III.

Bis zum Morgen war die Wirkung des lähmenden Spinnengifts zumindest soweit abgeklungen, dass sie sich wieder halbwegs normal bewegen konnten, auch wenn die Nachwirkungen vor allem Falk und der Seraphim, die im Gegensatz zu Zara ein halbes Dutzend Hornpfeile abbekommen hatte, noch eine ganze Weile zu schaffen machten. Zara hingegen fühlte sich überraschend gut, auch wenn sie die ganze Nacht über bewegungsunfähig wie eine Schildkröte auf dem Rücken gelegen und zur Decke des Felsüberhangs gestarrt hatte, auf jedes noch so kleine Geräusch lauschend, voller Sorge, dass sich irgendwo in der Gegend noch so ein riesiges Spinnenuntier herumtrieb. Irgendwann war die Dunkelheit zu einem eiskalten grauen Wintermorgen geworden, nicht weniger trostlos als die vorangegangenen, aber zumindest kehrte mit der Morgendämmerung das Leben Stück für Stück in Zaras Körper zurück.

Als Erstes konnte sie ihre Finger wieder bewegen, dann ihre Zehen, danach die Lippen, und je mehr die Lähmung von ihr abfiel, desto besser fühlte sie sich, was ihr angesichts der schweren Wunden, die sie im Kampf gegen die Spinne davongetragen hatte, fast wie ein Wunder erschien. Als sie schließlich im Stande war, sich mühsam aufzurichten, stellte sie fest, dass ihre Verletzungen fast schon wieder verheilt waren; offenbar wirkte das Blut der Attentäter aus dem Felskessel bei Moorbruch noch immer in ihrem Körper und unterstützte ihre regenerativen Kräfte, und die „Zwangsruhe“ der letzten Nacht hatte ein Übriges getan, um sie noch rascher genesen zu lassen. Sie war zwar ein wenig steif gefroren, als sie sich mit einem mühsamen Ächzen in die Höhe stemmte, aber ansonsten wohlauf.

Thor lag noch immer an jener Stelle, wo er die ganze Nacht Wache gehalten hatte. Er verfolgte jede von Zaras anfangs noch recht unbeholfenen Bewegungen. Schließlich hockte sie sich neben ihn, strich ihm mit der flachen Hand über den Kopf und murmelte mit träger, schwerfälliger Zunge: „Guter Junge.“ Thor hechelte freudig, die Lefzen leicht zurückgezogen, dass es fast aussah, als würde er lächeln.

Auch Jael hatte die Nacht halbwegs unbeschadet überstanden, wenn man mal von ihrer angeknacksten Ehre absah; als Hüterin des Lichts dort zu versagen, wo eine Vampirin triumphierte, war schon ein schwerer Schlag. Gleichwohl, sobald sie sich ein wenig gereckt und gestreckt hatte, um den Frost der Nacht aus ihren Gliedern zu vertreiben, machte sie sich daran, den nach wie vor reglosen Falk aus dem Kokon zu befreien, in den ihn die Spinnen von Kopf bis Fuß eingesponnen hatten.

Zara sammelte inzwischen schweigend ihre Schwerter ein. Die Klingen waren bedeckt von einer schmutziggrünen Schicht eingetrockneten Spinnenschleims; sie reinigte sie sorgfältig, bevor sie die Schwerter zurück in die Scheiden an ihrem Rücken steckte. Dann ging sie hinüber zu den schwelenden Überresten der Monsterspinne, die in der nur noch schwach glimmenden Glut lagen.

Das Ungeheuer war nur noch ein stinkender Haufen verkohlten Fleisches, aus dem die schwarzen Spinnenbeine ragten. Über Nacht hatte das Feuer die Spinne auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe schrumpfen lassen.

Zara beförderte den stinkenden Kadaver mit einem Tritt ins Gebüsch, kniete neben der Feuerstelle nieder und legte das restliche Brennholz, das sie gestern Abend gesammelt hatte, in die nur noch schwach schwelende Glut.

Jael entfernte derweil behutsam die weißen Spinnenfäden von Falks Gesicht. „Vielleicht sollten wir ihn so lassen, wie er ist“, schlug sie in einem Anflug von Humor vor. „Dann ist wenigstens eine Weile Ruhe.“

„Daf haf if gehört!“, nuschelte Falk unter den Spinnweben hervor.

„Jedenfalls lebt er noch“, brummte Zara und bemühte sich, das Feuer wieder zu entfachen.

Die Seraphim grinste. Als sie Falk einige Minuten später vollends von den Spinnweben befreit hatte, schlug er sich als Erstes auf wackligen Beinen in die Büsche. Dem Rascheln des Dickichts folgte das Prasseln eines steten Wasserstrahls und dann ein erleichtertes, lang gezogenes Seufzen.

