III Fleisch für den Proviantmeister

Zwanzig Tage, nachdem die Phalarope Anker gelichtet hatte, kreuzte die Fregatte den dreißigsten Breitengrad und krängte abscheulich in einem tobenden Nordweststurm. Falmouth lag dreitausend Meilen zurück, aber der Nordwest hielt das Schiff mit seinen Überraschungen und Grausamkeiten noch immer in seinen Klauen.

Als es vom Vordeck ein Glasen schlug und die stumpfe, kupferfarbene Sonne den Horizont erreichte, pflügte die Fregatte durch endlose, mit weißem Schaum gekrönte Wogen, ohne Sorge oder Wissen um die Männer, die ihr Stunde um Stunde, Tag für Tag dienten. Eine Wache war kaum nach unten entlassen, als die Maaten auch schon von Niedergang zu Niedergang rannten. Ihre Pfeifen schrillten, und ihre Stimmen überschrien heiser das Donnern der Segel und das unaufhörliche Rauschen des Spritzwassers.

«Alle Mann an Deck! Alle Mann an Deck zum Segelreffen!»

Später, steif und benommen von dem Hantieren in schwindelnder Höhe, krochen die Männer wieder herab. Der Körper war ein einziger Schmerz, die Finger waren steif und bluteten von dem Kampf mit der widerspenstigen Leinwand.

Die Freiwache duckte sich im Halbdunkel des Logis, klammerte sich an, wo es nur ging, und lauschte auf den Anprall der Wogen, während sie versuchte, ihr Abendessen zu verzehren. Die an den Decksbalken pendelnden Laternen warfen sonderbare Schatten über die gebeugten Köpfe, und Lichtflecke hoben einzelne Gesichter oder Gesten heraus.

Die Luken waren dicht, und die Luft war dick und mit Gerüchen gesättigt. Der Geruch des Bilgewassers vermischte sich mit dem säuerlichen Gestank von Schweiß und Erbrochenem. Alles vibrierte und dröhnte, während das Schiff seinen Kampf mit dem Atlantik ausfocht. Der ständige Anprall der Wellen, das triumphierende Gurgeln der Sturzseen, das unaufhörliche Knarren der Spanten und das Summen der straffen Stagen ließ die Männer kaum einen Augenblick Ruhe oder Schlaf finden.

John Allday saß rittlings auf einer der langen, geschrubbten Bänke und nagte an einem zähen Stück Salzfleisch. Seinen kräftigen Zähnen kam es wie Leder vor, aber er zwang sich, es zu essen und nicht an das stinkende Faß zu denken, aus dem es stammte. Wo ihn Brocks Stock gezeichnet hatte, zog sich jetzt eine häßliche Narbe über die Wange. Als er auf dem Fleisch herumkaute, spannte sich die Haut, und die Narbenränder, die Salzwasser und eisiger Wind wie mit groben Stichen zusammengezogen hatten, schmerzten.

Ohne zu blinzeln, beobachtete ihn über den Tisch hinweg ein riesiger Seemann mit gewaltigen Schultern: Pochin. Er brach das Schweigen und sagte:»Du hast dich ganz gut eingewöhnt, mein Junge. «Er lächelte freudlos.»Das ganze Spektakel, das du bei der Aushebung angestellt hast, war für die Katz.»

Allday warf einen Knochen auf seinen Zinnteller und wischte sich die Finger mit einem Stück Hanf ab. Er musterte den anderen mehrere Sekunden lang fest, ehe er antwortete:»Ich kann warten.»

Pochin starrte ins Dämmerlicht. Mit erhobenem Kopf lauschte er auf das Würgen einiger Männer.»Wie ein Haufen Weiber. «Er sah Allday an.»Ich hab' vergessen, daß du den Rummel von früher kennst.»

Allday zuckte mit den Schultern und sah auf seine Handflächen.»Den Teer wird man nie los, nicht?«Er lehnte sich an die Spanten und seufzte.»Zuletzt war ich auf der Resolution, vierundsiebzig Geschütze. Als Fockmann. «Er schloß die Augen.»Ein anständiges Schiff. Wir musterten ein paar Monate vor der amerikanischen Revolution ab. Und ehe ein Preßkommando die Hand auf mich legen konnte, hatte ich mich schon verdrückt.»

Ein alter, grauhaariger Mann mit verblaßten blauen Augen sagte heiser:»Bist du wirklich Schäfer gewesen?»

Allday nickte.»Das und anderes. Ich mußte im Freien sein, weg von den Städten. Unter einem Dach war' ich erstickt. «Er lächelte ein wenig.»Bin hin und wieder nach Falmouth rein, das war lange genug für eine Frau und ein Glas oder zwei.»

Strachan, der alte Seemann, schob die Lippen vor und flog gegen den Tisch, als sich das Schiffjäh überlegte und die Teller durch das Logis trudelten.»Hört sich nach 'nem schönen Leben an, Junge. «Es klang weder sehnsüchtig noch neidisch, war nur eine Feststellung. Old Ben Strachan diente seit langem bei der Marine. Vor vierzig Jahren war er zum erstenmal als Pulver-äffchen über das Deck getrottet. Das Leben an Land war ihm ein Geheimnis, und im Vergleich zu seiner reglementierten Welt kam es ihm noch härter vor als die Entbehrungen an Bord.

Eine verkrümmte Gestalt schob sich hinter dem Tisch hoch und schlug, die Arme zuerst, quer über die Platte, mitten zwischen die Essensreste. Allday blickte sich um. Es war Bryan Ferguson. Seit Vibart ihn auf der Küstenstraße rekrutiert hatte, schüttelten ihn Furcht und Seekrankheit. Er hatte als Angestellter auf einer Werft in Falmouth gearbeitet. Körperlich war er nicht gerade kräftig, und in dem dürftigen Licht der Laterne sah sein Gesicht grau wie der Tod aus. Er war mager, und sein Körper wies an vielen Stellen blaue Flecke auf: dort, wo er gegen ungewohnte Ecken gerannt war oder wo ihn die Stöcke der Bootsleute und Maaten getroffen hatten, die die Neuen in die Geheimnisse der Seefahrt einweihten und ihnen den Segeldrill beibrachten.

