hölle“, sagte der Zauberer. „Wir öffnen das Tor zur Hölle, so wie es damals verschlossen wurde, und lassen alles frei, was drinnen ist.“
„Wie? Wie öffnet ihr das Höllentor?“
„Ein Ritual“, murmelte Wigalf. Seine Augenlider flatterten, und er schien mit jedem Atemzug schwächer zu werden; gleichzeitig begann die Haut um die beiden Einstichstellen an seinem Hals allmählich die Farbe reifer Pflaumen anzunehmen, von einem Netzwerk schwarzer Adern durchzogen. „Ein Ritual ... So viele Jahre haben wir uns darauf vorbereitet, doch ... wir waren allein nicht stark genug. Erst jetzt, im Zeichen der Jungfrau, gesegnet mit der gesammelten Kraft ihrer Reinheit, ist es uns endlich vergönnt, ein neues Zeitalter einzuläuten.“
„Dafür brauchten sie also die Herzen“, murmelte Falk.
Wigalf sprach weiter, und mit jedem Wort schien seine Kraft mehr und mehr zu schwinden. „Das Ende ...“, keuchte er angestrengt, „ist längst angebrochen, und es gibt nichts, was irgendjemand tun könnte, um es abzuwenden ... alle Räder drehen sich bereits, und sobald sie ineinander greifen, ist dies das Ende für die Welt, wie ihr sie kennt ...“ Er verstummte, das Gesicht von schwarzen Adern durchzogen, die sich von seinem Hals aus über den ganzen Leib des Zauberers ausbreiteten. Sein ganzes Antlitz schien im Aufruhr zu sein, und dann verfärbten sich seine Augen, wurden nachtschwarz, als die feinen Äderchen darin beinahe gleichzeitig platzten und Blut in die Bindehaut rann. Der Zauberer würgte, und schwarzer Schaum quoll aus seinem Mund.
Falk verzog angewidert das Gesicht. „Du liebe Güte ... Was ist mit ihm?“
„Zara hat die Wahrheit gesagt“, murmelte Jael düster, die ihren Blick nicht von dem schrecklichen Schauspiel lösen konnte. Bis zu diesem Moment war sie davon ausgegangen, dass die Vampirin nur geblufft hatte, um den Zauberer zum Sprechen zu bringen. Doch jetzt musste sie erschrocken feststellen, dass dem nicht so war. „Der dunkle Keim ergreift Besitz von ihm ...“
Sie packte Wigalf an der Schulter und zog sein sich veränderndes Gesicht mit einem Ruck so dicht zu sich heran, dass sich ihre Nasen beinahe berührten; sein schlechter Atem schlug ihr stoßweise ins Gesicht, erfüllt vom Gestank geronnenen alten Blutes. „Wo ist es?“, herrschte sie ihn an. „Wo findet die Zeremonie statt, mit der das Höllentor geöffnet werden soll?“
Doch der Zauberer starrte sie mit seinen schwarzen Augen nur teilnahmslos an und begann im Griff der Kriegerin am ganzen Körper zu zittern, als hätte er Schüttelfrost. Plötzlich wölbten sich seine Augenwülste nach vorn, seine Wangenknochen wuchsen in die Höhe, scharfe Umrisse unter der Haut des Zauberers, die sich zusehends faulig schwarz verfärbte und hier und da aufplatzte. Überall auf seinem Körper bildeten sich Pusteln und Wucherungen.
Doch Jael ließ nicht von ihm ab. „Wo ist der Ort?“, fuhr sie ihn immer wieder an, und mit jedem Mal wurde ihre Stimme ein bisschen lauter und verzweifelter, bis ihre Rufe weithin hörbar über den Friedhof schallten. „Wo ist er? Wo ist der Ort? Sag es, verdammt noch mal! Sag es uns!“
Als Wigalf die Lippen bewegte, wie um zu sprechen, schöpfte die Seraphim einen Moment lang Hoffnung, dass sie von ihm die Information erhalten würden, die sie so dringend brauchten. Doch nur ein gutturales Keuchen erklang, und als der Zauberer den Mund öffnete, sah Jael, wie ihm krumme, dolchartige Zähne aus den Kiefern wuchsen, oben und unten. Hinter dem Mund voller langer, gelber Zähne zuckte die Zunge umher, schwarz und geschwollen.
Dann lief plötzlich ein Ruck durch Wigalfs Leib, der Schüttelfrost ließ nach, und als der Zauberer jetzt, erfüllt von neuer Kraft, den Kopf hob, hatte er alles Menschliche verloren. Das Antlitz eine Dämonenfratze, starrte er mit den Teergruben seiner Augen wild um sich, fletschte die Zähne und stieß ein tierisches Fauchen aus wie ein wildes Tier.
