Die Untertassen-Beobachter hatten seit anderthalb Stunden ihr Lager eingerichtet, hatten zu Abend gegessen und sich dann gegenseitig die kleinen Verletzungen und Kratzer verbunden, die fast alle bei der Beseitigung der Erdrutsche davongetragen hatten. Jetzt schlief mehr als die Hälfte von ihnen in den beiden Fahrzeugen oder zumindest unmittelbar neben ihnen. Obwohl die Nacht selbst für Kalifornien ungewöhnlich warm war, hatte Doddsy darauf bestanden, daß jeder eine Decke oder wenigstens eine Plane erhielt, weil es gegen Morgen vermutlich kühl werden würde.
Drei Gestalten hielten sich noch immer in der Nähe des Primuskochers auf, mit dem sie Wasser für Tee erhitzt hatten: Pop, der mit dem Rücken gegen einen Felsen gelehnt auf einer Decke saß und die Beine von sich streckte, während er seine schlechten Zähne nachdenklich betastete, als sei der liebe Gott ein Zahnarzt, den er wegen eines Kunstfehlers verklagen wollte, der Ladestock, der im Schneidersitz neben Pop saß und zu dem Wanderer aufsah, als habe er dort endlich den Nabel des Weltalls gefunden, in dessen Betrachtung er sich versenken mußte und der kleine Mann, der sein Notizbuch auf den Knien hatte und im Licht des Wanderers die Beobachtungen und Ereignisse des vergangenen Tages aufzeichnete.
Hunter kam Hand in Hand mit Margo heran und berührte die Schultern des kleinen Mannes. »Doddsy, Miß Gelhorn und ich möchten einen kleinen Spaziergang auf dem Hügelrücken machen«, erklärte er ruhig. »Falls etwas Ernsthaftes passieren sollte, hupen Sie bitte fünfmal.«
Der kleine Mann sah auf und nickte.
Pop warf einen mißtrauischen Blick auf die beiden und wandte sich dann schulterzuckend ab. Er pfiff leise vor sich hin.
Der Ladestock unterbrach seine Meditation, um Pop einen strafenden Blick zuzuwerfen. »Halt's Maul«, sagte er leise. Dann sah er nochmals zu dem Wanderer auf und wandte sich wieder Hunter und Margo zu. Sein Gesicht trug einen seltsamen entrückten Ausdruck, als er fortfuhr: »Ispan segnet euer Glück. Geht in Frieden.«
Der kleine Mann schrieb weiter und hielt den Kopf gesenkt. Seine Lippen waren zusammengepreßt, als wolle er ein Grinsen verbergen.
Don Merriam und Paul Hagbolt hatten eben begonnen, ihre Erfahrungen auszutauschen, als Tigerishka sie unterbrach.
»Laßt jetzt bitte das Geschwätz! Ich habe euch einige Fragen zu stellen.«
Sie stand vor dem Kontrollpult und hatte vermutlich stillschweigend Verbindung zu ihren Vorgesetzten in dem Wanderer aufgenommen. Paul und Don saßen auf dem Deck vor ihr.
»Seid ihr beide hier und bei anderen Kontaktaufnahmen mit Angehörigen meiner Rasse gut behandelt worden? Donald Merriam?«
Don runzelte die Stirn. »Nachdem ich glücklich vom Mond entkommen war — durch eigene Anstrengung, soweit ich informiert bin —, wurde ich von zwei Schiffen zu dem Wanderer eskortiert, dort in einem behaglich eingerichteten Raum etwa zwei Tage festgehalten und dann hierher gebracht. Ich bin kaum angesprochen worden, vermute aber, daß meine Gedanken und Erinnerungen eingehend überprüft worden sind. Das ist eigentlich alles.«
»Danke. Jetzt zu dir, Paul Hagbolt. Bist du gut behandelt worden?«
»Ja.«
»Danke. Frage zwei: Habt ihr gesehen, daß wir den Menschen geholfen haben?«
»Du hast mir selbst gezeigt, wie ihr die Flut zurücktreibt und Feuer durch Wolkenbrüche löscht«, antwortete Paul.
»Mir kommt es vor, als hätte ich in einem Traum oder einer Vision in dem Wanderer etwas Ähnliches gesehen«, meinte Don.
»Du hast ganz recht«, versicherte Tigerishka ihm. »Frage ...«
»Hat das alles etwas mit den beiden Fotografien zu tun, die nicht zu den Übertritten des Wanderers passen?« unterbrach Paul sie. »Habt ihr Angst davor, daß eure Verfolger auftauchen könnten, und wollt ihr Beweismaterial für eure Verteidigung zusammentragen?«
Don starrte ihn verblüfft an, denn Paul hatte ihm bisher noch nichts von Tigerishkas Geschichte erzählt, aber sie antwortete nur: »Ja, das ist möglich. Frage drei: Wißt ihr, ob eure Begleiter durch den Wanderer zu Schaden gekommen sind?«
»Meine drei Kameraden sind umgekommen, als der Mond auseinander gebrochen ist«, stellte Don fest.
