X Die rote Flanelltasche

Richard Bolitho kam jeder Tag der Gefangenschaft länger vor als der voraufgegangene, und die tägliche Routine an Bord der Andiron marterte ihn nach und nach immer mehr, obwohl er die relative Freiheit genoß, sich im Heck der Fregatte aufhalten zu dürfen. Von dort verfolgte er das regelmäßige Kommen und Gehen kleiner Küstenfahrzeuge und den üblichen Tagesablauf eines Schiffes vor Anker. Abends wurde er in die Einsamkeit einer kleinen Kajüte zurückgebracht. Farquhar und Belsey sah er nur bei den Mahlzeiten. Selbst dann konnten sie kaum offen miteinander sprechen, weil sich stets einer der Unteroffiziere der Andiron in der Nähe aufhielt.

Die Andiron hatte hier erst vor einer Woche Anker geworfen, doch Bolitho schien es eine Ewigkeit her. Mit jedem Tag zog er sich mehr in sich selbst zurück und grübelte über seine mißliche Lage nach, bis ihm der Kopf schwirrte.

Von dem ihm zugewiesenen Platz an Deck sah er Belsey düster neben Farquhar auf einem Lukendeckel sitzen. Beide starrten über das leere Meer. Sie warten, dachte er bitter, wie jeder andere an Bord. Sie warten und fragen sich, wann die Phalarope auftauchen und in die Falle gehen wird. Ihm fiel auf, daß Belsey eine neue Bandage um den Arm trug, und rief sich den ersten, aber nur kleinen Triumph zurück, als ihm nach dem Gespräch mit seinem Bruder gestattet worden war, mit den beiden zusammenzusein.

Es war ersichtlich, daß sie inzwischen erfahren hatten, wer der Kapitän der Andiron war, aber ebenso ersichtlich war ihre Erleichterung, ihn wiederzusehen. Glaubten sie wirklich, daß er sie verlassen und zum Feind übergehen könnte? Selbst jetzt noch überraschte und freute es ihn ein wenig, daß er sich über eine solche Annahme ärgern konnte.

Belsey hatte seinen Arm unter Schmerzen bewegt und gesagt:»Der Schiffsarzt wird sich den Bruch ansehen, Sir.»

In diesem Augenblick war ihm Farquhars Dolch eingefallen, der, unter dem behelfsmäßigen Verband verborgen, als Schiene diente. Zu sprechen wagte er nicht. Die anderen beobachteten ihn jedoch, als er vom Kajütenstuhl ein Brett abbrach. Mit Farquhars Hilfe ersetzten sie den Dolch durch ein Stück Mahagoni. Belsey hatte einmal laut aufgeschrien, aber Bolitho zischte:»Still, Sie Narr! Den Dolch können wir vielleicht noch brauchen.»

Er versteckte ihn unter seinem Bettzeug. Doch ein qualvoller Tag verstrich nach dem anderen, und er beurteilte den Besitz einer so geringfügigen Waffe nicht mehr so hoffnungsvoll. Von seinem Bruder hatte er wenig gesehen und war dankbar dafür. Einmal hatte er beobachtet, wie er in der Gig an Land gepullt wurde. Und einige Male hatte er ihn zu den Wänden des

Vorgebirges hinaufstarren sehen, die hinter dem verankerten Schiff aufragten. Bolitho grübelte wieder und wieder über ihre einzige Unterhaltung in der Heckkajüte nach, bis er Bedeutungen hineinlegte, die gar nicht vorhanden gewesen waren. Doch eins stand fest: Hugh Bolitho bluffte nicht. Das hatte er nicht nötig.

Die Andiron ankerte vor der Südspitze der kleinen Insel Nevis, die zur Hauptinsel St. Kitts gehörte. Ein ovales Eiland, durch eine Meerenge von etwa zwei Meilen von St. Kitts getrennt und volle fünfzehn Meilen von der Hauptstadt Basseterre entfernt, die Hood erfolgreich gehalten hatte, bis er sich nach Antigua zurückziehen mußte. Nevis war eine gute Wahl, mußte Bolitho grimmig zugeben. Während seiner endlosen Spaziergänge über Deck verfolgte er die schnellen, doch sorgfältigen Vorbereitungen, mit denen hier einem Schiff, das versuchen sollte, die Andiron anzugreifen, eine Falle gestellt wurde.

Die vorspringende Landzunge Dogwood Point beherrschte den geschützten Strich Wasser; dahinter ragte der nackte Kamm des Saddle Hill wie ein Miniaturvulkan auf. Selbst ein halbblinder Ausguck konnte von dort aus jede verdächtige Annäherung ausmachen und sie dem Schiff und der Küstenwache melden. Es war so einfach, daß Bolitho zugeben mußte, er hätte die gleiche Methode gewählt. Lag es daran, weil sein eigener Bruder den Plan entworfen und ein verwandter Geist die Falle gestellt hatte? Wenn Sir Robert Napier erst die Nachricht erhalten hatte, wo die Andiron lag, war die Annahme, daß er impulsiv reagieren würde, durchaus berechtigt. Ein Erfolg würde zwar den schmerzlichen Verlust St. Kitts nicht wettmachen, aber die Moral der britischen Flotte heben.

Natürlich brauchte das angreifende Schiff nicht die Phalarope zu sein. Doch Bolitho verwarf diesen Gedanken sogleich. Sein Bruder hatte auch darin recht. Admiral Napier standen nur wenige Schiffe zur Verfügung, seit sich Hood wieder auf Antigua eingerichtet hatte. Außerdem würde er den Erfolg der Phalarope als einen Akt ausgleichender Gerechtigkeit ansehen. Damit wäre ihr Name gereinigt und sein Sohn gerächt.

