Achtzig Millionen Kilometer von der Erde entfernt sah der Raumfahrer Tigran Birjuzow das rote Signal des Wanderers sehr deutlich, als er und seine fünf Kameraden der Ersten Sowjetischen Raumexpedition in drei Schiffen um den Mars kreisten. Für Tigran waren die Erde und der Wanderer zwei leuchtende Planeten, die voneinander etwa ebenso weit entfernt waren wie nebeneinanderstehende Sterne der Plejaden. Aber selbst im luftleeren Raum waren ihre halbmondförmigen Umrisse mit bloßem Auge nur undeutlich zu erkennen.
Die Funkverbindung mit der Bodenstation war abgerissen, als der Wanderer plötzlich erschienen war, und die sechs Männer hatten in den letzten zwei Tagen genügend Zeit zu allen möglichen Spekulationen über die Ereignisse in Erdnähe gehabt. Die ursprünglich geplante Landung auf dem Mars, die vor zehn Stunden hätte stattfinden sollen, war verschoben worden.
In den Teleskopen war die Entwicklung der Krise deutlich genug zu verfolgen gewesen — die Ablenkung des Mondes, seine Zerstörung und die seltsamen Muster auf der Oberfläche des Wanderers —, aber das war alles, was die Raumfahrer beobachten konnten.
Jetzt sah Tigran nicht nur das rote Signal, das von dem Wanderer ausging, sondern auch die dunkle Reflexion von der Erdoberfläche. Er wollte seine Beobachtung in das Logbuch eintragen, aber dann runzelte er die Stirn, starrte angestrengt die Decke über sich an und schlug schließlich mit der geballten Faust auf den Tisch. Rote Blitze! dachte er verwirrt und wütend zugleich. Was denn noch? Was kommt als nächstes?
Die Untertassen-Beobachter stellten Dutzende von Fragen über die bedauerlicherweise so kurze Unterhaltung mit Don und Paul. Als Margo und Hunter sie endlich beantwortet hatten, blitzte das rote Signal nicht mehr. Das Wasser war weiter zurückgegangen, so daß die Straße nach Vandenberg fast völlig und die Küstenstraße teilweise wieder aufgetaucht waren.
Hixon faßte das Gehörte zusammen, indem er dabei mit dem Daumen auf den Wanderer wies: »Sie besitzen also Fliegende Untertassen, was uns allerdings schon bekannt war. Und sie haben Energiewaffen, die in größerer Ausführung ganze Berge zertrümmern und vermutlich sogar Planeten durchlöchern können. Und sie haben dreidimensionales Fernsehen, das unserem weit überlegen ist, was mir durchaus einleuchtet. Aber sie befinden sich angeblich in Gefahr, was ich nicht verstehe! Warum sollten sie in Gefahr sein?«
»Vielleicht ist ein anderer Planet hinter ihnen her«, warf Ann ein.
»Bitte, Annie, nur das nicht!« protestierte Wojtowicz. »Mehr als einen unheimlichen Planeten halte ich einfach nicht aus.«
In diesem Augenblick wurde es um sie herum merklich heller. Clarence Dodd, der als einziger nach Osten sah, gab einen erstickten Laut von sich, als wollte er gleichzeitig schreien und den Schrei zurückdrängen. Er trat erschrocken einen Schritt nach hinten und zeigte gleichzeitig zum Himmel auf.
Zwischen dem Wanderer und der zerklüfteten Bergkette am Horizont hing eine Kugel, die um die Hälfte größer als der Wanderer war; ihre Außenfläche war durchgehend stahlgrau, aber genau in ihrem Mittelpunkt blitzte ein helleres Licht.
Jetzt ist der Himmel zu schwer geworden, dachte Margo. Jetzt muß er zusammenstürzen ...
Der Ladestock dachte: Und eine Stimme wie eine Trompete ertönte, und das Lamm brach ein neues Siegel ... und ein neues ... und ein neues ... und ein neues ...
