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Paul Hagbolts Muskeln und Gelenke schmerzten allmählich, denn seine unnatürliche Körperhaltung war selbst im schwerelosen Zustand auf die Dauer nicht zu ertragen. Er konzentrierte seine Gedanken auf diese Beschwerden, hatte aber keinen Erfolg damit. Nachdem er seine erste Angst vor Tigerishka überwunden hatte, war er mutig genug gewesen, sich über seine mißliche Lage zu beschweren und gleichzeitig einige Fragen zu stellen. Aber damit hatte er wenig Erfolg gehabt, denn das seltsame Wesen hatte offenbar nicht die Absicht, sich noch länger mit ihm zu befassen, seitdem es gemerkt hatte, daß die Gedanken in der Kabine nicht von Miau, sondern von Paul ausgingen.

»Affengeschwätz«, hatte Tigerishka nur verächtlich gefaucht, während sie Paul mit einer samtweichen Pfote über Mund und Kehle fuhr. Seitdem war sein Gesicht bis zur Nase wie gelähmt — als ob er einen unsichtbaren Knebel im Mund habe. Er hatte sich bemüht, mit Tigerishka in Gedankenverbindung zu treten weil er wußte, daß sie seine Gedanken lesen konnte, aber bisher waren diese Versuche ergebnislos geblieben.

Nachdem Tigerishka dafür gesorgt hatte daß ihr Gefangener ihr nicht mehr lästig werden konnte, beschäftigte sie sich wieder mit ihren eigenen Angelegenheiten — der Schönheitspflege für sich und Miau. Sie leckte die Katze mit ihrer breiten Zunge sauber und benützte dann einen silbernen Kamm, um den Pelz sorgfältig zu ordnen. Während sie mit rhythmischen Strichen kämmte, summte sie leise vor sich hin und erzeugte dabei irgendwie zwei Stimmen gleichzeitig, was allerdings nicht sehr melodisch klang.

Dann hatte sie Miau gefüttert, als ginge sie die Welt gar nichts an, die unter ihr in panische Angst verfallen war. Paul wußte nicht, ob ihre Haltung darauf angelegt war, ihn bewußt zu ärgern, oder ob Tigerishka den Vorgängen auf der Erde tatsächlich so völlig gleichgültig gegenüberstand. Andererseits war er sich nicht einmal darüber im klaren, ob die Untertasse noch über Südkalifornien oder überhaupt in Erdnähe schwebte. Jedenfalls hatte Tigerishka von irgendwoher einen fetten dunkelroten Wurm geholt, der nach Pauls Meinung allerdings kein lebendes Tier, sondern ein synthetisches Erzeugnis war. Jedenfalls bewegte er sich trotzdem genug, um Miaus Interesse zu erregen, die lange mit ihm spielte, während Tigerishka ihr dabei zusah bevor sie ihn schließlich schnurrend verschlang.

Dann war Tigerishka wieder an das Kontrollpult gegangen und hatte dort ihre normale Tätigkeit wiederaufgenommen. Paul kam zu dem Schluß, daß sie vor allem als Beobachterin zur Erde entsandt worden war.

Als der riesige Bildschirm zum erstenmal durchsichtig zu werden schien, wäre Paul fast zusammengezuckt, wenn seine Fesseln ihn nicht daran gehindert hätten. Etwa fünfhundert Meter unter ihm wogte das aufgewühlte Meer, aus dem sich eine winzige Felseninsel erhob. In ihrer Nähe war ein Tanker gestrandet; sein Bug lag so tief im Wasser, daß die grünen Wogen immer wieder darüber hinweg schäumten.

Paul brauchte einige Zeit, um sich von seinem Schreck zu erholen. Dann wurde ihm allmählich klar, daß er die Szene nicht auf einem Bildschirm gesehen hatte, sondern daß einfach ein Stück der Außenwand durchsichtig geworden war. Eben hatte er noch geglaubt, senkrecht nach unten in die stürmische See zu stürzen, aber jetzt sah er an der gleichen Stelle wieder einen großen Spiegel zwischen Blütenranken.

