XIV Blut und Wasser

Tobias Ellice, der Arzt der Phalarope, richtete sich keuchend auf und warf den schweißfleckigen Verband zum Heckfenster hinaus.»In Ordnung, Sir. Sie können jetzt aufstehen, wenn Sie wollen. «Er trat zurück, als Bolitho die Beine über die Seite schwang und auf die Füße kam.

Ellice wischte sich das nasse Gesicht ab und betrachtete die rohe Narbe, die über Bolithos Rippen lief.»Kein schlechtes Stück Arbeit, wenn ich das selber sagen darf. «Er glänzte vor Schweiß und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.»Und eine Arbeit, die durstig macht, ohne Frage.»

Bolitho berührte die Narbe mit den Fingerspitzen. Er stand vor dem offenen Fenster, und das bißchen frische Luft spielte über seine nackte Haut. Schön, daß er den Verband los war! Er hatte ihn ständig an die Andiron und das, was davor lag, erinnert. Aber er wollte die Vergangenheit ruhen lassen. Die Gegenwart brachte Ärgernisse genug, mit denen er fertig werden mußte.

Vor vierzehn Tagen hatten sie mit dem Geschwader in Antigua abgelegt, und fast jeder Tag war wie der heutige gewesen. Kaum ein Wind, der den Namen Brise verdient, ein bißchen Kühlung gebracht oder gar die hungrigen Segel gefüllt hätte. Dafür die ganze Zeit eine glühende Sonne, die selbst den Himmel auszubleichen schien. Die Nächte brachten wenig Erleichterung. Die Luft in den Zwischendecks blieb feucht und stickig, und die ermatteten Matrosen wurden an den Rand der Verzweiflung getrieben, weil sie in einem fort an die Brassen gepfiffen und dann wieder weggeschickt wurden, weil der Wind sich gelegt hatte, ehe ein einziges Segel bedient werden konnte.

Genug, um das standhafteste Herz zu brechen, dachte Bolitho. Dazu kam die Tatsache, daß sie kein einziges Segel gesichtet und nichts von den Ereignissen jenseits des fernen Horizonts erfahren hatten. Er mußte alle Kraft zusammennehmen, um die eigene Ungeduld zurückzudrängen.

«Was machen die Männer?«Er griff nach einem sauberen Hemd, zog dann aber die Hand zurück. Das alte mußte reichen. Was hatte es für einen Sinn, seinen Diener damit zu plagen, mehr als unbedingt notwendig zu waschen?

Ellice zuckte mit den Schultern.»Fröhlich sind sie gerade nicht, Sir. Es ist schon schlimm genug, auch ohne daß sie die ganze Zeit über nach einem Schluck Wasser lechzen.»

«Wasser ist kostbar, Mr. Ellice. «Die Ration hatte jetzt auf eine Pinte pro Kopf und Tag herabgesetzt werden müssen, was beileibe nicht ausreichte. Aber wer wußte schon, wie lange diese Patrouille dauern würde? Er hatte die Tagesration an Mm Taylor, wie der herbe Weißwein aus dem Versorgungsdepot genannt wurde, heraufgesetzt, aber das schaffte nur zeitweilige Abhilfe. In wenigen Stunden waren die Leute genauso durstig wie vorher.»Ich muß so viel frisches Obst ausgeben lassen wie möglich«, murmelte er vor sich hin.»Die einzige Möglichkeit, Krankheiten vorzubeugen.»

Sonderbar, welch ein Geschrei und welche Debatten es in Antigua gegeben hatte, als er auf einer vollen Ladung Obst für seine Mannschaft bestand. Vielleicht hatte der Admiral darauf angespielt, als er sagte: >Sie sind in vieler Hinsicht ein Idealist!< Doch seinem auf die Praxis gerichteten Geist kam es nur vernünftig vor. Obwohl er das Obst aus eigener Tasche bezahlt hatte, war das eine bessere Anlage als die Methode, sich bei den Männern sonstwie beliebt zu machen. Ein tüchtiger und gesunder Matrose war weitaus mehr wert als ein Korb Früchte. Doch das war ja nicht alles. Die Erkrankten wurden von ihren Gefährten gepflegt, und auch deren Arbeit mußte dann wieder von anderen mitgemacht werden. Und so ging es weiter. Doch gab es noch immer viele Kapitäne, die als Maßstab ihrer Erfolge nur die Höhe der Prisengelder kannten. Er schob das Hemd in die Hose und sagte:»Trinken Sie einen Schluck, wenn Sie wollen, Mr. Ellice. «Er sah nicht hin, als der dicke Mann schnell zum Wandschrank watschelte und sich eine gehörige Portion Brandy einschenkte.

Ellices Hand zitterte, als er sich einen zweiten Drink eingoß und hinunterstürzte. Dann murmelte er:»Vielen Dank, Sir. Der erste heute.»

Bolitho blickte auf das sich kaum bewegende Kielwasser. Die Sonne stand hoch am Himmel. Wahrscheinlich hatte Ellice sich schon eine anständige Portion aus seinem Privatvorrat zu Gemüte geführt.»Sie sind in Antigua gar nicht an Land gegangen, Mr. Ellice? Sie hätten nur zu fragen brauchen.»

Ellice fuhr mit der Zunge über die Lippen, und seine Augen glitten über die Karaffe.»Ich gehe nie mehr an Land, Sir. Aber vielen Dank. Anfänglich bin ich jedesmal wie ein liebeskrankes Mädchen im Gras spazierengegangen und habe dann geweint, wenn die Küste wieder hinter der Kimm versank. «Er sah, daß Bolitho zur Karaffe nickte, und goß sich schnell noch einen Drink ein.»Jetzt schaue ich kaum hoch, wenn das Schiff ausläuft. «Er schüttelte den Kopf.»Außerdem habe ich sowieso alles gesehen.»