Er versuchte von neuem, sich in die Lage des angreifenden Kapitäns zu versetzen. Er würde langsam heransegeln, um sich zu vergewissern, daß die Information über die Anwesenheit der

Andiron stimmte. Und er würde darauf achten, daß die Posten an Land seine Masten nicht vor Sonnenuntergang erspähten. Im Schutz der Dunkelheit würde er unter Land gehen und ein Enterkommando aussenden, vielleicht drei oder vier Boote. Leicht würde es nicht sein, aber ein Schiff, das so töricht war, ein Stück vor der Basis zu ankern, sollte durch Handstreich zu Fall zu bringen sein. Er schloß die Augen und versuchte, das Bild auszulöschen, das ihm das angreifende Schiff im Augenblick der Erkenntnis der wirklichen Lage zeigte.

Eine verborgene Batterie war so aufgestellt und ausgerichtet, daß die Geschütze den gesamten Bereich unter dem Vorgebirge bestrichen. Und obwohl es nach außen hin so aussah, als läge die Andiron unbesorgt vor einer friedlichen Insel, hatte Bolitho alle Vorbereitungen wohl bemerkt und auch die Sorgfalt, die sein Bruder walten ließ, um den Sieg sicherzustellen.

Die Kanonen, mit Kartätschen geladen, warteten geduckt hinter ihren geschlossenen Pforten. Schon jetzt spannten sich Netze über die Decks, um jene an einem schnellen Entern zu hindern, die dem ersten Kugelregen entkommen würden. Die Männer der Andiron schliefen auf Stationen, jeder einzelne bis an die Zähne bewaffnet und bereit, dem Plan des Kapitäns zum Erfolg zu verhelfen.

Auf dem Achterdeck waren Leuchtraketen angebracht. Sobald man mit den Angreifern im Kampf stand, sollten sie abgebrannt werden. Das Signal würde von einem entfernteren Posten an eine französische Fregatte weitergegeben werden, und mit deren Eingreifen wäre dann das Gefecht vorüber. Wenn die Phalarope ohne den besten Teil ihrer Mannschaft überrascht wurde, hatte sie keine Chance. Und wenn sie näher unter Land kam, um das Enterkommando zu unterstützen, würden die Landbatterien sie zerschmettern, ehe sie den Fehler bemerkte.

Ein anderer Gedanke quälte Bolitho. Wenn die Phalarope der Angreifer war, würde Vibart das Kommando führen. Er konnte sich nur schwer vorstellen, daß Vibarts Verstand schnell genug arbeitete, um mit einer solchen Situation fertigzuwerden. Bolitho knirschte mit den Zähnen und ging langsam zur Landseite hinüber. Die Insel lag friedlich da. Die Verteidiger hatten ihre Vorbereitungen abgeschlossen und warteten jetzt genau wie er. Nur daß er, wenn es soweit war, unter Deck eingesperrt und hilflos und elend Zeuge des Untergangs seines eigenen Schiffes sein würde. Oder, schlimmer noch, der Eroberung.

Der Gedanke peinigte ihn zum hundertsten Male. Und es gab ihm einen neuen Stich, als er einen Kutter der Andiron längsseits kommen und Früchte entladen sah. Nein, er irrte sich nicht, es war Stockdale, der breitbeinig auf dem Schanzkleid stand und die Netze mit den Früchten hinaufreichte, als wären sie leicht wie eine Feder. Sonderbar, aber das war fast am schwersten zu ertragen. Gerade Stockdale! Ob er bereitwillig oder widerstrebend gehandelt hatte, war Bolitho nicht bekannt, aber er hatte sich der Mannschaft des Kaperschiffes angeschlossen, und die anderen Leute der Landungsabteilung waren ihm wie Schafe gefolgt. Er machte ihnen innerlich keine Vorwürfe. Wenn Stockdale, der Bootsführer des Kapitäns, die Front wechselte, warum dann nicht auch sie?

Stockdale schaute, in der Sonne blinzelnd, hoch. Dann grüßte er spöttisch, und einige der Leute lachten. Der wachhabende amerikanische Offizier sagte trocken:»Manchmal glaube ich, daß es so etwas wie Treue überhaupt nicht gibt, Kapitän. Alles bloß eine Frage des Preises.»

Bolitho zuckte mit den Schultern.»Vielleicht.»

Der Offizier ergriff die Chance, Bolithos brütendes Schweigen zu brechen.»Ich komme nicht darüber hinweg, daß Sie mit unserem Kapitän verwandt sind. Der Gedanke macht einem zu schaffen. Ihnen vermutlich auch.»

Bolitho sah den gebräunten Offizier flüchtig an. Ein freundliches Gesicht. Das eines einsamen Mannes, der den Krieg satt hatte.»Fahren Sie schon lange unter ihm?«fragte er.

«Ein Jahr ungefähr. «Der Mann runzelte die Stirn.»Aber es kommt mir viel länger vor. Er kam als Erster Leutnant an Bord, erhielt aber das Kommando, nachdem der Kapitän bei einem Gefecht mit einem Ihrer Schiffe vor Cape Cod fiel. «Er grinste.»Hoffentlich kann ich bald nach Hause. Meine Frau und meine zwei Jungen warten auf mich. Ich sollte mich um meine Farm kümmern, nicht gegen König Georg kämpfen.»

Bolitho erinnerte sich der Bemerkung seines Bruders, daß er nach Cornwall kommen würde, um das ihm rechtmäßig zustehende Erbe zu fordern, und verspürte wieder die gleiche heftige Bitterkeit. Er unterdrückte die aufsteigende Regung und fragte ruhig:»Halten Sie das wirklich für so einfach?»

Der Offizier starrte ihn an.»Was kann denn noch passieren? Ich möchte Sie nicht beleidigen, Kapitän, aber meiner Meinung nach haben die Briten kaum noch eine Chance, Amerika zurückzugewinnen.»

