V.

Die Tür des Gasthauses Zum räudigen Köter hing schief in den Angeln und kreischte wie eine gefolterte Katze, als Falk sie nach innen drückte. Lediglich drei Männer in weiten Mänteln und mit den obligatorischen langen Barten saßen an einem Ecktisch und beäugten die Neuankömmlinge voller Misstrauen. Zwischen den Männern lagen ein paar Kupfermünzen auf dem Tisch, in diagonalen und waagerechten Linien aneinander gereiht, doch das Spiel war vorübergehend vergessen.

Brutus, der Wirt – ein riesiger, massiger Kerl mit der Statur eines Orks und ebenso kahlem Schädel – stand hinter der Theke und wischte sich die Hände an seiner schmutzigen Schürze ab. Er schien die drei Gefährten misstrauisch zu beobachten, wie sie sich an einen der freien Tische setzten, so weit wie möglich weg von den drei Bärtigen in der Ecke. Irgendwie konnte Zara sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Brutus noch einiges mehr mit einem Ork gemein hatte als nur seine Statur und seinen Kahlkopf. Nach einem Zauberer sah er jedenfalls nicht aus, eher wie der Fehltritt eines Zauberers mit einer Orkin ...

Sie nahmen an einem runden Tisch am Fenster Platz. Zara setzte sich so hin, dass sie die Tür und die Gasse draußen im Auge behalten konnte – sicher war sicher –, während Falk bereits ungeduldig mit den Fingerkuppen auf der verschrammten Tischplatte zu trommeln begann und unruhig den Kopf hin und her drehte, als würde er sich fragen, wo zum Teufel der Wirt nur steckte. Doch Brutus war offenbar einer von der gemächlichen Art; er ließ sich Zeit, bevor er sich schließlich ächzend in Bewegung setzte, um die Theke herumkam und schwerfällig zu ihrem Tisch schaukelte. Er war so groß, dass sein Kanonenkugelschädel die Öllampe unter der Decke streifte und in leichte Schwingungen versetzte, doch er achtete nicht darauf – womöglich hatte er es nicht mal gemerkt –, blieb neben ihrem Tisch stehen und kratzte sich beiläufig im Schritt. Seine gewaltige Statur verdeckte die schwingende Lampe, und sein Schatten fiel auf die Gefährten wie der eines Riesen. Zara nahm den Geruch von altem Bratfett wahr und rümpfte die Nase.

„Wolltawasham?“, sagte Brutus mit unbewegtem Gesicht.

Jael sah ihn verständnislos von unten her an; sie musste fast den Kopf in den Nacken legen, um sein Gesicht zu erkennen, das groß und rund wie der Mond über ihr schien. „Wie bitte?“

„Wolltawasham?“, wiederholte Brutus nuschelnd, ein fast unverständliches Kauderwelsch von ineinander übergehenden Silben und Konsonanten, in der man nur mit Mühe einen Sinn erkennen konnte. Seine Lippen bewegten sich beim Sprechen kaum, und das war vermutlich auch besser so, denn als er es noch ein zweites Mal wiederholte, krampfhaft bemüht, etwas deutlicher zu sprechen, stellte Zara fest, dass von seinen Zähnen nur noch abgefaulte Stümpfe übrig waren, die wie dunkle, windschiefe Grabsteine in seinem Mund staken. „Wollt-ihr-was-ham?“, chargierte er mit übertriebenen Grimassen, so als wären sie schwer von Begriff.

Endlich verstand Jael. „Oh! Natürlich, natürlich! Bringt uns drei große Humpen von Eurem besten Met...“

Thor, der neben Zaras Stuhl auf dem Dielenboden lag, hob den Kopf von den Vorderpfoten und stieß ein missmutiges Grummeln aus, wie um die Seraphim darauf hinzuweisen, dass das so nicht stimmte.

„Vier Humpen von eurem besten Met“, korrigierte sich Jael, „einen davon in einem Trinknapf, und dazu für uns alle eine ordentliche Portion vom besten Mahl, das Eure Küche hergibt.“

Brutus grunzte: „Undasvieh?“

Zara runzelte die Stirn. „Wie meinen?“

„Dasvieh?“, sagte Brutus und deutete dabei mit seinem dicken, fleischigen Wurstfinger auf Thor. „Derhun.“

„Der Hund?“ Die Seraphim verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen, dass Thor alles andere als ein Hund war. Stattdessen sagte sie: „Fleisch. Jede Menge davon.“

Brutus nickte, machte kehrt und schaukelte zur Theke zurück, um sich um ihre Bestellung zu kümmern. Dabei zeigte sich erneut, dass er nicht unbedingt der Schnellste war. Es dauerte zehn Minuten, bis er ihre Biere gezapft hatte, und weitere fünf, um einen passenden Napf für Thor zu finden. Schließlich jedoch schlabberte der Wolf im Liegen seelenruhig sein Met aus dem Napf, während die Gefährten mit der ersten Runde gierig ihren Durst löschten, umgehend die zweite und – vorsorglich – auch gleich die dritte Runde in Auftrag gaben und die neugierigen Blicke der Männer am Ecktisch geflissentlich ignorierten.

Irgendwann verwandelte sich der Nieselregen draußen in richtigen Regen, und dicke Tropfen prasselten gegen das Glas der Butzenfenster. Doch in der Taverne war es warm und trocken, und das war ein Luxus, den man erst richtig zu schätzen wusste, wenn man zehn Tage lang mitten im Winter unter den ungünstigsten Umständen draußen im Freien gelagert hatte, wie Falk feststellte. Er jedenfalls war guter Dinge; nach den Tagen voller Entbehrungen reichte das eine Bier, das er bereits intus hatte, um ihn in eine angenehm entspannte Stimmung zu versetzen, und die Aussicht darauf, sich in kürze über einen dampfenden Teller voller Fleisch und Kartoffeln hermachen zu können, zauberte ein einfältiges Lächeln auf sein Gesicht. Alles, was ihm zur Glückseligkeit noch fehlte, waren ein weiches Federbett, zwanzig Stunden Schlaf und ein warmes Bad, um den ganzen Schmutz und Schweiß der letzten Tage loszuwerden. Wahrscheinlich roch er wie ein Glorb, doch da das bei seinen beiden Begleiterinnen kaum anders war, waren ihre Nasen wohl unempfindlich gegen die Dünste, die womöglich von ihm ausgingen. Nicht, dass es ihn irgendwie gekümmert hätte, wäre es anders gewesen ...

„Also“, sagte Zara kurz, nachdem Brutus die zweite Runde Honigbier vor sie hingestellt hatte und in die Küche entschwunden war, um sich um ihr Essen zu kümmern. „Haben die Wände hier auch Ohren, oder sagst du uns jetzt endlich, was die ganze Geheimniskrämerei bei Godrik sollte? Warum die Geschichte, dass Iliam Zak geflohen sei? Warum durfte Godrik nicht wissen, warum wir wirklich hier sind?“

„Weil diese Angelegenheit diplomatisches Vorgehen erfordert“, sagte Jael, hob ihren Krug, trank einen kräftigen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken ganz undamenhaft über den Mund. „Wenn Godrik wüsste, was ich weiß, bestünde die Gefahr, dass dieses Wissen Kreise zieht. Erst würde es sich hier in der Enklave herumsprechen, danach wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch der Rest des Königreichs davon erführe; Angst und Furcht würden sich in der Bevölkerung breit machen. Dies wiederum könnte unserem König nicht gefallen. Nein, diese Angelegenheit ist zu heikel, als dass man sie jemandem anvertrauen könnte, den das Ausüben der Verbotenen Künste auf ewig ins Exil verbannt hat. Im Übrigen“, fügte sie nach einer kurzen Pause verschwörerisch hinzu, „war nicht alles gelogen, das ich Godrik gesagt habe; es gibt tatsächlich den einen oder anderen, der behauptet, Iliam Zak in den letzten Jahren an den unterschiedlichsten Orten des Reichs gesehen zu haben, und der König ist darüber so besorgt, dass er wissen möchte, ob daran etwas Wahres ist, selbst wenn das vermutlich nur Hirngespinste sind. Immerhin wird auch der Geist des großen Elvarius regelmäßig gesehen, obwohl jeder weiß, dass der Barde schon seit Ewigkeiten tot und vermodert ist.“

„Oder der Weingeist“, sagte Falk spöttisch. Er packte seinen Bierkrug mit beiden Händen, hob ihn an die Lippen und trank ein paar tiefe Züge, bevor er ihn wieder abstellte, zufrieden und laut rülpste und erklärte: „Klingt ja alles entschieden dramatisch.“ Doch es machte nicht den Eindruck, als fände er das Ganze sonderlich spektakulär.