Tag für Tag ging das so. Ohne Gnade oder Unterlaß wurden sie von einem Teil des Schiffes zum anderen gehetzt. Zitternd vor Angst zog sich Ferguson die steilen Wanten hinauf und kletterte auf die Rahen hinaus, bis er das schäumende Wasser unter sich sah, das nach seinen Füßen zu gieren schien. Das erstemal hatte er sich schluchzend an den Mast geklammert, weder fähig, hinaus auf die Rahe zu klettern, noch hinunter zur Sicherheit des Decks. Josling, ein Bootsmannsmaat, hatte gebrüllt:»Los, raus auf die Rah, du Schlappschwanz, oder ich zieh dir das Fell über die Ohren.»

In diesem Augenblick hätte Ferguson beinahe den Verstand verloren. Jedesmal, wenn der Steven der Fregatte durch eine Woge brach, blieb sein Heim weiter achter aus zurück. Und damit seine Frau, deren Bild mit jeder Meile tiefer in der aufgewühlten See versank.

Wieder und wieder rief er sich ihr bleiches, besorgtes Gesicht in Erinnerung, so wie er es zuletzt gesehen hatte. Als die Einwohner der Stadt merkten, daß die Phalarope auf Falmouth Bay zuhielt, waren die meisten jungen Städter in die Hügel geflohen. Fergusons Frau lag seit drei Jahren krank darnieder. Sie war immer schwächer und durchsichtiger geworden. Er wollte bei ihr bleiben, doch sie gab nicht nach.

«Schließ dich den anderen an, Bryan. Mir passiert schon nichts. Oder sollen sie dich hier fangen?»

Der Alptraum wurde unerträglich, wenn er daran dachte, wie alles gekommen war. Wäre er bei ihr geblieben, säße er noch immer sicher daheim und könnte ihr helfen.

«Da, nimm was«, sagte Allday und schob Ferguson einen Teller mit Fleisch hinüber.»Du hast seit Tagen nichts gegessen, Mann.»

Ferguson hob den Kopf von den Unterarmen und starrte blicklos auf den Seemann. Allday hatte nicht ahnen können, daß Ferguson beinahe von der schwankenden Großrah gesprungen wäre. Lieber das, als noch eine Stunde solcher Marter. Aber Allday war mit nach außen gekehrten Füßen über die Rah heranbalanciert und hatte dem keuchenden Ferguson die Hand entgegengestreckt.»Los, Mann. Komm mir nach und schau nicht hinunter. «In seiner Stimme hatte Kraft gelegen wie in der eines Mannes, der erwartet, daß man ihm gehorcht. Im gleichen Ton hatte er barsch hinzugefügt:»Gib diesem schuftigen Josling keine Chance, dich zu schlagen. Dem Bastard macht's Freude, dich springen zu lassen.»

Ferguson starrte jetzt in das dunkle Gesicht, auf die Narbe, die die Wange überzog, in die ruhigen, ehrlichen Augen. Allday war von der Stammbesatzung der Fregatte sofort akzeptiert worden, während die anderen Neuankömmlinge noch immer auf Abstand gehalten wurden, als wären sie auf Probe, bis ihre Vorzüge oder Mängel klar zu Tage lagen. Vielleicht lag es daran, daß Allday das Leben auf See kannte und bereits abgehärtet war. Oder vielleicht daran, daß er keine Verbitterung über die Zwangsrekrutierung zeigte und nicht wie andere mit dem Leben prahlte, das er an Land geführt hatte.

Ferguson schluckte schwer, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken.»Ich kann das nicht essen. «Angeekelt stierte er das Fleisch an.»Es ist Schweinefraß.»

Allday griente.»Wirst dich dran gewöhnen.»

«Du machst mich krank. Vermutlich bist du doch mit deiner Frau immer auf die Mole hinausgegangen und hast beim Anblick eines Kriegsschiffs feuchte Augen bekommen«, höhnte Pochin.»Ich wette, du hast wer weiß was für'n heiligen Stolz empfunden, wenn es in sicherer Entfernung vorbeisegelte.»

Wie hypnotisiert von dem Haß, der aus Pochins Worten sprach, starrte Ferguson in das wütende Gesicht.

Pochins Blicke glitten durch das schrägliegende Logis. Die zusammengedrängten Männer schwiegen seit seinem Ausbruch.»Aber an die armen Schweine, die so ein Schiff bemannen, habt ihr nie gedacht. Auch nicht an ihre Mühen. «Er wandte sich wieder Ferguson zu.»Na, dein liebes Weib steht jetzt mit 'nem anderen auf der Mole. Sollte mich nicht wundern. «Er machte eine obszöne Geste.»Hoffen wir, daß sie Zeit findet, auf dich stolz zu sein.»

Ferguson taumelte hoch, Wahnsinn funkelte in den weitaufgerissenen Augen.»Dafür bringe ich dich um!»

Er holte aus, doch Allday packte die erhobene Faust.»Laß das«, sagte er. Und zu dem grinsenden Pochin:»Seine Frau ist krank. Laß ihn in Ruhe.»

«Ich hatte auch mal 'ne Frau«, sagte Old Ben Strachan unbestimmt und kratzte sich den grauen Kopf.»Liebe Güte, jetzt weiß ich nicht mal mehr, wie sie hieß.»

Einige lachten, doch Allday zischte zornig:»Nimm dich zusammen, Bryan! Gegen Männer wie Pochin kommst du nicht auf. Er beneidet dich, das ist alles.»