Tigerishka nickte langsam. »Einer von ihnen lebt vielleicht noch — das wird überprüft. Paul Hagbolt?«
»Ich habe eben Don davon erzählt, Tigerishka«, sagte Paul. »Margo und die anderen waren jedenfalls noch am Leben, als ich sie zuletzt gesehen habe. Aber das ist schon zwei Tage her.«
»Sie leben noch immer«, versicherte Tigerishka ihm. »Ich habe sie ständig beobachtet — ihr Sterblichen merkt nie, wie sich die Götter euretwegen Sorgen machen, denn ihr seht nur Erdbeben und Fluten. Aber ich verlange nicht, daß ihr mir das einfach glaubt, sondern ich werde es euch zeigen! Steht bitte auf. Ich schicke euch jetzt auf die Erde, damit ihr euch selbst überzeugen könnt.«
»In dem ›Baba Yaga‹?« erkundigte Don sich. »Ich habe gehört, daß wir ...«
»Nein, nein«, unterbrach Tigerishka ihn. »Das kommt erst später — jetzt werde ich eure Abbilder zur Erde schicken. Bleibt dicht nebeneinander! Seht auf das Kontrollpult!«
Die künstliche Sonne wurde dunkler. Miau schien die Aufregung gespürt zu haben, denn sie kam aus einem der Beete und strich um Pauls Knöchel. Er bückte sich impulsiv und nahm die kleine Katze auf den Arm.
Margo Gelhorn und Ross Hunter hatten auf ihrem nächtlichen Spaziergang den Hügelrücken jenseits des Sattels erreicht, von dem aus man einen weiten Blick über die umliegende Landschaft hatte. Das Wasser war unterdessen zehn oder mehr Meter gefallen und hatte einen breiten feuchten Streifen an dem Abhang unter ihnen hinterlassen. Auch die Insel Vandenberg zwei war jetzt nur noch durch einen Fluß vom Festland getrennt.
Die beiden saßen nebeneinander auf einem Felsen, als sie plötzlich eine leise Stimme hörten, die hinter ihnen rief: »Margo! Margo!«
Als sie sich verblüfft umdrehten und auf das Lager hinabsahen, war dort unten keine Bewegung feststellbar. Im Licht des Wanderers erkannten sie nur in Decken gehüllte schlafende Gestalten.
Dann kam die Stimme nochmals: »Margo! Margo!«
Hunter und Margo wandten sich nach rechts, weil sie die Stimme dort gehört zu haben glaubten — und wichen erschrocken zurück, als seien sie auf eine Schlange getreten. Margo klammerte sich an Hunters Arm. Aus dem Boden vor ihnen wuchsen die Köpfe und Schultern von zwei Männern, dann folgte der ganze Körper und schließlich die Beine. Die beiden Gestalten waren noch unscharf, aber als sie plötzlich deutliche Umrisse annahmen, flüsterte Margo: »Don! Paul!« Dabei drängte sie sich noch enger an Hunter, der jetzt die zweite Gestalt ebenfalls erkannte.
Der Paul-Schatten lächelte, öffnete den Mund und sagte mit einer Stimme, die genau den Lippenbewegungen entsprach, obwohl sie nicht aus der Kehle kam: »Hallo, Margo und Professor ... Entschuldigen Sie, daß mir Ihr Name entfallen ist. Wir sind keine Geister, sondern benützen nur eine äußerst fortschrittliche Nachrichtentechnik.«
Die Don-Gestalt sagte auf ähnliche Weise: »Paul und ich sprechen von einer Untertasse aus, die hoch über der Erde schwebt. Ich freue mich so, dich wieder zu sehen, Margo.«
»Richtig«, warf Paul ein. »Ich meine, daß wir in der Untertasse zwischen Wanderer und Erde sind. Es ist die gleiche, von der ich aufgenommen worden bin. Siehst du ...« Er hob etwas hoch. »Hier ist sogar Miau!«
Die kleine Katze blieb zunächst ruhig, aber dann fauchte sie erschrocken und verschwand mit einem Satz in der Dunkelheit.
»Sie ist aufgeregt«, erklärte Paul grinsend. »Wahrscheinlich ist ihr alles etwas unheimlich.«
Margo ließ Hunters Arm los und ging zögernd auf die beiden schattenhaften Gestalten zu. Als sie die Hand nach ihnen ausstreckte, stieß sie auf keinen Widerstand. Sie zuckte erschrocken zusammen.
»Wir sind nur dreidimensionale Bilder«, sagte Paul und grinste nochmals. »Deshalb kannst du uns nicht berühren. Wir sehen euch ebenfalls hier oben, aber nicht immer in der Untertasse. Das Ganze ist ziemlich merkwürdig, Professor ...«
»Ich heiße Ross Hunter«, warf er ein.