Es klopfte. Ehe Bolitho >herein< rufen konnte, wurde die Tür aufgestoßen, und Leutnant Vibart stampfte in die Kajüte. Er sah überanstrengt und wütend aus und platzte sofort mit seiner Nachricht heraus.»Ich muß melden, daß wir kaum noch Frischwasser haben, Sir.»

Bolitho musterte ihn einige Sekunden.»Was sagen Sie?»

Vibarts Blicke flogen durch die Kajüte.»Ich habe den Küfer draußen. Es dürfte Zeit sparen, wenn er Ihnen selber Meldung erstattet.»

Bolitho ignorierte Vibarts ungebührliches Benehmen.»Holen Sie ihn herein. «Er war froh, daß er mit dem Rücken zum Heckfenster stand, so daß sein Gesicht im Schatten lag. Alles schien sich gegen ihn zu verschwören und ihn zu verhöhnen. Eben hatte er die vorrangige Sorge offen mit Ellice diskutiert, da loderte sie auch schon wie ein Feuerbrand auf.

Mr. Trevenen, der Küfer der Phalarope, war ein zwergenhafter, für seine extrem schwachen Augen bekannter Unteroffizier. Er hatte zu lange Jahre in zu vielen dunklen Laderäumen zugebracht. Jetzt war er halb blind wie ein Nachtgeschöpf. Während er unter Bolithos festem Blick unruhig blinzelnd von einem Fuß auf den anderen trat, wirkte er klein und wehrlos.

Bolitho unterdrückte das Mitleid, das er bei den seltenen Begegnungen mit dem Küfer stets empfand.»Nun, heraus damit, Mann! Was, zum Teufel, haben Sie entdeckt?»

Trevenen schluckte.»Ich habe meine Runden gemacht, Sir. Ich mache sie immer donnerstags, ja. Wenn man nach einem System inspiziert, kann man — »

«Sagen Sie es ihm, Sie alter Narr!«bellte Vibart.

«Zwei Drittel meiner Fässer enthalten plötzlich brackiges Salzwasser, Sir«, sagte er leise und sah zu Boden.»Ich verstehe es nicht.

So lange ich auch schon zur See fahre, so etwas habe ich noch nicht erlebt.»

«Halten Sie Ihr Maul, verdammt!«Vibart sah aus, als wollte er auf den zerknirschten Küfer losgehen.»Gestehen Sie, daß Ihnen in Antigua ein Irrtum unterlaufen ist. Sie sind so verflucht blind, daß Sie den Unterschied nicht gemerkt haben. Wenn es nach mir ginge, würde ich. .»

Um Zeit zu gewinnen und sich von dem Schock zu erholen, sprach Bolitho sehr langsam.»Bitte, Mr. Vibart! Ich denke, ich kann die Bedeutung dieser Meldung auch so ermessen. «Er wandte sich wieder Trevenen zu.»Sind Sie sich Ihrer Feststellung völlig sicher?»

Der Küfer nickte heftig.»Kein Irrtum möglich, Sir. «Er sah den Kapitän an. Sein Gesicht schien bloß aus den blassen Augen zu bestehen.»In all den Jahren, die ich — »

«Ich weiß, Mr. Trevenen, Sie haben es uns gerade gesagt. «Und dann scharf:»Sehen Sie gleich mal selbst nach den Fässern, Mr. Vibart. Trennen Sie die mit Frischwasser von den anderen. Und lassen Sie das Salzwasser wegschütten und die Fässer reinigen. «Er ging zum Tisch und beugte sich mit gerunzelter Stirn über die Karte.»Wir sind hier. «Er tippte mit dem schweren Zirkel auf die Karte.»Etwa fünfzig Meilen südwestlich von Guadeloupe. «Er langte nach dem Lineal und schob es über das dicke Pergament.»Südlich von uns liegen einige kleine Inseln. Sie sind unbewohnt und werden von niemandem genutzt, es sei denn, um unbotmäßige Matrosen auszusetzen. «Er zeichnete ein kleines Kreuz auf die Karte.»Lassen Sie alle Mann an Deck pfeifen, Mr. Vibart, und bereiten Sie alles zum Halsen vor. So gering die augenblickliche Brise auch ist, für unseren Zweck reicht sie. «Dann sah er Trevenen an.»Was auch der Grund für den Verlust sein mag, wir brauchen Wasser, und zwar schnell. Also bereiten Sie mit Ihrem Kommando alles vor, um einen Vorrat Frischwasser zu übernehmen. «Trevenen blinzelte, als erlebe er ein Wunder.»In zwei Tagen sind wir unter Land, wenn es auffrischt, sogar früher. Ich kenne die Inseln. «Er berührte die Narbe unter dem in die Stirn fallenden dunklen Haar.»Auf einigen gibt es Bäche und Teiche.»

«Aber die Befehle des Admirals, Sir!«sagte Vibart schwer.

«Sollen die Leute vielleicht verdursten, Mr. Vibart?«Bolitho starrte von neuem auf die Karte.»Aber wenn Sie besorgt sind, soll mein Schreiber im heutigen Patrouillenbericht eine Eintragung vornehmen. «Er lächelte verzerrt.»Sollte mir wieder etwas zustoßen, sind Sie dadurch gegenüber Sir Roberts Zorn gedeckt.»

Ellice sagte gedankenverloren:»Ich habe das schon erlebt. Zwei Leute liefen vor Durst Amok.«»Na, Ihnen kann das jedenfalls nicht passieren, denke ich«, sagte Vibart bissig.

Bolitho mußte trotz seiner Sorgen lächeln.»Machen Sie weiter, Mr. Vibart. Lassen Sie die Leute auf ihren Stationen antreten. Ich komme gleich hinauf. «Er wartete, bis die Tür geschlossen war, ehe er zu Ellice sagte:»Das haben Sie herausgefordert, Mr. Ellice.»

Der Wundarzt blieb völlig gelassen.»Mit allem schuldigen Respekt vor dem Ersten Leutnant, Sir, aber er ist zu lange auf einem Sklavenschiff gefahren, wenn Sie mich fragen. Menschen betrachtet er bloß als eine verdammte Extraladung.»