Bolitho lächelte.»Ich dachte mehr an die Franzosen. Wenn, wie Sie sagen, die amerikanische Unabhängigkeit von allen Beteiligten bestätigt wird, bilden Sie sich dann wirklich ein, daß die Franzosen einfach absegeln? Immerhin haben sie die Hauptlast der Kämpfe getragen, vergessen Sie das nicht. Meinen Sie, daß Sie ohne ihre Flotte und ihre Lieferungen so weit gekommen wären?»

Der Amerikaner kratzte sich den Kopf.»Krieg bringt einem sonderbare Verbündete, Kapitän.»

«Ich weiß. Ich habe einige kennengelernt. «Bolitho blickte beiseite.»Meines Erachtens möchten sich die Franzosen hier draußen ebenso festsetzen wie in Kanada. «Er schüttelte den Kopf.»Sie können leicht vom Regen in die Traufe kommen.»

Der Offizier gähnte und sagte müde:»Nun, ich habe das nicht zu entscheiden, Gott sei Dank. «Er hob die Hand an die Augen und spähte in den dunklen Schatten unter Saddle Hill. Ein weißblauer Punkt eilte den unebenen Pfad in einer Staubwolke hinunter.

Der Offizier sah Bolitho bedeutungsvoll an und sagte knapp:»Ein Reiter! Das bedeutet, der Köder hat gewirkt, Kapitän. Heute nacht also — oder nie.»

Auf der Back ertönte ein Ruf, als am öden Ufer ein greller Lichtpfeil aufblendete. Jemand benutzte einen Heliographen, und Bolitho hörte tiefer landeinwärts lebhaften Trommelschlag.

«Woher weiß man es?«fragte er.

Der Offizier kniff die Lippen zusammen, sagte dann jedoch nicht unfreundlich:»Draußen liegt eine Flotte von Fischerbooten, Kapitän. Sie geben die Sichtmeldung von Boot zu Boot weiter. Eins liegt dicht unter dem Ausguck auf dem Berg. «Er wirkte verlegen.»Warum beschäftigen Sie sich noch damit? Sie können doch nichts mehr dagegen tun. Genausowenig wie ich etwas tun könnte, wäre die Situation umgekehrt.»

Bolitho sah ihn nachdenklich an.»Danke, ich will versuchen, mich daran zu erinnern. «Damit nahm er seinen Gang über das Deck wieder auf. Der Offizier zuckte mit den Schultern und kehrte auf die andere Seite des Hecks zurück.

Die kurze Waffenruhe war vorüber. Das Signal des Heliographen hatte sie aus plaudernden Seeleuten wieder zu Feinden gemacht.

«Sonnenuntergang in einer Stunde. «Daniel Proby, Steuermann der Phalarope, kritzelte langsam auf seiner Schiefertafel und ging dann gemächlich zu Herrick hinüber, der an der Luvreling stand.»So habe ich die Sonne mein ganzes Leben lang noch nicht gesehen.»

Herrick riß sich in die Gegenwart zurück und folgte Probys bekümmertem Blick über die glitzernde Weite der offenen See. Fast den ganzen Nachmittag und den frühen Abend über war die Fregatte stetig nach Nordost gelaufen, und während sie jetzt hart am Wind über Backbordbug segelte, leuchteten Masten, Spieren und jeder Zoll der steifen Leinwand wie poliertes Kupfer. Der Himmel, seit Tagen hellblau und leer, war jetzt von langen, sich kreuzenden Wolkenstreifen durchzogen, die wie glühende Rauchfahnen auf den fernen Horizont zutrieben. Es war ein zorniger Himmel, und die See reagierte auf den Wechsel auf ihre Weise. Die Oberfläche zeigte nicht mehr die kurzen, abgehackten weißen Kämme, sondern herandrängende Linien hochtreibender Wogen, eine hinter der anderen in säuberlich abgezirkelten Reihen. Das Schiff hob sich und ächzte, als die Galionsfigur sich dem Himmel zukehrte und dann in langem Bogen in das Wellental tauchte.

«Vielleicht nähert sich ein Sturm vom Atlantik?«fragte Herrick.

Der Steuermann schüttelte den Kopf.»Zu dieser Jahreszeit gibt es kaum Stürme. «Er blickte nach oben, als die Segel, wie um seine Worte zu verhöhnen, donnerten.»Wie dem auch sei, wir werden ein Reff einbinden müssen, wenn es sich nicht bessert.»

Trotz seiner düsteren Gedanken mußte Herrick lächeln. Vibart würde nicht gerade glücklich darüber sein. Seit er vor zwei Tagen seine neuen Befehle erhalten hatte, trieb er die Besatzung wie ein Verrückter an. Herrick dachte an den Augenblick, als ein Ausguck das ferne Segel gesichtet hatte. Einen Moment dachten sie, es sei eine patrouillierende Fregatte oder die Cassius selbst. Aber es war eine schnell segelnde Brigg. Über ihren niedrigen Rumpf sprühte Schaum, als sie über

Stag ging und auf die Phalarope zulief.

Herrick nahm ihr Erscheinen als unerwartete, aber willkommene Abwechslung, denn die Stimmung an Bord der Fregatte hatte sich spürbar verschlechtert. Innerhalb weniger Tage hatte es sieben Auspeitschungen gegeben. Sie hatten die Mannschaft jedoch nicht in stumpfe Gefügigkeit versetzt, sondern dazu beigetragen, die Kluft zwischen Back und Achterdeck noch zu vertiefen. Im Zwi schendeck wurde kaum noch geplaudert oder gelacht. Kam ein Offizier an einer Gruppe Matrosen vorüber, schwiegen die Männer verdrossen und wandten sich ab.

Fähnrich Maynard hatte gemeldet:»Die Brigg ist die Witch of Looe, Sir. Mit Order für uns.»

Vibart baute sich gewichtig auf dem Achterdeck auf, einsam und erhaben, schweigsam, aber alles beobachtend.