Unwillkürlich wichen Jael und Zara vor dem Ungeheuer zurück, das seinen Oberkörper sinnlos hin- und herwiegte und mit Händen, die zu deformierten Klauen mit scharfen, langen Nägeln geworden waren, in die Luft grapschte, als würde es nach ihnen greifen. Es schien, als wären Wigalfs Arme länger als zuvor, und sein Gang hatte etwas seltsam Affenartiges, als er sich knurrend und fauchend in Bewegung setzte und mit weit aufgerissenem Maul nach vorn stürmte, von dem unstillbaren Durst nach menschlichem Blut getrieben, der bloß noch von seinem Hass auf alles Lebende übertroffen wurde.
Doch bevor ihnen der verwandelte Zauberer gefährlich werden konnte, reagierte Zara bereits. Schneller, als man mit dem Auge sehen konnte, wirbelte sie herum, brach mit einer Hand knirschend einen armdicken Ast von einem verdorrten Baum zwischen den Gräberreihen ab, so leicht, als würde sie ein Streichholz knicken – und rammte Wigalf das schartige, scharfkantige Ende in die Brust!
Das Holz drang mit leisem Knirschen in Wigalfs Körper, durchbohrte das noch schlagende Herz und besiegelte das Schicksal des Zauberers, der unter der Wucht des Hiebes nach hinten taumelte, den Holzpflock zwischen seinen Fingern, und instinktiv versuchte, ihn herauszuziehen. Doch es war schon zu spät. Sein gepfähltes Herz schlug noch ein paar Mal unregelmäßig, dann krampfte es sich in Wigalfs Brust zusammen, und mit einem letzten zornigen Fauchen stürzte Wigalf zwischen den Grabsteinen zu Boden, zuckte noch einmal und lag dann still, die Hände immer noch um den Holzpflock in seiner Brust gekrampft, die schwarzen Augen zum Sternenlosen Nachthimmel erhoben.
Zara griff nach ihrem Jagdmesser, das neben Falk im Boden steckte, ging zur Leiche des Ungeheuers hinüber und schnitt Wigalf den Kopf vom Hals. Als sie sich umdrehte und sah, dass Falk und Jael sie entgeistert anstarrten, zuckte sie nur mit den Schultern und sagte knapp: „Sicher ist sicher.“
Falk wies auf die Leiche zu ihren Füßen und sagte: „Ich dachte immer, Vampire zerfallen zu Staub, wenn man sie pfählt!“
„Das war kein Vampir“, sagte Zara. „Nur ein Ghoul.“
Er sah sie verständnislos an.
„Ein Leichenfresser“, erklärte Zara.
„Ah“, machte Falk, auch wenn er um keinen Deut klüger war als zuvor.
Jael setzte sich müde auf einen der Grabsteine, betrachtete die sterblichen Überreste von Wigalf dem Zauberer und seufzte. Man sah ihr an, dass sie nicht sonderlich froh darüber war, dass Wigalf zur Hölle gefahren war, bevor er ihnen verraten konnte, wo sich der Ort befand, an dem die Sekte das letzte Ritual zum Öffnen des Höllentors durchführen würde. Doch sie machte Zara keine Vorwürfe; sie wusste, dass Zaras Vorgehen vielleicht die einzige Möglichkeit gewesen war, überhaupt irgendetwas aus dem Zauberer herauszubekommen, und zumindest wussten sie jetzt, was genau die „letzte Stunde“ war: die letzte Stunde des freien Ancaria, bevor das Chaos erneut über die Welt hereinbrach und aller Freundschaft Bande brach. Es war alles von langer Hand geplant und vorbereitet; der Sakkara-Kult wartete nur noch auf die nächste Mondfinsternis, dann würde sich das Tor zur Hölle auftun, wenn es ihnen nicht gelang, den Verrätern Einhalt zu gebieten.
Doch wie, um alles in der Welt, sollten sie das anstellen, da sie doch nicht die geringste Ahnung hatte, wo die Zeremonie stattfand? Es konnte überall sein; womöglich hier in der Enklave, vielleicht aber auch ganz woanders, weit weg von Sternental – wer konnte das schon sagen?
Jael fragte sich nervös, wann die nächste Mondfinsternis sein würde. Auch das mussten sie dringend in Erfahrung bringen, doch das würde vermutlich um einiges leichter zu bewerkstelligen sein als herauszufinden, wo das Ende der Welt eingeläutet werden würde – denn das war es, da hatte Jael nicht den geringsten Zweifel.