Ferguson begriff die freundliche Warnung nicht. Pochins aufreizender Ton hatte ihm sein ganzes Elend mit neuer Macht zu Bewußtsein gebracht. Er sah seine Frau geradezu vor sich, im Bett am Fenster in die Kissen gelehnt, so deutlich, als wäre er eben ins Zimmer getreten. An dem Tag, als das Preßkommando ihn den Hügel hinabtrieb, hatte sie bestimmt so dagesessen und auf seine Heimkehr gewartet. Doch er würde nie heimkehren, würde sie nie wiedersehen.

Er torkelte auf die Füße und warf den Teller mit dem Fleisch auf den Boden.»Ich kann nicht. «Er kreischte es fast.»Ich will auch nicht!»

Ein pferdegesichtiger Backsgast namens Betts sprang auf, als schrecke er aus tiefem Schlaf hoch.»Verspottet ihn nicht, Leute. «Er stand schwankend unter einer Laterne.»Er hat für diesmal genug.»

«Lieber Himmel!«knurrte Pochin und verdrehte in gespielter Besorgnis die Augen.

«Bei Gott, was soll er noch durchmachen, ehe du begreifst? Der Mann kommt beinah um vor Angst wegen seiner Frau, und andere haben ähnlichen Kummer. Doch ihr müßt sie noch verhöhnen!»

Allday rutschte auf seinem Sitz hin und her. Fergusons Verzweiflungsausbruch hatte geheime Gemütsbewegungen aufgerührt. Wochen, in einigen Fällen Jahre auf See, ohne einmal den Fuß an Land zu setzen, das fing an, grausamen Tribut zu fordern. Aber es machte auch gefährlich und blind. Er hob die Hand und sagte leise:»Immer mit der Ruhe, Jungs, immer mit der Ruhe!»

Betts schielte ihn aus salzgeröteten Augen an.»Wie kannst du dich einmischen?«fragte er undeutlich.»Wir leben wie die Tiere von einem Fraß, der schon faulig war, ehe er in die Fässer gestopft wurde. «Er zog sein Messer und stieß es in den Tisch.»Aber diese Schweine achtern leben wie die Fürsten. «Er spähte Unterstützung suchend von einem zum anderen.»Na, stimmt's vielleicht nicht? Evans, dieser Bastard, hat sich von dem, was er uns gestohlen hat, vollgefressen wie eine Kirchhofsratte.»

«Ach, habe ich da eben meinen Namen gehört?»

Das Mannschaftslogis erstarrte in Schweigen, als Evans, der Proviantmeister, in den Lichtkreis trat. In dem langen, bis zum Hals zugeknöpften Rock, mit dem schmalen Gesicht und dem streng nach hinten gekämmten Haar sah er wie ein angreifendes Frettchen aus. Er legte den Kopf schief,»Nun, ich warte.»

Allday betrachtete ihn genau. Der kleine walisische Proviantmeister hatte etwas Böses und Erschreckendes an sich.

Evans bemerkte das Fleisch neben dem Tisch.»Und wer hat das getan?«fragte er bekümmert und saugte an den Zähnen.

Niemand antwortete. Das Donnern von See und Wind waren die einzigen Geräusche im Zwischendeck.

Da schaute Ferguson hoch, seine Augen glänzten fiebrig.»Ich habe es getan.»

Evans lehnte sich mit den schmalen Schultern an den massiven Stamm des Fockmastes, der durch beide Decks lief, und sagte:»Ich habe es getan, Sir.»

Ferguson murmelte etwas und setzte dann hinzu:»Entschuldigung, Sir.»

«Es war ein Versehen, Mr. Evans«, sagte Allday kalt.»Ein Versehen.»

«Essen ist Essen. «Evans Ärger stieg, und sein Waliser Akzent machte sich stärker bemerkbar.»Wie kann ich hoffen, euch bei guter Gesundheit zu halten, wenn ihr so ausgezeichnetes Fleisch vergeudet?»

Die um den Tisch gescharten Männer starrten auf das formlose, stinkende Fleisch, das in einem Lichtfleck schimmerte.

Evans sagte scharf:»Sie, wie Sie auch heißen, essen Sie es! Los!»

Ferguson stierte auf das Fleisch, der Kopf schwamm ihm vor Übelkeit. Die Planken waren fleckig und schmutzig von Dingen, die vom Tisch gerutscht waren, wenn das Schiff überholte. Dazwischen Erbrochenes. Vielleicht das, was er selber erbrochen hatte.

«Ich warte, mein Junge«, sagte Evans sanft.»Noch eine Minute, und ich bringe dich nach achtern. Die Katze wird dir beibringen, das Essen zu schätzen.»

Ferguson kniete sich hin und griff nach dem Fleisch. Als er es an den Mund hob, schoß Betts vor, riß es ihm aus den Händen und warf es Evans an den Kopf.»Essen Sie es selber, Sie verdammter Teufel! Lassen Sie ihn in Ruhe.»

Einige Sekunden lang verrieten Evans dunkle Augen Furcht. Die Männer hatten sich dicht an ihn herangedrängt. Ihre Körper hoben und senkten sich mit jedem Rollen des Schiffes wie eine Woge aus Menschenleibern. Er spürte die Drohung, empfand plötzlich eisigen Schrecken.

Da schnitt eine andere Stimme durch die Schatten.»Auseinander!«Fähnrich Farquhar mußte unter den niedrigen Balken gebückt stehen, aber seine Augen waren fest und klar, als sie sich auf das erstarrte Bild am Ende des Tisches richteten.

Farquhar war heimlich und so leise eingetreten, daß ihn selbst die Männer auf der entgegengesetzten Seite nicht bemerkt hatten.»Ich warte«, fauchte er.»Was geht hier vor?»

Evans stieß die Männer, die am nächsten standen, beiseite und schnellte zu Farquhar herum. Seine Hände zitterten vor Furcht und Wut, als er auf Betts zeigte.»Er hat mich angegriffen. Mich, einen Unteroffizier.»