„Zu viel Wein“, meinte er, als er einen Moment später aus den Büschen kam; inzwischen war er schon wieder einigermaßen sicher auf den Beinen. Dann fiel sein Blick auf den Kadaver der Monsterspinne, und Ekel trat in seine Züge. „Du lieber Himmel“, raunte Falk. „Ich habe zwar gehört, dass uns irgendetwas Großes an den Kragen wollte, aber das hier ...“ Er trat mit der Stiefelspitze gegen den Kadaver. „Was, bei allen Teufeln, ist das für ein Vieh?“

„Das“, antwortete Jael und korrigierte ihn zugleich, „war wahrscheinlich ein Ergebnis der schwarzmagischen Experimente, die in Sternental auch heute noch getrieben werden.“

Falk runzelte die Stirn. „Ich dachte, auch in Sternental sei Zaubern strengstens verboten.“

Jael nickte. „Offiziell ist das Studieren, Lehren und Praktizieren der Verbotenen Künste auch in Sternental bei schwerster Strafe untersagt – so wie im Rest von Ancaria. Aber ...“ Sie zuckte mit den Schultern, griff nach dem Proviantbeutel und zog die Schnüre auf, während sie weitersprach: „Im Laufe der Jahrhunderte hat es immer wieder Gerüchte gegeben über verbotene magische Experimente in der Enklave. Man soll angeblich versucht haben, auf schwarzmagischem Wege grauenhafte Wesen und Kreaturen zu schaffen und verschiedenste Gattungen miteinander zu kreuzen, und die Ergebnisse dieser Versuche sollen so grotesk gewesen sein, dass sogar die verbannten Magier nur Abscheu für ihre Schöpfungen empfinden konnten.“ Sie nahm Brot und Käse aus dem Beutel und reichte beides an Zara weiter, die das Feuer inzwischen entfacht hatte. „Eine Delegation Inquisitoren wurde vor gut einem halben Jahrhundert nach Sternental geschickt, um diesen Gerüchten auf den Grund zu gehen, doch obwohl die gesamte Enklave gewissenhaft durchsucht wurde, fand man keinerlei Hinweise, weder auf diese verbotenen Experimente noch auf die Geschöpfe, die ihnen entsprungen sein sollen. Damals mutmaßten einige, dass die Zauberer womöglich irgendwie von dem Auftauchen der Inquisitoren erfuhren und ihre Kreaturen vorher fortschafften, doch wie so vieles im Zusammenhang mit Sternental und dem, was dort vorgeht, ist auch das nichts weiter als eine unbelegte Geschichte.“

„Eine Geschichte, die uns beinahe aufgefressen hätte“, brummte Falk.

„Es ist ja noch mal gut gegangen“, sagte Jael.

„Ja“, stimmte Falk zu, „dank Zara. Das wird langsam zur Gewohnheit.“ Er warf dem verkohlten Kadaver noch einen angewiderten Blick zu und gesellte sich dann zu den beiden Kriegerinnen unter den Felsüberhang. Thor lag ein paar Schritte weiter und ließ die Blicke wachsam hin und her schweifen; er sah aus, als würde er ihrer Unterhaltung folgen.

Nach dem Proviantbeutel greifend, flüsterte Falk, an Zara gewandt: „Du hast mir das Leben gerettet. Schon wieder.“

„Mir auch“, schloss sich Jael an, und man merkte, dass es ihr nicht leicht fiel, das zuzugeben. „Danke.“

„Dankt nicht mir, sondern Thor“, entgegnete Zara, schnitt mit ihrem Messer ein Stück Wurst ab und schnippte es dem Wolf zu. Der schnappte nach dem Bissen, wofür er nur seinen gewaltigen Kopf hob und ansonsten still liegen bleib. „Ohne ihn wären wir jetzt alle tot.“

„Ja.“ Jael sah zu Thor hinüber, der aufmerksam die Ohren gespitzt hatte, als wüsste er, dass sie über ihn sprachen. Sie lächelte. „Er ist wirklich ein gutes Tier. Und mutig dazu. Ein Glück, dass er sich doch nicht aus dem Staub gemacht hat. Und trotzdem, Zara – du hast für mich gekämpft und ...“

„Für uns!“, warf Falk kauend ein.

„... für uns gekämpft“, korrigierte sich Jael, „und dafür danke ich dir.“

„Jo, ich auch!“, brummte Falk.

Zara schnitt noch ein Stück Wurst ab, steckte es sich in den Mund und sah ihre Gefährten mit undeutbarer Miene an. „Auch wenn euch diese Vorstellung vielleicht nicht gefällt, aber in erster Linie habe ich für mich gekämpft. Nicht für euch, nicht für die Alten Götter, auch nicht für sonst wen. Dass ihr noch am Leben seid, war keine Absicht.“

Jael blickte sie einen Moment lang nachdenklich an. Dann glitt ein kleines Lächeln über ihre Züge. „Wie auch immer“, sagte sie, „wir sind jedenfalls froh, dass du es getan hast.“

„Und wie“, stimmte Falk zu, und die unschuldige Unbekümmertheit, mit der er es sagte, ließ auch Zara grinsen.

Sie schüttelte amüsiert den Kopf, warf noch ein paar Zweige ins prasselnde Feuer und sah hinüber zum Horizont. Dicke graublaue Wolken trieben vor der milchigen Scheibe der Sonne dahin und verbargen die Gipfel des Ripergebirges jenseits der verkrüppelten, moosbehangenen Bäume des Nimmermehrsumpfs. Vereinzelt fielen Schneeflocken vom Himmel, doch es sah nicht so aus, als würde es in absehbarer Zeit wieder stärker schneien. Trotzdem war Zaras Blick düster, während sie die schroffen, zerklüfteten Berge betrachtete.

Falk folgte ihrem Blick. „Über diese Berge müssen wir, oder?“

Zara nickte. „Dahinter liegt Sternental“, bestätigte sie.