„Es ist dramatisch“, behauptete Jael, plötzlich sehr erst.

„Als ich Godrik sagte, der König wäre in großer Sorge, entsprach das der Wahrheit, bloß sind die Gründe für des Königs Sorge ein wenig anders, als ich Godrik dargelegt habe.“

Zara legte die Stirn in Falten. „Also ist da doch etwas“, sagte sie. Es war keine Frage, vielmehr die Feststellung, dass ihr Gefühl sie die ganze Zeit nicht getrogen hatte. Sie beugte sich vor und musterte die Seraphim eindringlich. „Was hat das alles zu bedeuten? Was weißt du, was wir nicht wissen?“

Einen Augenblick lang schaute Jael von einem zum anderen und schien mit sich zu ringen, ob sie ihnen wirklich vertrauen konnte. Sie warf einen raschen Blick zu den Zauberern hinüber, um sich zu vergewissern, dass sie nicht gehört wurde, und sagte schließlich mit leiser, gepresster Stimme, sodass nur Falk und Zara sie verstehen konnten: „Die Bestien ... es gibt noch mehr davon.“

Falk, der sich gerade anschickte, den Rest seines Krugs zu leeren, war so überrascht, dass er sich das Bier in den falschen Hals kippte. Er verschluckte sich, hustete krampfhaft und starrte Jael fassungslos an. „Du meinst ... in Moorbruch? In Moorbruch treiben noch mehr Bestien ihr Unwesen? Dann habt ihr also doch nicht alle erwischt?“

Jael winkte ab. „Moorbruch ist lediglich ein Steinchen in einem Puzzle, das wesentlich komplexer ist, als ihr ahnt.“

Eigentlich hätte Zara beleidigt sein müssen, dass Jael ihnen die wahren Hintergründe dessen, das sie hierher ans Ende der Welt gefuhrt hatte, trotz mehrfacher Nachfragen so beharrlich verschwiegen hatte. Doch ihr war klar, dass die Seraphim nicht den geringsten Grund gehabt hatte, ihr zu trauen; nicht nach allem, was sie getan hatte. Sie selbst hätte schwerlich anders gehandelt. Also forderte sie lediglich, statt Jael Vorwürfe zu machen: „Erzähl!“

Jael brauchte noch einen Moment, um ihre Gedanken zu sammeln. Dann erklärte sie mit ernster, gedämpfter Stimme: „Moorbruch ist nicht das einzige Gebiet im Königreich, wo in diesen dunklen Tagen sonderbare Dinge geschehen. Etwas ist im Gang, und überall ähneln sich die Umstände derart, dass ein Zufall ausgeschlossen werden kann.“

„Die Umstände wovon?“, fragte Zara.

„Die Umstände der Morde“, sagte Jael. „Blutige, brutale Morde. Junge Frauen, keine älter als zwanzig. Jungfrauen wahrscheinlich.“

Zara brauchte einen Moment, um ihre Überraschung zu verwinden, doch sobald der erste Schock abgeklungen war, begann ihr Verstand mit gewohnter Präzision zu arbeiten, und sie sagte knapp: „Wie viele?“

„Drei Dutzend“, sagte Jael düster. „Vielleicht mehr, das ist schwierig zu sagen, weil nicht alle Opfer gefunden wurden; einige verschwanden einfach nur spurlos, ohne je wieder gesehen zu werden. Aber denen, die man fand, wurde mit brutaler Gewalt das Herz aus dem Leib gerissen, genau wie in Moorbruch. Die Wunden der Opfer waren in allen Fällen ähnlich, wie von einem wilden Tier, und an mindestens zweien der Leichenfundorte haben wir Pfotenabdrücke entdeckt, die zu den Blutbestien passen.“

„Und wo haben sich diese Morde ereignet?“

„In Biberringen, Finsterwinkel und in Galadur, das weit im Norden des Reichs liegt, wo das Eis nie schmilzt.“

„Diese Orte sind ziemlich weit von Sternental entfernt“, bemerkte Zara. „Viele Tagesreisen.“

Jael nickte. „Und jeder davon liegt in einer anderen Himmelsrichtung, zumindest grob. Außerdem haben die Morde alle fast zur selben Zeit begonnen: mit Einbruch des Winters. Deshalb können wir auch ausschließen, dass Salieri seine Bestien auf eine kleine Rundreise durch Ancaria geschickt hat; allein die gewaltigen Entfernungen zu den anderen Tatorten legen nahe, dass der Ein-Gott-Priester allein für die Morde in Moorbruch verantwortlich war.“

Als Falk begriff, was das bedeutete, flackerten Unglauben und Entsetzen in seinen Äugen auf. „Aber das würde ja heißen, dass es ...“

„... überall im Königreich verteilt noch weitere Verblendete wie Salieri gibt, die ihre Blutbestien losschicken, um Jungfrauenherzen zu sammeln“, bestätigte Jael düster. „Salieri war kein Einzeltäter, sondern gehörte zu einer Gruppe von Verschwörern, die offenbar die Absicht haben, dem Sakkara-Kult zu neuer Stärke zu verhelfen.“

Zara griff nach ihrem Bier. „Dann wusstest du, womit wir es zu tun haben, als du nach Moorbruch kamst? Dass es bei alldem um ein Wiedererstarken des Sakkara-Kults geht?“

Jael schüttelte den Kopf. „Nein. Diese Information haben wir erst durch Salieri und seinen Ring erhalten; bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir nicht die geringste Ahnung, womit wir es hier zu tun haben, denn leider konnten wir keinen der anderen Verschwörer dingfest machen oder gar verhören.“ Wie um Zaras nächste Frage vorwegzunehmen, sagte sie: „Sie sind alle tot; als sie mitbekamen, dass wir ihnen auf der Fährte waren, haben sie ihrem Leben wie Feiglinge selbst ein Ende gesetzt – so wie Salieri. Keiner von ihnen trug etwas bei sich, das uns weitergebracht hätte; offenbar haben sie alles, was uns auf die richtige Spur hätte bringen können, rechtzeitig vernichtet oder verschwinden lassen. Jeder von ihnen hat allein und auf eigene Faust gearbeitet, wenn auch alle ein gemeinsames Ziel verfolgten. Und genau wie auch Salieri waren sie alle unauffällige Bürger. Einer war Bäcker, ein anderer ein zurückgezogen lebender Gelehrter, der dritte ein Küfer. Keinem von ihnen hätte man zugetraut, dass er im Verborgenen den Dunklen Mächten diente.“

„Bösewichter, die wie Bösewichter aussehen, gibt es nur in Märchen“, sagte Zara, und Falk fragte: „Und die Blutbestien? Was ist aus ihnen geworden, nachdem ihre Herren tot waren?“

„Wir haben sie getötet“, erklärte Jael düster, und es war, als würde ihr die Erinnerung daran Kummer bereiten; vielleicht auch der Gedanke an etwas anderes. Sie wandte den Blick ab, setzte den Humpen an die Lippen und ließ das kühle Bier in tiefen Zügen durch ihre Kehle fließen, scheinbar auf der Suche nach Vergessen. „Jede einzelne von ihnen.“

„Du sagst ständig ,wir‘, wenn du von deinen Mutmaßungen sprichst“, sagte Zara. „Wer sind ,die‘, die hinter dir stehen? In wessen Diensten stehst du?“

„Hinter mir stehen die Alten Götter“, sagte Jael, „doch ich diene unserem König, so wie meine Seraphim-Schwestern, die vom König eingesetzt wurden, um diesen beängstigenden Vorgängen auf den Grund zu gehen. Wie ich schon Godrik sagte: Unser König ist ein vorausschauender Mann. Er ahnte, dass etwas im Busch ist, sobald ihm Gerüchte über die ersten Morde zu Ohren kamen. Nur ihm sind wir Rechenschaft schuldig, nur ihm gilt unsere Treue.“ Es klang fast wie ein Schwur. „Sein Wunsch ist es, dass diese Angelegenheit so diskret wie möglich geklärt wird, um zu vermeiden, dass seine Untertanen davon erfahren und Unruhe entsteht. Denn Unruhe ist das Letzte, was der König möchte; er und seine Vorfahren haben zu lange darum gekämpft, ein stabiles Reich zu schaffen.“