»Mein Gott, Ann hat doch recht gehabt«, flüsterte Wojtowicz. »Es ist wirklich ein neuer Planet.«
»Und er ist größer.« Das war Mrs. Hixon.
»Aber nicht völlig rund«, protestierte Hixon fast wütend.
»Doch, doch«, widersprach Hunter, »aber er ist teilweise im Schatten — jedenfalls mehr als der Wanderer. Er steht ebenso weit im Schatten der Erde wie der Mond, wenn er noch dort wäre.«
»Er ist fast sieben Wandererdurchmesser dichter über dem Horizont als der Wanderer selbst«, stellte der kleine Mann fest. Er hatte sich schneller als die anderen von dem ersten Schock erholt und zog jetzt bereits sein Notizbuch aus der Tasche. »Das sind fünfzehn Grad — ungefähr eine Stunde.« Er schraubte die Kappe seines Füllfederhalters ab und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Der Lichtpunkt ist eine Reflexion der Sonne«, sagte Rama Joan. »Die Oberfläche muß Ähnlichkeit mit einem trüben Spiegel haben.«
»Der neue Planet gefällt mir nicht, Mommy«, klagte Ann. »Der Wanderer ist fast unser Freund, weil er so schöne Farben hat, aber der andere sieht so streng und drohend aus.«
Rama Joan strich ihr beruhigend über die Haare. »Die Götter führen Krieg miteinander, Kind«, sagte sie. »Der fremde Teufel ist gekommen, um den Dämon zu bekämpfen, den wir bereits kennen.«
Der kleine Mann, der eifrig Notizen machte, sah auf und meinte zustimmend: »Am besten nennen wir ihn einfach ›der Fremde‹ — das müßte genügen.«
»Ersparen Sie uns doch Ihre poetischen Namen!« fuhr Mrs. Hixon ihn wütend an. »Schließlich wissen wir alle, daß ein neuer Planet mehr Erdbeben, höhere Fluten und so weiter bedeutet.«
Wanda, Ida und der Ladestock standen etwas abseits in einer kleinen Gruppe nebeneinander. Jetzt setzte Wanda sich einfach zu Boden, schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte laut: »Das halte ich nicht mehr aus. Mein Gott das ist zuviel. Ich habe bestimmt gleich wieder einen Herzanfall.«
Aber Ida stieß den Ladestock zwischen die Rippen und sagte: »Was ist das, Charlie? Wie heißt der Planet wirklich? Wie läßt er sich erklären?«
Der Ladestock starrte den Fremden mit gerunzelter Stirn an und antwortete schließlich bedrückt, obwohl seine Stimme dabei seltsam erleichtert klang: »Ich weiß es nicht, Ida. Ich habe keine Ahnung. Das Universum ist größer als mein Verstand.«
In diesem Augenblick drangen zwei Lichtstrahlen aus der Oberfläche des Fremden, erreichten den Wanderer innerhalb weniger Zehntelsekunden, griffen wie Lichtfinger oben und unten an ihm vorbei und bewegten sich dann scheinbar langsamer weiter. Von der Erde aus entstand der Eindruck, jemand habe mit einem Lineal und einem blauen Stift einen schnurgeraden Strich über den dunklen Himmel gezogen. Aber an der Stelle, wo der Strich in die Nähe des Wanderers kam, blitzte er fast unerträglich hell und weiß auf.
»Mein Gott, das ist wirklich ein Krieg«, sagte Wojtowicz als erster.
