Epilog

Es war ein seltsames Gefühl, als die kleine Ortschaft Moorbruch vor ihnen auftauchte. Zwar waren sie erst vor gut zwei Wochen von hier zu ihrer Reise aufgebrochen, doch es schien Falk, als wären seither Jahre vergangen.

Doch es war nicht so sehr der Ort, der sich verändert hatte – tatsächlich hatte er dies schon, denn die mörderische Bedrohung durch die Blutbestien lastete nicht mehr über Moorbruch und seinen Einwohnern –, sondern er selbst. Er war nicht mehr der unreife Junge, als der er sich von Ela verabschiedet hatte, beseelt von dem Gedanken, ein Held zu werden wie Zara und Jael. Damals war ihm nicht klar gewesen, worauf er sich einließ, und auch jetzt noch erschien ihm so vieles von dem, was er seither erlebt hatte, so unwirklich, als wären es Geschichten, die ihm jemand über jemand anderen erzählt hatte. Plötzlich erschien es ihm unvorstellbar, dass er derjenige gewesen war, der einer Monsterspinne und ihrer Brut ausgeliefert gewesen war; dass er gegen Horden lebender Leichen gekämpft und ein magisches Portal geöffnet hatte; dass er seinen Teil dazu beigetragen hatte, das Ende der Welt zu verhindern.

Vielleicht lag es daran, dass er während all der Geschehnisse nie wirklich Zeit und Gelegenheit gehabt hatte, sich über diese Begebenheiten klar zu werden, weil er sich in Gedanken stets mit irgendwelchen anderen, unwichtigen Dingen beschäftigt hatte. Doch in den letzten Tagen, seit sie Drakenschanze verlassen und sich auf den Rückweg gemacht hatten, hatte er viel Zeit gehabt, über alles nachzudenken, sich gewahr zu werden, was sie tatsächlich geleistet hatten. Vermutlich würde ihnen dafür niemals jemand danken, geschweige denn die Opfer anerkennen, die sie gebracht hatten, ja, nicht einmal wissen, wie nah ganz Ancaria dem Ende gewesen war.

Doch Falk waren Anerkennung und Ruhm nicht mehr wichtig – oder zumindest nicht die aller Menschen, nur derer, die er liebte und ins Herz geschlossen hatte. Er wollte keinen Dank, er hatte getan, was getan werden musste, und auch, wenn es nicht immer leicht gewesen war, hatte er es gern getan.

Es ging hier nicht um Ruhm und Ehre.

Es ging um Wahrhaftigkeit, Tapferkeit und Tugend.

Falk hätte nie geglaubt, dass er auch nur eine dieser Eigenschaften besaß, und auch jetzt war er davon nicht restlos überzeugt. Doch zumindest wusste er jetzt, dass diese Dinge mehr waren als nur Worte.

Wahrhaftigkeit, dachte Falk, als sie im ersten Licht des neuen Tages schweigend zwischen den Häusern von Moorbruch entlangritten, und dabei sah er Jael vor sich, diese große Kriegerin des Himmels, diese unvergleichliche Hüterin des Lichts, die ihr Leben für Menschen gegeben hatte, die den Glauben an die Seraphim und all die Ideale, für die sie standen, schon vor langer Zeit verloren hatten.

Jael...

Im Geiste sah er sie vor sich, diese stolze Frau, die so göttlich und doch so ungleich menschlich gewesen war. Die Seraphim hatte das größte Opfer gebracht, das man überhaupt nur bringen konnte, und der Gedanke daran sorgte dafür, dass sich in Falks Kehle ein Kloß bildete und ihm die Tränen in die Augen stiegen. Mit einem Mal wurde sein Herz ganz schwer, und der Gedanke daran, dass sie nicht mehr war, raubte ihm fast den Atem.

Doch das Leben ging einfach weiter, als wäre nichts geschehen; die Menschen lebten ihr Leben und taten, was sie immer taten. Die Welt stand nicht still, weil eine Seraphim gestorben war. Irgendwie kam es Falk wie eine Schändung ihres Angedenkens vor. Jeder sollte wissen, was Jael getan hatte. Jeder sollte ihren Namen kennen; Minnesänger sollten Lieder über sie singen, und Mütter und Großmütter sollten ihren Kindern und Enkeln vor dem Einschlafen von Jaels Mut und ihrer Tapferkeit erzählen.