„Verstehe“, murmelte Zara. Dann wollte sie wissen: „Wenn so viele deiner Seraphim-Schwestern hinter dir stehen und versuchen, dieses Rätsel zu lösen, warum bist du dann allein nach Moorbruch gekommen? Wenn du bereits damit gerechnet hast, es mit einem ganzen Rudel Bestien zu tun zu bekommen, wäre da nicht ein wenig göttliche Unterstützung angebracht gewesen?“

„Ich hatte alle Unterstützung, die ich brauchte“, sagte Jael. „Ich hatte euch!“ Dann trat so etwas wie Betrübtheit und Trauer in ihre Züge, als sie nachdenklich fortfuhr: „Die Zeiten haben sich geändert. Auch für uns, die Hüter des Lichts, ist nichts mehr, wie es einst war. Wir Seraphim sind längst eine aussterbende Art. Schon nach den Götterkriegen gab es nur noch zwei Dutzend von uns, und seitdem sind wir aus den unterschiedlichsten Gründen immer weniger geworden.“ Sie sah davon ab, Zara daraufhinzuweisen, dass auch sie einen nicht unwesentlichen Beitrag hierzu geleistet hatte, damals, vor einem halben Millennium, auf jenem Friedhof in Schönblick. „Der Kampf gegen die Bestien hat weitere Opfer unter meinen himmlischen Schwestern gefordert; jetzt gibt es nur noch eine Hand voll von uns, und da es derzeit mehr als einen Krisenherd in Ancaria gibt, den es zu bewältigen gilt, war es nötig, sich aufzuteilen. Ich bin nach Moorbruch gegangen, auch auf die Gefahr hin, dass es das Letzte ist, was ich tue. Doch anders ging es nicht; es gibt mittlerweile einfach zu wenige von uns.“

Jael verstummte, und auch Zara schwieg; sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und beschloss, das Thema zu wechseln.

„Aber warum hat bislang niemand etwas von diesen Vorkommnissen erfahren?“, fragte die Vampirin. „Ich meine, wenn so viele Menschen auf so grausame Weise sterben, muss sich das einfach rumsprechen, oder nicht?“

Jael antwortete mit einer Gegenfrage: „Wusstet ihr etwas von den Morden in Moorbruch, bevor euch Jahn davon erzählte?“ Sie gab die Antwort selbst: „Nein, ihr hattet keine Ahnung davon. Woher auch? Moorbruch liegt weitab aller wichtigen Handelsrouten, abgelegen in einer unwirtlichen, trostlosen Region, in die sich kaum jemand verirrt. Die Verschwörer haben sich ganz gezielt abgelegene Landstriche für ihr grausiges Treiben ausgesucht, sodass sie davon ausgehen konnten, dass ihre Taten eine ganze Zeitlang vom Rest des Reiches unbemerkt blieben und es auch eine ganze Weile dauerte, bis man erkannte, dass ähnliche Verbrechen an mehreren Orten gleichzeitig geschahen. Wir hatten in dieser Hinsicht noch Glück, dass wir so schnell davon erfuhren, doch am Ende hat es nichts genützt. Genau wie in Moorbruch waren auch an jenen anderen Orten die Rituale bereits vollzogen. Jetzt können wir nur noch dafür sorgen, dass das, was auch immer die Verschwörer mit ihrem Zauber bewirkt haben, nicht ganz Ancaria in den Abgrund reißt, wir jedoch nach wie vor im Dunkeln tappen, was der Zweck all dessen sein mag, ist es ratsam, sich bedeckt zu halten, bis wir Näheres wissen; dann können wir Godrik sagen, was vorgeht, und ihn gegebenenfalls um Unterstützung bitten. Doch bis es soweit ist, sind wir auf uns allein gestellt.“

Sie verstummte, als Brutus ihnen ihr Essen an den Tisch brachte.

„Vorsichisheiß“, nuschelte er unverständlich, stellte einen dampfenden Kupferkessel zwischen sie auf die Tischplatte, warf drei grobe Holzlöffel daneben und verschwand noch einmal in der Küche, um eine große Schüssel knorpeliger, sehniger Fleischbrocken zu holen, die er ohne jede Furcht vor Thor abstellte. Er tätschelte dem Wolf unbeholfen den Kopf und brummelte dabei dämlich grinsend: „Jagudehun. Biseingudehun.“ Dann wackelte er wieder zur Theke zurück, um die nächste Runde Met zu zapfen, während Thor sich gierig über den Fleischhaufen hermachte.

Seine Begleiter waren da zurückhaltender. Jael, Zara und Falk sahen erst den Kupferkessel, dann einander und dann wieder den Kessel an, in dem eine undefinierbare, dickflüssige grüne Brühe schwappte, die aussah wie etwas, das ein Oger verschlungen und danach wieder erbrochen hatte. In der dampfenden Brühe schwammen Fleischbrocken, Gemüsestückchen, Pilze und noch ein paar andere, schwerer identifizierbare Zutaten.

Gleichwohl, der Duft, der von dem Eintopf – oder was immer das sein mochte – ausging, ließ Falk alle Scheu vergessen. Achselnzuckend griff er nach einem Löffel, tauchte ihn in den Topf, nahm einen Fäden ziehenden Löffel voll und stopfte ihn sich in den Mund. Zara und Jael sahen ihm entgeistert zu, wie er einen Löffel nach dem anderen mampfte, und als Falk auch nach dem fünften noch wohlauf war, kamen sie zu dem Schluss, dass es so schlimm nicht sein konnte, und begannen ebenfalls zu essen, erst widerwillig und zögernd, dann mit immer größerem Heißhunger, denn wider Erwarten war der Fleischtopf durchaus schmackhaft.

Möglicherweise lag es nur daran, dass der Hunger den Fraß schon irgendwie reintrieb, doch es dauerte nicht lange, bis sie den Kessel bis zum Boden geleert hatten.

Falk löffelte sogar noch die letzten Reste heraus und kratzte die Kesselwände ab, ehe er den Löffel ableckte, ihn sorgsam beiseite legte, als würde er ihn noch brauchen, und sich mit einem zufriedenen Seufzen auf seinem Stuhl zurücksinken ließ.

„Bei allen Göttern“, brummte er, rülpste und hielt sich den Bauch. „Ich weiß nicht, was das für ein Zeug war, aber es macht satt.“ Er griff nach seinem Krug und spülte mit dem Bier nach, um erneut zu rülpsen, nun mit einem zufriedenen Grinsen. „Nun noch ein kleines Nickerchen, und die Bösewichter können sich auf was gefasst machen!“

„Ich fürchte, dazu ist keine Zeit“, sagte Jael und holte aus ihrem Rock einen kleinen Lederbeutel hervor, der verräterisch klimperte. „Wir müssen zu Iliam Zak; die Sache duldet keinen Aufschub.“ Sie warf eine Hand voll klimpernder Münzen auf den Tisch und steckte den Beutel wieder ein. Ihr Blick fiel auf Brutus hinter der Theke, und sie zog eine Grimasse. „Die Frage ist bloß, ob wir hier jemanden finden, der uns den Weg zu Zaks Turm mit verständlichen Worten erklären kann...“

Wie sich zeigte, brauchten sie sich deswegen keine Sorgen zu machen; auch wenn Brutus’ Geplapper im ersten Moment wie eine vollkommen andere Sprache klang, konnte man ihn durchaus verstehen, wenn man seinen Worten ganz genau lauschte und zwischen den einzelnen Silben an den richtigen Stellen im Geiste eine kleine Pause einfügte. Zudem war der Wirt – anders als die anderen Bewohner von Sternental, die zu treffen sie bislang das Missvergnügen hatten – zwar ein simpler Tropf, aber zumindest einer, mit dem man auskommen konnte. Selbst als Jael sich den Weg zu Iliam Zaks Turm ein drittes und – nur zur Sicherheit – ein viertes Mal erklären ließ, wiederholte er mit Engelsgeduld seine Wegbeschreibung, bis sie ganz sicher waren, alles richtig verstanden zu haben.

Als die Seraphim ihm für seine Hilfe eine zusätzliche Münze in die Hand drückte, lächelte Brutus dümmlich, entblößte grinsend seine Zahnruinen und tätschelte Thor wieder das wuschlige Haupt, als wäre er ein Schoßhündchen. „Jaaaagudehundsoeingudehun ...“

Die drei bärtigen Zauberer in der Ecke beäugten sie beim Hinausgehen ebenso misstrauisch wie beim Hereinkommen; obwohl das Essenfassen annähernd eine Stunde in Anspruch genommen hatte, hatte keiner von ihnen in dieser Zeit auch nur ein einziges Wort gesagt. Dafür, dachte Zara, als sie die Tür der Taverne hinter sich zuzog und kühle Nachtluft sie umfing, würden die drei Bärtigen jetzt vermutlich umso mehr zu besprechen haben.