Ein Boot pullte herüber, und bald kletterte ein Leutnant mit dem unvermeidlichen Leinwandumschlag an Bord. Herrick, der in der Nähe stand, spitzte die Ohren, um mitzubekommen, was vorging. Er hörte Vibart nach dem Flaggschiff fragen und den Leutnant kurz antworten.

«Diese Befehle kommen vom Admiral, Sir. Ich habe nichts hinzuzufügen. »

Die Antwort war zu knapp, beinahe schon beleidigend, und Herrick nahm an, daß der junge Leutnant auf der Liste der Admiralsgünstlinge hoch genug stand, um sich solchen Ton erlauben zu können.

Vibart hatte dem Offizier der Brigg vom Angriff auf die Insel Mola erzählen wollen, doch dann den Mund fest zusammengepreßt, sich umgedreht und befohlen:»Lassen Sie das Schiff wieder Fahrt aufnehmen, Mr. Herrick. Ich habe zu tun.»

So war es bis heute geblieben, überlegte Herrick. Ein Schwanken zwischen hochtrabender Selbstgefälligkeit und Anfällen blinder Wut. Vibarts Reaktionen ließen sich nie vorhersagen, ein doppeltes Übel, da er beinahe allgegenwärtig war. In einem fort beobachtete er, kritisierte alles und bellte Befehle, die die der anderen Offiziere rückgängig machten.

Herrick hatte den Leutnant am Fallreep angehalten, um noch mehr zu erfahren. Der Offizier sah ihn nachdenklich an.

«St. Kitts ist gefallen. Die Flotte hat sich zurückgezogen, um sich neu zu formieren. Ich segle jetzt nach Antigua. «Er blickte zu seinem Schiff hinüber.»Aber dem Vernehmen nach kommt Rodney aus England mit zwölf Linienschiffen zu uns. Ich hoffe zu Gott, daß er noch rechtzeitig eintrifft. «Und dann, hastig:»Wo ist Ihr Kapitän?»

«Gefallen. «Herrick brachte das Wort kaum über die Lippen.»Auf Mola.»

«Nun, mir liegt Ihr neuer Kommandant nicht, mein Freund. «Der Leutnant hielt kurz inne.»Wir haben zwei Tage nach der Phalarope gesucht. Der Admiral dürfte kaum erfreut sein, daß Sie Ihre Position verlassen haben, Mola oder nicht. «Er kniff die Augen zusammen.»Im Befolgen von Befehlen ist Sir Robert ein Pedant.»

Herrick beschäftigte sich nun mit jenem Teil der Ereignisse, aufgrund derer die Phalarope jetzt auf die Inseln zuhielt. Vibart hatte alle Offiziere und Unteroffiziere zu einer Besprechung in die Kajüte gerufen. Irgendwie war es typisch für ihn, daß er bequem auf seinem Stuhl saß und alle anderen stehen ließ.

«Sir Robert Napier hat Nachricht erhalten, daß die Andiron vor Nevis liegt. «Danach ließ er eine anscheinend sorgsam vorbereitete Rede vom Stapel.»Offenbar werden Reparaturen ausgeführt, während sie auf neue Order wartet. Wie lange sie dort liegen wird, ist ungewiß. «Er blickte von einem zum anderen.»Sir Robert befiehlt der Phalarope, unverzüglich nach Nevis zu segeln, um die Andiron zu versenken oder zu nehmen. «Vibarts Worte hatten wie ein Blitz eingeschlagen.»Wir werden höchste Fahrt laufen. «Er sah den Steuermann durchdringend an.»Also geben Sie acht, daß keine Fehler passieren, Mr. Proby.»

Herrick hatte Vibart während der Ankündigung beobachtet. Sein offensichtlicher Eifer überraschte ihn. Es konnte eine falsche Nachricht sein. Stimmte sie jedoch, würde es nicht leicht sein, ein Schiff außer Gefecht zu setzen, das dicht unter einer feindlichen Insel lag. Indes Vibart sich dröhnend über Details und den Zeitpunkt ausließ, wurde ihm klar, daß Vibarts Verhalten auf Unsicherheit schließen ließ. Obwohl Vibart seit Bolithos Verschwinden das Kommando führte, war Okes in der besseren Position, weil man womöglich ihm die zurückliegenden Erfolge gegen den Feind gutschreiben würde. Vibart mußte sich noch beweisen, und dafür bot die neue

Operation eine Gelegenheit.

Merkwürdigerweise hatte er keine Meldungen zur Witch of Looe hinübergeschickt. Sparte er sich den Bericht für einen persönlichen Vortrag beim Admiral auf? grübelte Herrick. Sir Robert mochte wütend sein, weil die Phalarope ihre Position verlassen hatte. Aber die Zerstörung der Batterie auf Mola und die der Truppentransporter und dazu ein Sieg über das Kaperschiff Andiron mußten jeden besänftigen.

Doch jetzt, nachdem Vibart ausreichend Zeit gehabt hatte, alles zu bedenken, was der Befehl einschloß, war seine Stimmung von neuem umgeschlagen. Während die Phalarope auf Nevis zulief, wuchs seine Nervosität und Gereiztheit, und mehr als einmal gewann seine Ungeduld die Oberhand. Erst vormittags hatte er einen Mann auspeitschen lassen, dem ein Marlspieker von der Großrah fiel. Er war dicht neben Packwood, einem Maat, in den Decksplanken steckengeblieben. Vibart brütete gerade auf dem Achterdeck vor sich hin und verfolgte, wie die Boote überprüft wurden. Packwoods erschreckter Aufschrei hatte ihm von neuem Gelegenheit gegeben, seiner nie vorhersehbaren Laune freien Lauf zu lassen.

«Schafft den Kerl her. «Seine Stimme ließ jeden Handgriff auf dem Hauptdeck stocken.»Ich habe es genau gesehen. Der Marlspieker sollte Packwood treffen.»