Die gleiche Szene wiederholte sich in kurzen Zeitabständen ein halbes dutzendmal, obwohl die Beobachtungshöhen jeweils größer oder geringer waren. Paul hing mit verkrampften Magenmuskeln über Küsten, Feldern und Städten. Einmal glaubte er unter sich die nördlichen Ausläufer des San-Fernando-Tales mit einem Teil des Santa-Monica-Gebirges zu erkennen, war sich aber seiner Sache nicht ganz sicher.

Die nächste Aussicht war allerdings unverkennbar. Die Untertasse mußte sich zu diesem Zeitpunkt sieben oder acht Kilometer über der Erde befinden, aber die Stadt, auf die Paul jetzt herabsah, füllte das durchsichtige Fenster von einem Rand zum anderen. Die Stadt lag in der Sonne unter ihm — eine Seite am Meer zwei von Bergen flankiert und die vierte ohne natürliche Begrenzung.

Los Angeles brannte. Diesmal schwebte die Untertasse so niedrig, daß Paul die größten Brandherde erkannte: Santa Ana Long Beach, Torrance, Inglewood, das Stadtzentrum von Los Angeles und Santa Monica, von wo aus das Feuer auf die Südhänge des Santa-Monica-Gebirges übergegriffen hatte, so daß auch Beverly Hills und Hollywood betroffen waren.

Margos winziger Bungalow in Santa Monica und sein eigenes Appartement waren vermutlich bereits den Flammen zum Opfer gefallen. Paul stellte sich vor, wie dort unten der Kampf gegen das Feuer geführt wurde, wie die Feuerwehr gleichzeitig zu zehntausend verschiedenen Bränden gerufen wurde und wie die Menschen selbst zu retten versuchten, was nicht mehr zu retten war.

Paul merkte erst jetzt, daß er trotz des unsichtbaren Knebels verzweifelt versucht hatte, Tigerishka etwas zuzurufen — sie sollte endlich etwas dagegen tun, anstatt nur gelassen zuzusehen!

Tigerishka drehte sich nicht einmal nach ihm um, sondern starrte weiter in Richtung Südwesten auf das Meer hinaus.

Zwei Kilometer unter ihnen zog eine dunkelgraue Wolkenbank mit schwarzen Schleiern rasch über die Küste landeinwärts. Die dunklen Schleier trafen mit dem Feuer in Long Beach zusammen und färbten den Rauch weißlich — Regen! Ein Wolkenbruch!

Paul sah auf die anderen Brände hinab, die in den nächsten Minuten ebenfalls unter der Regenwolke liegen würden, und erkannte im gleichen Augenblick zwei Düsenjäger der Luftwaffe, die steil von unten heraufkamen. An ihren Stummelflügeln bildeten sich plötzlich weiße Rauchwolken, dann sah Paul vier Raketen, die rasch größer wurden, als sie sich auf Kollisionskurs mit der Untertasse näherten.

Im nächsten Augenblick hatte er das Gefühl, Los Angeles sei zwanzig Kilometer tiefer gesunken. Die Szene vor seinen Augen hatte sich unglaublich vergrößert. Er erkannte jetzt mehr Brandherde — entlang der Küste nach Süden und weiter nördlich in Richtung Bakersfield. Dann wurde die Außenwand wieder undurchsichtig, aber diesmal nicht als Spiegel, sondern als glatte grüne Fläche.

Tigerishka griff mit einer langen Pfote in das nächste Blumenbeet und holte Miau daraus hervor. Sie drückte die kleine Katze an sich, wandte sich halb von Paul ab und sagte laut: »Siehst du, jetzt habe ich seine komische Affen-Stadt für ihn gerettet. Ich habe eine große Untertasse über dem Meer verständigt, damit sie Regen bringt. Und was ist der Dank dafür? Ich helfe den Affen, aber die Affen schießen auf mich.«

Miau wäre offensichtlich lieber in ihr Versteck zurückgekehrt, aber Tigerishka streichelte sie, bis die Katze zufrieden schnurrte.

»Wir haben nichts für Affen übrig, nicht wahr, Kleine?« fuhr Tigerishka mit einem Seitenblick auf Paul fort. Ihre Stimme klang grausam spöttisch und trotzdem amüsiert. »Affen! Feig, geschwätzig und aufdringlich — keine Individualität, kein Flair!«

Paul hätte sie in diesem Augenblick am liebsten erwürgt. Ja, er wollte seine Hände um den grünen Pelz an ihrem Hals legen und ...