Sie hatten die Pferde draußen vor dem Räudigen Köter an einer der wenigen gusseisernen Gaslaternen festgebunden, die ihr schummriges Licht auf das vom Regen feuchte Kopfsteinpflaster warf. Zum Glück hatte der Regen nachgelassen und war zu einem klammen Nieseln geworden, das beinahe wie Nebel durch die dunklen Gassen von Sternental wehte.

Auf dem Platz am Ende der Gasse ragte das Burgenkonglomerat düster und Ehrfurcht gebietend in den Nachthimmel, an dem sich dicke graue Wolken zusammenballten. Ein eisiger, schneidender Wind pfiff durch die Stadt und trieb die toten Blätter des Herbstes vor sich her, der die Enklave fest in seinem Griff hielt. Nicht mehr lange, und Väterchen Frost würde Einzug in Sternental halten. Die Frage war nur: für wie lange? Wenn sich die Jahreszeiten weiter mit diesem Tempo änderten, war der Schnee wohl bereits geschmolzen, bevor er den Boden berührte ...

Satt und von neuem Tatendrang erfüllt, saßen die Gefährten auf und ritten durch das Wirrwarr der Gassen zum Ortsausgang. Hinter den beiden Obelisken zeichneten sich in der Ferne unter den ziehenden Wolken die weißen Gipfel des Ripergebirges ab, doch ihr Ziel lag in der anderen Richtung – zumindest, wenn sie Brutus richtig verstanden hatten. Seiner genuschelten Wegbeschreibung folgend, kehrten sie der Enklave den Rücken und ritten an der hoch aufragenden immergrünen Rosenhecke in südwestlicher Richtung um die Stadt herum, bis links von ihnen ein Bach auftauchte, über den eine überdachte Holzbrücke führte.

Das Geräusch der Hufe hallte hohl in dem kurzen hölzernen Tunnel, der vom trägen Rauschen des Wassers unter den Planken erfüllt war wie eine Muschel vom Geräusch der Meeresbrandung. Dann trabten sie auf der anderen Seite wieder heraus, das Murmeln des Bachlaufs blieb hinter ihnen zurück, und dafür breitete sich vor ihnen ein dichtes Kiefernwäldchen aus, das bis zum Rand der Talsenke reichte.

Ein Trampelpfad wand sich zwischen den Bäumen, so voller Moos und kniehohem Unkraut, dass Zara sich fragte, wie lange es wohl her sein mochte, seit zum letzten Mal jemand diesen Weg benutzt hatte. Der dicke Nadelteppich auf dem Boden dämpfte das Geräusch der Hufe zu einem monotonen Klopfen.

Hintereinander hertrabend, folgten sie dem Pfad eine gute Meile in den Wald, der mit jedem Meter, den sie weiter vordrangen, düsterer und bedrohlicher zu werden schien; die immer dichter stehenden Bäume wiegten sich im Wind, überall im Unterholz schien es zu knacken und zu rascheln, als würde jemand durchs Dickicht schleichen, und schließlich begann es tatsächlich zu schneien.

Der unheimlich säuselnde Wind blies ihnen Pulverschnee ins Gesicht, erst kleine Flöckchen, dann dicke, flauschige Flocken. Bald bedeckte eine feine weiße Puderschicht den Pfad und die Kiefern links und rechts des Weges, und innerhalb von Minuten hatte sich der dunkle Forst in eine Winterlandschaft verwandelt, deren weißer Glanz die Düsterkeit dieses Ortes nicht zu mindern vermochte.

Es war nichts wirklich Greifbares, nur die Ahnung von etwas Bösem, das in diesen Wäldern hauste, doch die genügte, dass sich Zaras Nackenhaare sträubten. Thor schien es ebenfalls zu spüren; er hielt sich dicht bei Kjell und hatte die Ohren aufmerksam gespitzt, als würde er auf Laute horchen, die Zara nicht hören konnte. Auch seine Nackenhaare hatten sich bürstengleich aufgestellt, und als irgendwo im Unterholz unversehens ein Käuzchen seinen unheimlichen Ruf ausstieß – Komm mit! Komm mit! –, ließ der Wolf ein leises, warnendes Knurren hören.

Hier lag irgendetwas im Argen, daran gab es keinen Zweifel.

Schließlich wichen die Bäume nach einer weiteren Meile vom Pfad zurück, der Weg vor ihnen öffnete sich zu einer kleinen kreisrunden Lichtung, und Zaks Turm tauchte wie ein krummer, dürrer Finger aus dem Schneegestöber auf, ein dunkler, missförmiger Schatten im wirbelnden Weiß, errichtet aus kantigen schwarzen Bruchsteinen, drei Etagen hoch und mit einem runden, fast pilzförmigen Schindeldach. Hier und da waren schmale, hohe Fenster in die Mauern eingelassen, doch hinter keinem davon schimmerte Licht. Alles war dunkel, wie verlassen.

„Vielleicht schläft Zak schon“, mutmaßte Falk, als sie über die Lichtung langsam auf den düsteren Turm zutrabten. „Wäre doch möglich; immerhin ist Mitternacht nicht mehr fern.“

„Wir werden sehen“, erwiderte Zara, doch sie war skeptisch. Irgendetwas sagte ihr, dass Iliam Zak nicht schlief; oder zumindest nicht hier.

Rings um den Turm wehte der Schnee ungehindert über die Lichtung und türmte sich zu kniehohen Wellen auf. Sie stiegen ab, stapften zur grobgezimmerten Tür des alten Turms, und nach kurzem Zögern griff Jael nach dem patinabeschichteten Löwenschädel, der als Türklopfer diente. Das Krachen hallte hohl und unheimlich über die Lichtung.

Bumm! Bumm! Bumm!

Als der Klopfer das Holz beim dritten Schlag berührte, schwang die Tür mit dem leisen Quietschen schlecht geölter Angeln einen Spaltbreit nach innen auf; dahinter dräute Schwärze.

Jael wandte sich mit gefurchter Stirn zu ihren Begleitern um, ehe sie leicht gegen die Tür drückte, die daraufhin noch weiter aufschwang; offenbar war sie nur angelehnt gewesen, nicht geschlossen. Aus dem Innern des Turms drang ein Schwall abgestandener, staubiger Luft, als wäre drinnen schon seit längerem nicht mehr gelüftet worden.

Jael beugte sich halb über die Schwelle. „Hallo?“, rief sie nach drinnen. „Ist da jemand? Iliam Zak? Seid Ihr da?“

Keine Antwort.

„Iliam Zak?“, versuchte sie es erneut. „Wir müssen mit Euch reden.“

Erneut keine Reaktion.

Jael versuchte es ein drittes Mal und wartete noch einen Augenblick, doch als sich im Innern des Turms auch dann nichts tat, schob sie die Tür ganz auf und trat vorsichtig über die Schwelle, um sich in der unteren Ebene umzusehen. Die anderen folgten ihr, Zara und Thor neugierig, Falk mit einem unguten Gefühl in der Magengrube. Er war nicht der Held in diesem Stück, sondern der Hofnarr, und den Narren erwischte es immer zuerst...

Im Innern des kreisrunden Turms herrschte düsteres Zwielicht, doch weder Jael noch Zara hatten Mühe sich zurechtzufinden. Schweigend nahmen sie die untere Ebene des Turms in Augenschein, die nichts weiter war als ein einziger kreisrunder Raum, vielleicht zehn Schritte im Durchmesser.

Offenbar war dies so etwas wie die Küche; es gab einen rußgeschwärzten alten Ofen, über dem mehrere Pfannen hingen, einen steinernen Spülstein und einen klobigen Holztisch, auf dem noch schmutziges Geschirr stand. Auf dem Teller wucherte dichter weißer Schimmelflaum, in dem Blechbecher zeigte sich der eingetrocknete schwarze Rand von Mohnkaffee, und das Besteck lag so auf dem Tellerrand, als wäre jemand nur kurz vom Tisch aufgestanden, in der Absicht, sein Mahl gleich zu Ende zu bringen. Doch wie es schien, hatte ihn irgendetwas davon abgehalten, und das -dem Schimmel auf den Essensresten nach zu urteilen – bereits vor einer geraumen Weile; die Speisereste stanken nicht einmal mehr.