Farquhars Ausdruck war undurchsichtig. Hinter seinen zusammengepreßten Lippen und seinem kalten Blick konnte ebensogut Belustigung wie Ärger stecken.»Gut, Mr. Evans. Seien Sie so freundlich, nach achtern zu gehen und den Schiffsprofoß zu rufen.»

Der Proviantmeister eilte davon. Farquhar musterte den Kreis der Gesichter mit offener Geringschätzung.»Ihr scheint eure Lektion nie zu lernen, was?«Er wandte sich Betts zu, der noch immer auf das Fleisch blickte und, wie nach einer mächtigen Anstrengung, hörbar atmete.»Sie sind ein Narr, Betts! Jetzt werden Sie dafür büßen.»

Allday drückte seine Schultern gegen die kalten und nassen Spanten der Fregatte und schloß die Augen. Er hatte gewußt, wie alles kommen würde. Ihm war übel, während er Betts' schweres Atmen und Fergusons leises Wimmern hörte. Unvermittelt dachte er an die stillen grünen Hügel und die Herden grauer Schafe, an die Weite Cornwalls und ihren Frieden.

Dann bellte Farquhar:»Bringen Sie ihn fort, Mr. Thain.»

Der Schiffsprofoß stieß Betts zum Niedergang und murmelte leise vor sich hin:»Kein einziges Auspeitschen mehr seit Falmouth. Ich wußte, daß solche Weichheit ein schwerer Fehler war.»

Richard Bolitho stützte die Hände auf das Fensterbrett eines der Heckfenster und blickte ins schäumende Kielwasser. Die Kajüte lag bereits im Halbdunkel, da die Phalarope auf die untergehende Sonne zufuhr, doch die See war noch hell. Nur eine Andeutung von Purpur zeigte, daß der Abend nahte.

In der salzbesprühten Scheibe spiegelte sich Vibarts Gestalt. Er stand mitten in der Kajüte und gerade so unter der kreisenden Lampe, daß sein Gesicht im Schatten lag. Hinter ihm zeichnete sich Fähnrich Farquhars schlanker Umriß ab.

Bolitho mußte seine ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um keine Bewegung zu machen und ruhig zu bleiben, während er erwog, was Farquhar gemeldet hatte. Bolitho hatte nochmals die Schiffsjournale durchgesehen und gerade versucht, Vibarts hölzerne Reserve zu durchbrechen, um den Ersten und dessen Meinungen besser kennenzulernen.

Es war ein schwieriges und anscheinend fruchtloses Unternehmen, wie auch alles andere während der vergangenen zwanzig Tage. Vibart war zu vorsichtig, seine Feindseligkeit offen zu zeigen. Er hatte sich auf kurze, nichtssagende Antworten beschränkt, schien das, was er über das Schiff und dessen Besatzung wußte, als persönlichen Besitz zu hüten.

Dann war Farquhar mit seiner Geschichte von Betts' Angriff auf den Proviantmeister hereingestürzt: nur eins der vielen Vorkommnisse, die seine Gedanken von dem, was vor ihnen lag, ablenkte, von der eigentlichen Aufgabe, die Fregatte zu einer einzigen, festen Kampfeinheit zu machen.

Bolitho zwang sich dazu, die beiden Offiziere anzusehen.»Wache! Mr. Evans soll kommen. «Er hörte, wie sich der Ruf über Deck fortpflanzte, und sagte:»Es kommt mir so vor, als ob dieser Seemann provoziert wurde.»

Vibart paßte sich dem Schwanken des Schiffes an. Die Augen hielt er auf einen Punkt über der Schulter des Kapitäns gerichtet.»Betts ist kein Neuling«, sagte er heiser.»Er weiß, was er tut.»

Bolitho wandte sich ab und blickte wieder über die leere See. Wenn es nur nicht gerade jetzt passiert wäre, dachte er bitter. Noch ein paar Tage, und das feuchte, vom Wind geschüttelte Schiff wäre in der Sonne gewesen, unter der die Männer ihre Umgebung bald vergessen und die Blicke ins Weite gerichtet hätten, statt einander zu belauern.

Er hörte, wie das Wasser um das Ruder gurgelte, und vernahm das ferne Ächzen der Pumpen, an denen die Wache arbeitete, um das unvermeidliche Sickerwasser zu lenzen. Er fühlte sich müde und bis zum Äußersten erschöpft. Seit die Phalarope den Anker lichtete, hatte er sich voll eingesetzt und keine Anstrengung gescheut, das Schiff in den Griff zu bekommen. Er hatte mit den meisten Neulingen gesprochen und Kontakt mit der regulären Mannschaft hergestellt. Er hatte seine Offiziere beobachtet und dem Schiff das Äußerste abverlangt. Er hätte in diesem Augenblick stolz sein können. Die Fregatte, richtig geführt, reagierte auf Ruder und Segel so lebhaft und bereitwillig wie ein Vollblutpferd.

Die meisten Neuen waren jenen Kommandos zugeteilt worden, für die sie sich am besten eigneten. Die Segelmanöver übertrafen schon jetzt seine Erwartungen. Bei der ersten passenden Gelegenheit beabsichtigte Bolitho, die Geschützbedienungen zu drillen. Bis jetzt hatte er allerdings nur die Einteilungen vornehmen können. Der ewige stürmische Wind hatte sie bisher von allem anderen abgehalten.

Und nun das. Er kochte innerlich. Kein Wunder, daß ihn der Admiral gebeten hatte, auf Farquhars Verhalten zu achten. Es klopfte. Evans betrat affektiert die Kajüte, seine Augen glitzerten im Lampenlicht wie Perlen.

«Nun, Mr. Evans«, sagte Bolitho und hob ungeduldig die Hand.»Berichten Sie, was geschehen ist — alles.»