»Laser«, meinte der kleine Mann. »Völlig parallel verlaufende Lichtstrahlen. Aber so groß — das ist fast unglaublich.«
»Und dabei sehen wir sie nur von der Seite aus«, warf Hunter ein. »Was wir hier erkennen, ist kaum mehr als eine zufällige Streuung. Stellt euch bloß vor, wie die Strahlen aussehen, wenn sie einem ins Gesicht scheinen. Wie eine Million Sonnen!«
»Oder mindestens hundert«, sagte der kleine Mann. »Wenn ein Strahl dieser Art die Erde berührt ...«
Blau und stahlgrau — diese Farbenzusammenstellung brachte Hixon auf eine Idee. »Der neue Planet ist die Polizei!« meinte er aufgeregt. »Er will den Wanderer verhaften, weil er widerrechtlich in unser Sonnensystem eingedrungen ist.«
»Bill, du bist übergeschnappt«, rief Mrs. Hixon ihm zu. »Nächstens glaubst du noch an Engel.«
»Hoffentlich kämpfen sie miteinander! Hoffentlich bringen sie sich gegenseitig um!« stieß Pop hervor und schüttelte dabei die Faust. »Hoffentlich verbrennen sie beide!«
»Machen Sie keine dummen Witze«, wies Wojtowicz ihn zurecht, während er selbst gespannt nach oben sah. »Möchten Sie vielleicht, daß die Erde einen Zufallstreffer abbekommt? Legen Sie wirklich so großen Wert darauf, daß der Kampf ausgerechnet in unserem Hinterhof ausgetragen wird? Möchten Sie hilflos darauf warten, ob uns ein Querschläger erwischt, vor dem wir uns nicht schützen können?«
»Ich glaube, daß der eine Laserstrahl den Wanderer gar nicht berührt hat«, sagte Hunter rasch. »Meiner Meinung nach trifft er nur den Mondring und desintegriert die Bruchstücke, mit denen er in Kontakt kommt.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, stimmte der kleine Mann gelassen zu. »Die beiden Strahlen, die den Wanderer von zwei Seiten einengen, sind vermutlich nur Schüsse vor den Bug.«
Hixon hatte aufmerksam zugehört. »Also doch eine Verhaftung, wie ich vorher gesagt habe«, meinte er eifrig. »Sie wissen doch — ›Stehenbleiben oder wir schießen!‹«
Die blauen Lichtstrahlen hörten plötzlich an ihrem Ursprung auf und wurden entlang ihrer gesamten Länge ebenso rasch dunkel, wie sie zuvor aufgeflammt waren. Sie hinterließen scheinbar gelbliche Spuren an dem grauen Himmel, die aber in Wirklichkeit nur Eindrücke auf der Netzhaut der Betrachter waren, denn sie veränderten ihre Position, wenn man den Kopf bewegte. Trotzdem waren die beiden ursprünglichen Strahlen weiterhin sichtbar, als sie jenseits des Wanderers wie zwei blaue Würmer in die Unendlichkeit davonkrochen.
»Mein Gott, ich dachte schon, sie würden nie wieder aufhören«, sagte Hixon. »Sie müssen mindestens zwei Minuten lang geschossen haben.«
»Siebzehn Sekunden«, teilte der kleine Mann mit und sah dabei von seiner Armbanduhr auf. »Es hat sich immer wieder herausgestellt, daß Zeitschätzungen in Krisensituationen weit voneinander abweichen. Nachträglich neigen die Augenzeugen meistens dazu, über jeden Punkt anderer Meinung zu sein. Deshalb achte ich immer darauf, alles genau festzuhalten — soweit das möglich ist.«
»Richtig, Doddsy, wir müssen vor allem einen klaren Kopf behalten«, stimmte Wojtowicz zu. »Die dort oben haben eine Überraschung nach der anderen für uns, aber wir können nichts dagegen unternehmen, sondern müssen damit zufrieden sein, daß wir überhaupt noch leben. Das erinnert mich fast an den Krieg — wir liegen hier im Schützengraben und warten darauf, daß der Beschuß aufhört.«
Der Ausdruck ›Beschuß‹ wirkte wie ein Signal, denn in diesem Augenblick kam ein dumpfes Dröhnen aus allen Richtungen gleichzeitig; dann begann die Erde unter ihren Füßen zu beben, während die Straße erzitterte. Der Thunderbird und der Lieferwagen schwankten heftig. Ray Hanks wimmerte vor Schmerzen, und Harry McHeath, der geistesgegenwärtig auf die Ladefläche geklettert war, um ihn festzuhalten, mußte sich selbst an die Seitenwand klammern, um nicht hinausgeschleudert zu werden. Eine der Frauen kreischte und Mrs. Hixon fluchte, aber Ann rief: »Mommy, die Felsen kommen herunter!«
Margo hörte diese Warnung, drehte sich um und sah, daß die Felsen, zwischen denen sie noch vor einer Stunde mit Hunter gesessen hatte, ins Tal polterten. Sie riß die Impulspistole aus der Jacke und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Thunderbird, um ruhiger zielen zu können, aber dort fand sie keine Unterstützung, sondern nur noch heftigere Bewegung. Die Felsen kamen näher. Hunter sah, was Margo vorhatte, und rief ihr zu: »Zeigt der Hebel nach vorn?«
»Ja!« antwortete Margo. Als die Felsbrocken wie riesige graue Ungeheuer näher kamen, zielte sie mit der Impulspistole in ihre Mitte und drückte auf den Feuerknopf, während sie selbst mühsam aufrecht stehenblieb.