Zara fuhr mit dem Finger über die Tischplatte; grauer Staub blieb an ihrer Fingerspitze haften. Doch das musste alles noch nichts bedeuten. Vielleicht hielt Iliam Zak einfach nicht viel vom Reinemachen – oder davon, seine Tür ordentlich zu verschließen ...

In der Mitte des Raums führte eine eiserne Wendeltreppe hoch in die nächste der drei Etagen. Die unterschied sich vom Grundriss her in nichts von der Küche unten, wie die Gefährten feststellten, als sie nacheinander und in erwartungsvollem Schweigen die schmale knarzende Stiege emporgingen: eine kleine, runde Kammer mit einem Bett, einer Waschkommode, einem Schrank und einem Nachttisch, auf dem eine dicke Kerze stand. Das Bett war zerwühlt, und auf dem Boden daneben lag ein Stapel Bücher: Die Wassermagie-Fiebel – Das Matriarchat der Tiefe – Über Elfen, Vampyre und andere Schattenwesen – Die Lebensweisheiten des Ritters Markus Marian ... und noch andere Werke in wasserfleckigen Einbänden, die wirkten, als wären sie zu einer Zeit gefertigt worden, in der der Buchdruck mit beweglichen Lettern noch als revolutionäre neue Errungenschaft galt.

Obwohl auch das zerwühlte Bett wirkte, als sei derjenige, der darin gelegen hatte, gerade erst aus den Federn gekrochen, fehlte von Zak jede Spur. So richteten sich die Blicke der Gefährten schließlich unisono auf die Wendeltreppe, die hoch in die dritte und letzte Etage des Turms führte, direkt unter das Dach.

Als Jael behutsam einen Fuß auf die unterste Stufe setzte, knarrte es hörbar, und die Seraphim zuckte zusammen, wenn auch nicht so sehr wegen des Geräuschs, sondern weil ein eisiger Windhauch vom oberen Ende der Wendeltreppe drang und wie die frostige Berührung eines Toten über ihr Gesicht strich; offenbar war dort oben ein Fenster offen.

Einen Moment lang war sie unschlüssig und sah die Treppe hinauf, doch die Stufen wanden sich spiralförmig und überlappend in die Höhe, sodass man nichts erkennen konnte. So setzte sich Jael schließlich fast widerwillig in Bewegung, eine Hand auf dem staubigen Geländer, und stieg langsam die gewundene Treppe hinauf. Zara folgte ihr auf dem Fuße, danach kam Falk, während Thor das Schlusslicht bildete; seine Pfoten klackten vernehmlich auf dem alten, rissigen Holz, während sie in der Dunkelheit in die Dachkammer hinaufstiegen, voll banger Erwartung, was sie dort oben erwarten mochte.

Ganz oben unter dem Dach befand sich das Arbeitszimmer – oder besser: das, was davon noch übrig war. Auf dem langen Arbeitstisch, der den Großteil der Kammer einnahm, herrschte ein einziges Durcheinander: zersprungene Petrischalen und Kolbenflaschen, Bechergläser und Stößel und die Überreste einer seltsamen Versuchskonstruktion aus gläsernen Röhren, Bögen und Spiralen, die offenbar dazu gedient hatte, Flüssigkeiten aus anderen Gegenständen zu destillieren. In den Tisch eingelassen war eine Ofenplatte; die Wand dahinter war von Ruß geschwärzt, und vor dem Tisch lag ein umgestürzter Holzstuhl auf dem mit Schmutz, Trümmern und Glassplittern übersäten Boden.

Das Fenster über dem Tisch war in der Mitte gespalten; ein gezackter Riss, wie ein Blitz, zog sich von oben nach unten durch das milchige Glas, dessen rechte Hälfte fehlte.

Durch die Öffnung trug der Wind in Böen Schnee herein, der sich als weiße Schicht über die unzähligen Folianten, Bücher und Wälzer breitete, die wild verstreut überall in der Kammer lagen. Bei ihrer Ankunft hatten sie das kaputte Turmfenster nicht gesehen, weil es sich auf der abgewandten Seite des Gemäuers befand, mit Blick auf den Rand der Enklave, wo sich die Wolken über den Baumwipfeln zu einem riesigen Gebirge türmten, das mehr als Schnee in seinem Inneren barg.

Jael machte zwei Schritte in die Kammer, weg von der Treppe. Dann blieb sie so plötzlich stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen, und sie sog hörbar den Atem ein.

„Was ist?“, zischte Zara hinter ihr, doch als sie neben die Seraphim trat, sah sie sofort, was los war; sie hätte den Verwesungsgeruch eigentlich längst wahrnehmen müssen, doch genau wie das verschimmelte Essen unten in der Küche war auch der halb unter dem Tisch hervorlugende Leichnam schon seit einer ganzen Weile nicht mehr frisch, und die kalte Luft, die durchs Fenster drang, tat ein Übriges, um den Verwesungsgestank zu vertreiben.

Die Leiche lag in verkrümmter Haltung halb unter dem Tisch, auf dem Bauch, umgeben von einem Wirrwarr von Trümmern. Der Tote war ein Mann, groß und von relativ kräftiger Gestalt, in schlichter, zweckmäßiger Kleidung. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, und statt nachzusehen, stand Jael einfach nur da und rührte sich nicht; offenbar hatte sie mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass Zak womöglich längst das Zeitliche gesegnet hatte – und darauf deutete im Moment alles hin.

Als sich Jael einen Moment später immer noch nicht rührte, brummte Zara missmutig, drängte sich an der Seraphim vorbei und ging neben dem Toten in die Knie. Seine Hände wiesen Brandspuren auf. Der kleine Finger der rechten Hand fehlte; es sah aus, als wäre er unmittelbar über dem Handballen abgerissen worden. Am Ringfinger der linken Hand steckte ein Siegelring.

Ein Widderkopf, um dessen Hörner sich eine zweiköpfige Schlange wand.

So einen Siegelring hatte auch Sahen getragen.

Das Symbol des Sakkara-Kults ...

Zara beugte sich über den Toten, packte ihn an der Schulter und drehte ihn um, doch wenn sie angenommen hatte, jetzt Iliam Zak ins Gesicht zu sehen, irrte sie. Nicht, weil es nicht Zak war, sondern weil das Gesicht ... fehlte. Da war nur noch eine verbrannte und bereits verweste Masse.

Die Haare waren versengt, und am Gesicht und an der Brust sah man teilweise die blanken Knochen. Auch wies seine Kleidung überall Brandspuren auf, die vermutlich irgendwie mit dem unerfreulichen Ableben dieses Mannes in Zusammenhang standen.

„Bei allen Göttern ...“, raunte Jael hinter ihr fassungslos.

Falk drängte sich neugierig an ihnen vorbei – und zuckte so heftig zurück, als hätte ihn jemand geschlagen. Seine Gesichtsfarbe wurde um einige Nuancen blasser, doch nachdem er ein paar Mal krampfhaft schluckte, hatte er sich wieder halbwegs gefasst. „Ist das ...“ Er stockte, verbesserte sich. „War das...“

„... Iliam Zak.“ Jael nickte düster. „Ja, das war er.“

„Egal, wo er sich in den letzten Jahren herumgetrieben haben mag“, sagte Zara, „künftig wird er jedenfalls nur noch an einem Ort zu finden sein: auf dem Friedhof.“ Sie schritt am Tisch entlang und betrachtete die Überreste der verschiedenen Substanzen zwischen den Trümmern der Versuchsanordnung. „Sieht so aus, als hätte er gerade irgendetwas Explosives zusammengebraut, als es ihn erwischte“, sagte sie. „Schwefel ... Salpeter ... Holzkohle ... Alles Dinge, die man für die Herstellung von Schwarzpulver braucht.“

Falk runzelte die Stirn. „Dann hat Iliam Zak versucht, einen Sprengsatz zu bauen? Eine ... Bombe?“

„Nicht unbedingt“, sagte Jael, ohne den Blick von der Leiche zu wenden. „Man benutzt diese Dinge ebenfalls zum Zaubern, zum Herstellen von Zaubertränken und Zauberpulver, beispielsweise. Wahrscheinlich hat er dabei irgendwelche Zutaten verwechselt oder sie in der falschen Reihenfolge gemischt – und dann ...“

„Bumm“, kommentierte Zara.

Jael nickte düster.

