18

Die niedrige Höhlendecke wurde schon wenige Meter hinter dem Eingang höher. Feuchtigkeit vom Fluß glitzerte an den Felswänden und überzog den Staub auf dem glatten Steinboden. Das schwache Licht, das aus der Lagerhöhle der Waldläufer hereindrang, konnte diese inneren Höhlen kaum erhellen, sondern warf nur verwirrende Schatten. Hinter sich hörte Lavim, wie Tyorl und Kelida vorsichtig durch die Dunkelheit liefen.

»Pfeifer«, flüsterte er, als etwas, das wie eine Spinne mit zu vielen Beinen aussah, über seinen Stiefel huschte. »Du kannst wohl kaum von deinem Platz aus ein bißchen zaubern und mir etwas Licht verschaffen? Das da eben sah aus wie eine Spinne, aber ich bin mir nicht ganz sicher und – «

Nein, kann ich nicht. Verlier keine Zeit damit, im Dunkeln herumzustolpern und dich zu verirren. Los, lauf Tyorl nach.

»Oh, keine Bange. Ich gehe nie verloren. Ich finde einfach neue Orte. Ich – hmmmm. Ich frage mich, was hier drüben ist.«

Dreck. Lavim, Tyorl und Kelida sind dir schon voraus.

»Ach so. Danke, daß du’s mir sagst. Ich komm’ gleich nach.«

Das wollte der Kender auch – in einer Minute. Obwohl er nicht viel sah, hatte Lavim immer noch seine Hände und seine Neugier. Er hatte Tyorl gesagt, daß das hier Banditenhöhlen waren, und indem er den Elf davon überzeugt hatte, hatte er auch sich selbst überzeugt.

Er tastete sich um einen Geröllhaufen und in eine kleine Kammer, aus der er rückwärts wieder hinauslief, als sie nichts Interessantes enthielt. Dann kam er in eine weitere Kammer. Die gegenüberliegende Wand begann wie säuselnder Wind in Baumkronen zu rascheln.

»Pfeifer! Guck mal! Ich glaube, die Wand da bewegt sich!«

Fledermäuse, warnte Pfeifer, raus hier, Lavim!

»Fledermäuse? Na und? Ich habe keine Angst vor – «

Sie haben Angst vor dir, und wenn sie losfliegen, warnen sie jeden, daß du hier drin bist. Raus hier!

Lavim seufzte. Wahrscheinlich hatte Pfeifer recht. So leise, wie das nur Kender können, zog er sich aus der Höhle zurück.

Auf dem Weg nach Osten, immer dem Geruch des Flusses nach, wich Lavim nur kurz zur Seite, um sich in eine spinnwebenverhangene Ecke zu zwängen.

Pfeifer, der sich zu Lebzeiten für einen überaus geduldigen Menschen gehalten hatte, verlor zum vierten Mal innerhalb einer Viertelstunde die Geduld. Lavim! Los jetzt!

»Aber das sind Räuberhöhlen, Pfeifer, und ich – «

Es sind keine Räuberhöhlen. Versuch jetzt, Tyorl einzuholen. Und gib ihm meine Flöte!

Lavim stocherte in dem Geröll und Staub eines natürlichen Alkovens herum. Tyorl und Kelida waren ihm ein wenig voraus, aber er war davon überzeugt, daß er sie wieder einholen konnte. Er mußte nur dem Geruch und ihren Atemgeräuschen folgen.

»Du hast gesagt, es sind Räuberhöhlen.« Auch wenn er bei diesen Worten bereits glaubte, daß Pfeifer sich geirrt hatte. Der Alkoven enthielt nichts als Bruchsteine. Nicht einmal ein paar alte Knochen.

Was hast du dir denn erhofft, ein Skelett? Und außerdem hast du gesagt, daß es Räuberhöhlen sind, nicht ich.

Lavim seufzte tief. Er war sich gar nicht mehr sicher, ob er es mochte, daß da jemand in seinem Kopf war und jeden seiner Gedanken las. »Nein, Pfeifer, ich glaube wirklich, daß du gesagt hast, daß das hier – «

Verdammt, Lavim!