Die Erdbebenstöße kamen weniger rasch und heftig nacheinander, und die Felsen stürzten ebenfalls langsamer zu Tal, als hätten die grauen Ungetüme sich plötzlich in riesige graue Kissen verwandelt. Sie rollten langsamer, anstatt in wilden Sprüngen näher zu kommen, rollten noch langsamer und blieben schließlich am Straßenrand dicht vor Margos Füßen liegen.
Hunter nahm ihr die Pistole aus der Hand und warf einen Blick auf die Skala. Der violette Streifen war verschwunden.
Er sah zu der Straße hinüber, die nach einem Kilometer auf die Küstenstraße traf, und stellte verblüfft fest, daß sie weder durch Erdrutsche unpassierbar gemacht noch vom Wasser überflutet war. Jenseits der Küstenstraße blitzte der hohe Maschendrahtzaun von Vandenberg; unmittelbar gegenüber der Einmündung der Bergstraße war das Haupttor zu erkennen.
Der Wanderer und der Fremde standen noch immer scheinbar unbeweglich am Himmel — der Wanderer mit seiner zweifarbigen Oberfläche, und der Fremde so eisig stahlgrau, als habe er nichts mit dem Erdbeben zu schaffen, das er eben ausgelöst hatte.
»Oh, mein Knöchel«, stöhnte Ida leise vor sich hin. In dem allgemeinen Schweigen klang ihre Stimme unnatürlich laut.
»Und was kommt jetzt?« fragte Wojtowicz fröhlich. »Wie geht die Show weiter?«
»Gar nicht, Sie Clown!« fuhr Mrs. Hixon ihn an. »Jetzt ist alles aus!«
Hunter schob Margo in den Thunderbird, stieg ebenfalls ein und richtete sich dann hinter dem Steuer auf. Nachdem er einige Male laut gehupt hatte, um die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu lenken, rief er: »Alles einsteigen! Werft das Zeug auf den Lieferwagen, wenn jemand Lust dazu hat, aber beeilt euch dabei! Wir fahren nach Vandenberg!«
Der Fremde erzeugte in vielen Menschen das Gefühl, das Wanda ausgedrückt hatte, als sie auf der Erde saß: »Mein Gott, das ist zuviel ... Jetzt ist alles aus!« Die wissenschaftlich vorgebildeten dieser Pessimisten stellten fest, daß der Fremde sich dem Wanderer so weit genähert hatte — bis auf etwa sechzigtausend Kilometer —, daß seine Schwerkraft die durch den Wanderer hervorgerufenen Fluten eher verstärken als abschwächen mußte.
