25

Stanach starrte in leere Finsternis und lauschte dem grollenden, pfeifenden Atmen des Drachen. Wie ein zartes Echo auf den Drachenatem hörte er Kelidas Seufzen. Seit sie hierher gebracht worden waren, lag das Mädchen zusammengerollt neben ihm. Den Drachen nicht aus den Augen lassend, bewegte Stanach langsam seine Hand zur Seite. Er legte seine Finger an ihr Handgelenk, um den Puls zu fühlen. Obwohl er langsam und regelmäßig schlug, besänftigte das Stanachs Angst nicht. Realgars Schlafspruch hätte schon längst seine Wirkung verlieren müssen.

Er lehnte sich wieder an den kalten Stein, doch das Herz stockte ihm jedesmal, wenn der Drache gähnte oder sich streckte, jedesmal, wenn Kelida sich bewegte und das Riesenvieh in ihre Richtung schaute.

Die zweigeteilte Höhle enthielt die kleine Kammer, in der Stanach jetzt saß, und die große Drachenhöhle mit ihrer hohen Decke. Die Zweiteilung war nur daran zu erkennen, daß der Steinboden breiter wurde und die Wände höher, so hoch, daß man die Decke nicht mehr sehen konnte. Wahrscheinlich stiegen sie bis zum Himmel an. Durch den hohen Eingang zur Drachenhöhle dröhnte das Echo des Bergwinds in die Gänge.

Seine eigene, natürliche Infravision zeigte Stanach den matten, roten Umriß des Drachen, der in seinem Bau lag. Stanach versuchte, die Entfernung zu schätzen, und stellte fest, daß fast fünfzig Meter zwischen ihnen und dem Ungeheuer lagen.

Und die kann er im Nu überwinden, dachte er.

Vom rechten Handgelenk bis zu seiner Schulter brannte ein sengendes Feuer. Realgars Wachen waren unsanft mit ihm umgegangen. Doch trotz des wiedererwachten Brennens in seinem Arm und seiner Schulter spürte Stanach immer noch nichts in seiner verbundenen Hand. Er wußte jetzt, daß er die Schmerzlosigkeit nicht Kerns Salben zu verdanken hatte. Er würde nie wieder etwas in dieser Hand fühlen. Nicht einmal Schmerz. Verrenkte Knochen, ja, auch gebrochene Knochen waren heilbar. Zerfetzte Muskeln jedoch niemals.

Stanach sah den bösartigen, gelben Glanz in den Augen des Drachen.

Sein Atem ging schneller, wie ein Blasebalg. Stanach spürte seinen Hunger wie eine Drohung tief in seinen Eingeweiden, spürte sein Warten. Er hatte den Befehl, Realgars Gefangene noch nicht zu zerreißen, sie nur zu bewachen. Also wartete er.

Nachtschwarz nannte ihn Realgar. Vor einiger Zeit hatten sie ihm zwei Ziegen und ein schreiendes Kalb gebracht, um seinen Hunger zu stillen. Das Blut stank immer noch metallisch aus dem Maul. Zwischen den Tierknochen lagen die schwarzsilbernen Fetzen einer Theiwaruniform.

Kelida rührte sich – eine leichte Handbewegung – und lag wieder still.

Zu lange, dachte Stanach. Sie ist schon zu lange bewußtlos.

Wieviel Zeit war vergangen? Er hatte nur vage Erinnerungen daran, wie er an diesem Ort tief unter den Städten aufgewacht war. Eine Zeitlang war er verwirrt und von den Nachwirkungen des Schlafzaubers benommen gewesen. Dann hatte Zeit wie im Traum wenig Bedeutung gehabt. Selbst jetzt, während er dem Atmen des Drachen lauschte, erinnerte sich Stanach nur an die wenigen Momente nach der Landung von Nachtschwarz in einer tiefen Klamm unter dem Sims von Nordtor.