Falk trat zu Zara an den Arbeitstisch; seine Neugierde, wie man wohl eine Bombe baute, war größer als seine Abscheu vor der Leiche zu seinen Füßen. Er ließ den Blick über den verwüsteten Tisch schweifen, griff wissbegierig nach einem Buch, das umgekehrt und aufgeschlagen inmitten der Trümmer lag, fast so, als hätte es jemand so hingelegt, um die betreffende Stelle nicht zu verblättern, und nach einer Weile ließ er einen leisen Pfiff hören.

„Was ist?“, sagte Zara.

Falk hielt das Buch hoch. „Interessante Lektüre“, erklärte er. Magische Portale und wie man sie öffnet ... Klingt für mich irgendwie nicht so, als hätte der verehrte Verblichene der Magie den Rücken gekehrt, nachdem man ihn ins Exil verbannte.“

„Schon möglich“, brummte Jael missmutig; man merkte deutlich, dass sie sich von ihrer Reise nach Sternental mehr erhofft hatte, als Zaks verstümmelten Leichnam zu finden. „Jedenfalls können wir wohl ausschließen, dass er der Drahtzieher hinter den Morden ist. Nach dem Zustand des Leichnams zu urteilen ist Zak seit mindestens sechs Monden tot, also schon lange, bevor die Bestien zu Beginn des Winters das erste Mal in Moorbruch zugeschlagen haben.“

„Woher willst du wissen, dass er es ist?“, fragte Zara skeptisch. „Schau ihn dir doch mal an. Von seinem Gesicht ist nicht mehr viel übrig, und so einen Siegelring hat Salieri schließlich auch getragen ...“

„Er ist es“, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Zara wirbelte herum. Im einen Moment starrte sie noch auf die Leiche zu ihren Füßen hinab, im nächsten ruhte ihr Blick auf dem kleinwüchsigen Kerl mit dem weiten Umhang, den geflochtenen Bartzöpfen und dem knorrigen alten Eisenholzstock. Er war unbemerkt die Treppe in die Turmkammer heraufgekommen.

Ohne sich um die verwunderten Blicke der Gefährten – oder das warnende Knurren von Thor – zu kümmern, tat der Mann ein paar Schritte in die Dachkammer und musterte die sterblichen Überreste unter dem Tisch in einer Mischung aus Abscheu, Gleichmut und Genugtuung. Schließlich ließ er ein müdes Seufzen hören, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock und wiederholte noch einmal, eher traurig als erleichtert: „Er ist es.“

„Wer seid Ihr?“, wollte Jael wissen. Dann erkannte sie den Mann. „Wir haben Euch vorhin schon einmal gesehen, in der Großen Burg ... Ihr kamt vor uns aus dem Sitzungssaal und...“

„… und Ihr saht nicht besonders glücklich aus“, fügte Zara undiplomatisch hinzu.

Der kleine Mann nickte resigniert. „Ich hatte eine Unterredung mit Godrik, dem Enklavenvorsteher, die nicht ganz ... nun, zufriedenstellend verlaufen ist, um es mal so zu sagen.“ Sein Gesicht verfinsterte sich, als er daran dachte. Dann blinzelte er, die Resignation verschwand, und er sagte mit einer gewissen Theatralik, die mit diesem ganzen Hokuspokus Hand in Hand zu gehen schien: „Gestattet, dass ich mich vorstelle: Wigalf heiße ich, und ich kann sagen, dass ich hoch erfreut bin, Euch hier zu sehen, denn auch, wenn wir persönlich noch nicht wirklich das Vergnügen hatten, hat sich doch bereits herumgesprochen, weshalb Ihr hier seid.“

„Und weswegen?“, fragte Jael lauernd, gespannt auf die Antwort.

„Ihr seid hier, weil Ihr fürchtet, dass Iliam Zak den Sakkara-Orden neu formiert und dort weitermacht, wo er damals unterbrochen wurde“, sagte Wigalf ruhig. „Nun, was den Sakkara-Orden angeht, habt Ihr sogar Recht, aber Iliam Zak – die Götter seien ihm gnädig – trug dafür keineswegs die Verantwortung.“

Jael blinzelte überrascht. „Woher ...“ Sie wollte fragen, wie zum Teufel er wissen konnte, was sie wirklich hierher verschlagen hatte, doch dann wurde ihr klar, dass der Rest dessen, was Wigalf so geradeheraus gesagt hatte, von viel größerer Bedeutung war. Sie musterte den Zauberer. „Was soll das heißen, wir haben Recht, was den Sakkara-Orden betrifft? Dann formiert sich diese Sekte tatsächlich neu?“ Sie zog in Erwägung, dass der Zauberer womöglich bloß einen Schuss ins Blaue abgegeben hatte, um dahinter zu kommen, was sie hier wollten, doch irgendetwas sagte ihr, dass Wigalf keine Spielchen mit ihnen trieb. Er wusste etwas – und sie wollte herausfinden, was das war.

Wigalf machte es ihr nicht schwer. Jael hatte ihre Frage kaum formuliert, als Wigalf bereits nickte. „Das Gerücht, dass der Magier-Orden von Sakkara neue Anhänger um sich scharrt und wieder erstarkt, ist hier in der Enklave bereits seit Jahren im Umlauf. Anfangs hielten es alle für Unfug; keiner glaubte daran, dass ausgerechnet diese machtgierigen Verbrecher wieder auf dem Vormarsch sein sollten, nach all den Jahrhunderten, in denen unsere Kaste sämtlichem Bösen abgeschworen hat. Eine Zeitlang taten wir so, als wäre alles wie immer. Doch das Ungeheuerliche verlangte Gehör, und irgendwann ließ es sich nicht mehr länger leugnen.“

„Was?“, hakte Zara nach. „Was ließ sich nicht länger leugnen?“

„Dass in Sternental dunkle Mächte am Werk sind“, erklärte Wigalf düster. „Sehr dunkle Mächte. Und starke dazu. Sie sind mitten unter uns. Viele sind ihnen schon zum Opfer gefallen.“

„Ihr meint Blutopfer?“

Wigalf schüttelte düster den Kopf. „Von Blutopfern weiß ich nichts, es sei denn, Ihr meint damit meine Zunftbrüder und -schwestern, die in den letzten Wochen und Monaten durch die Klingen verblendeter Sakkara-Jünger den Tod fanden.“ Seine Worte klangen bedrückend in der kleinen Turmkammer, doch noch bedrückender war die Resignation in seinen Zügen, die sich mit scharfen Furchen in seine Stirn und um seine Augen eingegraben hatte. Es war unmöglich zu sagen, wie alt der Zauberer war – er wirkte, als wäre er Ende Fünfzig, Anfang Sechzig, ein rüstiger älterer Herr, dem man ansah, dass es das Leben nicht immer gut mit ihm gemeint hatte. Doch wenn das Alter für Iliam Zak keine Bedeutung gehabt hatte, mochte das durchaus auch für andere Zauberer gelten.

„Der Kult hat in Sternental Opfer gefordert?“, fragte Jael skeptisch.

Wigalf nickte düster. „Als sich die Magiergemeinschaft offiziell weigerte, die Bedrohung durch den sich neu formierenden Sakkara-Kult anzuerkennen und etwas dagegen zu unternehmen, öffneten wir dem Kult damit Tür und Tor. Die verräterischen Gedanken und trügerischen Doktrinen der Sekte breiteten sich still und schleichend wie eine Seuche in der Enklave aus, und auf einmal gab es überall um uns herum Infizierte. Nicht wenige sind den Verlockungen des Kultes erlegen. Denn auch Zauberer sind nur Menschen – zumindest die meisten von uns –, und die langen Jahre der Verbannung haben in vielen den Wunsch nach freier Entfaltung ihrer Künste geweckt. Der Sakkara-Kult stellt ihnen dies in Aussicht. Das – und noch viel mehr. Und wer nicht bereit ist, dem Kult seine Kräfte zur Verfügung zu stellen, oder sogar soweit geht, seinen Mitgliedern die Stirn zu bieten, wird ohne Gnade aus der Gleichung des Lebens getilgt.“

„Wie viele Opfer gab es?“ Zara bückte sich, griff nach dem umgestürzten Stuhl, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. Wigalf indes zählte die Opfer des Kults halblaut an den Fingern ab, während er die – erschreckend lange – Liste im Geiste durchging. „Neun“, sagte er schließlich. „Und alle wurden auf die gleiche grausige Weise ermordet: Man überfiel sie im Schlaf, in ihren eigenen Betten, und stach ihnen mit einem langen, scharfen Messer die Halsschlagader auf; sie starben in ihrem eigenen Blut.“ Er schauderte, als er daran dachte. „Anfangs war mir nicht ganz klar, welchen Zweck der Kult damit verfolgte, derart öffentlich zu agieren, statt weiter im Verborgenen zu wirken wie all die Jahre zuvor. Doch als die Morde immer weniger wurden, begriff ich es.“

„Einschüchterung“, sagte Zara. „Sie haben die anderen eingeschüchtert, und die haben sich allein schon aus Furcht auf die Seite des Kults geschlagen.“

Wigalf nickte düster.