Er drehte sich um und blickte wieder über die See, als Evans seine Erzählung vom Stapel ließ. Anfänglich schien Evans nervös, ja sogar nicht ohne Furcht, doch als Bolitho ihn sein Garn ohne Unterbrechung oder Bemerkungen abspinnen ließ, wurde seine Stimme schärfer und gehässiger.

«Aus welchem Faß kam das Fleisch, mit dem Betts nach Ihnen warf?»

Die Frage überrumpelte Evans.»Nummer zwölf, Sir. Ich sah selber, wie es verstaut wurde. «Schmeichlerisch fügte er hinzu:»Ich tue mein Bestes, Sir. Die Kerls sind undankbare Hunde.»

Bolitho wandte sich um und klopfte auf die Papiere, die auf seinem Tisch lagen.»Ich habe die Ladung ebenfalls geprüft, Mr. Evans. Vor zwei Tagen, als alles beim Exerzieren war.«Über Evans dunkles Gesicht huschte Erschrecken, und Bolitho wußte, daß er mit seiner Vorspiegelung ins Schwarze getroffen hatte. Wut loderte plötzlich wie Feuer in ihm auf. Was er den Offizieren gesagt hatte, war alles umsonst gewesen. Selbst die beinahe ausgebrochene Meuterei schien Leute wie Evans oder Farquhar nichts gelehrt zu haben.

«Dieses Faß war im unteren Laderaum, nicht wahr?«fragte er heftig.»Und wie viele sind noch da unten?»

«Fünf oder sechs, Sir. «Evans Blicke schweiften nervös durch die Kajüte.»Sie gehören zu den ursprünglichen Vorräten, die ich. .»

Bolitho schlug mit der Faust auf den Tisch.»Sie machen mich krank, Evans. Dieses Faß und die anderen, an die Sie sich plötzlich entsinnen, sind wahrscheinlich schon vor zwei Jahren übernommen worden, damals, als Sie zur Blockade von Brest ausliefen. Höchstwahrscheinlich sind sie undicht, und auf jeden Fall sind sie völlig verfault.»

Evans blickte zu Boden.»Ich — ich wußte das nicht, Sir.»

«Könnte ich Ihnen das Gegenteil beweisen, Mr. Evans«, sagte Bolitho barsch,»würde ich Sie Ihres Ranges entheben und auspeitschen lassen.»

Vibart regte sich.»Ich erhebe Protest, Sir. Mr. Evans handelte, wie er es für richtig hielt. Betts hat ihn angegriffen. Um diese Tatsache kommen wir nicht herum.»

«So scheint es, Mr. Vibart. «Bolitho blickte ihn kalt an, bis Vibart beiseite sah.»Ich unterstütze gewiß die Bemühungen meiner Offiziere, meine Befehle auszuführen. Aber eine sinnlose Bestrafung dürfte derzeit mehr schaden als nützen. «Bolitho fühlte sich plötzlich zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen, aber Vibarts Ärger schien ihn anzustacheln.»In zwei Wochen oder so stoßen wir zu Sir Samuel Hoods Geschwader, und dann werden wir mehr als alle Hände voll zu tun haben. Bis dahin«, fuhr er ruhiger fort,»wird jeder von Ihnen, jeder einzelne, meine Befehle täglich in die Tat umsetzen. Nutzlose Brutalität hat noch nie zu etwas Gutem geführt. Ist ein Mann beharrlich ungehorsam, dann wird er ausgepeitscht werden. Was jedoch diesen besonderen Fall anlangt, schlage ich ein milderes Experiment vor. «Bolitho bemerkte, wie Vibarts Unterlippe vor kaum unterdrücktem Ärger zuckte.»Betts kann sieben Tage Sonderdienst auferlegt bekommen. Je eher die Angelegenheit der Vergessenheit anheimfällt, je eher können wir den Schaden heilen. «Er hob kurz die Hand.»Machen Sie weiter, Mr. Farquhar.»

Als Evans kehrt machte, um dem Fähnrich zu folgen, sagte Bolitho unbetont:»Ach, Mr. Evans, ich sehe keinen Grund, Ihre Unterlassung ins Logbuch einzutragen. «Evans sah ihn halb dankbar, halb furchterfüllt an.»Vorausgesetzt, ich kann darlegen, daß Sie dieses Fleisch für Ihre eigenen Zwecke erworben haben, vielleicht für Ihren persönlichen Bedarf?»

Evans Augen glitten kurz zu Vibart hinüber und kehrten dann zu Bolithos unbewegtem Gesicht zurück.»Erworben, Sir? Ich,

Sir?»

«Ja, Evans, Sie. Sie können die Summe morgen vormittag dem Zahlmeister übergeben. Das wäre alles.»

Vibart griff nach seinem Hut und wartete, bis sich die Tür hinter dem Proviantmeister geschlossen hatte.»Benötigen Sie mich noch, Sir?»

«Ich möchte Ihnen gern noch eins sagen, Mr. Vibart. Ich ziehe durchaus in Betracht, daß Sie unter Kapitän Pomfret unter erschwerten Bedingungen segelten. Vielleicht haben Sie einiges von dem, was Sie tun mußten, nicht gern getan. «Er wartete, aber Vibart sah starr an ihm vorbei.»Vergangenes interessiert mich nicht, ausgenommen als Lektion für das, was sich auf einem schlecht geführten Schiff ereignen kann. Als Erster Leutnant sind Sie der Schlüsseloffizier, der Erfahrenste an Bord, um meine Befehle auszuführen, verstehen Sie?»

«Wenn Sie meinen, Sir.»

Bolitho senkte die Augen, um Vibart seinen aufkeimenden Ärger zu verbergen. Er hatte dem Ersten den ihm zukommenden Teil an Verantwortung angeboten, ja ihm Vertrauen angetragen; der Leutnant schien es jedoch als Zeichen der Schwäche zu deuten, als Unsicherheit. Seine Bündigkeit sprach die Geringschätzung so deutlich aus, als hätte er sie über das Schiff gebrüllt.

