18

Paul Hagbolt fand sich in einer fremden Umgebung wieder, als er aus seiner zeitweiligen Betäubung erwachte. Seine ersten Eindrücke waren noch völlig unzusammenhängend, aber er registrierte warme, atembare Luft, aromatische Düfte und graue Pastelltöne mit rosa Schattierungen — aber auch einzelne grüne Flecken.

Im ersten Augenblick war er sich noch nicht völlig darüber im klaren, daß er sich jetzt im Innern der Untertasse befand. Er glaubte eher an einen plötzlichen Übertritt in eine andere Existenzebene.

Er hatte die Untertasse kaum bewußt wahrgenommen. Während die anderen zu ihr aufsahen, hatte er mit dem salzigen Wasser gekämpft und dabei Miau an sich geklammert. Als er plötzlich nach oben gerissen worden war, hatte er noch geglaubt, den Kamm des nächsten Brechers erreicht zu haben, der ihn mit sich forttrug.

Dann hatte er rasch hintereinander drei Beobachtungen gemacht, die ihm lebhaft im Gedächtnis geblieben waren: erstens, ein riesiges Katzengesicht in Grün und Purpur; zweitens, ein Augenpaar mit unglaublich dunkelblauer Iris um sternförmige Pupillen; und drittens, eine lange, schmale handgroße Pfote mit braunen Ballen und vier dunkelgrauen Krallen. Er hatte den Eindruck gehabt, daß sie eben noch im Kragen seiner Jacke verhakt gewesen waren — vielleicht sogar in seinem Nacken.

Im nächsten Augenblick schwebte er ohne die geringste Anstrengung durch ein warmes, graues, grünes und rosafarbenes Meer. Erst jetzt begann Paul zu glauben, daß er sich in der Untertasse befand, die er flüchtig gesehen hatte — in der Untertasse, die jetzt schneller als jedes Geschoß davonraste, obwohl Paul keine Beschleunigung spürte.

Ihm fiel nur ein Begriff ein: Antigravitation. Wenn dieses Raumschiff in seinem Innern eine auf Null herabgesetzte Schwerkraft besaß — vielleicht sogar eine auf Null reduzierte Bewegungsenergie —, wurde der fehlende Andruck plötzlich erklärlich. Deshalb schwebte Paul jetzt auch zwischen unzähligen Wassertropfen, die sich aus seiner durchnäßten Kleidung gelöst hatten, und veränderte seine Stellung dabei immer, so daß die Blumenbeete einmal neben ihm, dann über seinem Kopf und wieder unter seinen Füßen lagen.

Dann spürte er einen stechenden Schmerz in der rechten Hand, als sei er von einem Dutzend Wespen gleichzeitig gestochen worden: Miau war durch das unerwartete Bad im Meer und die plötzlichen Bewegungen so erschrocken, daß sie sich an Pauls Hand festklammerte. Er schleuderte sie mit einer impulsiven Bewegung von sich fort und beobachtete, daß sie in einem Blumenbeet landete, wo sie zwischen gelben Blüten verschwand.

Im nächsten Augenblick wurde er von hinten gepackt und zu Boden geworfen. Er fiel auf das Deck, das aus einer grauen Plastikmasse bestand, und konnte sich nicht mehr aufrichten. Am meisten erschreckte ihn dabei die violett-grüne Pfote, die sich um seinen Hals gelegt hatte, als wolle sie ihm die Luft abschnüren.

Paul versuchte aufzustehen, mußte aber feststellen, daß er nur noch den Kopf drehen konnte. Obwohl die fehlende Schwerkraft unterdessen nicht etwa durch hohen Andruck ersetzt worden war, lag er mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem glatten Deck und konnte sich nicht bewegen. Etwa drei Meter über sich sah er sein Spiegelbild an der Decke — ein nasser Mann mit zerrauften Haaren und blassem Gesicht.

Allmählich wurde ihm klar, wie das Innere der Untertasse wirklich aussah. Mehr als die Hälfte der Blumen, die ihn anfangs so verblüfft hatten, waren in Wirklichkeit nur Reflexionen. Decke und Boden bestanden aus spiegelglatten runden Scheiben mit etwa sechs Meter Durchmesser. Paul lag ausgestreckt im Mittelpunkt einer dieser Scheiben. Die drei Meter hohe Seitenwand war dicht mit Blumen in allen nur vorstellbaren Farbtönen besetzt — er erkannte gelbe, blaue, violette, dunkelrote, aber vor allem rosafarbene. Die gekrümmte Wandfläche war jedoch nicht ausschließlich mit Blumen bewachsen, sondern enthielt auch drei Vorrichtungen, die Paul an Schaltpulte erinnerten. Sie lagen an den Ecken eines imaginären gleichschenkeligen Dreiecks, in dessen Mittelpunkt er sich befand. Aber die Pulte waren zumindest teilweise hinter Blumen und Blütenranken verborgen — wie rein praktische Gegenstände in dem kleinen Appartement einer eleganten und modebewußten Frau.