Aber viele andere freuten sich nur auf naive Weise über den stahlgrauen Planeten und die aufregenden Strahlen, die er aussandte. Zumindest für den Augenblick lenkte dieses neue Schauspiel am Himmel sie von ihren Sorgen, Befürchtungen oder Gefahren für Leib und Leben ab. Auf der stürmischen See in der Nähe von Florida rief Barbara Katz dem Geist des toten KKK vom Deck der Albatros aus zu: »Genau wie in einer SF-Story! Aber noch viel schöner!« Und Benjy bestätigte ernsthaft: »Wirklich wunderbar, Miß Barbara.«
In einer unbeschädigt gebliebenen Sternwarte hoch in den Anden rieb der siebzigjährige französische Astronom Pierre Rambouillet-Lacepède sich begeistert die Hände, bevor er nach Papier und Bleistift griff. Endlich ein wirklich kompliziertes und lohnendes Drei-Körper-Problem!
Paul und Don beobachteten den stahlgrauen Fremden und zweifarbigen Wanderer mit seinem Ring aus Mondfragmenten durch die durchsichtige Decke von Tigerishkas Untertasse, die achthundert Kilometer über Vandenberg zwei schwebte.
Das künstliche Schwerefeld war noch immer eingeschaltet, so daß die beiden Freunde sich zweckmäßigerweise nebeneinander auf dem Deck ausgestreckt hatten. Auch das Deck war jetzt durchsichtig, so daß sie im Sonnenlicht, das von den Planeten reflektiert wurde, die dunklen Umrisse Südkaliforniens erkannten, während das etwas hellere Wasser des Pazifiks an einer Seite bis zum Horizont reichte. Das Bild war allerdings etwas verzerrt und undeutlich, weil die Erdatmosphäre in dieser Entfernung alle Konturen verschwimmen ließ.
Paul und Don vermieden es nach Möglichkeit, senkrecht nach unten zu sehen. Das künstliche Schwerefeld, das nach Tigerishkas Auskunft nur das Innere der Untertasse umfaßte, vermittelte ihnen zu deutlich die Illusion, aus schwindelnder Höhe in einen Abgrund zu blicken, dessen Boden die Erdoberfläche bildete.
Sahen sie dagegen nach oben, hatten sie die gleiche Szene vor Augen wie die Untertassen-Beobachter, die sich jetzt Vandenberg zwei näherten. Aber für Paul und Don waren die beiden Planeten wesentlich heller; sie standen zudem nicht vor einem bleigrauen Himmel, sondern der Hintergrund bestand hier aus einem schwarzen Nichts, das selbst die zahlreichen Sterne nur ungenügend erhellten.
Der Anblick war unheimlich, fesselnd und sogar ›wunderbar‹, aber da Paul und Don zu wissen glaubten, was er im Grunde genommen zu bedeuten hatte, empfanden sie vor allem eine fast unerträgliche Spannung. Über ihnen hingen Flüchtling und Verfolger, Rebellion und Autorität, Abenteuer und Regelmäßigkeit — sie schwebten vorläufig noch in einem ungewissen Waffenstillstand, während die beiden Gegner sich beobachteten und abtasteten.
Die Spannung beherrschte die Gefühle der beiden Männer in der Untertasse so sehr, daß Paul und Don am liebsten in einen finsteren Winkel gekrochen wären, um nicht mehr sehen zu müssen, was sich über ihnen ereignete ... oder nicht ereignete. Obwohl sie sich mit dem Gefühl trösten konnten, wenigstens nicht allein zu sein, hätten sie diesem Drang bestimmt nachgegeben, wenn eine Möglichkeit dazu bestanden hätte.
»Tigerishka, warum bist du nicht zu dem Wanderer zurückgeflogen?« fragte Paul leise. »Das Signal ist doch schon vor langer Zeit gegeben worden. Die übrigen Schiffe sind bestimmt schon längst zurück.«
»Es ist noch nicht Zeit«, antwortete Tigerishkas Stimme aus der Dunkelheit heraus.