„Hat der Kult auch versucht, Euch zu rekrutieren?“, fragte Jael.

Wigalf schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß von vielen, die sie kontaktiert und auf ihre Seite gezogen haben, aber mich haben sie in Ruhe gelassen.“

„Warum?“, wollte Falk wissen.

Wigalf zuckte mit den Schultern. „Meine Kräfte sind begrenzt; ich nehme an, ich war ihnen einfach nicht mächtig genug, um an mich heranzutreten. Denn das ist es, worum es bei alledem geht.“

„Worum?“, fragte Falk.

„Um Macht“, sagte Wigalf knapp. „Unendliche, alles umfassende Macht. Danach strebt alles intelligente Leben wirklich. Nicht Geld, nicht Wohlstand, nicht Frauen – Macht... und all die Privilegien, die damit verbunden sind. Die Freiheit, ohne Rücksichtnahme oder Einschränkung alles tun und lassen zu können, wonach einem der Sinn steht. Wenn man diese Freiheit genießt, ist man göttergleich.“

Jael runzelte die Stirn. „Diese Kerle wollen wie Götter sein?“

„Will das nicht jeder?“, fragte Falk. Als seine beiden Begleiterinnen ihn daraufhin grimmig ansahen, fügte er kleinlaut hinzu: „Zumindest, bis man in die Pubertät kommt?“

Der Zauberer tat so, als hätte er es gar nicht mitbekommen. „Nicht alle in Sternental sind für sie von Interesse. Sie nehmen nur die Mächtigsten und Einflussreichsten in ihre Reihen auf, Zauberer, die ihnen noch mehr Stärke und Kraft geben. Wir anderen sind für sie nicht mehr wert als der Schmutz unter ihren Nägeln. Doch wenn man ihnen in die Quere kommt oder ihren Interessen zuwiderhandelt ...“ Er vollführte mit der flachen Hand eine Geste, als würde er sich die Kehle aufschneiden. „Diese Bestien schrecken vor nichts zurück, um ihre Ziele zu erreichen. Nichts ist ihnen heilig. Selbst er ...“ Sein Blick glitt zu den Überresten von Iliam Zak. „Sogar vor der Ermordung des Gründers und langjährigen Führers der Sekte haben diese Verrückten nicht Halt gemacht.“ Er seufzte. „So zu enden, das hat selbst jemand wie Iliam Zak nicht verdient...“

Jael runzelte die Stirn. „Aber warum sollte der Kult seinen eigenen Führer töten?“, fragte sie. „Das ist doch Wahnsinn!“

Wigalf nickte zustimmend. „Ob Ihr’s glaubt oder nicht, aber Zak war alles andere als erfreut, als er erfuhr, dass der Kult neue Mitglieder um sich scharte; das ging nicht von ihm aus, sondern von seiner ehemaligen rechten Hand, Ishmael Thurlak, einem machtgierigen Egomanen, der Zaks Umsturzpläne seinerzeit nach besten Kräften unterstützte, weil er hoffte, wenn Zak erst auf dem Thron säße, würde auch für ihn ein ordentliches Stück vom Kuchen abfallen. Doch dann kam statt Thron und Zepter Exil und Verbannung, und Thurlak war gezwungen, sich von seinen Machtfantasien zu verabschieden.“

„Doch damit gab er sich nicht zufrieden“, mutmaßte Jael.

„Nein“, bestätigte Wigalf. „Er hat sich nie wirklich damit abgefunden, dass ihr Vorhaben gescheitert war, und irgendwann fing er an, die Fühler nach möglichen Verbündeten auszustrecken. Und er brauchte nicht lange zu suchen. Die Enklave ist voll von solchen, die nur auf jemanden wie Thurlak gewartet haben, der gegen all das, was man unsereins tausend Jahre lang aufgezwungen hat, aufbegehrt.“ Er knetete mit zwei Fingern seine Knollennase. „Dort, wo Unmut und Unzufriedenheit regieren, findet Widerstand schnell Anhänger. Das war schon immer so, seit Anbeginn der Zeit. Nur, dass nicht aller Widerstand gut und sinnvoll ist.“

„Und als dieser...“

„Ishmael Thurlak“, sagte Wigalf.

„Ishmael Thurlak“, wiederholte Zara. „Als dieser Kerl eines Tages bei Zak anklopfte und ihn bat, da weiterzumachen, wo er damals aufgehört hatte, da weigerte sich Zak?“

Wigalf nickte. „Zak und Thurlak hatten eine schlimme Auseinandersetzung deswegen. Zak wollte, dass Thurlak die Vergangenheit ruhen ließ und sein Leben nach den neuen Doktrinen der Magierbruderschaft ausrichtete, so wie er selbst es in den letzten Jahrzehnten getan hatte.“

„,Der Weg, der uns weiterbringt, ist auch der Weg, der nach innen führt‘“, murmelte Jael.

Wigalf nickte. „Das hatte Iliam Zak begriffen. Er war nicht mehr der große Buhmann, als der er gern hingestellt wird. Ohne Frage, er hat Fehler begangen – viele Fehler, und einige davon sind unverzeihlich –, doch er hatte ein halbes Millennium Zeit, über seine Untaten nachzudenken und Läuterung zu erfahren, und auch, wenn er nie ein Heiliger geworden wäre, so war er doch auf dem Weg der Besserung.“ Sein Blick richtete sich auf die verstümmelte Leiche. „Zak hatte seinem ehemaligen Irrglauben schon seit langem abgeschworen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass freier Wille das höchste Gut ist in dieser oder einer anderen Welt. Als Ishmael Thurlak herkam und ihm erklärte, er hätte ihm, Iliam Zak, den Weg geebnet, um endlich seinen göttergegebenen Platz an der Spitze der bekannten Welt einzunehmen, hatte Zak nur Abscheu und Verachtung für seinen ehemaligen Novizen übrig. Zak sagte Thurlak gerade heraus, er solle sich in den Orkus scheren und seine irregeleiteten Anhänger dorthin mitnehmen, doch so erbost Ishmael Thurlak über diese Ablehnung im ersten Moment gewesen sein mag, so sehr gefreut haben muss es ihn später, als ihm bewusst wurde, dass sich Zak damit sein eigenes Grab geschaufelt hatte und er, Thurlak, nicht mehr als Bittsteller der Macht auftreten musste, sondern selbst die Macht haben konnte – die ganze Macht, keine Almosen von der Tafel seines Mentors Iliam Zak. Und so ließ er ihn ebenso aus dem Weg räumen wie die anderen Missliebigen, auch wenn er in diesem Fall offenbar der Meinung war, es wäre ratsamer, es wie einen Unfall aussehen zu lassen.“

Wieder schweifte Wigalfs Blick zu Zaks verstümmeltem Leichnam. „Vielleicht musste es so enden“, murmelte er, „nach allem, was er auf sich geladen hat. Und doch ... er hat versucht, hier in der Enklave in ein ehrbares Leben zurückzufinden. Doch er war ein Ausgestoßener, ein Gebrandmarkter, und da niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte, um nicht selbst in Verruf zu geraten, zog sich Zak hierher in seinen Turm zurück, bis er sich schließlich gar nicht mehr in Sternental blicken ließ. Ich glaube, ich war der Einzige, der sporadisch Kontakt mit ihm hatte.“

„Warum?“, fragte Jael.