„Wir müssen den Sakkara-Kult aufhalten“, sagte sie düster. „Wenn das Tor zur Hölle wirklich geöffnet wird und die Dämonen des Chaos befreit werden, bedeutet das den Untergang. Die Alten Götter werden Ancaria diesmal nicht beschützen, denn sie haben längst das Interesse an euch verloren und sich neuen Welten und neuen Kriegen zugewandt.“
Als die Seraphim Falks irritierten Blick sah, schlich sich ein trauriges Lächeln auf ihre Züge. „Ja, so sind die Götter“, erklärte sie. „Erst erschaffen sie einen, dann lassen sie einen im Stich, um sich mit etwas Neuem die Zeit zu vertreiben. Sie sind wie Kinder, denen ihr Spielzeug schnell langweilig wird, und dann suchen sie sich eine neue Beschäftigung, um die Ewigkeit zu überbrücken. Das ist der Lauf der Dinge; so und nicht anders war es immer, und so wird es immer sein, bis ans Ende aller Dinge.“
„Amen“, murmelte Zara sarkastisch und spielte damit auf jene neue Religion an, die seit einiger Zeit überall in Ancaria Fuß fasste; wahrscheinlich weil die Menschen erkannten, dass dieser Gott anders war als jene Alten Götter, denen Jael diente.
Wider Erwarten nickte Jael zustimmend. „Wir müssen herausfinden, wo der Kult das Ritual zum öffnen des Höllentors durchfuhrt“, sagte sie. „Nur, wenn wir verhindern, dass sie das Ritual zu Ende bringen, können wir die Katastrophe abwenden.“
„Aber wie können wir sicher sein, dass Wigalf die Wahrheit sagte?“, fragte Falk. „Er war schließlich nicht mehr ganz bei Sinnen; vielleicht war er verwirrt, oder er wollte uns mit Absicht in die Irre führen. Vielleicht hat der Kult etwas vollkommen anderes vor. Vielleicht wollen sie, statt das Tor zur Hölle zu öffnen und die Welt mit Dämonen zu fluten, ein Heer riesiger weißer Killerkaninchen aufstellen, groß wie Bären, die durch die Lande ziehen und jedem den Kopf abbeißen, auf den sie stoßen.“ Er schob die Unterlippe vor. „Kann doch sein, oder nicht?“
„Vielleicht klingt es seltsam“, erklärte Jael, „aber ich glaube, dass Wigalf die Wahrheit gesagt hat, oben in der Turmkammer und gerade eben auch. Das, was er über den Sakkara-Kult und seine Ausbreitung in der Enklave erzählt hat, stimmt, ebenso wie seine Worte darüber, was der Kult vorhabt, und ich würde mich nicht wundern, wenn es in Sternental tatsächlich eine Gruppe ,guter‘ Magier gebe, die versucht, die Verschwörer daran zu hindern, die Welt ins Chaos zu stürzen – bloß dass Wigalf keiner von ihnen war, sondern auf der anderen Seite stand.“ Sie brach mit einem missmutigen Seufzen ab, und ihr Blick schweifte über die Mauern des Friedhofs hinaus in die Ferne, zum Horizont, wo das Grau der Nacht allmählich wieder heller wurde.
Thor trottete heran und rieb seinen wuchtigen Schädel an ihrem Bein, als würde er spüren, dass Jael Kummer hatte.
Die Seraphim streichelte gedankenverloren sein drahtiges Fell und versuchte sich darüber klar zu werden, was – sie tun sollten – was sie tun konnten.
Sonderlich viele Möglichkeiten blieben ihnen nicht; um der Wahrheit die Ehre zu geben, gab es unterm Strich eigentlich bloß eine einzige, selbst wenn sie Jael nicht gefiel.
„Wir müssen zurück nach Sternental“, sagte sie. „Zur Großen Burg.“
Zara runzelte die Stirn. „Um mit Godrik zu reden?“
Jael nickte. „Er ist der Einzige, der uns jetzt noch helfen kann.“
„Schon möglich“, brummte Zara. „Nur wird er das nicht tun.“
„Er muss“, beharrte die Seraphim. „Wenn wir ihm reinen Wein einschenken und ihm sagen, was vorgeht, dass die Welt am Rande des Abgrunds steht, wird er handeln müssen. Niemand, der von dieser Gefahr weiß und klaren Verstandes ist, kann untätig bleiben.“
„Und wenn er zu ihnen gehört?“, warf Falk ein. „Was, wenn er ein Mitglied des Kults ist und nur darauf wartet, seinen Platz in der neuen Weltordnung einzunehmen, als Handlanger der Chaos-Dämonen?“
„Dann“, sagte Jael düster, „ist die Welt schon verloren ...“