Nicht nur ein Geist, dachte Lavim mißmutig, sondern ein unwirscher Geist, der ihn genausowenig einen Satz zu Ende bringen ließ wie Stanach und Tyorl.

Genau, unwirsch! Wenn du mal einen Satz anfängst, der einen Sinn ergibt, dann kannst du ihn vielleicht zu Ende –

Ein Schrei, ein verlorenes Echo von Schmerzen, gellte durch die Finsternis. So wie ein Geist sich eigentlich anhören sollte, dachte Lavim. Als der Kender sich plötzlich daran erinnerte, warum er hier war, vergaß er den Räuberschatz völlig.

»Stanach?« Weiter vorne hörte er Kelidas Keuchen und ein leise gemurmeltes Wort von Tyorl.

Genau, Stanach. Lavim, bleib kurz hier.

»Aber du hast gerade gesagt, ich soll sie einholen. Pfeifer, wie soll ich kapieren, was du von mir willst, wenn du es nicht einmal selber weißt?«

Bleib hier! Warte.

»Ja, aber – «

Nimm meine Flöte raus.

Lavim grinste. Doch, das würde er mit Freuden tun! Auch wenn er es etwas merkwürdig fand, Musik zu machen, wenn Stanach seine Hilfe brauchte, wühlte er in seiner Tasche, zog die Flöte heraus und hob sie an die Lippen.

Nein! schimpfte Pfeifer. Noch nicht! Nimm sie weg und hör mir ganz genau zu.

Widerstrebend setzte Lavim die Flöte ab.

So, und jetzt machst du genau das, was ich sage, Lavim. Die Götter wissen, daß ich halb verrückt sein muß, aber wenn du zuhörst – ganz genau zuhörst! – und genau das machst, was ich sage, genauso, wie ich es sage –

Ein zweiter Schrei zog wie Gelächter durch die Höhle.

Jetzt hör zu. Die Flöte weiß, daß ich da binnein, stell jetzt keine Fragen! Sie fühlt meinen Verstand – meinen Geist. Das ist doch wohl das richtige Wort, hm? Sie wird mir ihre Magie zur Verfügung stellen. Hol tief Luft – nein, noch tiefer. Genau, so. Die Flöte wird die Melodie spielen, und die Melodie ist die Magie, aber du mußt die Luft und das Ziel dazu geben.

Schön, dachte Lavim (weil er mit angehaltenem Atem nicht so gut reden konnte), und was will ich? Kann ich Monster herbeirufen? Werde ich unsichtbar? Kann ich Tyorls Pfeile alle in Feuer verwandeln?

Laß das alles jetzt, Lavim, sagte Pfeifer streng. Das ist es, was du anstrebst – und nur das.

Lavim fühlte, wie Pfeifer lächelte, und weil der Magier plötzlich so gutgelaunt wirkte, beschloß er schnell, etwas Eigenes zu probieren.


Der niedrige, enge Tunnel, der die Waldhöhle mit der am Fluß verband, ließ das Echo des Schreis lange nicht verhallen. Tyorl erschauerte und sah sich über die Schulter nach Kelida um. Sie stand da, wo er es ihr gesagt hatte, in den Schatten und der Finsternis, wo der Tunnel nach links abbog, um dann in die Richtung zurückzuführen, aus der sie kamen. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit, und sie hatte ihre Lippen fest aufeinandergepreßt. Kelida hielt ihren Dolch fest in der Hand, wie Lavim es ihr gezeigt hatte.

Der Tunnel stank nach Moder, und in der Mitte des Bodens hatte sich Wasser zu stinkenden, stehenden Pfützen gesammelt. Steine und Erde waren bis auf wenige Fußabdrücke unberührt. Wenn die Theiware diesen Gang oder die Höhle dahinter überhaupt untersucht hatten, dann waren sie wahrscheinlich an der scheinbar unpassierbaren Wand der Waldhöhle umgekehrt. Tyorl wunderte sich flüchtig, wie Lavim den Eingang gefunden hatte.

Schön, aber ein Kender findet auch den Weg zum Geldbeutel eines Geizkragens, wenn er will. Warum sollte dicker Fels ihn aufhalten?