Ein Trupp von sechs Theiwaren unter der Führung von Realgar war wie nachtschwärmende Fledermäuse aus einer Höhle geströmt. Jeder von ihnen hatte eine gespannte Armbrust auf Stanach und Kelida angelegt und hätte auf Befehl des Lehnsherrn sofort geschossen. Realgar hatte nichts dergleichen befohlen. Dafür befahl er den beiden abzusteigen, und sie gehorchten, weil beide damit rechneten, sonst von einem Bolzen getroffen zu werden.

Drei Wachen hatten Stanach augenblicklich umringt, als er den Boden betrat. Innerhalb von Sekunden hatten sie ihn sorgfältig entwaffnet. Während eine Wache Stanach mit der Armbrust in Schach hielt, zerrten ihn die anderen beiden an den Armen in das klaffende, finstere Loch, wo es in die Höhle ging. Am Eingang hatte sich Stanach trotz des harten Griffs seiner Häscher herumgeworfen und gesehen, daß Kelida genauso umringt war.

Realgar hatte sich ihr genähert, wobei seine seltsamen, dunklen Augen glänzten und seine Hände unablässig zuckten, als würden sie sich auf das Gefühl freuen, den kühlen, goldenen Griff von Sturmklinge zu halten.

Die Hände der Wachen hatten sich fester um Stanachs Arme geschlossen. Sie hatten ihm die Arme auf den Rücken gedreht, und stechende Schmerzen waren von seinen Ellbogen zu den Schultern gerast. Wie betäubt hatte Stanach durch einen trüben, roten Nebel zugesehen, wie sie Kelida entwaffneten.

Stanach wurde schlecht, als er jetzt daran dachte, wie Realgar langsam nach dem Königsschwert gegriffen hatte, wie der Theiwar fast den saphirbesetzten Griff berührt hatte, um dann die Hand zurückzuziehen. Er hatte die Wachen weggeschickt. Ganz vorsichtig hatte Realgar den Waffengurt von Kelidas Hüfte gelöst.

Stanach schloß die Augen und versuchte, Kelidas leises Stöhnen und seinen eigenen empörten Wutschrei nicht noch einmal zu hören. Realgar hatte lächelnd den Gurt umgeschnallt.

Wie ein Echo dieses dünnen, verzweifelten Stöhnens stockte Kelida jetzt der Atem. Stanach griff wieder nach ihrer Hand, legte seine darauf und beugte sich zu ihr.

»Lyt Chwaer«, flüsterte er so leise, daß er die Worte kaum selber vernahm, »ganz ruhig. Ich bin da.«

Die Höhle war schwärzer als eine mondlose Nacht, und als Mensch hatte sie keine Infravision. Stanach fühlte ihre Hand in der seinen zittern.

Nachtschwarz grollte tief in seiner Brust. In seinen Augen leuchtete ein unheilvolles Gelb, während er seine Gefangenen beobachtete. Dann wich der riesige, schwarze Drache scheinbar uninteressiert zurück. Kelidas Hand in Stanachs wurde kalt und schlaff, als das rauhe Geräusch der Schuppen, die über den Stein rieben, und der kratzenden, scharfen Klauen durch die Höhle hallte.

Stanachs Finger schlossen sich wieder um Kelidas Hand und hielten sie schweigend fest, bis Nachtschwarz sich ganz zurückgezogen hatte. Wie lange würde Realgars Befehl den Drachen zurückhalten?

Langsam und so leise wie möglich setzte Stanach sich um und ließ Kelidas Hand los. Sie hielt den Atem an und griff nach seinem Arm, eine Ertrinkende, die sich in einem kalten, schwarzen Ozean an ihren einzigen Halt klammert. Ihre Stimme war schwach und belegt vor Angst. »Ich kann – ich kann nicht mehr sehen.«

»Oh, doch, du kannst, Kelida. Du kannst nur hier nichts sehen. Leise jetzt, halt dich an mir fest und setz dich hin.«

Sie bewegte sich langsam. Mit der Felswand im Rücken setzte sie sich gerade hin.