Falk seufzte traurig. Er würde sie nie vergessen, bis ans Ende aller Tage nicht. Und wer konnte es schon so genau wissen – vielleicht trafen sie sich ja wieder, in einer anderen Welt, in der sie ihre Schwingen noch besaß und so wunderschön und strahlend daherkam wie der Engel, der sie gewesen war. Vielleicht wartete sie schon auf hin, dort, wo immer sie jetzt war, und er hatte irgendwann die Chance, ihr für all das zu danken, was sie für ihn getan hatte, konnte ihr sagen, dass es ihm eine Ehre gewesen war, mit ihr reiten zu dürfen.

Aber da war noch eine Person, an die er denken musste. An Zara. Schon seltsam, wie das Leben manchmal spielte. Wer hätte je gedacht, dass ihm ausgerechnet eine Vampirin, eine Untote, ein Kind der Nacht den Sinn des Lebens zeigen würde? Oder dass eine Vampirin all ihr Sein in den Dienst des Lebens stellte, das sie eigentlich vernichten sollte? Oder dass eine Seraphim und eine Vampirin – unterschiedlich wie Tag und Nacht – gemeinsam für die Menschen von Ancaria kämpften? Wenn eine Vampirin, dazu verdammt, das Blut der Lebenden zu trinken, den Wert des Lebens schätzen lernen konnte, war für die Menschen wirklich nicht alle Hoffnung verloren.

Es war früher Morgen, und keiner der Bewohner Moorbruchs befand sich bereits auf den Straßen. Als sie aber schließlich den Hof Jahns erreichten und ihre Pferde vor dem Haus des jungen Bauern anbanden, da öffnete sich die Tür des kleinen windschiefen Hauses, und Jahn kam ins Freie, leicht humpelnd, noch immer gezeichnet vom Kampf gegen die Blutbestie, die ihm einen Arm abgerissen hatte.

„Zara!“, rief er. „Falk!“ Er begrüßte die beiden Freunde überschwänglich. Und doch spiegelte sich die Freude, die er zu empfinden vorgab, nicht in seinen Augen wider.

Es schien, als wäre er in der Zeit, die sie fort gewesen waren, um mehrere Jahrzehnte gealtert. Wenn Zara an den jungen Bauern zurückdachte, den sie in den Wäldern des Dunkelforsts vor einer Horde Strauchdiebe gerettet hatte, ein junges Leben, so voller Hoffnungen für die Zukunft, war es ihr, als habe sie einen anderen Menschen vor sich.

Jahn sah sie fragend an, und die Trauer, die selbst jetzt noch in seinen Augen war, brach Zara schier das Herz. Sie konnte nur hoffen, dass er sein Lächeln eines Tages wiederfand. Auch Wanja – seine geliebte Wanja, die er nicht hatte retten können und die die Bestie zerrissen hatte – hätte es sich gewünscht.

Doch Zara wusste aus eigener Erfahrung, dass es Wunden gab, die nie heilten, ganz gleich, wie viel Zeit verging; sie vernarbten vielleicht, doch von Zeit zu Zeit, wenn Regen im Anzug war oder man einfach nur im Flüstern des Windes die Stimme des toten Geliebten zu hören oder sein wohlbekannten Gesicht in der Oberfläche eines Sees zu erblicken glaubte, schmerzten diese Wunden wieder, und manchmal kratzte man sie auch wieder auf, selbst wenn man wusste, dass das nur noch mehr Leid mit sich brachte.

Doch wenn dieses Leid notwendig war, um dem Vergessen zu widerstehen, war das ein Preis, den man durchaus zahlen konnte, so fand Zara.

„Es ist vollbracht“, sagte sie sanft. Mehr sprach sie nicht, und der junge Bauer fragte auch nicht nach, erwiderte nur schweigend ihren Blick, ehe er ihr mit unbewegter Miene zunickte. Dann führte er Falk und Zara ins Haus.

Einen Tag und eine Nacht lang blieb Zara in Moorbruch. Als dann der Morgen dämmerte, machte sie sich bereit zum Aufbruch.