„Sieht verdammt steil aus“, meinte Falk. „Wird sicher kein Zuckerschlecken, das Gebirge zu durchqueren.“

„Das werden wir bald wissen“, brummte Zara missmutig. Sie erhob sich und begann, ihre Sachen zu packen. „Wir sollten aufbrechen. Wir haben schon zu viel Zeit verloren.“

Jael nickte ernst. „Und wer weiß, wie viel uns noch bleibt...“

An diesem Tag war Falk sogar froh darüber, nichts anderes tun zu müssen, als im Sattel zu sitzen und seinen Gedanken nachzuhängen. Auch wenn er es vor seinen übermenschlichen Begleiterinnen nicht zugeben wollte, er spürte die Nachwirkungen des Spinnengifts noch immer, wie den Kater nach einer durchzechten Nacht. Um sich von dem Schwindelgefühl in seinem Kopf und dem Grummeln in seinen Eingeweiden abzulenken, konzentrierte er sich auf die Landschaft, durch die sie ritten, doch das, was sich seinem Blick darbot, taugte nicht wirklich dazu, seine Stimmung zu heben.

Je weiter sie nach Süden vordrangen, desto ungastlicher wurde es. Nach und nach wurden Bäume, Büsche und Sträucher weniger, um schließlich so gut wie ganz zu verschwinden; ausgedehnte Sumpfflächen breiteten sich vor ihnen aus, die man auf den ersten Blick leicht für gewöhnliche Steppe halten konnte. Bloß stiegen hin und wieder blubbernde Blasen Sumpfgas an die Oberfläche, und es stank nach Moder und Verwesung, als litte ein Ork unter Blähungen. Falk war sicher, dass einen der Sumpf, war man erst einmal in seinen morastigen Griff geraten, nie mehr losließ. Ihr Glück war, dass Jael den Weg offenbar kannte; sie ritt voran und führte sie.

Nur einmal wurde es einen Moment lang spannend, als Thor – er lief die ganze Zeit über neben Kjell her, der sich von dem Wolf nicht im Mindesten beeindruckt zeigte – plötzlich einige Schritte weiter ein Kaninchen davonflitzen sah. Der Wolf hetzte dem Kaninchen nach, das im Zickzack durch den Sumpf sprintete, doch Zara rief Thor mit einem knappen Pfiff zurück, und er blieb tatsächlich unverzüglich stehen, schaute dem davonhuschenden Kaninchen einen Moment lang wehmütig nach, dann trollte er sich und kam zu den Reitern zurück, um wieder seinen Platz an Zaras Seite einzunehmen. Wenn man die beiden so sah, hätte man meinen können, sie wären schon ewig gemeinsam unterwegs.

Gegen Mittag rasteten sie in einer moosüberwachsenen Ruine. Falk war fast geneigt, die Ruine als ehemalige Kirche anzusehen, wäre die Vorstellung, dass sich Anhänger der Ein-Gott-Religion in diese menschenfeindliche Einöde verirrten, nicht so abwegig gewesen. Obwohl sie sich ihre Vorräte von Anfang an gut eingeteilt hatten, ging ihr Proviant allmählich zur Neige; sie hatten kaum noch Brot, ihre Vorräte an Käse und Schinken waren beinahe aufgebraucht, und die letzten Reste Pökelfleisch hatte sich Zara heute früh mit Thor geteilt. Wenn sie das, was noch in ihrem Proviantbeutel war, streng rationierten, würde es vielleicht noch für zwei Tage reichen, keinesfalls länger. Danach wären sie gezwungen, sich ihre Nahrung selbst zu beschaffen, was wahrscheinlich nicht ganz einfach werden würde; das Kaninchen, das Thor aufgescheucht hatte, war seit drei Tagen das einzige Tier gewesen, das sie zu Gesicht bekommen hatten mal abgesehen von den Monsterspinnen.

Gleichwohl, es gab noch anderes Leben in den Sümpfen – oder zumindest hatte es solches gegeben. Denn die Gefährten stießen, je näher sie dem Ripergebirge kamen, immer häufiger auf die skelettierten Überreste von Kreaturen, deren blanke Knochen bereits so absonderlich waren, dass Falk sich nicht vorzustellen wagte, wie diese Viecher wohl ausgesehen hatten, als sie noch atmeten. Einige schienen groß wie Elefanten zu sein, andere wiederum klein wie Katzen.

Außerdem fanden sie schuppige Häute, groß wie Zelte, wie von riesigen Schlangen, die ihr altes Schuppenkleid abgestreift hatten – bloß dass es in ganz Ancaria keine so gigantischen Schlangen gab. Vermutlich handelte es sich um die Überreste weiterer magischer „Experimente“, und der Gedanke daran, dass vielleicht noch irgendwelche lebenden Exemplare dieser abnormen Spezies auf der Suche nach Beute durch den Sumpf streiften, bereitete Falk Unbehagen. So hielt er angestrengt die Augen offen, während sie sich allmählich weiter nach Süden bewegten, immer auf das düstere Gebirge zu, das zugleich den letzten und den schwierigsten Teil ihrer Reise darstellte.

Die steilen Gipfel des lang gestreckten, zerklüfteten Gebirgszugs, der sich jenseits des Sumpfes von einem Ende der Welt zum anderen zu erstrecken schien, waren schneebedeckt und wolkenverhangen, und aus der Ferne fiel es schwer, sich vorzustellen, dass es ihnen jemals gelingen würde, auf die andere Seite zu gelangen. Doch Falk zwang sich, positiv zu denken, roch an seinem Halstuch, und auch, wenn der Stoff mittlerweile mehr nach seinem eigenen Schweiß als nach Elas Parfüm duftete, reichte es, um etwas Licht in seine düsteren Gedanken zu bringen.