»Besser? Wie geht es deinem Kopf? Tut bestimmt weh.« Er versuchte, sich sorglos anzuhören, merkte jedoch, wie falsch sein Ton in seinen Ohren klang. »Ja, ja, das macht der Schlafspruch. Kopfschmerzen wie nach einer guten Flasche Zwergenschnaps, nur ohne den Spaß dabei.«

Nachtschwarz ächzte laut und tief in seinem Teil der Höhle, wobei seine Schuppen wieder über den Steinboden kratzten. Kelida schreckte hoch, um dann absolut still zu verharren.

»Nur der Drache«, sagte Stanach, als würde er sagen ›nur ein Kaninchen‹. »Im Moment sind wir sicher.«

»Wo – wo ist er?«

Stanach zuckte mit den Schultern. »In seiner Höhle, spielt Wachhund.« Er log aalglatt. »Interessiert sich nicht für uns.«

Ob sie ihm das abnahm? Stanach glaubte es nicht.

»Warum kann ich nichts sehen?«

Stanach schniefte. »Weil es hier kein Licht gibt. In der Außenwelt ist immer Licht. Selbst in der wolkigsten Nacht wird es zwischen Himmel und Erde gefangen. Hier, im Herzen der Welt, gibt es nur das Licht, das wir machen.«

»Aber – du kannst mich sehen.«

Nachtschwarz gab einen nach Blut stinkenden Rülpser von sich. Stanach sprach schnell, um die Panik zu ersticken, die er in Kelida aufsteigen spürte.

»Alles, was lebt, strahlt Wärme aus. Unbelebte Dinge wie Stein und Berg speichern das Tageslicht. Das ist es, was ich sehe, den Umriß dieser Wärme. Du bist eine unscharfe Gestalt, aber die erkenne ich sehr gut. Wenn du jetzt meine Augen sehen könntest, würden sie dir bestimmt nicht gefallen. Um das letzte bißchen Licht zu erwischen, erweitern sich die Pupillen so sehr, daß sie wie bodenlose Löcher aussehen.«

Kelida holte tief Luft und stieß sie mit einem langsamen, fast geräuschlosen Seufzer wieder aus. »Was werden sie mit uns machen?«

Stanach wußte nicht, wie er antworten sollte. Er schüttelte den Kopf, erinnerte sich dann jedoch, daß sie die Geste nicht sehen konnte. »Lyt Chwaer, ich weiß es nicht. Realgar hat Sturmklinge. Ich weiß nicht, warum er uns nicht schon umgebracht hat.«

Kelida schwieg einen Moment lang. Stanach fühlte, wie sich ihre Finger wieder um seine Hand klammerten. Er wußte, was sie als nächstes fragen würde.

»Dann – dann ist Hauk tot?«

Stanach schluckte heftig, sagte aber nichts.

»Stanach?«

»Genau«, flüsterte er, »Hauk ist tot.«

Wie konnte er so viel Trauer, so viel Schmerz in einer tiefenlosen Aura aus rotem Licht erkennen?

»Lyt Chwaer«, flüsterte er.

Sie vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter. Stanach fühlte ihre warmen Tränen an seinem Hals, als sie leise weinte. Lyt Chwaer, nannte er sie, kleine Schwester. Sie hatte ihn in seinem Kummer getröstet, ihn nach seiner Folterung mit zarter Hand und mit der Sanftheit einer Schwester versorgt.

Stanach hielt sie fest im Arm, während sie weinte. Über ihrer Schulter sah er seinen rechten Arm, von dem der rote Glanz seiner Körperwärme ausging. Die Hand, die mit den abgerissenen Streifen ihres Mantels verbunden war, lag schwer und gefühllos auf ihrem Rücken. Sie war so leblos, daß er nichts sehen konnte, dort, wo seine Hand hätte sein sollen.