Die halbverfaulten Reste von Fischen, die bei einer Überflutung nach heftigen Regenfällen hier gestrandet waren, schimmerten in seltsamem, unheimlichem Licht. Mit dem Rücken zur Wand umging Tyorl das Wasser, wobei er sorgfältig darauf achtete, auch nicht den leisesten Spritzer zu verursachen.

Bei einem zweiten Schrei, einem tiefen, grausigen Brüllen, krampfte sich Tyorl der Magen zusammen. Im Schutz des Echos sprang der Elf vorwärts, bis er den Eingang zur Flußhöhle erreicht hatte. Der enge Zugang, der gerade breit genug war, daß sich Tyorl seitlich hindurchschieben konnte, wurde von einem Zwerg mit Mantel und Kapuze versperrt, der dem Waldläufer den Rücken zukehrte.

Der Zwerg verlagerte sein Gewicht und ging schräg nach vorn, und Tyorl schloß die Augen. Er hatte nicht viel gesehen, nur einen Arm und eine Hand.

Tyorl zitterte vor Wut. Jeder Finger dieser Hand war verrenkt und gebrochen. Seine eigenen Finger umklammerten das Heft seines Dolches. Der verhüllte Zwerg stand in Reichweite, und Tyorl wußte, daß er ihm nur zu gern seinen Dolch zwischen die Rippen stoßen würde. Noch ehe er sich rühren konnte, schwebte der hohle Klang einer Flöte von seinen eigenen Echos gefolgt durch den Tunnel. Von hinten.

Nein! Oh, Götter, nein! Der Kender hatte die Zauberflöte!

Der Theiwar drehte sich abrupt um. Er hatte nur ein Auge, aus dem Haß und Tod sprachen. Als er Tyorl sah, fluchte er. Seine Hände gestikulierten in der kalten, feuchten Luft der Höhle am Fluß und nahmen plötzlich den beflügelten Tanz der Magie auf. Tyorl hatte kaum Zeit zu sehen, wie die Hände des Theiwars wie angeschossene Vögel flatterten, bevor seine eigenen Knie schwach und nachgiebig wurden.

Hinten im Tunnel schrie Kelida auf. Ihr Schrei war von Würgen und Husten unterbrochen.

Die Musik, eine widersinnig fröhliche, leichte Melodie, trieb auf den Elf zu – auf Schwaden des schlimmsten Gestanks, den er je gerochen hatte. Es stank nach faulen Eiern, toten Ratten unter einem Gasthausboden und moderndem Gras. Tyorl fiel auf die Knie und konnte gegen den überwältigenden Drang, sich zu übergeben, nur noch fest die Arme um seinen Bauch schlingen.

Aus der Höhle am Fluß und auch von draußen kamen Röcheln und gequälte Schmerzenslaute. Eine Stimme, die nur Lavim gehören konnte, brach hinter dem Elf in tiefes, prustendes Gelächter aus. Kleine Hände klopften dem Elf auf den Rücken und zerrten an seinen Armen.

»Tyorl! War das nicht ein gräßlicher Gestank? Die dürften einfach alles auskotzen, was sie die ganze letzte Woche gegessen haben! Ist das nicht toll? He, Tyorl! Steh auf, ja? Tyorl! Du mußt da reinlaufen und Stanach retten und diese Wie-heißen-sie-doch-gleich erledigen, solange sie alle – äh, Tyorl?«

»Kender«, keuchte Tyorl schwach. »Ich schwöre bei allen Göttern, die es gibt, daß ich – « In einem stechenden Bauchkrampf gefangen, kippte er nach vorn und wußte auf einmal, daß es falsch gewesen war, zu sprechen. Er beendete seine Drohung mit Stöhnen und Röcheln. Als er wieder aufschauen konnte, war er allein.

Ich bring’ ihn um, dachte er, während er sich mit dem Handrücken über den Mund fuhr. Taumelnd kam er auf die Beine, lehnte sich rücklings gegen die Wand und versuchte, nicht zu atmen. Ich werde diesen verdammten Kender vom Hals bis zum Bauch aufschlitzen und ihn umbringen!