Selbst der Bootsmannsmaat hatte widersprochen.»Es ist heute bewegt da oben, Sir. Das war keine Absicht.»

Vibart war scharlachrot angelaufen.»Maul halten! Oder ich sehe mir auch Ihre Rückenknochen an.»

Wieder das gefürchtete Trillern:»Alle Mann als Zeugen einer Bestrafung nach achtern!»

Wieder das qualvolle Hinschleichen der Zeit, bis die Gräting klar war und die Seesoldaten auf dem Achterdeck eine rechteckige Formation bildeten.

Der Seemann, den es diesmal traf, hieß Kirk. Ein magerer, hohläugiger Matrose, der seit dem Gefecht mit der Andiron beinahe taub war. Die donnernden Breitseiten hatten ihm das Trommelfell für immer lädiert.

Mr. Quintal, der Bootsmann, war langsam nach achtern gekommen, die vertraute rote Flanelltasche baumelte ihm am Handgelenk. Schweigend teilten sich die Leute, um ihn durchzulassen. Bis zum letzten Moment, ja noch als Vibart das

Verlesen der Kriegsartikel beschloß und schroff verkündete:»Vier Dutzend, Mr. Quintal«, bezweifelte Herrick, daß Kirk ein einziges Wort verstanden hatte. Erst als ihn die Bootsmannsmaaten packten, ihm das Hemd vom mageren Körper rissen und ihn zum Prügeln über die Gräting warfen, begann er zu brüllen und zu protestieren. Die meisten nahmen ihre Strafe hin, ohne einen Laut von sich zu geben. Schon ein einziger Schlag mit der neunschwänzigen Katze trieb die Luft aus den Lungen, so daß kaum genug für einen Schrei übrig blieb. Kirk schrie unaufhörlich, als seine Handgelenke so festgebunden wurden, daß die Füße eben das Deck berührten. Furcht und Schrecken des Mannes brachten die Bootsmannsmaaten einen Augenblick durcheinander, und sie wechselten flüchtige Blicke. Quintal zog die Peitsche aus der roten Tasche, reichte sie Packwood und sagte barsch:»Zwei Dutzend. Josling übernimmt die anderen zwei. Wenn Kirk so lange lebt«, fügte er halblaut hinzu.

Vibart hatte den Hut aufgesetzt und kurz genickt.»Anfangen.»

Herrick hatte viele Auspeitschungen gesehen. Sie schienen Teil des Seemannslebens, und er hatte sich gegen den Anblick gestählt. Doch diesmal lagen die Dinge anders. Die Bestrafung war ungerecht, weil Vibart zu versessen darauf war.

Die Trommel wurde gerührt, und Packwoods muskulöser Arm holte aus:»Eins. «Die Peitsche zischte durch die Luft. Wie üblich wartete Herrick angewidert und fasziniert zugleich auf die Wirkung des Schlages. Einige Sekunden lang zeigte sich auf dem bloßen Rücken des Mannes nichts, doch schon während die Peitsche zum zweiten Schlag gehoben wurde, sprang die straffe Rückenhaut von der Schulter bis zur Hüfte in vielen feinen Rissen auf.

«Zwei. «Kirk brüllte und zuckte hilflos an der Gräting. Aus seinem Mund floß Blut, und Herrick wußte, daß er sich die Zunge aufgebissen hatte.

«Drei. «Packwood zögerte, ehe er wieder zuschlug. Seine Augen wurden glasig, als die Peitsche Kirks Rücken blutig riß.

Vibarts Stimme übertönte die Trommel.»Härter, Packwood, ersparen Sie dem Kerl nichts, wenn Sie nicht mit ihm tauschen wollen.»

So war es weitergegangen, Schlag für Schlag, begleitet vom unmenschlichen Rasseln der Trommel. Nach dem ersten

Dutzend sackte Kirk zusammen und gab keinen Ton mehr von sich. Doch als der Wundarzt Ellice grimmig feststellte:»Er lebt noch, verträgt aber nicht mehr viel«, fauchte Vibart:»Weitermachen mit der Bestrafung.»

Herrick hatte bemerkt, daß sich Fähnrich Neale an Maynards Ärmel klammerte, während die Auspeitschung weiterging. Kirk war mager, und nach achtzehn Schlägen glaubte Herrick, unter der zerfleischten Haut Knochen und Muskeln zu sehen. Dann übernahm Josling die Peitsche und streifte mit den Fingern Fleischfetzen davon ab. Nach einem kurzen Blick in Vibarts ausdrucksloses Gesicht machte er sich an das zweite Dutzend. Nach dem zwanzigsten Schlag fiel Mr. Quintal ihm in den Arm und sagte fest:»Das reicht, Sir. Er stirbt. «Kirks blutiger Körper wurde nach unten geschafft, aber erst, nachdem Wundarzt Ellice das Eingreifen des Bootsmanns unterstützt hatte.»Vielleicht übersteht er es«, hatte er unbestimmt geknurrt.»Sagen kann ich es nicht. Ich glaube, seine Nieren sind geplatzt. »

Herrick forschte nach einem Zeichen von Mitleid oder Triumph in Vibarts schweren Zügen. Doch sie zeigten lediglich steinerne Gleichmütigkeit. Captain Pomfret hatte Auspeitschungen zugesehen, als wären sie ein brutaler Sport. Der blutige Abschluß erregte ihn stets auf eine Weise, als hätte er einen perversen Sexualakt erlebt. Nichts davon bei Vibart. Vibart sah man überhaupt kein Gefühl an, ganz gleich welcher Art.

Herrick wandte sich hastig ab, als Vibart im Kajütsniedergang auftauchte und in den Wind schnüffelte. Vibart musterte den seltsam kupferfarbenen Himmel und sagte gedehnt:»Der Wind hat aufgefrischt. Wir werden in zehn Minuten die Segel bergen. «Sein Blick streifte Proby.»Haben Sie unsere Position? Unsere genaue Position?»