Wigalf wiegte den Kopf. „Nun, in gewisser Weise führe auch ich ein Leben, wie Zak es tat – zurückgezogen und mit Abstand zur übrigen Enklave –, bloß dass ich dieses Schicksal freiwillig wählte, als ich die Überheblichkeit und Arroganz des Rates der Bruderschaft nicht mehr ertragen konnte. Doch jeder Mensch braucht hin und wieder jemanden, mit dem er reden und sich austauschen kann, und da auch Iliam eine einsame Seele war, führte uns das zusammen. Anfangs war ich skeptisch, da auch ich all die Geschichten über seine Gräueltaten kannte, doch in dem Maße, wie ich spürte, dass er wirklich versuchte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, lernte ich seine Gesellschaft mehr und mehr zu schätzen, und am Ende trafen wir uns hin und wieder. Doch der Weg hierher ist weit, und ich bin nicht der Beste zu Fuß.“ Er klopfte mit dem Stock auf, und das Dröhnen hallte hohl in dem verlassenen Turm wider. „Hätte mich mein Weg häufiger hierher geführt, hätte ich ihn wohl schon vor Monaten gefunden.“

Jael gab ein nachdenkliches, missmutiges Brummen von sich. Die Seraphim schien über die neuesten Erkenntnisse alles andere als erfreut. Kein Wunder. Als sie hierher gekommen waren, hatten sie angenommen, dass Iliam Zak der Drahtzieher der Verschwörung wäre, womöglich unterstützt von einer Hand voll versprengter, von der Macht geblendeter Einzeltäter. Doch jetzt zeigte sich, dass er von seinen eigenen Anhängern ermordet worden war, weil er ihnen bei ihrem aberwitzigen Vorhaben im Weg gewesen war. Da draußen hatten womöglich Dutzende von Zauberkundigen unter einem neuen, scheinbar noch skrupelloseren Führer den Weg eingeschlagen, dem Iliam Zak im Exil abgeschworen hatte. Alles wies darauf hin, dass diese Verschwörung noch weit größere Kreise zog, als sie zimächst angenommen hatten – viel größere. Die Blutbestien waren nur der Anfang gewesen.

Doch noch immer wussten sie nicht, wie dieser Ishmael Thurlak und seine Anhänger ihr Ziel erreichen wollten, die Macht in Ancaria an sich zu reißen. Die Dunklen Künste zu beherrschen, war eine Sache; sie gezielt einzusetzen, eine ganz andere.

Jael dachte eine Weile schweigend darüber nach. Schließlich sah sie den Zauberer an und sagte geradeheraus: „Warum erzählt Ihr uns das alles?“

„Ja“, murmelte Zara, „das wüsste ich auch gern.“

„Weil irgendjemand etwas dagegen unternehmen muss“, antwortete Wigalf. „Von Godrik und seinem Rat der Bruderschaft ist keine Hilfe zu erwarten; gerade vorhin, als wir uns in der Großen Burg getroffen haben, war ich beim Rat und habe versucht, sie dazu zu bewegen, endlich aktiv zu werden, doch vergebens. Godrik will davon nichts hören. Sie verschließen weiterhin ihre Augen vor der Wahrheit – wahrscheinlich, weil sie sie einfach nicht sehen wollen oder um zu verhindern, dass etwas über die verderblichen Vorgänge in Sternental nach außen dringt und so auf einen Schlag all die Jahrhunderte langen Bemühungen der zaubernden Zunft, sich zu rehabilitieren und wieder in die Gesellschaft von Ancaria aufgenommen zu werden, zunichte gemacht werden. Vielleicht stellen sie sich aber auch nur blind, weil sie längst selbst treue Anhänger des Sakkara-Kults sind. Seine Mitglieder sind mitten unter uns, und nicht bei allen ist ihre Gesinnung offensichtlich. Inzwischen könnte jeder dem Orden anhängen, wirklich jeder. Und genau das macht es so schwierig, etwas gegen diese Verräter der Magie zu unternehmen; es ist unmöglich zu sagen, wem man noch vertrauen kann und wem nicht. Man kann niemandem hier mehr trauen, am allerwenigsten den Mächtigen. Denn Macht, das hat die Geschichte uns mehr als einmal gelehrt, verlangt immer nur nach noch mehr Macht.“

Zara verlagerte auf dem Stuhl ihr Gewicht; Glassplitter knirschten unter den Stuhlbeinen. „Ihr redet die ganze Zeit von Macht und davon, dass der Kult die Herrschaft an sich reißen will. Aber was genau führen die Sakkara-Anhänger im Schilde? Wie wollen sie dieses Ziel erreichen?“

Wigalf zuckte mit den Schultern. „Bislang weiß ich es zwar nicht konkret, aber es muss etwas Gewaltiges sein, etwas, das nicht einfach das aufgreift, bei dem Iliam Zak gescheitert ist, sondern noch darüber hinausgeht. Hier geht es nicht um Sternental oder Hohenmut oder den Thron; Thurlak will die ganze Welt unterjochen, und kaum einer in der Enklave ist bereit, ihm entgegenzutreten und ihm die Stirn zu bieten. Zwar hat sich im Verborgenen mittlerweile so etwas wie eine Gegengruppierung zum Sakkara-Kult gebildet, eine Gruppe von Zauberern wie ich selbst, denen es nie darum ging, sich mit ihrer Kunst persönliche Vorteile zu verschaffen, sondern darum, dem Leben selbst zu Diensten zu sein. Doch wir sind wenige, und viele haben Angst, sodass wir im Grunde nichts gegen den Sakkara-Kult ausrichten können. Der Kult ist längst so mächtig, dass er uns leicht in den Abgrund befördern könnte.“

Er schnippte mit den Fingern. „Wir allein sind ohne die Unterstützung der Bruderschaft nicht in der Lage, den Kult aufzuhalten. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis er sein Ziel erreicht hat, und wenn es erst einmal soweit ist...“

Wigalf verstummte düster, als wäre es nicht notwendig, das Offensichtliche auszusprechen.

„Niemand wird seines Lebens mehr sicher sein“, fuhr er dann fort, und jetzt trat zum ersten Mal seit seinem Auftauchen so etwas wie Furcht und Unbehagen in seine Züge. „Nicht Mensch, nicht Ork, nicht Elf ... niemand, in ganz Ancaria nicht. Auch ich nicht. Mit jedem Tag, der vergeht, mit jedem Wort, das ich zu Euch sage, rückt mein Ende näher, wenn nicht jemand etwas gegen diese Verschwörer unternimmt. Deshalb rede ich mit Euch: Weil Ihr die Einzigen seid, die Willens sind, sich der Gefahr zu stellen, wenn ich mir auch nicht sicher bin, ob Ihr fähig seid, ihr auch Herr zu werden. Aber ich fürchte, das wird sich schnell zeigen.“

Zaras Stirn legte sich in Falten. „Was meint Ihr damit?“

„Der Kult verliert allmählich seine Scheu vor Entdeckung“, erklärte Wigalf. „Jetzt, da praktisch jeder weiß, dass es sie gibt, geben sie sich kaum noch Mühe, ihre üblen Praktiken im Verborgenen zu treiben. Im Gegenteil; inzwischen ist es bereits so weit, dass sie ihre verderbten Rituale in unser aller Mitte praktizieren, nur einen Steinwurf von der Großen Burg entfernt, die ihre Augen angeblich überall hat und doch blind ist gegen die Bedrohung direkt vor ihrer Nase.“

„Ihr wisst, wo sich die Verschwörer aufhalten?“, forschte Jael.

„Ich weiß, wo sie sich treffen“, sagte Wigalf. „Es gibt da einen Friedhof, ein wenig außerhalb von Sternental, wo sie sich inzwischen jede Nacht zu Schwarzen Messen zusammenfinden und ihre verderbte Magie praktizieren. Dann erhellt der Lichtschein ihrer Fackeln die Nacht über dem Totenacker, und seltsame Gesänge liegen in der Luft, so alt und Grauen erregend, dass sie einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Niemand weiß genau, was sie dort treiben, da keiner den Mut hat, nachzusehen, aber es müssen grausige, barbarische Rituale sein, so jenseits der Grenzen des Bösen, dass wir es uns nicht einmal vorzustellen vermögen.“

Jael war sofort voller Tatendrang; die Möglichkeit, aus erster Hand mehr über die Praktiken des Sakkara-Kults zu erfahren und ihm womöglich so schnell auf die Spur zu kommen, ließ ihr Misstrauen verfliegen. „Und wie weit ist es von hier bis zu diesem Friedhof?“, fragte sie.

„Nicht weit“, erwiderte Wigalf, hob seinen Stock und deutete damit grob in westliche Richtung. „Gleich außerhalb der Stadtmauern, am Rande des Forsts; nah bei der Enklave, aber doch abgelegen genug, dass man ungestört ist.“ Sein Blick heftete sich erst auf die Seraphim und glitt dann weiter zu ihren Begleitern, und so etwas wie verzweifelte Hoffnung lag in seinen Worten, als er sagte: „Dann seid Ihr also gewillt, der Bedrohung die Stirn zu bieten?“

„Deswegen sind wir hier“, sagte Jael knapp. „Im Übrigen: Wenn wir es nicht tun – wer dann?“

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