Eine Hand, die noch von der plötzlichen, heftigen Übelkeitsattacke zitterte, berührte Tyorls Arm. Kelida lehnte sich schwach und benommen an den Elf. Bebend flüsterte sie: »Alles in Ordnung?«

»Doch.« Tyorl hob ihr Kinn an. Dann zog er seine Hand, von sich selbst überrascht, wieder zurück, und schob Kelida auf Armeslänge von sich fort. »Und du?«

Schulterzuckend brachte sie ein mattes Lächeln zustande. Die giftigen Dämpfe begannen, sich zum Fluß hin zu verziehen, und wurden dort allmählich vom feuchtkalten Wind weggetragen. »Tyorl, was ist passiert? Was ist das für ein furchtbarer Gestank?«

»Der verfluchte Kender hat die Zauberflöte! Hast du gesehen, wo er hin ist?«

Jetzt sah sich Kelida rasch um und schüttelte den Kopf. »Diese Schreie – « Ihr Gesicht war weiß. »Stanach.«

In der Höhle am Fluß waren die rauhen, mühsamen Geräusche von Würgen und Husten verstummt. Lavims Lachen erscholl, um dann auffällig plötzlich abzubrechen. Tyorl betrat die Höhle, Kelida dicht hinter ihm.

Der auffrischende Nachtwind trieb den Rest von Lavims übelriechendem Zauber davon. Tyorl wagte einen vorsichtigen Atemzug, dann einen weiteren. Die schmerzhafte Übelkeit ließ nach. Er sah sich in der Höhle um und entdeckte Stanach in den Schatten an der Wand. Kelida schlüpfte hinter ihm durch und rannte zu dem Zwerg.

Realgars Assassine lagen auf dem Steinboden. Sie würden nicht wieder aufstehen. Zweien war der Schädel zerschmettert, und der Stein, der sie getötet hatte, lag mit Blut und Gehirn verschmiert neben Tyorls Füßen. Den dritten hatte ein Dolch zwischen den Rippen das Leben gekostet. Tyorl überprüfte rasch den Platz vor der Höhle, wo er weiter unten am Fluß einen Zwerg fand, der halb im Wasser, halb am Ufer lag.

»Lavim«, sagte Tyorl mit vor Staunen leiser Stimme, »hast du sie alle getötet?«

Lavim, der im dunkelsten Schatten der nächtlichen Höhle hockte, sah sich um. »Ich wünschte es! Einer ist entwischt, Tyorl, und das war mein Liebling – der, den ich am liebsten umgebracht hätte. Ich hätte wohl auf euch warten sollen, aber ihr scheint gewisse Schwierigkeiten zu haben, und da – «

»Stanach!«

Mit einem leisen Seufzer fiel Kelida auf die Knie und legte ihre Finger sanft an Stanachs Hals. Sie nickte Tyorl zu: Sie hatte einen schwachen Puls gefunden.

Tyorl zog sich der Magen zusammen bei dem, was das schwache Sternenlicht ihm zeigte. Blut und Schmutz befleckten den schwarzen Bart des Zwergs. Eine Messerspur zog sich vom Auge bis zum Kinn durch sein Gesicht. Doch der eigentliche Grund für seine Übelkeit war Stanachs ruinierte rechte Hand.

Tyorl war zwar als Krieger erzogen worden, aber er hatte auch einen Sinn für höhere Dinge. Die Hand eines Künstlers ist heilig, hatte man ihm einst beigebracht. Ohne sie gibt es keine Brücke zwischen dem, was ihm vorschwebt, und dem, was er erschaffen kann. Stanachs Brücke war für immer eingestürzt.

Ein leises, unterbrochenes Stöhnen voller Schmerz holte Tyorl aus seinen Gedanken zurück. Stanachs blaugesprenkelte Augen waren trüb und dunkel umrandet. Er sah Kelida an, und er sprach leise flüsternd mit schwacher Stimme.

»Ich – ich kann meine Hand nicht fühlen.«

Ein Anflug von Entsetzen durchzuckte die Müdigkeit seiner Augen. Er versuchte, seine Finger zu bewegen. Als nicht einmal der kleine Finger reagierte, schloß Stanach wieder die Augen.