«Das reicht, Mr. Ellice. «Bolithos Blick fiel auf die Karaffe. Während seiner Unterredung mit Trevenen hatte sich ihr Inhalt wie durch Zauberei verflüchtigt.»Meiner Meinung nach sollten Sie mal ums Hauptdeck spazieren.»

Ellice sah ihn unsicher an. Dann grinste er.»Aye, Sir. Das werde ich. Macht mir Appetit. «Er ging gemächlich davon, sein schäbiger Rock hing an ihm wie ein Sack. Regen oder schönes Wetter, Sonne oder tobender Sturm — Ellice war immer gleich angezogen. Einige meinten, er schliefe sogar in seinen Sachen.

Bolitho dachte nicht mehr an ihn, als die Pfeifen schrillten. Nackte Füße klatschten über die Decks, als die Männer zum Halsen auf ihre Stationen rannten.

Vor einer Stunde war die Phalarope über Stag gegangen, und ihre Segel hingen platt und lustlos in der gnadenlosen Glut. Doch trotz der äußeren Stille war die Brise kräftig genug, so daß sich unter der vergoldeten Galionsfigur eine kleine Bugwelle bildete. Und am Flaggenkopf des Großmasts flatterte der Wimpel, als verbrauche er allen Wind für sich allein.

Leutnant Herrick ging über das Hauptdeck langsam nach achtern. Seine Augen wanderten von der einen Schiffsseite zur anderen und beobachteten die Männer, die an den Brassen und Tauen zerrten, bis die Leinwand endlich steif stand. Er wußte, daß sie über das verunreinigte Wasser und anderes sprachen, aber selbst die sonst freundlich gesinnten Leute verstummten, wenn er an ihnen vorüberkam. Zwei Wochen Hitze und dumpfe Unbehaglichkeit nagten jetzt an ihren Nerven. Niemand klagte oder murrte. Das war das Schlimmste dabei. Er blieb stehen, denn Fähnrich Maynard tauchte plötzlich unterhalb des Achterdecks auf und stützte sich schwer auf einen Zwölfpfünder. Unter der Bräune war er so bleich wie der Tod, und seine Beine zitterten, als wäre er nahe am Zusammenbrechen.

Herrick trat an ihn heran.»Was ist los? Sind Sie krank?»

Maynard sah ihn mit vor Angst fast glasigen Augen an. Erst konnte er kaum sprechen, dann strömten ihm die Worte wie eine Flut über die trockenen Lippen.

«Ich komme gerade von unten, Sir, sollte Mr. Evans vom Orlopdeck heraufholen. «Er schluckte schwer und versuchte, zusammenhängend zu sprechen.»Ich habe ihn in seiner Kajüte gefunden, Sir. «Er würgte und taumelte.

Herrick packte ihn beim Arm und flüsterte wild:»Weiter, Junge. Was ist los, zum Teufel?»

«Gott!«würgte Maynard hervor.»Mein Gott, Sir! Man hat ihn zerfleischt. «Erleichtert gab er den Alptraum seiner Entdeckung weiter, und indem er Herrick anstierte, wiederholte er schwach:»Zerfleischt!»

«Sprechen Sie leise!«Herrick rang nach Fassung. Dann rief er in ruhigerem Ton:»Mr. Quintal! Bringen Sie Mr. Maynard nach achtern, und geben Sie acht, daß er nicht allein bleibt.»

Der Bootsmann, der gerade einem Matrosen einen Verweis erteilen wollte, blickte von einem zum anderen. Er hob die Hand und sagte verdrossen:»Aye, aye, Sir. «Dann fragte er:»Ist etwas, Sir?»

Herrick sah Quintal in das breite, zuverlässige Gesicht und antwortete tonlos:»Sieht so aus, als ob der Zahlmeister tot ist, Mr. Quintal. «In den Augen des anderen zuckte Schrecken auf, und Herrick setzte hinzu:»Lassen Sie sich nichts anmerken. Das Schiff gleicht schon so einem Pulverfaß. «Er beobachtete, wie der Bootsmann den jungen Fähnrich in den Schatten des Achterdecks brachte, und blickte sich dann schnell um. Alles sah genauso aus wie vor zwei Minuten. Leutnant Okes hatte die Wache. Er stand an der Querreling und sah zu den Marssegeln hinauf. Weiter achtern sprach der Kapitän mit Vibart und Rennie, und die beiden Rudergänger standen am Rad, als wären sie seit Anbeginn der Zeiten auf ihrem Posten.

Herrick schritt langsam zur unteren Luke. Er zwang sich, ganz ruhig zu gehen, aber das Herz schlug ihm bis zum Hals. Da alle Leute beim Segeltrimmen waren, wirkte das Unterdeck leer und merkwürdig fremd. Ein paar Laternen schaukelten an ihren Haken, und als er die zweite und letzte Leiter hinabstieg, spürte er eine Atmosphäre von Drohung und Gefahr. Doch auch sie bereitete ihn nicht auf den Anblick in der winzigen Kajüte des Zahlmeisters vor.

Tief im Rumpf des Schiffes machte sich die Stille noch lastender bemerkbar, und die einsame Laterne warf von den niedrigen Decksbalken ihren begrenzten Lichtkreis auf eine Szene, bei deren Anblick sich Herricks Haare sträubten. Offenbar hatte Zahlmeister Evans gerade einen Sack Mehl für seinen Privatbedarf aussondern wollen, als der Mörder zustach. Evans lag mit weit von sich gestreckten Beinen über dem aufrecht-stehenden Sack. Das Licht der Laterne fiel auf die hellen Augen und den dunklen Blutstrom, der aus der durchschnittenen Kehle sickerte und in dem verstreuten Mehl gerann. Auch sonst war überall Blut, und als Herrick auf die Leiche starrte, sah er, daß der Körper bestialisch zugerichtet worden war. Er lehnte sich an die Tür und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Die Handfläche war kalt und feucht, und er dachte an den Schreck, den der furchtbare Anblick Maynard eingejagt haben mußte. Niemand hätte ihn tadeln können, wenn er schreiend auf das Oberdeck gestürzt wäre.