Er durfte nicht verzagen. Wenn Jael und Zara mit ihrer Vermutung Recht hatten, dass in Sternental etwas Schreckliches vor sich ging, das auf ganz Ancaria übergreifen konnte, mussten sie ihre Mission erfüllen, denn hier stand mehr auf dem Spiel als ihr eigenes Schicksal.

Wie viel mehr, das wusste nur Jael allein, doch die Seraphim behielt ihr Wissen für sich und tat so, als wüsste sie nicht mehr über all das als Zara und Falk auch. Doch sie war keine besonders gute Lügnerin; die Empörung, mit der sie auf die Behauptung reagiert hatte, mehr über diese Angelegenheit zu wissen, als sie preisgab, war zu heftig gewesen, um echt zu sein. Falk jedenfalls war überzeugt davon, dass sie etwas vor ihnen verbarg.

Sie waren heute auf Grund der Nachwirkungen der Spinnenattacke erst recht spät aufgebrochen, und die Dunkelheit schien schneller hereinzubrechen, je näher sie Sternental kamen. So waren sie noch keine sechs Stunden unterwegs, als die Nacht bereits wieder nach dem Land griff, und bald konnte Falk kaum mehr die Hand vor Augen sehen. Doch als er vorschlug, sich irgendwo ein trockenes Plätzchen zu suchen und am nächsten Morgen weiterzureisen, entgegnete Zara nur: „Wir müssen weiter!“

Das war alles, was sie dazu zu sagen hatte, und Jael pflichtete ihr nickend bei. Die beiden hatten ja auch gut reden – sie konnten im Dunkeln sehen wie am Tage und liefen kaum Gefahr, vom rechten Weg abzukommen. Falk hingegen war nur ein Mensch, dem die klirrende Kälte und die Strapazen der Reise einiges abverlangten. Doch wie so häufig fügte er sich in sein Schicksal, machte seinem Unmut brummelnd Luft, wohl wissend, dass sich seine beiden Begleiterinnen davon nicht beeindrucken ließen. Er hoffte nur, dass sein Pferd wusste, wo es lang gehen musste.

Als sie schließlich auf einer Lichtung inmitten des braunen Flickenteppichs des Nimmermehrsumpfs ihr Lager aufschlugen, war es beinahe Mitternacht. Die dunklen Wolkenberge am Firmament verbargen den Mond, und nur die Irrlichter schwebten hin und wieder geistergleich durch den Nebel. Sie sattelten ab, legten ihre Decken aus, und im Schein des kleinen Lagerfeuers, das in der ebenen Sumpflandschaft meilenweit zu sehen war, nahmen sie eine karge Mahlzeit ein. Keiner von ihnen sprach viel, jeder hing seinen Gedanken nach, und so unterschiedlich die Gefährten auch waren, stellten sie sich im Stillen alle dieselbe Frage:

Was erwartete sie in Sternental?

Schließlich schlief Falk ein – und träumte, er würde durch ein Labyrinth stockfinsterer enger Tunnel gehetzt, verfolgt von einer dunklen Gestalt in einem roten Kapuzenmantel, die ihm ohne Hast durch die verwinkelten Korridore folgte, so als wäre sie sich sicher, dass Falk ihr nicht entkommen konnte. Falk wusste nicht, wer die Gestalt war oder was sie von ihm wollte, doch er spürte instinktiv, dass sie böse war, dass sie ihm wehtun wollte. Deshalb lief er immer weiter durch den düsteren Wirrwarr der Tunnel, von denen einer genauso aussah wie der andere.

Hin und wieder gelangte er an eine Kreuzung und schlug wahllos eine andere Richtung ein, doch so schnell und so weit er auch lief, immer wenn er den Kopf drehte, sah er die Kapuzengestalt hinter sich, ihm mit bedächtigen Schritten folgend und nie zurückzufallend, obwohl Falk so schnell lief, wie er nur konnte.

Ja, mehr noch, nach einer Weile schien es, als würde die Gestalt im roten Kapuzenmantel allmählich zu ihm aufschließen, und so sehr sich Falk auch mühte, er konnte ihr nicht entkommen.

Schließlich spürte er den kalten, stinkenden Atem des Fremden im Nacken, wie ein Hauch aus einer Gruft, und dann legte sich eine bleiche Hand mit dünnen Spinnenbeinfingern und langen gelben Nägeln auf seine Schulter, und die Gestalt beugte sich vor und raunte ihm mit Grabesstimme ins Ohr: „Wir kennen uns, Freund ... Wir kennen uns ...“

Da erwachte Falk mit einem heiseren Keuchen, richtete sich schweißgebadet auf und starrte in die Finsternis, halb in der bangen Erwartung, die Kapuzengestalt zu erblicken, doch da war nichts. Bloß trostloser blubbernder Sumpf, durch den geisterhafte Prozessionen von Irrwischen schwebten wie Geister auf dem Weg in die Anderwelt.

Falk zwang sich zur Ruhe und schaute sich nach den anderen um, die sich im schwächer werdenden Schein des Feuers als dunkle Hügel unter ihren Decken abzeichneten und sich nicht regten; einzig Thor, der halb eingerollt auf einer von Zaras Decken lag, musterte den jungen Mann mit wachsamem Blick.

Falk fuhr sich mit der Hand über das schweißnasse Gesicht, ließ sich mit einem leisen Seufzen auf sein Lager zurückfallen und schaute zum düsteren Firmament empor, doch der Anblick der schwarzen Leere über ihm stimmte ihn nur noch unruhiger, und so drehte er sich schließlich auf die Seite, starrte in die tanzenden Flammen des Lagerfeuers und wartete darauf, dass sein Herz aufhörte, wie verrückt gegen seine Rippen zu hämmern.