Proby nickte mürrisch.»Aye, Sir. Nevis liegt in Nordost voraus, etwa fünfzehn Meilen entfernt.»

Vibart musterte ihn durchdringend.»Ich hoffe um Ihretwillen, daß es stimmt, Mr. Proby. «Dann bellte er den Rudergänger an:»Paß auf, du Tölpel. Bleib hart am Wind.»

Herrick blickte hinauf. Das Schiff lief perfekt. Vibart wurde offenbar um so nervöser, je näher sie der Insel kamen. Nicht furchtsam. Er hatte bei keiner Gelegenheit irgendwelche

Zeichen von Furcht gezeigt. Nein, das lag tiefer, hatte mit der lauernden Möglichkeit eines Fehlschlags zu tun.

Vibart bemerkte, daß Herrick ihn ansah, und fauchte:»Haben Sie die Enterkommandos eingeteilt?»

«Aye, Sir. Alle Boote außer der Gig sind klar. Die Gig ist für diese Aufgabe nicht geeignet.»

«Das weiß ich selber, Mr. Herrick. «Vibarts Augen waren rot unterlaufen.»Sie übernehmen den Gesamtbefehl. Maynard, Packwood und Parker befehligen die anderen drei Boote. «Seine Blicke glitten finster über die an Deck beschäftigten Leute.»Als Steuermannsmaat ist Parker der ideale Mann, die Andiron unter Segel zu bringen, wenn Ihr Angriff Erfolg hat.»

«Ja, Sir. «Herrick wußte das alles. Er hatte jeden einzelnen Mann persönlich instruiert und dem festgelegten Plan gemäß eingeteilt.»Erwarten Sie starke Gegenwehr, Sir?»

«Wir sind jetzt drin. Es kommt nicht darauf an, was ich erwarte.»

Proby befragte seine große Taschenuhr und sagte:»Pfeifen Sie alle Mann an Deck. Klar zum Segelbergen.»

Herrick fragte sich, warum Vibart das so lange hinausgeschoben hatte. In der Ferne hatte er mehrmals Fischerboote gesehen. Es lag wirklich kein Sinn darin, die Eile der Phalarope noch durch Vollzeug anzuzeigen.

Die Matrosen kletterten die Wanten hinauf und zogen sich die schwankenden Rahen entlang. Bei der unbehaglichen Bewegung des Schiffs war das Segelbergen eine gefährliche Arbeit.

Vibart sagte mürrisch:»Auf diese Weise sind wir weniger leicht auszumachen. Und da der Wind ständig auffrischt, erspart es uns die Mühe, später Segelbergen zu müssen. «Er schien laut zu denken.

Proby legte die Hände um den Mund und rief heiser:»Marssegel und Klüver, mehr brauchen wir nicht. Schnell!»

Gefolgt von Vibarts Blicken und angetrieben durch die Rufe ihrer Maate, kämpften die Männer mit der schlagenden Leinwand und verfluchten den Wind und die tückischen Segel, die alles daransetzten, die Männer von den Rahen zu schleudern. Als sich Bramsegel und Großsegel schließlich den kämpfenden Matrosen ergaben und sich die Leinwandfläche verringerte, spürte Herrick, wie die Phalarope an Fahrt verlor.

Er beobachtete die langen Wellenberge und schätzte die Entfernung zwischen ihnen ab. In Lee von Nevis würde es geschützter sein, überlegte er, aber selbst dann würde es schwerfallen, die zum Angriff abgesetzten Boote zusammenzuhalten. Er sah Okes an der Leereling stehen und fragte sich, warum Vibart nicht Okes für das Kommando ausgewählt hatte. Wenn Okes sich gewandelt hatte und nun verläßlich war, hätte die Wahl eigentlich auf ihn fallen müssen.

Hauptmann Rennie schlenderte über das Achterdeck heran und sagte:»Meinen Glückwunsch, Herrick. Und Erfolg heute nacht! Ich käme gern mit, aber Seesoldaten sind dafür kaum geeignet.»

«Danke. «Herrick lächelte.

Rennie deutete auf Okes.»Man möchte meinen, unser kommandierender Offizier weiß mehr, als wir dachten, hm? Diese Attacke vertraut er einem Mann, der so weich wie Butter ist, nicht an.»

«Leise!«Herrick blickte flüchtig zum offenen Oberlicht.»Ihre Bemerkungen könnten ernstgenommen werden.»

Rennie zuckte mit den Schultern, senkte aber die Stimme.»Zum Henker mit der Vorsicht! Ich komme mir wie ein Mann auf einer dünnen Eisfläche vor.»

Er ging davon, und Herrick sah die Matrosen hinabklettern. Wenn bloß Bolitho hier wäre, um sie alle zu inspirieren und zu führen, dachte er. Er sah schon die Phalarope nach Antigua hineinsegeln — unter einem Vibart, der sich vor Selbstgefälligkeit aufblähte, während Hurrarufe und Glückwünsche ihre Rückkehr zur Flotte und zum Ruhm unterstrichen. Doch er würde Bitterkeit empfinden, dachte Herrick. Denn ohne Bolitho wäre die Phalarope nie so weit gekommen, und falls Vibart das Kommando behielt, sah er in der Tat für sich keine Zukunft.

Tobias Ellice kam den Niedergang herauf. Er führte die Hand an seinen schäbigen Hut und rülpste.»Kirk ist tot«, grunzte er dann abrupt.»Ich habe ihn fein säuberlich einnähen lassen.»

«Gut«, erwiderte Herrick.»Ich werde es im Logbuch eintragen. «Der Atem des Wundarztes roch nach Rum, und Herrick fragte sich, wie der Mann seinen Pflichten nachkommen konnte.