«Mein Gott!«Herricks Stimme hallte in der Dämmerung wider. Er hätte beinahe aufgeschrien, als er hinter sich die Leiter knacken hörte, und griff nach der Pistole. Doch da erkannte er Hauptmann Rennie, dessen roter Rock wie eine Spiegelung des Blutes wirkte.

Rennie zwängte sich an ihm vorbei und betrachtete die Leiche.»Ich werde zwei meiner verläßlichsten Leute als Wache herkommandieren«, sagte er.»Bis zur Untersuchung muß die Kajüte versiegelt werden. «Er sah Herrick fragend an.»Sie wissen, was das bedeutet, nicht wahr?»

Herrick nickte.»Ja. «Er riß sich zusammen.»Ich werde es jetzt dem Kapitän melden.»

Während er die Leiter hinaufkletterte, rief ihm Rennie hinterher:»Seien Sie vorsichtig, Thomas. Einen Schuldigen, der Ihr Gesicht beobachtet, muß es mindestens geben.»

Herrick blickte zurück zur Kajütentür und versuchte, sich ein Bild von dem ermordeten Zahlmeister zu machen.»Ich glaube, ich habe so etwas fast erwartet. «Er biß sich auf die Lippen.»Aber wenn es dann geschieht, versetzt es einem doch einen Schock.»

Rennie sah ihm nach und stieg dann vorsichtig über die

Leiche hinweg. Ohne Rücksicht auf seine auf Hochglanz geputzten Stiefel durchsuchte er methodisch die verstreute Hinterlassenschaft des Zahlmeisters.

Mit steinernem Gesicht ging Herrick über das Achterdeck zur Luvseite, wo sich Bolitho noch immer mit Vibart unterhielt. Er hob die Hand an den Hut und wartete, bis Bolitho sich zu ihm umdrehte.

«Ja, Mr. Herrick?«Das Lächeln auf dem Gesicht des Kapitäns erlosch.»Noch mehr Ärger?»

Herrick sah sich schnell um.»Mr. Evans ist ermordet worden, Sir. «Er sprach so verkrampft und abgehackt, daß er seine eigene Stimme nicht erkannte.»Maynard hat es vor ein paar Minuten entdeckt. «Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Es war so eiskalt, als wäre er der Tote.

«Und was haben Sie in der Sache bisher unternommen, Mr. Herrick?«fragte Bolitho. Nichts verriet, was er dachte, seine Züge waren eine teilnahmslose Maske.»Lassen Sie sich Zeit. Berichten Sie.»

Herrick trat näher an die Reling. Seine Blicke lagen auf dem glitzernden Meer. Langsam und tonlos beschrieb er, was von Maynards Auftauchen an Deck bis zur Sekunde der Meldung geschehen war.

Bolitho hörte stumm zu. Vibart wiegte sich im Rhythmus der Schiffsbewegungen, und seine Hände öffneten und schlossen sich vor Wut oder Schreck über Maynards Entdeckung.

«Er war noch nicht lange tot«, sagte Herrick schwer, ehe er seine Meldung mit den Worten des Fähnrichs beendete:»Man hat ihn zerfleischt.»

Hauptmann Rennie kam über das Deck und sagte knapp:»Ich habe Posten vor die Tür gestellt, Sir. «Er sah, daß Bolitho ihm auf die Stiefel blickte, und bückte sich, um einen Fleck von dem sonst spiegelblanken Leder zu wischen, ehe er hinzusetzte:»Ich habe mich gut umgesehen, Sir. Evans' Pistolen fehlen. Wurden höchstwahrscheinlich gestohlen.»

Bolitho blickte ihn grübelnd an.»Ich danke Ihnen, meine Herren. Sie haben genau das Richtige getan.»

«Was habe ich Ihnen gesagt, Sir!«stieß Vibart hervor.»Milde ist bei diesem Abschaum sinnlos. Sie gehorchen bloß einer harten Hand.. »

«Seine Pistolen, sagen Sie?«fragte Bolitho.

Rennie nickte.»Ja, zwei kleine. Er war sehr stolz auf sie. Mit Goldverzierungen und ziemlich wertvoll; er hatte sie aus Spanien mitgebracht. «Er schwieg, als riefe er sich, wie die anderen auch, den Zahlmeister vor Augen: einer der bestgehaßten Leute auf dem ganzen Schiff. Man konnte sich gut vorstellen, daß er viele Feinde gehabt hatte.

Proby kam den Niedergang herauf und tippte an seinen Hut.»Darf ich die Freiwache nach unten entlassen, Sir?«Er merkte, daß er störte, und stotterte:»Entschuldigen Sie, Sir.»

«Die Männer bleiben auf ihren Stationen, Mr. Proby«, sagte Bolitho. Alle sahen ihn an. Seine Stimme klang ungewohnt kalt, und in seinen Augen lag eine Härte, die man sonst nicht an ihm kannte.»Postieren Sie Wachen vor jeder Luke!«befahl er Rennie.»Niemand darf nach unten.»

«Jetzt sehen Sie es also auch mit meinen Augen, Sir«, murmelte Vibart.

Bolitho fuhr herum.»Jemand ist schuldig, Mr. Vibart. Aber nicht das ganze Schiff. Ich möchte nicht, daß der Mann durchschlüpft, aber ebensowenig, daß seine Tat allen angekreidet wird. «Danach sagte er ruhiger:»Mr. Herrick, Sie übernehmen mit Mr. Farquhar und dem Bootsmann das Logis. Captain Rennie durchsucht mit seinen Leuten die anderen Unterdecks. «Er sah zu den auf den Decks und den Laufplanken wartenden Seeleuten hinunter.»Mr. Vibart, Sie übernehmen zusammen mit Mr. Brock das Oberdeck. Durchsuchen Sie jedes mögliche Versteck, jeden Kasten, suchen Sie hinter jeder Kanone, und zwar so schnell Sie können.»