Wir kennen uns, Freund ... Wir kennen uns ..., hörte Falk schaudernd die unheimliche Stimme der Traumgestalt.

Es dauerte lange, bis er wieder einschlafen konnte.

Am Nachmittag des nächsten Tages – der vage Schemen der Sonne hinter den Wolken sank bereits wieder dem Horizont entgegen – erreichten sie die ersten Ausläufer des Ripergebirges, das seine Felsarme weit in die Sümpfe ausstreckte. Bereits aus der Entfernung wirkte das Gefälle des Höhenzugs, der als natürliche Grenze zwischen den Dunklen Gebieten und der Magier-Enklave diente, ehrfurchtgebietend. Doch als die Gefährten Stunden später, als die Schatten schon wieder länger wurden, endlich am Fuß des Gebirgsmassivs standen und Falk den Kopf so weit in den Nacken legen musste, dass er beinahe hintenüber fiel, um den Kamm auch nur zu erahnen, wurde aus Ehrfurcht nackter Unglauben. Bis hoch zum schneebedeckten Kamm des Berges mochten es gut und gern dreitausend Meter sein, und der einzige Weg, der nach oben führte, war ein schmaler Pfad aus losem Schotter, der sich in langen, steilen Schleifen den Hang hinaufwand, immer am Abgrund entlang.

„Bei allen Göttern“, raunte Falk entgeistert. „Da müssen wir rauf?“

Jael nickte. „Das ist der einzige Weg zur Enklave.“ Falk seufzte resigniert. „Das macht die Sache auch nicht besser...“

Wieder ließ er den Blick entgeistert an der steilen, schartigen Felswand emporschweifen, und allein die Vorstellung, dort hochzusteigen, ließ ihn bereits schwindeln. Wohl zum tausendsten Mal in den letzten Tagen fragte er sich, wie er sich nur auf diesen Irrsinn hatte einlassen können. Natürlich, er hätte umkehren und allein nach Moorbruch zurückreiten können, aber das wäre ihm wie ein Verrat vorgekommen. Und so behielt er seine Zweifel tapfer für sich, während sie im Schatten der Felswand ihr Nachtlager aufschlugen, um sich auszuruhen und Kraft für den Aufstieg zu schöpfen. Sie brachen auf, sobald sich am nächsten Morgen die ersten grauen Schatten des neuen Tages zeigten. Das erste Stück des Pfads war noch leicht zu bewältigen, doch nach einer halben Stunde wurde der Weg zunehmend steiler und steiniger; immer mehr Geröll erschwerte das Vorankommen auf dem ansteigenden Pfad, und je höher sie kamen, desto schmaler wurde er.

Anfangs konnten sie zu zweit nebeneinander hertraben, dann fand bloß noch eines der Pferde auf der Breite des Weges Platz, mit der Folge, dass man stets mit einem Fuß über dem Abgrund schwebte, der rechts von ihnen nahezu senkrecht in die Tiefe stürzte, während linkerhand nackter Fels aufragte. Es gab nur eine Richtung, in die man sich bewegen konnte: vorwärts, immer den Pfad entlang, der nach einer Weile so steil wurde, dass sie absteigen mussten, um den Pferden den Aufstieg zu erleichtern.

Ihre Tiere an den Zügeln führend, marschierten sie hintereinander her im Gänsemarsch die Flanke des Berges hinauf, Thor vorneweg, dann Zara, danach Falk und zuletzt Jael, die ihren Kapuzenmantel eng um sich geschlungen hatte und unter der eisigen Kälte, so schien es, nicht minder litt als Falk. Manchmal blies ihnen der Wind direkt ins Gesicht, dass die Haut ganz taub wurde, und jedes Mal, wenn Falk die Nase rümpfte oder seine Gesichtsmuskeln bewegte, spürte er einen gewissen Widerstand, als läge eine hauchdünne Eisschicht auf seinen Zügen.

Je höher sie gelangten, desto mehr stach ihnen die Kälte mit winzigen Messern selbst durch die dicksten Mäntel. Fast hatte Falk den Eindruck, als würde die Kälte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen. Nur Zara schien sie nichts auszumachen. Die Kapuze im Nacken, den Kopf ungeschützt, dass ihr langes schwarzes Haar wild im Wind wehte, stapfte sie unermüdlich vorwärts. Und Thor trottete gemächlich neben ihr her, das dichte grauschwarze Fell voll von kleinen Eisklumpen.

Keiner von ihnen sprach viel; jeder hatte genug damit zu schaffen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, die Steigung zu erklimmen und nicht auf all dem losen Geröll auszurutschen oder umzuknicken, denn der gähnende Abgrund war stets nur einen Fehltritt entfernt; eine unbedarfte Bewegung genügte, und es ging tausend Meter in die Tiefe!

Langsam, Meter um Meter, schob sich die kleine Karawane den Berg hinauf, und als ob der Wettergott oder das Schicksal – oder wer auch immer – sie an ihre Grenzen fuhren wollte, begann es gegen Nachmittag zu schneien. Dicke weiße Flocken rieselten hernieder, erst wenige, dann immer mehr, bis der Schneefall wie ein dichter weißer Vorhang war, durch den sie sich mühsam vorarbeiteten.

Die Sicht wurde immer schlechter, sie konnten nur noch erahnen, was sich vor ihnen befand. Als dann auch noch der Wind schärfer wurde und über den Berg strich, um ihnen den Schnee in eisigen Böen entgegenzublasen, dachte Falk, schlimmer könne es nicht mehr werden. Doch es dauerte nicht lange, bis er zu seinem Leidwesen erkennen musste, dass er sich in dieser Hinsicht irrte.