»Tut mir leid, daß ich dir keinen Kuß geben kann, Liebling«, sagte Don zu Margo. »Aber das wird nachgeholt, wenn ich wieder zurückkomme. Ich bin übrigens wirklich in dem Wanderer gewesen.«
»Und ich habe mich hier in der Untertasse lange mit einer seiner Bewohnerinnen unterhalten«, fügte Paul hinzu. »Sie will, daß wir ...«
»Sie sind auf dem Wanderer gewesen?« unterbrach Hunter ihn und wandte sich dabei an Don. »Wer sind sie? Was tun sie hier? Was wollen sie?«
»Wir haben jetzt keine Zeit für solche Fragen«, wehrte Paul ab. »Unser ... Anruf soll uns vor allem die Möglichkeit geben, uns davon zu überzeugen, daß Sie alle in Sicherheit sind.«
»Uns geht es gut«, sagte Margo, »soweit es einem unter diesen Umständen gut gehen kann.«
»Wir leben alle noch«, erklärte Ross Hunter. »Bis auf Rudolf Brecht, der bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.«
»Brecht?« wiederholte Paul fragend.
»Wir haben ihn zuerst Doc genannt«, erklärte Margo ihm.
»Ja, natürlich«, stimmte Paul zu. »Und Professor Hunter war ›der Bärtige‹. Entschuldigen Sie, Professor.«
»Selbstverständlich«, sagte Hunter ungeduldig. »Was wollen Sie noch sagen?«
»Wenn alles wie geplant klappt, landen wir in wenigen Stunden in Vandenberg zwei«, fuhr Don fort. »Vermutlich in meinem Mondschiff.«
»Vorläufig müssen wir noch hier oben bleiben«, fügte Paul hinzu. »Der Wanderer scheint in Gefahr geraten zu sein; offenbar entwickelt sich eine Krise.«
»Der Wanderer ist in Gefahr?« wiederholte Margo ungläubig. Dann lächelte sie ironisch. »Eine Krise entwickelt sich? Was haben wir dann deiner Meinung nach in den beiden letzten Tagen durchgemacht?«
Hunter sagte zu Don: »Wie Sie wissen, befinden wir uns bereits in Sichtweite von Vandenberg zwei. Wir wollen weiterfahren, sobald die Flut zurückgegangen ist.«
»Wir suchen Morton Opperly«, warf Margo ein.
»Das ist gut«, sagte Don zu Hunter. »Wenn Sie ihm eine Nachricht von mir überbringen, läßt man Sie vielleicht eher hinein. Richten Sie Oppie aus, daß der Wanderer Linearbeschleuniger mit zwölftausend Kilometer Länge und ein Zyklotron mit gleichem Durchmesser besitzt. Das dürfte ihn überzeugen! Außerdem kann ich leichter landen, wenn die Leute in Vandenberg wissen, daß ich komme.« Er sah zu Margo hinüber. »Dann kann ich dir endlich einen richtigen Kuß geben, Liebling.«
Margo erwiderte seinen Blick und sagte: »Und ich möchte dir auch einen geben, Don. Aber du mußt dir darüber im klaren sein, daß sich einiges verändert hat. Ich habe mich verändert.« Sie nahm Hunters Arm, um anzudeuten, was sie meinte.
Hunter runzelte die Stirn und preßte die Lippen zusammen, aber dann legte er ihr den Arm um die Schultern und nickte. »Richtig«, sagte er kurz.
Bevor Don etwas sagen konnte, leuchteten die Felsen vor Margo und Hunter hellrot auf, wurden wieder dunkel und leuchteten nochmals rot. Auch die umliegende Landschaft wurde in regelmäßigem Rhythmus von diesem roten Licht erhellt. Hunter und Margo hoben gleichzeitig den Kopf und senkten ihn sofort wieder, nachdem sie einen kurzen Blick auf die Lichtquellen an beiden Polen des Wanderers geworfen hatten, die nicht nur die Polkappen, sondern auch den ganzen Himmel der Erde rot erglühen ließen, wenn sie aufblitzten.
»Die Krise ist eingetreten«, erklärte die Paulgestalt. In dem roten Licht wirkte sie noch unheimlicher als zuvor. »Wir können jetzt nicht mehr lange sprechen.«
»Der Wanderer ruft seine Schiffe zurück«, fügte die Dongestalt hinzu.
»Wir bringen Ihre Nachricht nach Vandenberg«, sagte Hunter laut. »Vielleicht sehen wir uns schon bald wieder. Zwölftausend Kilometer lange Linearbeschleuniger und ein Zyklotron mit gleichem Durchmesser. Viel Glück!«
In diesem Augenblick verschwanden die beiden dreidimensionalen Bilder. Sie lösten sich von einem Augenblick zum anderen in Nichts auf.
Hunter und Margo starrten auf das Wasser hinab, das inzwischen noch weiter zurückgegangen war. Selbst die Brandung war rot und leuchtete wie Schaum aus feuerflüssiger Lava. Auch in dem Lager auf der anderen Seite des Hügels herrschte wieder Leben; überall wurden kleine Gestalten sichtbar, die sich bewegten, in Gruppen zusammenstanden und nach oben zeigten.