Das Ganze wurde von einem warmen gelblichen Licht beleuchtet, dessen Quelle Paul nicht entdecken konnte. Es war eine Art unsichtbare Sonne — fast unheimlich.

Aber noch viel unheimlicher war das Gefühl, das er dann hatte: Er glaubte zu spüren, daß seine Erinnerungen und sein Wissen systematisch durchforscht wurden. Paul erinnerte sich daran, daß Ertrinkende angeblich in den letzten Sekunden ihres Lebens noch einmal alles an sich vorüberziehen sehen, was sie jemals getan haben, und fragte sich, ob das gleiche Phänomen zutraf, wenn man in einem Meer von Blumen ertrank — oder wenn man darauf gefaßt sein mußte, von einem Tiger zerrissen und verschlungen zu werden.

Seine Gefühlsempfindungen wechselten einander so rasch ab, daß er nur verschwommen bemerkte, wovon sie handelten. Sie waren sein ureigener Privatbesitz, aber trotzdem nahm er sie kaum wahr, als sie blitzschnell auftauchten und wieder verschwanden — eine ungeheure Demütigung! Gegen Ende dieser geistigen Kontrolle fielen ihm allerdings einige Vorstellungen auf, die sich seltsamerweise mit Tiergärten und Balletten beschäftigten.

Er sah sich um, konnte aber nicht feststellen, wo Miau oder das Tigerwesen sich verborgen hielten. Die unsichtbare Sonne strahlte weiter auf ihn herab. Die Blumenbeete dufteten so betäubend wie zuvor.


Don Merriams winziges Raumschiff war eben zum drittenmal in den Schatten des Wanderers eingetreten. An Steuerbord erkannte er die Nachtseite des seltsamen grün-grauen Planeten. Vor ihm strahlten Tausende von Sternen aller Größen und Helligkeitsklassen, an Backbord erkannte er einen schwarzen langgestreckten Körper — den Mond, der jetzt jeden Augenblick auseinanderfallen konnte. Don war müde und hatte seine Versuche an dem Funkgerät schon vor einiger Zeit aufgegeben.

Ein dunkelgelber Punkt erschien auf der Oberfläche des Wanderers und verwandelte sich rasch in einen heller strahlenden Lichtbalken, der schräg nach oben zeigte. Dann wurde er zu einem doppelten Lichtstrahl, dessen beide Teile durch eine dünne schwarze Linie voneinander getrennt waren — wie das Licht der fluoreszierenden Scheinwerfer, die in letzter Zeit für Autos modern geworden waren. Schließlich wurde der gelbliche Schein immer heller und stärker.

Erst jetzt merkte Don, daß es sich dabei nicht um eine Erscheinung handelte, die auf die Oberfläche des Wanderers beschränkt war, sondern um ein durchaus materielles Ding — oder zwei Dinge — mit geradem Kurs auf den ›Baba Yaga‹. Er zuckte zusammen und rieb sich die Augen, als im nächsten Augenblick zwei Objekte neben seinem Raumschiff auftauchten und dort ruckartig zum Stillstand kamen. Die beiden Objekte waren so nahe, daß der Rand des Bildschirms ihre äußersten Spitzen abschnitt.

Don hatte jetzt den Eindruck, zwei untertassenförmige Raumschiffe vor sich zu haben, die jeweils etwa fünfzehn Meter Durchmesser bei einer mittleren Decke von drei oder vier Metern hatten.

Seine erste Vermutung über ihre äußere Form wurde bestätigt, als die beiden Raumschiffe sich auf die Seite legten, ohne daß ein Feuerstrahl aus Steuerdüsen sichtbar geworden wäre. Jetzt hatte er zwei gelbe Scheiben vor sich, von deren Unterseite sich jeweils deutlich ein violettes Dreieck abhob.

Dann spürte er, daß er sanft nach hinten gedrückt wurde während der ›Baba Yaga‹ sich nach vorn zwischen die beiden Raumschiffe seiner Eskorte schob, bis der Bildschirm nur noch einen kleinen Teil der Scheiben zeigte. Von dann ab hielten sie diese Position zueinander sehr genau ein, als sei irgendwie eine feste Verbindung zu seinem Schiff hergestellt worden — und zu seinem Körper, was Don zunächst einigermaßen in Erstaunen versetzte. Er schätzte, daß der ›Baba Yaga‹ mit etwa hundertfünfzig Kilometer pro Sekunde nach oben gezogen wurde. Und trotzdem hatte er nichts von dem Andruck gespürt, der ihn gegen die Schiffswand hätte drücken müssen.