Er verfolgte, wie sie den Niedergang hinuntereilten, und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf das Hauptdeck. Jedem Matrosen war nun klar, daß irgend etwas los war. Er bemerkte, daß einer seinen Kameraden anstieß, und ein anderer trat furchtsam zurück, als sich Vibart und der Artillerieoffizier durch die alles aufmerksam beobachtenden Männer drängten.

Hatte Vibart vielleicht doch recht? Er verschränkte die Hände auf dem Rücken so fest, daß ihm der Schmerz half, Ordnung in seine durcheinanderwirbelnden Gedanken zu bringen. Nein, das durfte er nicht denken.

Die Minuten schleppten sich hin, und eine wachsende Woge der Furcht zog wie der Rauch eines Schwelbrandes über das Hauptdeck. Die Matrosen am Fuß des Großmastes bildeten eine

Gasse, damit Vibart und der Artillerieoffizier hindurchkonnten, und drängten sich dann wieder schutzsuchend zusammen. Pochin rieb sich die teerverschmierten Hände an der Hose ab und starrte Vibart wütend nach.»Was, zum Teufel, ist los?«Er hielt einen vorbeikommenden Bootsmannsmaat an.»Wissen Sie es, Mr. Josling?»

Josling sah verstohlen zum Achterdeck.»Der Zahlmeister ist tot.»

Unruhe packte die Wartenden. Pochin blickte Allday an, der aufmerksam am Mast lehnte.»Hast du das gehört, Mann?»

Allday nickte und sah dann zu Onslow hinüber. Onslow stand ein wenig abseits. Er wirkte gelassen. Die Arme hingen locker herab. Doch seine harten Blicke und die sich erregt blähenden Nasenflügel verrieten eine tierhafte Wachsamkeit. Allday atmete sehr langsam aus. Er zweifelte nicht im geringsten, wem die Anklage die Hand auf die Schulter legen würde.

Old Strachan murmelte:»Sieht schlimm aus, wie? Ich hab so das Gefühl, daß uns wieder mal was bevorsteht.»

Auf dem Achterdeck wurde es plötzlich lebhaft. Alle blickten sich um, als Hauptmann Rennies Seesoldaten einen Kordon quer über das Deck zogen. Sergeant Garwood richtete die Reihen aus und postierte sich dann neben dem Trommelbuben. Hauptmann Rennie stand gelassen vor seinen Soldaten, eine Hand auf dem Degengriff. Sein Gesicht war ausdruckslos.

Aus dem Mundwinkel krächzte der Sergeant:»Bajonette pflanzt auf!«Die Hände bewegten sich im gleichen Takt, und die Bajonettklingen blitzten vor der vordersten Linie, ehe sie auf die langen Gewehre klickten.

Die Spannung an Deck war fast nicht mehr zu ertragen. Jeder stand und starrte. Niemand sagte etwas oder drehte auch nur eine Sekunde lang den Kopf weg, damit ihm nicht das geringste entging. Hier und da wischte sich einer über die schweißnasse Stirn, und irgendwer begann nervös zu husten.

Allday sah, daß der Kapitän mit Leutnant Herrick und dem Bootsmann sprach und den Kopf schüttelte, ob vor Zorn oder Unglauben, konnte er nicht erkennen.

Vibart merkte, daß er nicht weiterzusuchen brauchte, und drängte sich langsam nach achtern. Seine Hände stießen die schweigenden Matrosen beiseite, und seine Augen waren nur auf die kleine Gruppe hinter den Seesoldaten gerichtet.

Pochin flüsterte:»Jetzt werden wir es gleich wissen.»

Allday blickte wieder zu Onslow hinüber. Eine Sekunde lang spürte er etwas wie Mitleid für ihn. Onslow war schon so lange auf Schiffen eingepfercht gewesen, daß er kein anderes Leben als den unaufhörlichen Kampf der Unterdecks kannte.

Kapitän Bolithos Stimme riß ihn aus seinen Gedanken, und als er nach achtern schaute, sah er ihn an der Querreling stehen. Seine Hände ruhten auf der Steuerbordkarronade, während er auf die versammelte Mannschaft hinunterblickte.

«Die meisten von euch wissen bereits, daß Zahlmeister Evans tot ist. Er wurde vor kurzem in seiner Kajüte grausam ermordet. «Er unterbrach sich, als Herrick einen der Niedergänge hinunterstieg, um dem Ersten Leutnant etwas zu sagen. Dann fuhr Bolitho im gleichen Ton fort:»Jeder bleibt an Ort und Stelle, bis der Schuldige festgenommen worden ist.»

Pochin, dem der Schweiß über das Gesicht strömte, sagte heiser:»Hat der Hoffnungen! Den verdammten Zahlmeister hat doch jeder an Bord gehaßt!«Doch niemand reagierte darauf oder sah ihn an. Alle Augen hafteten an Vibart, der, von Brocks gefolgt, zielstrebig über das Hauptdeck ging.

Selbst das Meer und die Leinwand schienen verstummt, und als Vibart unter der Großrah stehenblieb, hörte Allday das schwere Atmen des Ersten und das Knirschen seiner Brustriemen. Die furchtbare Spannung währte noch einige Sekunden. Dann, während Vibart seine Augen langsam über die Gesichter gleiten ließ, trat Brock vor und hob seinen Stock.»Da ist er, Sir. Das ist der mörderische Schuft.»

Der Stock fuhr im Bogen herunter, und Allday taumelte zurück, von dem Schlag halb betäubt. Die Wochen und Monate versanken. Er war wieder auf der Küstenstraße, und Brock zog ihm mit demselben Stock eins über das Gesicht, während die anderen Mitglieder des Preßkommandos den Vorfall verfolgten. Das Blut rann ihm in die Mundwinkel, und ihm dröhnten die Ohren. Stimmen und Rufe ertönten rings um ihn her, doch er konnte sich weder bewegen noch schützen, als Brock zum zweiten Mal zuschlug und der Stock ihn im Nacken traf. Vibart starrte ihn an. Seine Augen waren unter den Brauen kaum zu sehen, während er verfolgte, wie Brock ihn vom Mast wegriß.