»Sollen Paul und ich nicht lieber in den ›Baba Yaga‹ umsteigen?« erkundigte Don sich. »Ich traue mir die Landung zu, nachdem wir jetzt immer über der gleichen Stelle schweben, aber wenn wir noch lange warten ...«
»Auch dafür ist es noch nicht Zeit«, erwiderte Tigerishka ruhig. »Ich habe zunächst noch eine Bitte an euch. Ihr seid aus dem Raum und vor den Wellen gerettet worden. Deshalb stellt ihr in der Schuld des Wanderers.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr dann eindringlich fort: »In der gleichen Weise in der ich euch vorher auf die Erde geschickt habe, schicke ich euch jetzt auf den Fremden, damit ihr für den Wanderer aussagen könnt. Steht auf und seht mich an!«
»Wir sollen uns also für euch verwenden?« erkundigte Paul sich, als Don und er den Befehl fast automatisch ausführten. »Sollen wir sagen, daß eure Schiffe alles getan haben, um Menschen aus Lebensgefahr zu retten? Vielleicht erinnerst du dich daran, daß wir gemeinsam zahlreiche Katastrophen beobachtet haben, die nicht vermieden wurden — im Vergleich dazu nehmen die wenigen Rettungen sich ziemlich kümmerlich aus.«
»Ihr sollt nur erzählen, was ihr wißt — die Wahrheit, wie ihr sie kennt«, verbesserte Tigerishka ihn. »Faßt euch an den Händen und bewegt euch nicht! Ich verdunkle die Untertasse jetzt völlig. Auch die Abtaststrahlen sind schwarz. Auf diese Weise kommt euch der Flug noch wirklicher vor. Eure Körper bleiben hier, aber ihr werdet euch einbilden, die Untertasse wirklich verlassen zu haben. Bleibt ruhig stehen!«
Die Sterne wurden dunkel, die Erde verschwand, und die beiden Planeten erloschen, aber schon im nächsten Augenblick hatten Don und Paul das Gefühl, vor ihnen habe sich ein schwarzer Vorhang gehoben, der jetzt den Blick auf die Bühne freigab. Sie standen Hand in Hand im Mittelpunkt einer anscheinend unendlichen Ebene, die an die Oberfläche des Großen Salzsees erinnerte, obwohl sie silbergrau glänzte und eine drückende Hitze ausstrahlte, die nicht spürbar war.
»Ich dachte, die Oberfläche wäre gekrümmt«, murmelte Paul vor sich hin. Er versuchte sich einzureden, er befinde sich nach wie vor an Bord der Untertasse hatte aber keinen Erfolg damit.
»Der Verfolger-Planet ist größer als die Erde, das war deutlich zu sehen«, antwortete Don, »und wenn du auf der Erde stehst, fällt dir die Krümmung der Oberfläche normalerweise nicht auf.« Er dachte dabei an den engen Horizont des Mondes und staunte wieder einmal über die Ereignisse der letzten achtundvierzig Stunden, die von einem Extrem zum anderen führte.
Über Don und Paul erstreckte sich ein sternenbesäter Himmel, an dessen Zenit die Sonne stand. Die Erde war deutlich zu erkennen, denn sie hob sich dunkel von einer etwas helleren blauen Aura ab. Über dem silbernen Horizont des Fremden stand der Wanderer — fünfmal so groß wie die Erde und lebhaft purpurrot und goldgelb gefärbt.
»Tigerishka hat doch gesagt, sie wollte uns in das Innere des Planeten projizieren«, meinte Paul und wies auf die Metallfläche unter ihren Füßen.
»Anscheinend müssen sogar Illusionen eine Kontrolle über sich ergehen lassen«, vermutete Don.
»Schön, aber wenn wir uns in Radiowellen verwandelt haben, transportieren sie jedenfalls auch unser Bewußtsein«, fuhr Paul fort.
»Du hast etwas vergessen — wir befinden uns noch in der Untertasse«, sagte Don.
»Welches Gerät nimmt dann dieses Bild auf und überträgt es in die Untertasse?« wollte Paul wissen. Don schüttelte den Kopf.