Es fiel Vibart sicher nicht leicht, von einem so viel jüngeren Kapitän Befehle entgegenzunehmen. Bolitho versuchte nochmals, Vibarts Feindseligkeit mit Verständnis zu begegnen.

Da sagte der Erste plötzlich:»Wenn Sie erst etwas länger an Bord der Phalarope sein werden, Sir, sehen Sie es vielleicht anders. «Er wiegte sich auf den Absätzen und blickte den Kapitän ausdruckslos an.

Bolitho entspannte sich. Daß Vibart ihm den einzigen Weg zeigte, die Angelegenheit zu beenden, empfand er fast als Erleichterung. Er maß ihn kalt.»Ich habe jedes Journal an Bord studiert, jedes Logbuch, Mr. Vibart. Trotz meiner begrenzten Erfahrung habe ich noch kein so offenkundig kampfunwilliges Schiff kennengelernt, keins, das so unfähig war, seine Pflicht zu erfüllen.»

Vibarts Züge zeigten Überraschung.

«Nun, Mr. Vibart, wir kehren in die Kriegszone zurück, und ich beabsichtige, den Feind zu suchen und zu stellen, jeden Feind, bei jeder Gelegenheit. «Er senkte die Stimme.»Und wenn das geschieht, erwarte ich, daß jeder einzelne seinen Mann steht. Für kleinliche Eifersucht und Feigheit ist dann kein Platz.»

Vibarts Wangen liefen dunkel an, aber er schwieg.

«Sie haben es mit Menschen zu tun, Mr. Vibart, nicht mit Sachen. Ihr Offizierspatent schließt nur die Befehlsgewalt ein. Der Respekt kommt später, wenn Sie ihn sich verdient haben.»

Er entließ den Ersten Leutnant mit einem kurzen Kopfnicken, drehte sich wieder um und starrte auf das schäumende Kielwasser unterhalb des Fensters. Als sich die Tür schloß, stand er noch völlig unter der Gewalt der Anspannung und krallte die Hände ineinander, bis er vor Schmerz zusammenzuckte. Er hatte sich Vibart zum Feind gemacht, aber es war ihm nichts anderes übriggeblieben, es stand zu viel auf dem Spiel. Er ließ sich auf die Fensterbank sinken. Stockdale kam herein und begann, eine Decke über den Tisch zu legen.

«Ich habe der Ordonnanz befohlen, Ihr Abendessen zu bringen, Sir. «Sein Ton verriet Mißtrauen. Er konnte Atwell, den Kajütsteward, nicht leiden und beobachtete ihn unablässig.»Ich nehme an, daß Sie allein essen werden, Sir?»

Bolitho sah Stockdale flüchtig an und erinnerte sich an Vibarts aufwallende Verbitterung.»Ja, Stockdale, ich esse allein.»

Leutnant Thomas Herrick zog den von Spritzwasser durchweichten Schal enger um den Hals und kroch tiefer in den Wachmantel. Über den schwarzen, schwankenden Toppen flimmerten klein und blaß die Sterne. Trotz der scharfen Luft spürte er, daß die Morgendämmerung nicht mehr fern war.

Dunkelheit umhüllte das schwer stampfende Schiff. Alle Formen der einsamen Decks sahen unwirklich und ganz anders aus als bei Tage. Die gezurrten Kanonen glichen Schatten, und die summenden Wanten und Stagen schienen geradewegs in den Himmel zu führen, ohne Anfang und ohne Ende.

Herrick ging gedankenverloren auf dem Achterdeck hin und her und achtete kaum darauf. Er hatte das alles schon oft gesehen und war in der Lage, eine Wache allein mit sich und seinen Gedanken zu verbringen. Gelegentlich blieb er neben dem großen Doppelrad stehen, hinter dem die beiden Rudergänger wie dunkle Statuen aufragten. Sie beobachteten die zitternde Nadel und die gebraßten Segel. Die Kompaßlaterne beleuchtete zum Teil ihre Gesichter.

Vorn schlug es blechern drei Glasen. Ein Schiffsjunge regte sich an der Reling, rieb sich die Augen und kam nach achtern, um die Kompaßlaterne zu putzen und das Stundenglas umzudrehen.

Immer wieder suchte Herricks Blick das schwarze Rechteck des Kajütniedergangs. Er fragte sich, ob Bolitho endlich schlief. Während der Morgenwache war der Kapitän bereits dreimal an Deck erschienen, dreimal innerhalb von anderthalb Stunden, lautlos, ohne alle Vorwarnung, ohne Rock, ohne Hut. Sein weißes Hemd und die Kniehose hatten sich verschwommen gegen die rollende schwarze See abgezeichnet. Ein gespenstiger, unwirklicher Anblick, die verkörperte Ruhelosigkeit eines gemarterten Geistes. Bolitho war jedesmal nur so lange geblieben, um nach dem Kompaß zu spähen oder einen Blick auf die Wachtafel neben dem Rad zu werfen. Danach war er an der Luvseite des Decks ein paarmal auf und ab gegangen und dann wieder nach unten verschwunden.

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte es Herrick gereizt und verärgert. Mußte es nicht bedeuten, daß der Kapitän seinem Dritten Leutnant nicht zutraute, die Wache allein zu gehen? Aber als Herrick den Zweiten um vier ablöste, hatte ihm Okes hastig zugeflüstert, daß Bolitho fast die ganze Nacht an Deck gewesen sei.

Herrick runzelte die Stirn. Tief im Innern spürte er, daß Bolitho mehr einem dunklen Antrieb folgte denn einem Plan, eher einer Stimmung als einer Neigung, geradezu als wäre er ebenso gehetzt wie das Schiff. Es schien ihm unmöglich, still zu stehen, so als ginge es über seine Kraft, länger als eine Minute an einem Fleck zu bleiben.