Es wurde noch schlimmer – viel schlimmer ...

Die erste Nacht verbrachten sie relativ geschützt vor den Elementen in einer kleinen, vielleicht drei Meter in den Berg fuhrenden Felsnische, deren ebenmäßige Wände darauf hindeuteten, dass sie von Menschenhand in den Fels getrieben worden war, wahrscheinlich um Wanderern auf dem Weg zur anderen Seite des Gebirges Schutz und sichere Rast zu gewähren. Falk freute sich darauf, sich die Hände am Feuer zu wärmen, doch auf dem kahlen Bergpfad wuchs nichts, das man als Brennmaterial hätte verwenden können, und da auch keiner von ihnen daran gedacht hatte, in den Sümpfen einen Vorrat an Feuerholz zu sammeln und diesen mitzunehmen, verbrachten sie diese Nacht im kalter Dunkelheit, da alles, was sie an potentiellem Brennmaterial bei sich hatten, das Heu für ihre Pferde war.

Das brachte Zara auf eine Idee: Am nächsten Tag fingen sie an, die heuhaltigen Pferdeäpfel ihrer Gäule einzusammeln, um sie allabendlich als Brennmaterial zu benutzen. Wider Erwarten stank der brennende Dung nicht halb so schlimm, wie Falk befürchtet hatte.

Doch dann verkündete Jael mit unbewegter Miene, dass ihr Proviant aufgebraucht war. Nur ein letzter faustgroßer Brocken Schinken war noch übrig, den Jael mit ihrem Messer – nach einem Blick auf Thor, der neben Zara auf dem Boden lag und jede ihrer Bewegungen mit wachen Augen verfolgte – in vier gleich große Stücke aufteilte; niemand protestierte.

Während Falk im flackernden Schein des Feuers bis zum Kinn in seine Decken gehüllt dasaß und lustlos auf seinem Schinken herumkaute, schlang der Wolf seinen Anteil mit einem einzigen Haps hinunter, leckte sich einmal übers Maul und sah die anderen mit seinen golden schimmernden Tigeraugen neugierig an, fast so, als wollte er fragen, ob das schon alles gewesen sein sollte. Doch es war alles, und es sah beim besten Willen nicht danach aus, als würde er so rasch wieder die Gelegenheit haben, sich den Wanst voll zu schlagen.

Auch wenn sie es nicht laut aussprachen, waren Zara und Falk doch längst zu dem Schluss gelangt, dass bei Jaels Prognose, den Berg in drei Tagen hinter sich zu bringen, wohl eher der Wunsch Vater des Gedankens war. Einen kleinen Trost gab es immerhin: Hin und wieder quoll Bergwasser, eiskalt und kristallklar, aus zerklüfteten Spalten im Fels, sodass sie regelmäßig ihre Wasserflaschen auffüllen und die Pferde tränken konnten. Das war vielleicht nicht viel, aber immer noch besser als nichts.

Der dritte Tag kam und ging wie der zweite und der erste, abgesehen davon, dass Falks Magen vor Hunger so laut knurrte, dass Thor misstrauisch die Ohren spitzte. Sobald es hell genug war, dass sie den Weg vor sich erahnen konnten, brachen sie ihr Lager ab und setzten ihre strapaziöse Reise den Berg hinauf fort, immer einer hinter dem anderen gehend, schweigend, nachdenklich, ganz auf den Rücken des Vormanns und auf den Schotterpfad vor den eigenen Füßen konzentriert. Hin und wieder schneite es, und an manchen Stellen lag der Schnee so hoch, dass sie bis zu den Knien einsanken. Doch normalerweise blies der Wind den Schnee sofort von dannen, sobald er sich setzen wollte, sodass meist nur eine dünne weiße Pulverschicht den Schotter des Pfads bedeckte, und schließlich fing Falk an, den Alten Göttern sogar für diese kleine Gefälligkeit zu danken.

Hin und wieder warf er einen Blick in den Abgrund neben seinen Füßen. Obgleich die Welt unter ihnen längst zu einer Miniaturlandschaft geworden war, die sich als weißbrauner Flickenteppich bis zum Horizont erstreckte, schienen sie dem Gebirgskamm nicht nennenswert näher zu kommen, so sehr sie sich auch abplagten. Falk gab sich alle Mühe, seinen düsteren Gedanken nicht nachzugeben, trotzdem begann er irgendwann, den Mut zu verlieren, und je größer das Loch in seinem Bauch wurde, desto häufiger stellte er sich im Stillen die Frage, wie er jemals so dämlich hatte sein können, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Wenn er ehrlich gegenüber sich selbst war, musste er zugeben, dass der wahre Grund für seine Entscheidung alles andere als ehrenhaft war.

Es war das Verlangen nach Anerkennung.

Er wollte ein Held sein. So wie Zara und Jael, die taten, was getan werden musste. Ohne Furcht, ohne Zögern, geradlinig und unerschrocken. Er wollte, dass die Menschen zu ihm aufsahen und respektvoll seinen Namen nannten. Er wollte den feigen, rückgratlosen Lügner und Falschspieler, der er war, ein für alle Mal hinter sich lassen und als neuer, besserer Mann ein neues, besseres Leben beginnen.

Doch auch, wenn ein Spatz seine Flügel ausbreitet und sich wünscht, ein Adler zu sein, bleibt er am Ende doch nur ein Spatz.