Vom Rücken des Pferdes aus sah Zara Falk an, der zusammen mit dem einarmigen Jahn und dessen Schwester Ela vor dem Bauernhaus stand. „Und du bist dir ganz sicher, dass du nicht mitkommen willst? Keine neuen Abenteuer mehr? Keine Gefahren und Herausforderungen, die es zu bestehen gilt?“

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht und dennoch entschlossen schüttelte Falk den Kopf. „Nein“, sagte er und legte den Arm um Ela, die neben ihm stand. „Meine Reise ist hier zu Ende. Ich habe meinen Platz gefunden; ich wusste nicht, dass ich überhaupt nach diesem Platz gesucht habe, aber jetzt bin ich hier – und ich bin glücklich.“

Zara sah Falk einen Moment lang ausdruckslos an. Dann glitt ein kleines, feines Lächeln über ihr Gesicht, eines von diesen Lächeln, die Falk im Laufe der letzten Zeit so selten gesehen und doch so sehr zu schätzen gelernt hatte, weil Zara nicht so verschwenderisch damit umging wie andere Menschen. „Das ist gut“, sagte sie, und dann fügte sie ehrlichen Herzens hinzu: „Ich wünsche euch alles Glück dieser Erde. Mögen die Alten Götter stets ein wachsames Auge auf euch haben.“

Sie beugte sich vor, reichte Falk die Hand. Und auch Jahn reichte sie die Hand und sagte mit leiser Stimme zu ihm; „Die Erinnerung wird nie sterben. Der Schmerz wird auch immer da sein. Und trotzdem geht das Leben weiter – selbst das Leben einer Untoten, glaube mir. Man muss sich ihm stellen, dem Leben. Dem Schmerz, der Trauer, aber auch der Freude und dem Glück.“

„Nach Freude und Glück suche ich nicht mehr“, sagte er betrübt.

„Aber vielleicht“, entgegnete sie, „suchen Freude und Glück nach dir. Wenn sie dich finden, dann halte sie fest.“

Damit ließ sie seine Hand los, trieb ihr Pferd an und ließ es traben.

„Zara!“, rief Falk.

Die Vampirin brachte Kjell mit einem sanften Ruck am Zügel zum Stillstand und schaute sich fragend nach Falk um.

„Werden wir uns jemals wieder sehen?“, fragte er.

Zara zuckte mit den Schultern. „Wer weiß“, murmelte sie.

„So groß ist Ancaria nicht, und wenn nichts dazwischenkommt, werde ich wohl noch einige Zeit auf diesem Boden wandeln. Dabei kann alles Mögliche passieren.“

Falk lächelte. „Ja“, bestätigte er, „alles Mögliche …“

Sie sahen sich einen Moment lang an. Dann nickte Zara Falk zu und drückte Kjell die Hacken in die Flanken. Der Hengst ließ ein verhaltenes Wiehern hören und schoss vorwärts.

„Mach’s gut“, murmelte Falk, während Zara davonpreschte, den Hof verließ und durch das Spalier der Häuser auf den Ortsausgang von Moorbruch zustrebte, um über den verschneiten Hang hinauf in den Wald zu reiten, der so stumm und dunkel am Rande des Dorfes lag wie seit den Tagen der Alten Götter.

Unwillkürlich musste er an jenen Morgen im Dunkelforst zurückdenken, als er versucht hatte, Zara dazu zu überreden, ihn mitzunehmen, ihm zu gestatten, sie zu begleiten. Damals hatte er gesagt, es sei Karma gewesen, das sie beide zusammengeführt hatte, und auch, wenn er das damals nur so dahergeplappert hatte, damit sie ihn nicht wegschickte, so konnte er sich nun des Eindrucks nicht erwehren, dass er womöglich Recht damit gehabt hatte.

Es war Schicksal gewesen, das sie sich damals getroffen hatten.

Doch was sie daraus gemacht hatten, hatte ganz allein in ihren eigenen Händen gelegen. Genau wie nun alles Weitere in ihren Händen lag. Es liegt allein an einem selbst, was man aus seinem Leben macht; nicht am Karma, nicht an den Alten Göttern, nicht an der Magie. Nur an einem selbst. Jeder Mensch hat die Kraft in sich, alles zu erreichen, was er erreichen will, und diese Erkenntnis ließ Falk lächeln, denn als er den Arm um Ela legte und sie zärtlich an sich drückte, wusste er, dass er noch Einiges vor sich hatte, um zu dem Punkt zu gelangen, an dem er auf sein Leben zurückblicken und sagen konnte, dass es ein gutes Leben gewesen war.

Bis dahin waren noch viel Schweiß und Mühe nötig, doch Falk scheute nicht davor zurück, denn er wusste, dass er es schaffen konnte. Er konnte alles schaffen, was er sich vornahm, wenn er nur fest genug daran glaubte und arbeitete.

Das war vielleicht die mächtigste Magie von allen ...

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