Bisher hatte Don noch nie den Verdacht gehabt, einer Halluzination erlegen zu sein — nicht einmal während des Fluges durch den Mond. Aber jetzt glaubte er ernsthaft daran. Sein professionelles Wissen beruhte schließlich auf der Vorstellung, daß jede Beschleunigung mit Treibstoff und erhöhtem Andruck bezahlt werden müsse. Was jetzt mit dem ›Baba Yaga‹ und seinem eigenen Körper geschah, war nicht nur eine unerwartete Auswirkung fremder Einflüsse von außen, sondern auch ein fast erschreckender Widerspruch zu allem, was Don jemals über den Raumflug gelernt hatte. Von zehn Kilometer pro Sekunde auf hundertfünfzig bei einer Kursänderung von neunzig Grad, ohne die geringste Bewegung zu spüren und ohne irgendein Triebwerk in Funktion zu sehen — das war nicht nur erstaunlich, sondern geradezu unmöglich!

Trotzdem wurden immer mehr Sterne sichtbar, und plötzlich verließ der ›Baba Yaga‹ den Schatten des Wanderers, um in das strahlende Sonnenlicht einzutreten. Don kniff die Augen zusammen, als das helle Licht durch die Bullaugen in die Kabine drang. Dann tastete er nach seiner Schutzbrille mit polarisierenden Gläsern, setzte sie auf und sah wieder hinaus. Der ›Baba Yaga‹ stand offenbar noch immer mit den beiden geheimnisvollen Raumschiffen in Verbindung, denn er bewegte sich weiter mit phantastischer Geschwindigkeit in einer weiten Kreisbahn um den Wanderer. Don erkannte jetzt sogar die Erde hinter dem neuen Planeten; in unmittelbarer Nähe vor sich hatte er die seltsamen Fäden, die ihm schon zuvor aufgefallen waren — sie stellten eine Verbindung zwischen dem Mond und dem Wanderer her. Zwei von ihnen waren jetzt dicker geworden.

Vor Dons Schiff liefen sie allmählich zusammen und erstreckten sich nach unten, wo der Nordpol des Wanderers lag. Dort schienen sie dicht nebeneinander in der Oberfläche des Planeten zu enden — einige auf der Tagseite, andere auf der Nachtseite. Aus dieser Entfernung wirkten sie wie unheimliche blätterlose Ranken, die aus dem Wanderer sprossen. Der ›Baba Yaga‹ und die beiden Raumschiffe näherten sich ihnen rasch.

Als Don den Eindruck hatte, sie müßten in der nächsten Sekunde entweder an den ›Ranken‹ vorüberfliegen oder mit ihnen zusammenprallen, erhielten seine Überzeugungen erneut einen schweren Schlag, denn der ›Baba Yaga‹ und seine Eskorte verloren von einem Augenblick zum anderen den größten Teil ihrer Geschwindigkeit. Gleichzeitig änderten sie wieder ihren Kurs und flogen jetzt auf die Oberfläche des Planeten zu.

Entweder verfügten die fremden Raumschiffe über den trägheitslosen Antrieb, den es sonst nur in utopischen Romanen gab, und transportierten den ›Baba Yaga‹ in ihrem Null-g-Feld — oder er hatte Halluzinationen, die ...

Don drehte sich nach dem Radargerät um und versuchte, seine augenblickliche Flughöhe zu bestimmen. Zu seiner großen Überraschung erhielt er sofort eine genaue Anzeige. Er befand sich fünfhundertzwanzig Kilometer über der Erdoberfläche und näherte sich ihr mit fünfzehn Kilometer pro Sekunde. Don betätigte instinktiv die Steuerdüsen, um die Fluglage des ›Baba Yaga‹ zu verändern, damit er bei der Landung mit dem wenigen Treibstoff bremsen konnte, der ihm noch zur Verfügung stand.

Die Steuerdüsen brachten keine Veränderung der Fluglage. Der vordere Bildschirm zeigte noch immer den Planeten unter Don, anstatt die Sterne über ihm. Erst dann fiel ihm auf, daß er parallel zu einer der Ranken oder Röhren nach unten sank, die den Mond mit dem Wanderer verbanden. Aus dieser geringen Entfernung war zu erkennen, daß sie fast zwei Kilometer Durchmesser haben mußte, denn sie füllte ein Viertel des Bildschirmes.