Eine undeutliche Gestalt bewegte sich an der Achterdeckreling, und Fähnrich Neales vertrauter Diskant klang durch die Dunkelheit.

«Betts hat sich soeben gemeldet, Sir.»

Neale schaute zu Herrick hoch und versuchte, die Laune des Dritten abzuschätzen.

Herrick riß sich in die Gegenwart zurück. Betts, der einer Auspeitschung oder Schlimmerem durch Bolithos Einspruch entgangen war, mußte gemäß Befehl um drei Glasen zum ersten

Strafdienst antreten. Vibart hatte deutlich klargestellt, was geschähe, falls er dem Befehl nicht folgte.

Er sah Betts hinter dem kleinen Seekadetten stehen und rief:»Vorwärts, Betts. Aber schnell.»

Betts kam an die Reling. Seine Stirn lag in Falten.»Sir?»

Herrick wies zum unsichtbaren Masttopp empor.»Los, hinauf mit Ihnen!«Es klang nicht barsch. Er mochte Betts. Ein stiller, aber fähiger Mann, dessen plötzlicher Wutausbruch Herrick mehr überrascht hatte, als er sich eingestand.»Klettern Sie ins Großtopp, Betts. Halten Sie Ausschau, bis der Erste Leutnant andere Order erteilt.»

Er spürte flüchtig Mitleid mit dem Mann. Hundertzehn Fuß über Deck, ohne Schutz vor dem kalten Wind. . Betts würde innerhalb von Minuten erstarren. Bei sich beschloß Herrick bereits, Neale mit etwas warmem Essen hinaufzuschicken, sobald das Kombüsenfeuer brannte.

Betts spuckte in die Hände und sagte tonlos:»Aye, aye, Sir. Scheint ein schöner Morgen?«Es klang, als bezöge sich seine Bemerkung auf etwas ganz Normales und Unwichtiges.

«Aye. «Herrick nickte.»Der Wind läßt nach, und die Luft wird trockener. «Was zutraf. Betts Instinkt hatte den Wetterumschlag gewittert, kaum daß er aus dem stickigen, überfüllten Kojendeck aufgetaucht war, wo achtzehn Zoll pro Mann und Hängematte der üblicherweise zugebilligte Platz waren.

«Sie haben Glück gehabt, Betts«, sagte Herrick.»Bei acht Glasen hätten Sie ebensogut an der Gräting tanzen können.»

Betts blickte den Dritten unbewegt an.»Es tut mir nicht leid, Sir. Ich meine, was geschehen ist. Ich würde es wieder tun.»

Herrick ärgerte sich plötzlich. Warum hatte er die Sache erwähnt? Das ist der Haken bei mir, dachte er wütend. Stets will ich allem auf den Grund kommen, es verstehen. Immer muß ich mich mit allem beschäftigen.

«Hinauf mit Ihnen!«sagte er schroff.»Und halten Sie ja gut Ausschau. Die Dämmerung zieht bald herauf.»

Der Schatten des Mannes vermischte sich mit dem Umriß der Großwanten. Herricks Blicke folgten ihm, bis er sich in dem Netzwerk der Takelage verlor, das sich gegen den Nachthimmel abzeichnete.

Wiederum fragte er sich, warum Bolitho im Falle Betts so entschieden hatte. Weder Vibart noch Evans hatten die Angelegenheit erwähnt, was sie nicht geringfügiger, sondern eher bedeutsamer machte. Hatte Vibart vielleicht wieder seine Befugnis überschritten? grübelte Herrick. Unter Pomfret hatte der allgegenwärtige Erste alles in der Hand gehabt, jedes Vorkommnis kontrolliert, Tag für Tag. Jetzt schien Bolithos ruhige Autorität Vibart zu hemmen, und die Tatsache, daß die beiden nicht übereinstimmten, lag beinahe offen zu Tage. Sie machte alles nur schlimmer. Das Schiff schien zwischen Vibart und Bolitho gespalten. Früher hatte Herrick seinen Dienst verrichtet, sich aber sonst unparteiisch herausgehalten. Nun gewann er den Eindruck, als ob solche Neutralität nicht mehr möglich sei.

Er dachte an seinen Besuch in Bolithos Vaterhaus. Ehe er es betrat, hatte er geglaubt, daß er dort nur Neid empfinden würde. Sein eigenes, armseliges Herkommen ließ sich nur schwer abschütteln. Er rief sich Bolithos Vater zurück, die großen Gemälde an den Wänden, die Atmosphäre von Dauer und Tradition, als wären die gegenwärtigen Bewohner nur Teil eines Musters. Verglichen mit seinem eigenen kleinen Vaterhaus in Rochester, war ihm das Haus der Bolithos wie ein richtiger Palast vorgekommen.

Herricks Vater hatte als Angestellter in Rochester für eine Firma gearbeitet, die mit Früchten handelte. Doch schon als kleines Kind verschlang Herrick mit sehnsuchtsvollen Augen alle Schiffe, die den Medway heraufkamen. Und um Schiffe baute sein eindrucksfähiger Geist die eigene Zukunft auf. Das war merkwürdig, denn in seiner Familie war noch niemand zur See gefahren.

Herricks Vater hatte vergeblich gefleht und vor den nur allzu zahlreichen Fallgruben gewarnt. Da die Herricks weder den notwendigen Familienhintergrund noch die finanzielle Sicherheit besaßen, sah er nur zu klar, worauf sein Sohn sich einlassen wollte. Als Kompromiß schlug er sogar einen sicheren Platz auf einem Indienfahrer vor, aber sein Sohn war nicht umzustimmen.