»Ist sie da? Ich fühle meinen Arm – aber nicht die Hand.«

Kelida setzte zum Sprechen an, fand aber keine Worte. Sie streichelte sanft seinen Kopf und strich ihm das blutverkrustete Haar aus der Stirn. Tyorl blutete das Herz, als er Tränen über ihre Wangen laufen sah.

Mit belegter Stimme sagte Lavim: »Doch, Stanach, alter Junge, deine Hand ist da.«

»Ich – kann sie nicht fühlen.«

Um Stanachs willen setzte Tyorl ein mühsames Lächeln auf. »Danke deinem Gott, daß du das jetzt nicht kannst, aber deine Hand ist da, Stanach.« Tyorl wurde kalt ums schmerzende Herz. Um so besser für dich, wenn du sie nicht fühlst, dachte er. Laut sagte er nur: »Ruh dich jetzt aus.«

Stanach keuchte. »Pfeifer. Sie haben Pfeifer getötet. Sie wollten – Sturmklinge.«

Tyorl sah, wie Kelidas Augen sich verstehend verdunkelten. Ach, Hauk, sie hofft, daß du lebst. Junge, ich hoffe, daß du tot bist. Den Zwerg hatten sie ein paar Stunden. Dich haben sie schon mindestens eine Woche. Götter, ich hoffe, du bist tot! Kelidas Hand berührte Sturmklinge an ihrer Hüfte und zuckte dann zurück, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Sie wußte, daß sie jetzt tot sein würde, wenn es Stanach nicht gelungen wäre, während der qualvollen Verkrüppelung seiner Hand nichts zu sagen.

»Nein«, murmelte sie. »Oh, Stanach, nein!« Wie erträgt man die Last zu wissen, daß man selber lebt, weil andere leiden und sterben? Tyorl schüttelte den Kopf. Man zerreißt seinen Mantel für einen Verband, man kühlt das unerträgliche Brennen mit Wasser aus der eigenen Flasche. Während er Kelidas vorsichtigen Händen zusah und ihren freundlichen, tröstenden Worten zuhörte, als sie Stanach das Gesicht säuberte und die grünen Stoffstreifen für Verbände anfeuchtete, begriff Tyorl, daß er sich genauso in Kelida verliebt hatte, wie sie sich in Hauk verliebt hatte.

Nein, dachte er, nein. Ich bin müde, mir ist immer noch übel, und ich weiß nicht, wo wir jetzt hin sollen. Ich bin so manches, aber nicht in ein Schankmädchen verliebt, und noch dazu ein menschliches. Nein, und nicht in die Frau, die Hauk liebt.

Tyorl stupste Lavim an und ging langsam zum Eingang der Höhle. Er brauchte frische Luft, um seinen Kopf klar zu bekommen. Der Kender stand langsam auf und folgte ihm.

»Lavim, du hast gesagt, einer wäre entwischt?«

Lavim nickte. »Er war schnell, dieses einäugige Stück Gossenzwerg – « Er blickte nach hinten, sah Kelida und zuckte mit den Schultern. »Glück für ihn. Außerdem hatte ich mit den anderen alle Hände voll zu tun.«

»Ja, sicher.« Tyorl sah den Fluß hinab. »Und der da?«

»Oh, der ist auch tot. Oder wenigstens fast.«

»Ich sehe schon. Da hattest du wirklich ein, zwei Minuten einiges zu tun.«

»O ja, wirklich, Tyorl. Mir blieb ja nicht gerade viel Zeit, aber habe ich dir schon mal erzählt, was für ein guter Höhlenkämpfer ich bin, falls die anderen nicht zu sehr in der Überzahl sind und meine Hände nicht gerade gefesselt sind und ich noch ein Messer habe und – «

»Wo ist die Flöte?«

Lavim musterte eindringlich den Nachthimmel. »Ähm, die Flöte?«

»Die Zauberflöte.« Der Elf streckte die Hand aus. »Gib her. Und versuch nicht, mir weiszumachen, daß du sie nicht hast.«