Ein weißer Lichtblitz leuchtete dicht über der Metalloberfläche auf. Er verschwand augenblicklich wieder, aber dann folgten zwei weitere in größerer Entfernung.
Der Kampf hat begonnen, dachte Paul.
»Meteoriten!« rief Don aufgeregt. »Hier gibt es keine Atmosphäre, in der sie verglühen könnten.«
In diesem Augenblick sanken sie durch die silbergraue Oberfläche in vollkommene Dunkelheit hinab.
Allerdings dauerte die Finsternis nur Bruchteile von Sekunden lang — und dann schwebten die beiden im Mittelpunkt eines riesigen kreisförmigen Raumes, dessen Wände in jeder Richtung mit nach innen starrenden Augen besetzt waren.
Das war der erste Eindruck. Der zweite war, daß die Wand nicht tatsächlich Augen, sondern nur dunkle Löcher enthielt, die jeweils mit verschiedenen Farben abgesetzt waren. Trotzdem blieb das unangenehme Gefühl, daß Augen aller Art durch diese Löcher sahen, die an Pupillen erinnerten.
Don und Paul erinnerten sich in diesem Augenblick beide unwillkürlich daran, wie es gewesen war, wenn man in der Schule zum Direktor gerufen wurde.
Die beiden Freunde waren nicht allein in dem riesigen Raum. In ihrer unmittelbaren Nähe im Mittelpunkt der Kugel schwebten mindestens hundert andere Menschen oder ihre dreidimensionalen Abbildungen. Eine erstaunliche Ansammlung von Menschen — Männer und Frauen aller Rassen, Uniformen der afrikanischen und asiatischen Staaten, zwei russische Kosmonauten ein dunkelbrauner Maori, ein Araber im weißen Burnus, ein halbnackter Kuli, eine Dame im Pelzmantel und viele, viele andere, die nur teilweise sichtbar waren.
Ein dünner silberner Lichtstrahl kam aus der Nähe einer der Augenöffnungen und tastete die Paul und Don gegenüberliegende Seite dieses menschlichen Konglomerates ab, während die ›Augen‹ gleichzeitig zu einem unerklärlichen Leben zu erwachen schienen. Plötzlich sprach jemand rasch, aber trotzdem sehr ruhig. Die Stimme schien von der Stelle zu kommen, wo der Lichtstrahl auf die Menschen fiel. Don zuckte unwillkürlich zusammen, denn er erkannte die Stimme sofort wieder.
»Ich heiße Gilbert Dufresne und bin Leutnant in der amerikanischen Luftwaffe. Ich war auf dem Mond stationiert und bin unmittelbar vor Beginn der Mondbeben mit einem kleinen Schiff gestartet, um den fremden Planeten zu erkunden, der plötzlich aufgetaucht war. Soweit ich informiert bin, haben meine drei Kameraden die Zerstörung des Mondes nicht überlebt.
Während ich den Mond von Osten nach Westen umkreiste erschienen plötzlich drei riesige radförmige Raumschiffe vor mir. Eines von ihnen nahm mein Schiff und mich an Bord, nachdem ich vergeblich zu fliehen versucht hatte. An Bord wurde ich von einer Art Tiger in Empfang genommen, der sich um meine persönlichen Bedürfnisse kümmerte. Ich glaube, daß meine Gedanken untersucht worden sind, während ich geschlafen habe. Später wurde ich in den Kontrollraum des Schiffes gebracht und durfte von dort aus die Manöver verfolgen.
Das Raumschiff hatte unterdessen den Mond verlassen und schwebte über London, das zum größten Teil überflutet war. Strahlen oder eine Art Kraftfeld aus unserem Schiff trieben das Wasser zurück. Ich wurde aufgefordert, gemeinsam mit drei fremden Lebewesen ein kleineres Schiff zu besteigen. Dieses Schiff sank weiter nach unten und schwebte schließlich über einem Gebäude, das ich als das Britische Museum erkannte. Ich betrat das oberste Stockwerk in Begleitung eines Tigers und beobachtete, wie er dort fünf Männer wiederbelebte, die ich für tot gehalten hätte. Wir kehrten in das kleine Schiff zurück, unternahmen einige weitere Rettungsversuche und gingen wieder an Bord des Raumschiffes.