Don sah jetzt auch, daß die Außenfläche der Säule nicht durchgehend aus glattem Material bestand, sondern auch aus kleinen und größeren Felsbrocken — vermutlich aus Mondstaub und Felsen, die irgendwie durch die riesigen Röhren gesaugt wurden.

Die Felsbrocken bewegten sich langsam an ihm vorbei nach unten — wie ein Zug, der auf einem anderen Gleis etwas schneller fährt. Aber das bedeutete, daß die ganze Säule sich ebenfalls mit etwa fünfzehn Sekundenkilometer bewegte! Warum zersplitterten die Felsen dann nicht in einer Staubwolke, wenn sie auf die Oberfläche des Planeten trafen?

Plötzlich begannen die Felsbrocken rascher an Don vorüberzuziehen — als ob der Zug auf dem Nebengleis sich in einen Schnellzug verwandelt habe.

Entweder hatte die Geschwindigkeit in Innern der Röhre sich erhöht oder ...

Don schaltete das Radargerät nochmals ein. Der ›Baba Yaga‹ und seine Eskorte hatten in der Zwischenzeit fünfzig Kilometer Höhe erreicht, aber ihre Sinkgeschwindigkeit betrug nur noch eineinhalb Kilometer pro Sekunde. Dons zweite Vermutung war bestätigt worden: Sie sanken langsamer als zuvor.

Aber das Radargerät zeigte auch, daß diese Sinkgeschwindigkeit nicht weiter abnahm. Don benützte die letzten zwanzig Sekunden, um die Oberfläche des Wanderers genauer zu betrachten. Dann riß er sich die Brille ab, als sein Schiff wieder in den Schatten des Planeten eintrat, und bereitete sich auf den Aufprall vor, der sein Ende bedeuten mußte.

Aber die dunkle Oberfläche war plötzlich nicht mehr da. Don hatte den Eindruck, der ›Baba Yaga‹ und seine Eskorte seien geradewegs durch die Decke eines riesigen beleuchteten Saales geflogen, denn er erkannte jetzt weit unter sich eine zweite Oberfläche. In diesem Augenblick wurde ihm erstmals klar, daß die sogenannte Oberfläche, die Licht und Radar reflektierte, in Wirklichkeit nur ein hauchdünner Film sein konnte, durch den selbst ein zerbrechliches Raumschiff wie der ›Baba Yaga‹ mit fast sechstausend Stundenkilometern fliegen konnte, ohne Schaden zu nehmen. Hinter dieser dünnen Hülle, die sich in dreißig Kilometer Höhe um den gesamten Planeten erstreckte, lag erst die wirkliche Oberfläche — wenn er jetzt nicht schon wieder eine Illusion vor sich hatte.

Es mußte die eigentliche Oberfläche sein, wenn komplexe und offenbar massive Gegenstände aller Art als Maßstab dafür gelten konnten. Die weite Ebene, die jetzt in Dons Bildschirm sichtbar geworden war, enthielt riesige Löcher mit fast zwei Kilometer Durchmesser, aus denen ein schwacher Lichtschein nach oben drang, und zwischen diesen Schächten alle möglichen gigantischen Objekte in verschiedenen Formen und Farben.

Riesige Gebäude, Maschinen, Fahrzeuge oder nur künstlerische Formen? Vielleicht handelte es sich sogar um Naturerscheinungen?

Der ›Baba Yaga‹ und seine Eskorte näherten sich rasch einem Punkt zwischen zwei Schächten. Don starrte nach unten, hatte aber keine Angst mehr, daß er auf der Oberfläche zerschellen würde, denn er vertraute jetzt auf die Fähigkeiten der unbekannten Wesen, die ihn hierher zu sich geholt hatten. Sein winziges Schiff sank immer langsamer, bis es endlich kaum zwanzig Meter über dem Boden zum Stillstand kam. In diesem Augenblick begann der ›Baba Yaga‹ eine langsame Drehung, die erst endete, als die Triebwerke wie vor jeder Landung nach unten zeigten.

Während das Schiff vorsichtig auf seine drei Teleskopbeine herabsank, merkte Don, daß sich ein Schwerefeld auf ihn auszuwirken begann. Er hielt sich an seinem Sitz fest, während er immer schwerer wurde, bis sein Gewicht schließlich fast dem auf der Erde entsprach, soweit er das nach seinem Aufenthalt auf dem Mond beurteilen konnte. Dann hörte er ein leises Geräusch, sah erschrocken zu Boden und stellte fest, daß die Luftschleuse sich völlig ohne sein Zutun geöffnet hatte. Die Leiter hing senkrecht herab und berührte leicht den Boden.

Im gleichen Augenblick sagte eine etwas undeutliche Stimme: »Komm! Zieh den schweren Anzug aus und komm herunter!«

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