»Aber, Tyorl, ich – ähm, ich glaube, ich habe sie dahinten in der Höhle verloren.« Lavim durchwühlte die tiefen Taschen seines alten, schwarzen Mantels, durchsuchte ein paar Beutel und klopfte sich sogar ab, alles mit verwirrten, unschuldsvollen Augen. »Ich, tja, ich muß sie irgendwo dahinten verloren haben. Dieser Stinkezauber war schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte, und, na ja, um die Wahrheit zu sagen, er hat mich etwas überrumpelt. Warst du nicht überrascht? Als ich dich eingeholt habe, sahst du ziemlich überrascht aus, irgendwie grün im Gesicht. Nicht so sehr, weißt du, aber doch grün. An den Rändern sozusagen.«

An den Rändern! Tyorl hegte keinen Zweifel, daß er so grün wie ein verschimmeltes Brot gewesen war. Er wollte jetzt nicht darüber streiten oder auch nur darüber nachdenken. Er wußte, daß er selbst losgehen müßte, um die Flöte zu suchen, aber irgend etwas an dem Zwerg am Fluß erregte seine Aufmerksamkeit.

»Geh und hol sie, Lavim, und bring sie gleich zu mir.«

»Ja, klar, aber ich weiß wirklich nicht, wo ich suchen soll.«

»Such in der Höhle!«

»Oh. Genau, in der Höhle. Welche –?«

Den Rest der Frage hörte Tyorl nicht mehr, weil er schon von der Höhle am Fluß weglief. So wie der Zwerg am Ufer ausgestreckt lag, mit ausgebreiteten Armen und die Hände in die Luft erhoben, kam Tyorl der Gedanke, daß er nicht an einem eingeschlagenen Schädel oder einem Dolch zwischen den Rippen gestorben war, ja, daß der Kender ihn überhaupt nicht getötet hatte.


Stanach sehnte sich nach den windgepeitschten Felsen über Thorbardin. Er sehnte sich nach Frieden. In seinen Träumen versuchte er sich an das Gefühl, wenn er uralte Steine in seinem Rücken spürte, und an den frostigen Duft des goldenen Herbstes zu erinnern. Er wollte das kühle Sternenlicht, das herunterströmte, das silbern sprühende Licht von Solinari auf dem ersten Schnee und Lunitaris Schein, der die Gipfel und Spalten der Berge in Karmesinrot tauchte.

Nichts davon tauchte in seinen fiebrigen Träumen auf, und nichts in den kurzen, wachen Momenten. Alles, was er empfand, war Schmerz.

Er bestand sozusagen nur noch aus Schmerz. Nicht Fleisch und Knochen, nicht Atem und Blut. Jedesmal, wenn er zum Himmel klettern wollte, verbaute der Schmerz ihm den Weg wie ein grinsender Dämon mit den Augen von Wulf. Er konnte das goldene Sonnenlicht, die diamantene Nacht, das saphirblaue Dämmerlicht nicht erreichen. Er war in der Finsternis verloren. Wenn er schrie, hörte es niemand, und es wurde kein Licht gebracht. Er war allein, ohne einen Weg zurück nach Thorbardin unter dem Berg.


Lavim erschien wieder in der Höhle am Fluß. Als er ankam, tauchte seine Hand in die Tasche und berührte die glatte Kirschholzflöte. Er war beinahe überrascht, sie zu finden. Lavim betrachtete sich nicht als Lügner oder Zeitschinder. Was er sagte, daran glaubte er fest. In dem Moment, wo er es sagte.

In Erwartung von Pfeifers Kommentar senkte er den Kopf. Der Magier hatte anscheinend immer etwas dazu zu sagen, was Pfeifer dachte.

Jetzt hatte Pfeifer nichts zu sagen. Pfeifer, dachte er. Pfeifer?

Nichts.

Lavim kniete sich neben Kelida nieder. Er nahm an, Pfeifer war vielleicht ein bißchen verärgert über seine Improvisation.

Na schön, sagte er sich, der Flöte hat es aber wohl nichts ausgemacht.

Sie hatte anscheinend genau die richtige Melodie gespielt, um das zu zaubern, was Lavim als Stinkezauber bezeichnete.

Außerdem war es ein netter, kleiner Spruch, dachte er, um den schweigenden Zauberer zu versöhnen.