«Sie können auch eintragen, daß mir dieses Schiff und ihr alle bis hier steht. «Ellice schwankte betrunken und wäre gefallen, hätte Herrick ihn nicht gestützt.»Ihr behandelt sie wie Hunde«, murmelte er und schüttelte dann den Kopf.»Nein, nicht wie Hunde, die leben im Vergleich dazu wie Könige.»

Herrick betrachtete ihn verdrossen.»Sind Sie fertig?»

Ellice zog ein riesiges rotes Taschentuch aus dem Schoß seines Rockes und schnaubte laut.»Sie haben gut spotten, Mr. Herrick. Sie legen heute nacht ab, um Ruhm zu erlangen und zu kämpfen. «Er bleckte die Zähne und versuchte, Herrick mit seinen wäßrigen Augen klar zu erkennen.»Aber Sie werden ein anderes Lied singen, wenn Sie unten bei mir darauf warten, daß die Säge Ihren hübschen Arm, ein Bein oder gar zwei abtrennt.»

«Nur zwei?«Herrick musterte ihn mit bitterem Humor.

Ellice wurde plötzlich ernst, sein vom Rum umnebelter Verstand hakte sich an Herricks Frage fest.»Man kann ohne sie leben, mein Junge. Ich habe es oft gesehen.»

Herrick sah ihm nach, als er zur Heckreling ging. Wieder war ein Mann gestorben. Wer kam als nächster an die Reihe?

Bryan Ferguson nahm noch ein Entermesser aus der tiefen Lade und reichte es Old Ben Strachan. Strachan prüfte die Klinge, beugte sich über den Schleifstein und zog das Entermesser über den rotierenden Stein. Seine Augen blitzten hell in den fliegenden Funken.

Ferguson blickte durch das Zwischendeck. Das Schiff rollte und stampfte, und die schaukelnden Laternen warfen hüpfende Schatten. Merkwürdig, wie es ihm jetzt gelang, das Gleichgewicht zu halten, ja selbst sein Magen widerstand nun der lauernden Qual der Seekrankheit. Im Vergleich zu dem sonstigen Leben war das niedrige Zwischendeck heute merkwürdig menschenleer. Bis auf die Männer, die zum Enterkommando gehörten, waren alle an Deck, um das Schiff für die Aktion vorzubereiten. Old Strachan konzentrierte sich auf sein Messerschleifen. Während Ferguson ihn beobachtete, hörte er das drohende Rumpeln der Lafetten. Offenbar wurden die Kanonen sorgfältig geladen und dann wieder hinter den geschlossenen Stückpforten verlascht. Die Decks waren bereits mit Sand bestreut, und er hörte Mr. Brock seinem Magazinkommando letzte Instruktionen erteilen.

Starker Rumgeruch drang in das Zwischendeck, und Ferguson drehte sich zu den unten verbliebenen, eng beieinander sitzenden Leuten um, die sich eine kurze Ruhepause gönnen durften, ehe sie in die Boote mußten.»Wie wird es ablaufen?«fragte er Strachan.»Was meinst du?»

Strachan prüfte die Klinge und legte sie sorgsam auf den Haufen der schon geschärften Messer.»Schwer zu sagen, Junge. Ich habe das selbst ein paarmal mitgemacht. Manchmal war nach einigen Gebeten und Stoßseufzern alles vorbei, und ehe man's sich versah, war man wieder wohlbehalten an Bord. Und manchmal wunderte man sich, daß man überhaupt noch lebte.»

Ferguson konnte sich die zermürbenden Schrecken eines Angriffs bei völliger Finsternis nicht vorstellen und nickte bloß. Seine neuen Pflichten als Schreiber hielten ihm solche Gefahren vom Leibe und hatten ihn von seinen Gefährten noch weiter getrennt. Er mußte sich jetzt völlig darauf konzentrieren, mit dem Ersten Offizier klarzukommen. Vibart las jeden Befehl und jeden Bericht mindestens zweimal, und einer Rüge ließ er stets die Androhung einer Strafe folgen. Ferguson dachte an die Auspeitschungen, besonders an die jüngste. Er hätte die Hände vor das Gesicht schlagen mögen. Kirk war im Schiffslazarett gestorben, aber seine schluchzenden Schreie schienen noch immer im Logis zu hängen.

«Die See wird ziemlich rauh«, sagte Strachan.»Ich möchte nicht dabei sein. «Er schüttelte den grauen Kopf.»War so schwarz wie 'n Schweinebauch, als ich vorhin die Nase hinaussteckte. «Onslow, der große Matrose von der Cassius, kam herangeschlendert und sah Ferguson einige Sekunden nachdenklich an. In dem karierten Hemd und der engen Hose wirkte er noch größer und furchterweckender als sonst. Sein dickes Haar hatte er im Nacken mit einem roten Band zusammengebunden.»Du bleibst also an Bord, wie?«lächelte er.»Und das ist ganz richtig so. «Er legte Ferguson die Hand auf die schmächtige Schulter.»Du wirst noch gebraucht, mein Junge. Ich möchte alles wissen, was in der Achterkajüte vorgeht.»

Ferguson starrte ihn an.»Ich. . Ich verstehe nicht.»

Onslow gähnte und reckte die Arme.»Es ist immer gut, wenn man weiß, was die Offiziere als nächstes vorhaben, verstehst du. Dann brauchen Leute wie wir nicht ewig Pöbel zu bleiben. Durch Wissen«, er klopfte sich bedeutungsvoll gegen die Stirn,

«sind wir ihnen gleich — und bereit!»

Lugg, ein Geschützmaat, kam den Niedergang herunter und spähte mit zusammengekniffenen Augen ins Dämmerlicht.»Los, ihr da! An Deck, und zwar schnell. Jeder Mann ein Entermesser und achtern aufstellen.»

