Till war schon als Kind ein rechter Lausejunge. Er ärgerte die Kneitlinger, wo er konnte. Sie beschwerten sich jedes Mal bei den Eltern, aber meist war dem Bengel nichts nachzuweisen. Und der Vater zog ihm zwar dann die Hosen straff, weil er dachte: Die Kneitlinger werden schon Recht haben, und es kann nichts schaden.
Doch warum er den Jungen versohlte, wusste er eigentlich nie.
Na, das ärgerte dann den kleinen Till, und dann ärgerte er die Kneitlinger wieder, und dann ärgerten sich die Kneitlinger noch mehr, und zum Schluss bekam Till wieder Hiebe. Das wurde dem Vater mit der Zeit zu anstrengend. Er begann zu kränkeln und starb. Nun zog die Mutter mit dem Jungen aus Kneitlingen fort und in ihr Heimatdorf an der Saale. Till war mittlerweile sechzehn Jahre alt geworden und sollte einen Beruf ergreifen. Aber er dachte nicht im Traum daran. Stattdessen lernte er auf dem Wäscheseil, das auf dem Boden gezogen war, Seiltanzen. Wenn ihn die Mutter dabei erwischte, kletterte er schleunigst aus dem Bodenfenster und setzte sich aufs Dach. Dort wartete er dann, bis sie wieder gut war. Das Bodenfenster ging auf den Fluss hinaus. Und als Till das Seiltanzen einigermaßen konnte, spannte er das Seil vom Boden aus über die Saale hinweg zu dem Bodenfenster eines Hauses, das am anderen Ufer stand.
Die Kinder, die das beobachtet hatten, und die Nachbarn, die aus den Fenstern guckten, sperrten Mund und Nase auf, als Till das Seil betrat und langsam darauf balancierte, ohne herunterzufallen.
An beiden Ufern versammelten sich die Leute und blickten in die Luft. Sie waren fast so gespannt wie das Seil. Schließlich wurde auch Eulenspiegels Mutter aufmerksam. Sie kletterte, so schnell es ging, zum Boden hinauf, schaute aus dem Fenster und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Ihr Herr Sohn stand, mitten über dem Fluss, auf ihrer Wäscheleine und machte Kunststückchen! Kurz entschlossen nahm sie das Kartoffelschälmesser aus der Schürzentasche und schnitt – ritsch! – die Leine durch. Und Till, der nichts gemerkt hatte, fiel sozusagen aus allen Wolken. Er fiel aus den Wolken kerzengerade in den Fluss und musste, statt auf dem Seil zu tanzen, in der Saale baden. Die Kinder und die Nachbarn und überhaupt alle, die das mit angesehen hatten, lachten sich halb tot und ärgerten Till durch schadenfrohe Zurufe.
Er krabbelte ans Ufer und tat, als hätte er nichts gehört. Doch im Stillen nahm er sich vor, ihnen ihre Schadenfreude heimzuzahlen. Wenn möglich mit Zinsen.
Schon am nächsten Tag spannte er also sein Seil von neuem. Diesmal machte er es aber nicht am Bodenfenster seiner Mutter fest. Denn er wollte nicht schon wieder in der Saale baden. Weil, wie es heißt, von dem zu häufigen Baden die Haut dünn wird.
Nein, er spannte das Seil zwischen zwei anderen Häusern aus, hoch in der Luft, aber so, dass Frau Eulenspiegel es nicht sehen konnte. Natürlich kamen die Kinder wieder angerannt, und Bauern und Bäuerinnen kamen auch. Sie lachten und machten Witze über Till und fragten, ob er wieder vom Seil fallen wolle. Einige riefen, er müsse unbedingt herunterfallen, sonst mache ihnen die ganze Sache keinen Spaß. Eulenspiegel aber sagte: »Heute zeige ich euch etwas noch viel Schöneres. Ihr müsst nur eure linken Schuhe ausziehen und sie mir aufs Seil geben. Sonst kann ich das Kunststück leider nicht machen.« Erst wollten sie nicht recht. Doch dann zog einer nach dem anderen seinen linken Stiefel aus, und schließlich hatte Till hundertundzwanzig linke Schuhe vor sich liegen! Er knüpfte sie mit den Schnürsenkeln zusammen und kletterte, mit dem Stiefelberg beladen, aufs Seil hinauf.
Unter ihm standen hundertundzwanzig Zuschauer, und jeder von ihnen hatte nur noch einen Schuh an.
Eulenspiegel ging nun, vorsichtig balancierend, mit dem riesigen Schuhbündel Schritt für Schritt auf dem Seil vorwärts. Als er in der Mitte des Seils angekommen war, knüpfte er die Senkel auf und rief: »Aufgepasst!« Und dann warf er die hundertzwanzig Schuhe auf die Straße hinunter.
»Da habt ihr eure Pantinen wieder!«, rief er lachend. »Passt aber gut auf, dass ihr sie nicht vertauscht!«
Da lagen nun hundertzwanzig Schuhe auf der Straße, und drumherum standen hundertzwanzig Leute, von denen jeder einen Schuh zu wenig anhatte! Und dann stürzten sie wie die Verrückten über die Schuhe her. Jeder suchte den, der ihm gehörte. Und bald war die schönste Prügelei im Gange. Man schlug sich und riss sich an den Haaren und wälzte sich brüllend auf der Straße herum.
Es dauerte eine Stunde und dreiundvierzig Minuten, bis jeder seinen linken Schuh wiederhatte. Aber wie die armen Leute aussahen! Sie hatten Beulen am Kopf und Löcher in den Hosen. Sieben Zähne lagen auf der Straße. Und neunzehn Bauern und elf Kinder konnten kaum nach Hause gehen, so humpelten sie. Alle aber schworen sie, Till kurz und klein zu prügeln, wenn sie ihn erwischten.
Nur, das mit dem Erwischen war schwierig. Denn Till ging ein Vierteljahr lang nicht vor die Tür. Er saß die ganze Zeit bei seiner Mutter im Haus. Und sie freute sich und sagte: »Das ist recht, mein Sohn. Endlich bist du vernünftig geworden.« Die Ärmste!