Kelida hatte Stanach Blut und Schmutz aus dem Gesicht gewischt, die Schnittwunde gesäubert und ihn mit Mantelstoff bedeckt. Mit einer Hand hielt sie vorsichtig seinen Kopf, mit der anderen hielt sie ihm ihre Wasserflasche an die Lippen. Als er nicht schluckte, beugte sich Lavim vor und streichelte ihm mit seinen knochigen, alten Händen die Seiten der Kehle. Der Zwerg schluckte einmal, dann noch einmal, öffnete aber nicht die Augen.

»Das hilft manchmal«, sagte Lavim. Er sah Kelida an und schüttelte den Kopf. »Armer Stanach.«

Das Mädchen sah müde und erschöpft aus. Abwesend wischte sie sich einzelne rote Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Wir – wir sollten etwas für seine Finger tun, Lavim, aber ich will nicht – will nicht – « Sie brach ab, weil sie keine Worte für ihre Zurückhaltung fand, sich mit dieser geschwollenen, verunstalteten Hand zu befassen.

Als ob er ihr Zögern bemerkte, holte Lavim tief Luft und stieß sie seufzend wieder aus. »Du hast Angst, du könntest es noch schlimmer machen?«

»Das«, flüsterte sie, »und – ach, Lavim, egal was ich mache, es wird ihm so weh tun!«

»Wie schade, daß wir keinen Zwergenschnaps haben. Ich habe gehört, daß man, wenn man erst genug davon intus hat, wahrscheinlich nicht einmal mehr merkt, wenn man von einem umstürzenden Baum begraben wird. Wir haben keinen, also mach lieber, was nötig ist, bevor er aufwacht. Ich glaube kaum, daß er zusehen möchte, wie du diese Finger richtest und verbindest.« Lavim schüttelte den Kopf. »Ich glaube übrigens nicht, daß ich selbst zusehen möchte.«

»Lavim, hilfst du mir?«

Das wollte Lavim ganz bestimmt nicht. Wenn er daran dachte, wurde ihm gleich flau im Magen. »Kelida, ich glaube nicht – tja, weißt du, ich kann so etwas nicht so gut und – «

Hilf ihr, Lavim.

Oh, aber ich finde nicht –

Halt seine Hand am Gelenk fest und streck seine Finger, wenn sie sie verbindet.

Jetzt rebellierte Lavims Magen wirklich. Reste vom Stinkespruch, sagte er sich und erinnerte sich lieber nicht daran, daß er als der Zauberer von dem Gestank überhaupt nicht betroffen gewesen war.

Nein, Pfeifer, sagte er schweigend. Ich glaube nicht, daß ich das will.

Pfeifers Stimme in seinem Kopf war sehr sanft.

Lavim, er wird diese Hand nie mehr benutzen können. Aber du kannst Kelida helfen, den Schmerz zu lindern.

»Na schön«, flüsterte Lavim.


Etwas fraß Stanachs Hand auf. Es nagte an einem Finger, zerkaute das Fleisch, spuckte die Knochen aus und ging zum nächsten über. Selbst stumm, doch umgeben von hohlen Stimmen, die ihm bekannt vorkamen, es aber nicht waren, versuchte er vergeblich zu schreien.

Drei!

(Zwei oder sieben…)

Vier!

(Einer oder sechs…)

Reorx! Ich bitte dich! Gnade, oder mach mich gefühllos!

Feuer rann an den Kanten von Wulfs Dolch entlang; der Stahl seiner Klinge versprühte Angst, die von den kalten, nassen Wänden der Höhle zurückprallte und in Stanachs Kopf widerhallte.

»Wo ist Sturmklinge?«

Fetzen der Dämmerung und ein Mitternachtsstern.

»Lyt Chwaer.«

»Einer noch, Stanach.«

Stanach hörte einen fernen Schrei. Schwach und sehr dünn zitterte er in der Dunkelheit um ihn herum.

Fünf!

»Ruh dich aus, junger Stanach«, sagte der Gott mit der Stimme eines alten Kenders. »Ruh dich aus.«

Stanach seufzte, als der saubere, kalte Wind der Berge seinen Schweiß trocknete und durch die widerhallenden Stimmen echote und sie wie Rauch zerstieben ließ.

Загрузка...