Widerwillig kam Falk zu dem Schluss, dass er einen Fehler gemacht hatte.

Er hatte hier nichts verloren – er sollte überhaupt nicht hier sein!

Und dann, gegen Abend des vierten Tages, wollte der Berg seinen Tribut...

Die Sonne versank als majestätischer Feuerball, und die Dunkelheit fiel über das Land, als sie eine Stelle erreichten, an der der Pfad so schmal wurde, dass sich die Pferde zunächst scheuten, weiterzugehen. Schließlich aber gab Kjell Zaras Drängen nach und folgte seiner Herrin zögernd den Sims entlang, immer behutsam einen Huf vor den anderen setzend. Nun trauten sich auch die anderen Tiere weiter, von Falk und Jael an den Zügeln geführt. Es ging weiter – wenn auch nur für kurze Zeit, denn plötzlich blieb Zara vorn am Kopf der kleinen Karawane stehen und wandte sich mit besorgter Miene zu Falk um.

„Runter!“, zischte sie.

Falk verstand nicht. „Wie – runter? Sollen wir den ganzen Weg etwa wieder nach unten steigen?“ Dieser Gedanke kam ihm in höchstem Maße absurd vor, so weit wie sie bereits gekommen waren, auch wenn er selbst in den letzten Stunden schon mehr als einmal daran gedacht hatte, genau dies zu tun. Aber das behielt er für sich. „Also, ehrlich, ich ...“

Weiter kam er nicht, denn unvermittelt erfüllte ein vielstimmiges hohes Kreischen die Luft. Es klang wie der Schrei aus unzähligen Kehlen, und dann schoss direkt über Falks Kopf ein Schwarm Fledermäuse aus einer Spalte im Fels; vielleicht hatte ihre Gegenwart sie aufgeschreckt, womöglich war es aber auch bloß an der Zeit, auf Beutejagd zu gehen.

Wie auch immer, auf einmal wimmelte es überall um ihn her vor kleinen fellbedeckten Leibern, und Dutzende ledriger Schwingen schlugen um ihn herum, als ihn die Fledermäuse einhüllten wie ein lebender Mantel. Das schrille Kreischen der Tiere in den Ohren, ließ Falk die Zügel seines Pferdes los und begann instinktiv, nach den Fledermäusen zu schlagen, die eigentlich gar kein Interesse an ihm hatten, doch sein Schlagen und Zappeln ließ sie wütend werden, und plötzlich spürte Falk, wie sich unzählige kleine Zähne und Krallen durch den Stoff seiner Kleidung bohrten. Dutzende winzige scharfe Klauen hieben nach seinem Gesicht.

Er hüpfte hysterisch auf dem schmalen Felsvorsprung herum, ohne darauf zu achten, wie nah er dabei dem Abgrund kam. Die schwirrende Wolke aus Fledermäusen folgte ihm bei jedem Schritt – und plötzlich trat sein linker Fuß ins Leere!

Falk stieß ein überraschtes Keuchen aus. Schlagartig waren die Fledermäuse vergessen. Er ruderte mit den Armen und kämpfte verzweifelt um sein Gleichgewicht, doch der Tritt ins Leere ließ ihn kippen, über den Rand des Felsvorsprungs, und plötzlich hing er halb über dem gähnenden Abgrund. Irgendwo weiter unten – viel weiter unten – sah er den Flickenteppich des Nimmermehrsumpfs, und noch während er sich panisch fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis er unten aufschlug, verlor er vollends die Balance, rutschte vom Sims ab – und griff panisch um sich, in dem hilflosen Versuch, irgendetwas zu erwischen, woran er sich festhalten konnte ...

„Falk!“, rief Jael erschrocken, doch weder sie noch Zara waren im Stande, ihren Gefährten so schnell zu erreichen, wie es nötig gewesen wäre, um ihn zu retten; der Sims war einfach zu schmal, und zwischen ihnen und Falk befand sich jeweils eines der Pferde.

Doch dann ertastete er zwischen den Fingern seiner rechten Hand die Zügel seines Gauls, packte hastig zu und spürte, wie sie sich mit einem harten Ruck spannten. Er blinzelte hastig, als er realisierte, dass er gut dreitausend Meter über dem Abgrund baumelte und sein Leben statt an einem seidenen Faden an einem dünnen Lederriemen hing.

Mühsam gegen seine Panik ankämpfend, hob er den Kopf und sah, dass sich sein Pferd verzweifelt gegen das Gewicht stemmte, das es von dem Felssims in die Tiefe zu reißen drohte.

Der Kopf des Tieres hing, gebeugt durch Falks Gewicht, halb über dem Abgrund. Die Stute stieß ein kurzes, scharfes Wiehern aus, die Hufe gegen den Boden gestemmt, und starrte mit ihren schwarzen Augen panisch in die Tiefe. Bloß Zentimeter trennten sie beide vom sicheren Tod.

„Falk!“, hörte er Zaras Stimme. „Beweg dich nicht!“

Das war leichter gesagt als getan. Das Gefühl, keinen Boden unter den Füßen zu haben, und das Wissen, dass da tatsächlich keiner war, erfüllten Falk mit einer Todesangst, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte. Es war, als läge ein eisernes Band um seine Brust, dass er kaum noch atmen konnte. Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben, sich nicht zu bewegen, während er sich jetzt mit beiden Händen am Zügel festhielt und ängstlich nach oben schielte, wo sein Gaul um ihr beider Leben kämpfte. Inzwischen hatte Zara sich an Kjell vorbei zu der Stute vorgearbeitet und legte dem Tier beruhigend eine Hand auf den Hals.