Der Zufall wollte es, daß in der Nähe von Rochester ein Kriegsschiff zur Reparatur ins Trockendock mußte. Der Kapitän war mit dem Arbeitgeber von Herricks Vater befreundet: ein würdiger, älterer Kapitän, der weder verstimmt noch verärgert war, als ihn der Elfjährige abfing und ihm den Wunsch vortrug, auf einem Schiff des Königs zu dienen.

Angesichts des Kapitäns und seines Dienstherren gab Herricks Vater nach. Man muß ihm Gerechtigkeit angedeihen lassen, er nutzte seine mageren Ersparnisse aufs beste, um seinem Sohn auf den Weg zu helfen. Zumindest äußerlich fiel Herrick nicht ab, war ein so schmucker junger Herr wie jeder andere auch.

Jetzt war Herrick fünfundzwanzig. Seit jener Zeit hatte er zäh einen langen und harten Weg zurückgelegt. Er hatte Demütigungen erfahren, war beispiellosem Widerstand der Höhergeborenen und Einflußreichen begegnet. Der romantische Knabe hatte Federn lassen müssen und war mit den Jahren so hart geworden wie die gute Eiche unter seinen Füßen. Aber eins hatte sich nicht geändert: Seine Liebe zur See umgab ihn wie ein schützender Mantel.

Herrick lächelte vor sich hin, während er unablässig auf und ab ging. Er fragte sich, was der kleine Neale, der an der Reling gähnte, von seinem Vorgesetzten mit dem ernsten Gesicht hielt. Oder die Rudergänger, die die Kompaßnadel und den Stand der Segel beobachteten. Oder Betts da oben auf seinem schwankenden Ausguck, Betts, dessen Gedanken zweifelsohne um das kreisten, was er getan hatte, und um das, was bei Evans Rachedurst noch vor ihm liegen mochte.

Er ging zur Luvreling und erschrak, weil er bereits den geschnitzten Delphin über dem Steuerbordniedergang und dicht dabei die dicke, häßliche Karronade sehen konnte. Während seiner Grübeleien war eine halbe Stunde verflossen, und mit der Morgendämmerung würde wieder der Horizont sichtbar werden, würde ein neuer Tag beginnen.

Durch das Zischen des Spritzwassers hörte er plötzlich scharf und klar Betts' Stimme vom Ausguck:»An Deck! Segel voraus an Steuerbord. Rumpf noch unter der Kimm.»

Herrick riß sein Fernglas aus der Halterung und schwang sich in die Besanwanten. Seine Gedanken kreisten um die unerwartete Meldung. Das Meer gewann bereits Gestalt und Gesicht, und dort, wo der Horizont sein mußte, zeichnete sich eine hellgraue Linie ab. Oben, hoch über den schwankenden Decks, mußte Betts das andere Schiff in der zögernd heraufkommenden Dämmerung eben erkennen können.

«Mr. Neale«,rief er,»entern Sie auf und sehen Sie zu, was Sie entdecken können. Wenn Sie mir etwas Falsches melden, machen Sie mit der Neunschwänzigen Bekanntschaft, ehe Sie eine Stunde älter sind.»

Neale grinste. Ohne ein Wort zu sagen, kletterte er wie ein Affe die Großwanten hinauf.

Herrick bemühte sich, ruhig zu bleiben und, wie er es Bolitho abgesehen hatte, von neuem auf und ab zu gehen.

«Eine Fregatte, Sir!«rief Betts wieder.»Kein Zweifel. Steuert Südost.»

Neales Diskant ergänzte die Meldung.»Sie läuft vor dem Wind, fliegt wie ein Vogel, Sir. Unter Vollzeug.»

Herrick atmete geräuschvoll aus. Eine Sekunde lang hatte er geglaubt, es könnte ein Franzose sein. Selbst draußen, so allein und auf sich gestellt, war das nicht unmöglich; aber die Franzosen segelten nachts selten schnell oder weit. Für gewöhnlich drehten sie nachts bei. Nein, das war kein Feind.

Wie um Herricks Schlußfolgerung zu bestätigen, rief Betts:»Ich erkenne die Takelage, Sir. Es ist ein englisches Schiff.»

«Sehr gut. Melden Sie weiter alles. «Herrick ließ das Sprachrohr sinken und blickte über das Achterdeck. Innerhalb der wenigen Minuten hatte es stärkere Kontur und Wirklichkeit gewonnen. Ein heller werdendes Grau lag über dem Deck, und er konnte schon die Gesichter der Rudergänger erkennen.

Brachte die andere Fregatte neue Befehle? Vielleicht war der amerikanische Krieg bereits beendet, und sie würden nach Brest zurückkehren oder nach England? Herrick spürte einen Anflug von Enttäuschung. Anfänglich hatte ihn die Aussicht, weiterhin auf der unglückseligen Phalarope Dienst tun zu müssen, nicht gerade begeistert. Doch jetzt, bei dem Gedanken, daß er Westindien möglicherweise überhaupt nicht sehen sollte, war er sich seiner Abneigung nicht mehr so sicher.

Neale verschmähte Wanten und Webeleinen, glitt direkt eine Pardune hinunter und kam keuchend zum Achterdeck gerannt. Herrick faßte einen Entschluß.»Empfehlung an den Kapitän, Mr. Neale, und melden Sie ihm, daß wir ein Schiff des Königs gesichtet haben. Es wird in etwa einer Stunde mit uns auf gleicher Höhe sein, vielleicht sogar eher. Er wird sich darauf vorbereiten wollen.»

Neale sauste den Niedergang hinunter, und Herrick blickte über die wogende Wasserwüste. Bolitho würde es noch stärker betreffen, dachte er. Wurde die Phalarope heimbeordert, verwehten alle seine Hoffnungen und Pläne. Seine private Schlacht war dann verloren, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

Dann erklang ein leiser Schritt neben ihm, und Bolitho fragte:»Nun, Mr. Herrick, was hat es mit jenem Schiff auf sich?»

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