Von London aus flogen wir nach Portugal, wo Lissabon durch ein Erdbeben fast völlig zerstört worden war. Dort sah ich, wie ...«
Während Dufresne weitersprach, hatte Paul das Gefühl, daß seine Worte — selbst wenn er nichts als die Wahrheit sagte — sinnlos und zwecklos waren — leeres Geschwätz am Rand der Ereignisse, die unaufhaltsam auf ihren Höhepunkt zutrieben, den kein Mensch beeinflussen konnte. Die Augenöffnungen schienen zynisch zu blinzeln oder sich gelangweilt zu schließen. Der Schuldirektor hörte den mühsam vorgebrachten Bericht an, ohne wirklich darauf zu achten.
Offenbar hatte Paul instinktiv richtig geraten, denn der seltsame Raum verschwand plötzlich ohne die geringste Warnung. Statt dessen sah er jetzt wieder das vertraute Innere der Untertasse vor sich, das allerdings jetzt grün schimmerte, während es zuvor rosa gewesen war. Dann hörte er auch Tigerishkas Stimme vom Kontrollpult her: »Der Versuch ist fehlgeschlagen. Unser Verhandlungsangebot wird zurückgewiesen. Steigt in euer Schiff um und landet auf der Erde. Beeilt euch! Ich trenne die Verbindung, sobald ihr in dem ›Baba Yaga‹ seid. Nochmals vielen Dank für eure Hilfe. Auf Wiedersehen, Don Merriam. Auf Wiedersehen, Paul Hagbolt.«
Im Deck vor ihnen öffnete sich das runde Luk. Don kletterte wortlos hinunter und verschwand in der Röhre, die zu seinem Schiff führte.
Paul sah Tigerishka an.
»Schnell!« drängte sie.
Miau strich um seine Knöchel. Paul bückte sich und hob das kleine Tier auf. Er streichelte es langsam und schüttelte dabei den Kopf.
»Ich bleibe hier«, sagte er.
»Du mußt aber gehen, Paul«, antwortete Tigerishka. »Die Erde ist deine Heimat. Schnell, wir haben nicht mehr viel Zeit!«
»Ich möchte bei dir bleiben«, wiederholte Paul eigensinnig. Miau drehte und wand sich, aber er hielt sie fest.
»Bitte, geh jetzt sofort, Paul«, drängte Tigerishka. Sie kam näher heran und sah ihm ins Gesicht. »Du mußt auf die Erde zurück.«
»Aber ich bleibe hier, hörst du?« Seine Stimme war plötzlich so laut und wütend, daß Miau Angst bekam und ihn kratzte. Er hielt sie fest und fuhr fort: »Selbst als Haustier wie Miau, wenn es nicht anders geht. Aber ich bleibe.«
Tigerishka stand jetzt dicht vor ihm. »Nicht einmal als das«, sagte sie nachdrücklich. »Dazu ist der Unterschied zwischen unseren geistigen Fähigkeiten nicht groß genug. Du mußt jetzt gehen, Paul!«
»Tigerishka«, begann er nochmals, »ich ...«
Sie handelte blitzschnell, riß ihm Miau aus den Händen und schlug ihm ins Gesicht. Die Spitzen ihrer Krallen waren rot, als sie die Tatze sinken ließ.
»Verschwinde!« fauchte sie Paul an.
Er ging einen Schritt zurück, dann noch einen und hatte endlich das Luk erreicht. Das künstliche Schwerefeld drückte ihn nach unten in die Röhre. Während er nach unten schwebte, sah er noch einmal Tigerishka über sich. Von seiner Wange strömte Blut und sammelte sich in roten Tropfen an der silbernen Wandung der Röhre. Dann schloß sich das grüne Luk geräuschlos.