„Ruhig, meine Gute“, sagte sie mit sanfter Stimme, streichelte die Mähne des Pferdes und griff mit der freien Hand nach dem straff gespannten Zügel. „Ruhig ... Nur ruhig ... Gutes Mädchen. Ja, gutes Mädchen ...“ Langsam, scheinbar ohne jede Hast, packte sie die Zügel und begann mit einer Hand zu ziehen, während das Pferd unwillkürlich vom Abgrund zurückwich. Zara blieb, wo sie war, packte jetzt mit beiden Händen zu und zog den vor Angst wie gelähmten Falk langsam, ganz langsam nach oben.

Falks panischer Blick glitt zwischen der Vampirin und dem kaum fingerdicken Lederriemen hin und her, an dem sein Leben hing. Das brüchige Rindsleder war zum Zerreißen gespannt, doch es gelang Zara, Falk am Arm zu packen, und einen Moment später saß er zitternd und keuchend auf dem Felssims, die Füße eng an sich gezogen, und er versuchte benommen, seiner Panik Herr zu werden, die nur allmählich von ihm abfiel.

Seine Finger begannen unangenehm zu kribbeln, als das abgeschnürte Blut darin wieder normal zu zirkulieren begann, und als Falk schließlich wieder soweit zu Atem gekommen war, dass er sprechen konnte, stieß er mit tränenerstrickter Stimme hervor: „Ich kann nicht mehr. Für mich ist diese Reise zu Ende. Geht ohne mich weiter.“

„Warum habe ich dich dann gerettet?“, wollte Zara wissen.

Falk runzelte die Stirn; er verstand die Frage nicht. „Na, damit ich nicht runterstürze und sterbe?“, erwiderte er unsicher. Es klang eher wie eine Frage als wie eine Antwort.

„Sterben wirst du aber“, sagte Zara knapp. „Wenn du hier bleibst.“

„Aber ich kann nicht mehr!“, stöhnte Falk und ließ den Kopf hängen, als hätte ihn alle Kraft verlassen. „Ich ... ich bin am Ende. Meine Glieder sind steif gefroren, mein Magen ist vor Hunger zusammengekrampft, und ... und ... ich kann einfach nicht mehr. Ich kann keinen Schritt mehr gehen. Geht nur allein weiter. Lasst mich hier.“ Er ließ den Blick über die Welt tief unter ihnen schweifen. „Bis ich tot bin, kann ich wenigstens die Aussicht genießen ...“

Zara starrte ihn einen Moment lang missmutig an, als

wollte sie ergründen, wie ernst es ihm damit war, doch selbst in seinen eigenen Ohren hatten seine Worte mehr trotzig als entschlossen geklungen. „Jetzt stell dich nicht an wie ein Mädchen!“, blaffte die Vampirin ihn an. Für einen Moment glaubte Falk, nicht Zorn und Unmut, sondern etwas wie Sorge aus ihren Worten herauszuhören. „Bist du ein Mann oder nicht?“

„Verdammt!“, schrie er sie auf einmal an. „Ja, ja, ich bin ein Mann! Ein Mann – na und? Ich bin ein Mann, und trotzdem bin ich schwach! Denn ich bin nur ein Mensch, Zara! Ein einfacher Mensch – keine Vampirin, keine Seraphim, kein Ork und auch kein Zwerg, der sich in solchen Gebirgen wohlfühlen mag! Nur ein schwacher Mensch! Warum muss ich mir selbst und anderen ständig beweisen, dass ich mehr bin? Dass ich ein Mann bin? Warum?“

Er starrte sie an, und sie musterte ihn. Einen Moment schwiegen beide, dann ergriff Zara wieder das Wort, aber sie sprach mit ruhiger, milder Stimme. „Ich sag dir was, Falk. Du musst niemandem mehr etwas beweisen. Das hast du nämlich bereits hinlänglich getan.“

Falk sah sie fragend an.

„Ich hätte nie gedacht, dass du so lange durchhältst“, erklärte sie. „Um ehrlich zu sein, als wir in Moorbruch aufbrachen, gab ich dir nicht mehr als drei Tage.“

Zwei Tage, hast du gesagt“, warf Jael ein. „Höchstens.“

Trotz seiner Verzweiflung musste Falk grinsen.

„Wie auch immer“, fuhr Zara fort. „Du hast bereits gezeigt, was in dir steckt – und das ist mehr als in den meisten. Aber“, sagte sie mit theatralisch erhobenem Zeigefinger, „wenn du jetzt aufgibst, zeigt das zwar, dass du ein zäher Bursche bist, aber auch ein elender Narr, und im Zweifelsfall wird man sich eher an den Narren erinnern als an den zähen Burschen.“ Sie schüttelte entschieden den Kopf, auch das übertrieben. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es das ist, was du willst. Und jetzt komm endlich! Nur noch einen Tag, dann haben wir’s geschafft!“ Sie hielt ihm die Hand hin, um ihm auf die Beine zu helfen.

Falk sah erst Zara und dann ihre Hand an, und obwohl er das ungute Gefühl hatte, dass er seine Entscheidung noch bereuen würde, griff er zu, ließ sich von Zara auf die Beine ziehen, klopfte sich den Schmutz von den Hosen und brummte großmütig, so als würde er ihnen einen Gefallen tun, dass er nicht hier hocken blieb und starb: „Also, gut. Noch einen Tag – und keine Minute länger!“

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