«Er war andauernd mit mir zusammen!«krächzte Old Strachan.»Er kann's nicht getan haben, Mr. Vibart!»

Vibart schien endlich die Sprache wiederzufinden. Aber seine Worte klangen so gepreßt, als bekäme er vor Wut kein Wort heraus.»Maul halten, dämlicher alter Narr!«Er stieß Old Strachan beiseite.»Oder ich nehme Sie auch mit.»

Jetzt, da der erste Schreck vorüber war, drängten einige, von den hinteren geschoben, ein paar Schritte vor. Vom Achterdeck gellte ein Kommando, und die Musketen hoben sich. Sie würden feuern, das Glitzern in Sergeant Garwoods Augen ließ daran keinen Zweifel.

Bolitho stand noch immer an seiner Seite der Reling. Seine Gestalt zeichnete sich dunkel gegen den bleichen Himmel ab.»Bringen Sie den Mann nach achtern, Mr. Vibart.»

Old Strachan stotterte:»Er war dauernd mit mir zusammen, ich schwöre es.»

Brock stieß Allday vor sich her zum Achterdeck und zischte:»War er das, Strachan, tatsächlich? Die ganze Zeit?»

Strachan murmelte verwirrt:»Na, bis vielleicht mal auf eine Minute, Mr. Brock.»

«Um einen Menschen zu töten, braucht man bloß eine Minute«, sagte Brock grob.

Allday versuchte zu sich zu kommen, während er den Niedergang hinauf und an den Seesoldaten vorbei gestoßen wurde. Es kam ihm vor, als wäre er ein anderer, als schaue er selber der grausamen Wirklichkeit dieser Vorgänge zu. Seine Glieder waren taub, und er hatte keine Gewalt über sie. Selbst die Stellen, an denen ihn Brocks Stock getroffen hatte, schmerzten nicht mehr. Er merkte, daß ihn Leutnant Herrick wie einen Fremden ansah. Und Mr. Proby, der Steuermann, sah weg, als könnte er es nicht ertragen, seinen Blicken zu begegnen.

Der Kapitän schien aus dem Nichts aufzutauchen, und als er drei Schritte vor ihm stand, hörte er ihn fragen:»John Allday, haben Sie mir etwas zu sagen?»

Alldays taube Lippen bewegten sich einige Male stumm, ehe er herauswürgte:»Nein, Sir!«In der Tiefe seiner Seele schrie eine Stimme: >Sag' es ihm! Sag' es ihm!< Dann brachte er mühsam heraus:»Ich war es nicht, Sir.»

Er versuchte, den Schatten, der die Züge des Kapitäns verbarg, zu durchdringen. Er sah die Falten um die Mundwinkel, den Schweiß auf der Stirn. Aber es hatte alles keine Realität, war alles Teil ein und desselben Alptraums.»Kennen Sie die?«fragte Bolitho.

Jemand hielt ihm ein Paar kleine Pistolen unter die Augen. Sie blitzten hell und böse in der Sonne.

Allday schüttelte den Kopf.»Nein, Sir.»

«Oder das?«Bolithos Stimme verriet nichts.

Diesmal war es ein Messer mit abgebrochener Spitze und geronnenem Blut auf dem abgegriffenen Schaft.

Allday stierte das Messer an.»Es ist meins, Sir. «Seine Hand fuhr nach dem Gürtel, die Finger ertasteten die leere Scheide.

«Die Pistolen wurden zwischen Ihren Sachen gefunden«, sagte Bolitho.»Und Ihr Messer lag unter Mr. Evans' Spind. «Er wartete einen Augenblick, um die Worte wirken zu lassen.»Nach dem Kampf blieb es wohl dort liegen.»

Allday schwankte.»Ich habe es nicht getan, Sir. «Die Worte blieben ihm fast in der Kehle stecken.»Warum hätte ich so was tun sollen?»

Wie von weit her hörte er Vibarts rauhe Stimme:»Lassen Sie mich ihn an die Rah hängen, Sir. Es gibt den anderen etwas zum Nachdenken, wenn er da oben zappelt.»

«Ich denke, Sie haben genug gesagt, Mr. Vibart!«entgegnete Bolitho scharf und wandte sich dann Allday zu.»Aufgrund Ihres bisherigen Verhaltens hatte ich große Hoffnung in Sie gesetzt, Allday. Mr. Herrick hat sich bereits für Sie eingesetzt, aber in diesem Fall spricht nichts für Milde. «Und nach kurzer Pause:»Gemäß Absatz I der Kriegsartikel könnte ich Sie unverzüglich hängen lassen. Wie die Dinge liegen, beabsichtige ich jedoch, Sie einem Kriegsgericht zu übergeben, sobald Gelegenheit dazu ist.»

Vom Hauptdeck klang leises Gemurmel herauf, und Allday wußte, daß er in den Augen der anderen bereits eine Leiche war.

Bolitho wandte sich ab.»Legen Sie ihn in Eisen, Mr. Vibart. Aber jede unnötige Brutalität würden Sie vor mir verantworten müssen!»

Allday war völlig betäubt. Er taumelte wie ein Betrunkener, als man ihn nach unten brachte. Tief unterhalb des Hauptdecks lagen zwei kleine Zellen, jede gerade groß genug für einen Mann. Allday sah stumm zu, wie sich die schweren Eisen um seine Hände und Füße legten. Doch erst als die Tür zuschlug und der Riegel vorrasselte und er in totaler Finsternis zurückblieb, packte ihn die tatsächliche Wahrheit mit schrecklichem Würgegriff. Es würde lange dauern, bis die Phalarope wieder in einen Hafen einlief und die für ein Kriegsgericht erforderliche Zahl an Offizieren zusammengebracht werden konnte. Aber wer erinnerte sich dann noch oder wen kümmerte es dann, ob er unschuldig war oder nicht? Man würde ihn als warnendes Beispiel benutzen: eine zappelnde, um sich schlagende Marionette, die, begleitet von dumpfem Trommelgerassel, langsam am Seil zur Großrah hinaufgezogen wurde.

Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Der Laut hallte in der Stille des Schiffsrumpfes wider. Er schlug so lange gegen die Tür, bis er fühlte, wie ihm das Blut über die Finger rann, bis er seine Tränen auf den Lippen schmeckte. Dann sackte er erschöpft und keuchend zusammen, und nun herrschte völlige Stille, die tiefe, leere Todesstille eines Grabes.

Leutnant Herrick lehnte mit der Schulter gegen den Großmast und schaute mißmutig über die leeren Decks. Eine Stunde der Mittelwache lag hinter ihm, und im hellen Mondlicht schimmerten Segel und Takelage wie die eines Gespensterschiffs. Ob er wollte oder nicht, er mußte immer wieder an Allday und den ermordeten Zahlmeister denken. Vernünftigerweise hätte er sich sagen sollen, daß die Sache aus und vorüber war. Lediglich eine Eintragung im Logbuch, die kurz besprochen und dann vergessen wurde. Evans war tot, und sein Mörder lag unten in Eisen. Zumindest darüber sollte jeder einigermaßen zufrieden sein. Ein unentdeckter Mörder, der das Logis in Schrecken versetzte oder wieder zuschlug, wäre weitaus besorgniserregender gewesen.

Er stellte sich vor, wie Allday immer wieder von neuem zustieß und die Leiche zerfleischte, bis sie kaum noch an einen Menschen erinnerte, und dann abgebrüht ein Paar Pistolen stahl und sie in seinem eigenen Quartier versteckte. Es ergab alles keinen Sinn, aber ihm war klar, daß er die Beweise nur anzweifelte, weil es sich um Allday handelte.

Kurz ehe er die Wache übernahm, war er zu den dunklen Zellen hinuntergegangen. Er schickte den Posten zum Ende der Leiter, öffnete die Tür und hielt eine Laterne in die Zelle. Allday lehnte gebückt an der gegenüberliegenden Seite und hielt abschirmend die Hände vor die Augen. Seine Füße rutschten auf seinem eigenen Kot aus. Ekel und Wut, die Herrick empfunden haben könnte, waren in diesem Augenblick wie weggewischt. Er hatte lautes Leugnen oder dumpfes Aufbegehren erwartet. Statt dessen begegnete er dem Versuch, Würde zu wahren.

Er fragte ruhig:»Haben Sie mir noch etwas zu sagen, Allday? Ich habe nicht vergessen, daß Sie mir auf den Klippen das Leben gerettet haben. Wenn Sie mir alles erzählen, kann ich vielleicht doch noch irgend etwas für Sie tun.»

Allday machte eine Bewegung, als wolle er sein langes Haar aus der Stirn schieben, und blickte auf die schweren Handschellen hinunter, ehe er bebend hervorstieß:»Ich habe es nicht getan, Mr. Herrick. Wie kann ich mich gegen etwas verteidigen, was ich nicht getan habe?»

«Verstehe. «In der Stille hörte Herrick das Rascheln der Ratten und die sonderbaren, ächzenden Geräusche eines Schiffs auf See.»Wenn Sie es sich anders überlegen sollten. .»

Allday versuchte, auf Herrick zuzutreten, taumelte aber gegen dessen Arm. Einige Sekunden lang spürte Herrick die vor Furcht schweißnasse Haut des anderen und roch dessen Verzweiflung: ein Geruch des Todes.

«Auch Sie glauben mir nicht«, sagte Allday gepreßt.»Was soll das Ganze also?«Seine Stimme gewann ein wenig innere Kraft.»Lassen Sie mich in Ruhe. Lassen Sie mich um Gottes willen in Ruhe. «Doch als Herrick die Tür wieder verriegeln wollte, fragte Allday leise:»Was meinen Sie, Sir, ob man mich zur Verhandlung vor ein Kriegsgericht nach Hause schickt?»

Herrick wußte, daß die Marine gar nicht daran dachte. Die Gerechtigkeit schlug schnell und endgültig zu. Während er auf die dick beschlagene Tür blickte, sagte er jedoch:»Vielleicht. Warum fragen Sie?»

Die Antwort klang so gedämpft, als hätte Allday das Gesicht zur Seite gedreht.»Weil ich gern noch einmal die grünen Hügel wiedersehen würde. Bloß ein einziges Mal. Bloß für ein paar Minuten.»

Die Trauer und Verzweiflung dieser Worte hatten Herrick den ganzen Tag verfolgt. Selbst jetzt, während der Wache, hörte er sie noch.»Verflucht!«rief er wütend. Die beiden Rudergänger richteten sich so hastig auf, als habe er sie geschlagen. Der dienstältere Mann beobachtete besorgt, daß Herrick zum Rad kam, und sagte schnell:»Sie liegt genau auf Kurs, Sir. Süd zu Ost.»

Herrick sah ihn an und dann auf die sanft schwingende Kompaßrose. Die armen Teufel haben eine Mordsangst, weil ich laut geflucht habe, dachte er.

Von der Leereling kam eine dunkle Gestalt langsam auf ihn zu. Es war Proby. Die Glut seiner kurzen Tonpfeife erhellte schwach seine Hängebacken.

«Können Sie nicht schlafen, Mr. Proby?«fragte Herrick.»Die Brise weht nur schwach, aber stetig. Sie brauchen sich heute nacht keine Sorge zu machen.»

Der Steuermann sog geräuschvoll am Mundstück.»Diese Nachtstunde ist die beste, Mr. Herrick. Man kann in den Wind schauen und darüber nachdenken, was man mit seinem Leben angefangen hat.»