Onslow sah ihn an.»Was denn, keine Pistolen?»

Lugg antwortete eisig:»Ich werde dir was mit der Pistole versetzen, wenn du dich weiter so aufführst.»

Stahl klirrte gegen Stahl, als sich jeder hastig ein Entermesser griff. Ferguson redete den einen oder anderen an, erhielt aber keine Antwort. Strachan wischte sich die Hände ab und murmelte:»Spar dir den Atem, Junge. Die denken an das, was vor ihnen liegt. Später gibt's genug zu reden. Sollte mich nicht wundern.»

John Allday zögerte, so lange es ging. Dann nahm er ein Entermesser und schwang es langsam im Lampenlicht. Danach sagte er leise:»Sieh dich vor Onslow vor, Bryan. Er ist der geborene Unruhestifter. Ich traue ihm nicht über den Weg.»

Ferguson sah seinen Freund überrascht und irgendwie schuldbewußt an. Seit seiner Abkommandierung zum Schreiber des Kapitäns war er Allday und seinem stillen Schutz entglitten, und wenn er ins Zwischendeck kam, hatten ihn stets Onslow oder dessen Freund Pook in Gespräche und Spekulationen gezogen.

Allday bemerkte Fergusons Unsicherheit und fügte hinzu:»Du hast die Auspeitschung gesehen, Bryan. Laß es dir eine Warnung sein.»

«Aber Onslow ist doch auf unserer Seite, nicht wahr?«Ferguson bemühte sich zu verstehen.»Du hast doch gehört, was er heute gesagt hat. Ihm steht es ebenso bis hier wie uns allen.»

«Ich habe es gehört. «Alldays Mund verzog sich zu grimmigem Lächeln.»Aber er redet nur. Er gehört nicht zu denen, die an die Gräting kommen.»

Old Strachan murmelte:»Ich hab' 'nen Burschen wie ihn auf der alten Gorgon erlebt. Hat die Männer aufgewiegelt, bis sie nicht mehr wußten, was vorn und hinten war. Zuletzt haben sie ihn gehenkt.»

«Und uns werden sie alle hängen, wenn er weiter seine aufwieglerischen Reden hält. «Alldays Augen blitzten.»Wir sind nun mal hier und müssen das Beste daraus machen.»

Lugg spähte den Niedergang hinunter und bellte:»Na, willst du nun endlich an Deck kommen, du fauler Schuft? Du bist der Letzte, wie üblich. «Aber in der Stimme schwang kein echter Ärger. Lugg war so gereizt und nervös wie jeder an Bord.

Ferguson rief noch:»Viel Glück!«, aber Allday rannte bereits hinauf. Im ersten Augenblick konnten seine Augen die Finsternis, die das stampfende Schiff einhüllte, nicht durchdringen. Über den Masten schimmerten zwischen den niedrig treibenden Wolken hin und wieder ein paar Sterne.

Die Maate riefen Namen auf, und die Männer ordneten sich unter Flüchen und Scharren neben den Booten zu den verschiedenen Enterkommandos. Die Boote waren bereits aus den Klampen und klar zum Ausschwenken.

Allday sah Leutnant Herricks weiße Rockaufschläge, die sich schwach gegen den dunklen Himmel abzeichneten, und war froh, daß er seinem Boot zugeteilt worden war. Fähnrich Maynard war ein ganz netter Junge, aber es mangelte ihm an Erfahrung und Selbstvertrauen. Allday bemerkte, wie Maynard verstohlen mit seinem kleinen Freund Neale flüsterte.

«Hört her, Jungs«, sagte Herrick scharf.»Ich führe mit der Barkasse. Der Kutter folgt direkt im Kielwasser, danach die Pinasse. Mr. Parker macht mit der Jolle den Schluß. «Des heulenden Windes wegen mußte er schreien, und Allday sah unruhig auf das schäumende Wasser und den immer höher spritzenden Gischt. Sie würden schwer pullen müssen, dachte er, und spuckte automatisch in die Hände.

Er spitzte die Ohren, als Bootsmannsmaat Parker meldete:»Alle da, Mr. Herrick. Sechsundsechzig Mann.»

«Sehr gut. Ich werde den. . «Er stockte und sagte rauh:»Ich werde Mr. Vibart informieren.»

Allday biß sich auf die Lippen. Zwischen Herrick und dem neuen Kommandanten herrschte keine große Liebe. Er sah Onslow lässig an einem Piekenständer lehnen und mußte an Fergusons Unruhe denken. Sonderbar, wie eifrig Onslow darauf ausgewesen war, daß Ferguson zum Schreiber ernannt wurde, grübelte er. Und wie gelegen es kam, daß Mathias, Bolithos ursprünglicher Schreiber, im Laderaum zu Tode gekommen war.

«Den Kutter ausschwenken!«Mr. Quintal tastete sich zur Talje.»Fiert ab das Boot!»

Allday stockte. Lebhaft trat ihm ein Bild vor Augen. Damals, als Mathias durch Sturz umgekommen war, hatte er als Ausguck im Mastkorb gesessen. Merkwürdig, daß er nicht früher daran gedacht hatte. Er hatte den Schreiber durch die kleine Luke steigen sehen, und kurz darauf fand man ihn bewußtlos, sterbend. Aber davor war bereits jemand im Laderaum gewesen. Er sah kurz zu Onslow hinüber, entsann sich des genauen Augenblicks und der Tatsache, daß Onslow den Sturz des Schreibers gemeldet hatte. Er spürte Quintais harte Hand auf der Schulter und griff wieder mit den anderen an die Talje. Die See schien urplötzlich immer höher zu steigen und die Phalarope im Vergleich dazu zu schrumpfen.

In seine durcheinanderrasenden Gedanken drang Onslows beiläufige Bemerkung:»Die Kerle sollen unseren Stahl kosten!»

Wen meinte er damit? fragte sich Allday.

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