Tigerishka drückte Miau enger an sich und flüsterte laut: »Wir finden, daß er schlecht riecht, nicht wahr? Sogar seine Gedanken riechen schlecht.«

Paul erinnerte sich daran, daß er immer geglaubt hatte, Margo sei zu herrschsüchtig und kommandiere ihn ständig herum. Aber das war alles in der guten alten Zeit gewesen, bevor er Tigerishkas Bekanntschaft gemacht hatte.


Don Merriam saß auf der Kante des Bettes, das wie ein einziges großes Kissen in dem kleinen Raum mit den angenehm pastellfarben leuchtenden Wänden lag.

Vor seinen Knien stand ein niedriger Tisch, auf dessen Platte ein durchsichtiger Becher, ein Wasserkrug aus dem gleichen Material und ein Teller mit einem Dutzend weißer Würfel standen. Er hatte rasch hintereinander drei Becher Wasser getrunken, aber nur versuchsweise von einem der Würfel abgebissen, obwohl das weiße Zeug zu seiner Überraschung deutlich nach Brot roch und schmeckte.

Die einzigen anderen Einrichtungsgegenstände des Raumes waren ein WC und eine Art Dusche in einer Ecke, wo ständig Wasser aus feinen Düsen in der Decke rauschte, ohne zu spritzen oder über den Fußboden zu laufen. Don hatte sich bis jetzt noch nicht unter die Dusche gestellt, obwohl er nur noch Unterhose und Unterhemd trug.

Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Helligkeit des Raumes paßten sich seinen Erfordernissen so genau an, daß er den Raum fast als Bestandteil seines Körpers empfand.

Bevor die Schiebetür des Raumes sich hinter seinem Gastgeber oder Wärter geschlossen hatte, war Dons fragendes Stirnrunzeln mit einem kurzen Nicken beantwortet worden. »Trink, iß, erfrische und erhole dich«, hatte der rot-schwarze Tiger auf zwei Beinen ihn aufgefordert.

Das waren die einzigen Worte gewesen, die der Tiger zu ihm gesagt hatte, seitdem er ihn zum Mitkommen aufgefordert hatte. Während der Fahrt nach unten und während des kurzen Weges durch den breiten Korridor hatte das seltsame Wesen geschwiegen.

Don war erleichtert darüber, daß der Tiger ihn allein gelassen hatte. Trotzdem ärgerte er sich jetzt darüber, daß er zu erschrocken und schüchtern gewesen war, um den anderen zurückzuhalten und ihn auszufragen. Er wünschte sich fast, der Tiger käme wieder zurück.

Das war nur einer der merkwürdigen Gegensätze, die jetzt seine Empfindungen beherrschten: Müdigkeit — Unruhe; Sicherheit — Befremdung; der Drang, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, und der Drang, sie um jeden Preis im Zaum zu halten; das Bemühen, die Lage nüchtern zu betrachten, und das Bemühen, nur an eine Illusion zu glauben.

Der winzige Raum hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem kleinen Krankenhaus. Oder mit einer Kabine an Bord eines großen Ozeandampfers. Aber war denn ein Planet nicht auch eine Art Schiff, das sich durch den Raum bewegte? Jedenfalls dieser Planet mit seinen unzähligen Decks ...

Seine Müdigkeit wurde übermächtig; die Beleuchtungsstärke nahm ab; Don streckte sich auf dem Bett aus, aber sein Verstand begann im gleichen Augenblick zu schwatzen — allerdings in durchaus geordneter Form.

Dieser Effekt, der etwa den Auswirkungen einer größeren Dosis Pentothal entsprach, war beinahe angenehm. Zumindest neutralisierte er Dons aufgeregte Unsicherheit.

Ihm war durchaus klar, daß sie seine Gedanken eingehend untersuchten und analysierten, aber er hatte nichts dagegen einzuwenden.

Er verfolgte im Gegenteil interessiert, wie seine Gedanken, sein Wissen und seine erinnerten Erfahrungen sich allmählich zu einem langen Zug ordneten, der sich gleichmäßig fortbewegte.

Allmählich folgten die einzelnen Gedanken immer rascher aufeinander, bis Don sie nicht mehr deutlich unterscheiden konnte, aber selbst das war in Ordnung, denn dabei schlief er endlich ein.

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