Herrick sah Proby von der Seite her an. Zerknitterte Züge. Im Aufglühen der Pfeife glich sein Gesicht einer verwitterten Skulptur. Zugleich ging etwas Beruhigendes von ihm aus. Er hatte etwas Zeitloses wie das Meer. Nach einer Weile fragte er:»Was meinen Sie, Mr. Proby, ist mit Evans' Tod nun alles erledigt, oder folgt noch etwas?»

«Wer kann das wissen?«Proby verlegte sein Gewicht von einem Plattfuß auf den anderen.»So schnell vergißt sich so etwas nicht. Aye, so schnell nicht.»

Proby verbarg die Glut des Pfeifenkopfs plötzlich mit seiner fleischigen Hand und sagte verstohlen:»Der Kapitän ist an Deck, Mr. Herrick. «Dann, laut und sachlich:»Wenn der Wind sich hält, sind wir morgen unter Land. Also gute Nacht, Mr. Herrick.»

Damit war er verschwunden, und Herrick ging zur Leereling. Er schielte zum Kapitän hinüber und sah, daß Bolitho aufrecht an der Luvreling stand. Das Mondlicht floß über sein weißes Hemd, während er auf die Lichtspiegelungen außenbords starrte. Seit Alldays Festnahme hatte er das Achterdeck nie länger als für eine Stunde verlassen, sondern war entweder an der Heckreling auf und ab gegangen oder hatte bloß auf das Meer hinausgeblickt, so wie jetzt.

Abends hatte Herrick zufällig ein Gespräch zwischen dem Steuermann und Bootsmann Quintal mitangehört. Während er nun Bolithos reglose Gestalt beobachtete, erinnerte er sich wieder ihrer Worte. >Ich hatte keine Ahnung, daß ihm Evans' Tod so nahe gehen würde.< hatte der Bootsmann heiser geflüstert. >Es scheint ihm alles ganz schön an die Nieren zu gehn.< Old Proby hatte seine Antwort genau abgewogen. >Es ist die Tat an sich, die den Kapitän getroffen hat, Mr. Quintal. Er fühlt sich betrogen, und das schmerzt ihn.<

Herrick sah, daß Bolitho über die Narbe an seiner Stirn fuhr und sich die Müdigkeit aus den Augen rieb. Proby hat recht, dachte er. Es hat ihn stärker getroffen, als wir ahnen. Was einer von uns tut, es nimmt ihn mit und bedrückt ihn. Ehe er wußte, was er tat, ging er zu Bolitho hinüber, nicht ohne es sogleich zu bedauern, denn er erwartete halb und halb, daß Bolitho sich umwenden und ihn anfahren würde. Immerhin, das wäre besser gewesen als völliges Schweigen.»Der Wind hält sich, Sir«, begann er.»Der Steuermann sagt baldige Landsicht voraus.»

«Ja, ich habe es gehört. «Bolitho schien tief in Gedanken versunken. Spritzwasser hatte sein Hemd durchnäßt, es klebte ihm wie eine zweite Haut am Körper. Unter den Augen lagen tiefe Schatten. Die innere Unruhe, die Bolitho aus seiner Kajüte immer wieder an Deck trieb, war fast fühlbar.

«Soll ich Ihren Diener heraufschicken, Sir? Vielleicht mit einem heißen Drink, ehe Sie sich hinlegen?»

Bolitho fuhr herum, seine Augen glänzten im Mondlicht.»Ersparen Sie mir das Drumherumgerede, Mr. Herrick. Was bedrückt Sie?»

Herrick schluckte schwer, ehe er hervorstieß:»Ich habe mit Allday gesprochen, Sir. Ich weiß, daß es nicht richtig war, aber ich fühle mich zum Teil für ihn verantwortlich.»

Bolitho sah ihn forschend an.»Fahren Sie fort.»

«Er gehört zu meinen Leuten, Sir, und es kommt mir so vor, als ob weit mehr hinter der Geschichte steckte, als wir ahnen. «Er schloß lahm:»Ich kenne ihn besser als die meisten. Er gehört zu jenen, die beständig sind.»

Bolitho seufzte.»Nur die Sterne sind beständig, Mr. Herrick.»

Herrick sagte halsstarrig:»Selbst so gesehen, kann er unschuldig sein.»

«Und Sie halten das für wesentlich?«Es klang müde.»Sie meinen, daß das Leben eines Mannes, der so gut wie sicher für schuldig befunden werden wird, das Nachdenken wert ist?»

«Nun, in der Tat, das meine ich, Sir. «Herrick spürte geradezu, wie der Kapitän ihn kalt fixierte.»Die Obrigkeit wird einer halben Geschichte kein Gehör. .»

«Hier draußen sind wir die Obrigkeit, Mr. Herrick«, sagte Bolitho ungeduldig.»Und ich werde entscheiden, was zu tun ist.»

Herrick blickte beiseite.»Ja, Sir.»

«Aber sonst bin ich ganz Ihrer Meinung, Mr. Herrick. «Bolitho schob die Haarlocke aus der Stirn und schenkte Herricks offener Verwunderung keine Beachtung.»Ich wollte es nur noch von einem anderen hören. «Und dann, plötzlich energisch:»Ich gehe jetzt besser nach unten, Mr. Herrick, ohne einen heißen Drink. Morgen werden wir nach Frischwasser suchen und unsere Gedanken wieder auf den Krieg richten. «Er blieb einen Moment bei der Reling stehen.»Aber ich werde auch über das nachdenken, was Sie eben gesagt haben. Es kann unter Umständen für uns alle wichtig sein. «Er machte ohne ein weiteres Wort kehrt und stieg den Niedergang hinab.

Herrick sah ihm mit weit aufgerissenem Mund nach.»Na, da will ich doch verflucht sein, wenn. . «Er schüttelte den Kopf und grinste.»Na, da will ich doch doppelt verflucht sein!»

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