»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Kelida, es tut mir leid.«

Plötzlich versteifte sich Kelida in seinen Armen und wurde dann schlaff, als wenn sie die Last eines neuen Kummers nicht ertragen konnte. Mit vom Weinen belegter, rauher Stimme sagte sie: »Ich… ich habe ihn umgebracht.«

Stanach hielt den Atem an, weil er nicht sicher war, ob er sie richtig verstanden hatte. Er hielt sie von sich ab, um ihr Gesicht, ihre Augen sehen zu können, sah aber nur einen bebenden, roten Umriß.

»Kelida, was sagst du da?«

»Ich hätte… ich hätte besser auf das Schwert aufpassen müssen.« Ihre Hände bedeckten ihr Gesicht wie die Geister von toten Vögeln. »Nein. Ich hätte es dir oder Tyorl geben sollen. Wenn ich es sicher verwahrt hätte – wenn ich es zu deinem Lehnsherrn gebracht hätte…« Sie holte schluchzend Luft. »Oh, Stanach! Wenn ich nicht so darauf bestanden hätte, daß ich es tragen will, es… es behalten will, dann würde er noch leben!«

»Nein«, wisperte Stanach. »Nein, Kelida, das ist nicht wahr. Es gibt nichts, was du hättest tun können.«

»Wenn ich dir das Schwert überlassen hätte, anstatt so zu tun, als ob… als ob ich etwas von ihm hätte, bloß weil ich sein Schwert hatte. Ach, anstatt so zu tun, als wenn er es mir gegeben hätte, weil… weil ich ihm wichtig war. Als ob er sich an mich erinnern würde und vielleicht – «

»Nein!« schrie er barsch.

Das Echo des Schreis kam von den Wänden der kleinen Höhle wie schwacher Protest zurück. Krallen kratzten über den Stein. Nachtschwarz knurrte tief in seiner Brust. Gelbe Augen leuchteten von der gegenüberliegenden Seite der Höhle herüber. Das Untier bewegte sich nicht, aber Stanach war sicher, daß es lachte.

Er hielt Kelidas Arm mit der linken Hand fest und ließ die gefühllose rechte Hand fallen.

»Kelida, es tut mir leid. Oh, ihr Götter, es tut mir leid! Hauks Tod war nie etwas, was du hättest verhindern können.«

Sie schluckte betroffen und schüttelte den Kopf. »Doch, wenn ich – «

»Nein«, flüsterte er, »nein. Hauk ist tot, ja, aber das hat nichts mit dir zu tun. Kelida, er war wahrscheinlich schon tot, bevor wir Langenberg verlassen haben.«

Sie wich vor ihm zurück, ganz langsam wie vor einem plötzlich gezückten Dolch. »Aber du hast gesagt…« Ihre Stimme verlor sich in einem schaudernden Seufzer, als sie zu verstehen versuchte. »Nein, Stanach. Du hast gesagt…«

»Ich habe gelogen. Ich brauchte das Schwert. Ich habe dich angelogen.«

Sie stöhnte leise.

Stanach lehnte seinen Kopf an die Felswand und schloß die Augen. Er sagte nicht, daß es ihm leid tat, obwohl nur Reorx wußte, daß ihm noch nie im Leben etwas so leid getan hatte. Nicht einmal der Verlust des Königsschwerts. Er konnte keine Worte dafür finden, wie er sich fühlte; er glaubte nicht, daß es in irgendeiner Sprache Worte dafür gab.

Nachdem er lange Zeit den Atemzügen des Drachen und Kelidas Weinen gelauscht hatte, spürte Stanach ihre leichte Hand auf seinem rechten Arm. Sie hob seine Hand hoch, die in die Fetzen ihres Mantels gewickelt war. Nur weil er hören konnte, wie ihre Finger leise über den Verband strichen, wußte er, daß sie seine zerstörte Hand hielt.Guyll Fyr tobte über die windgepeitschte Ebene der Toten. Lange, dünne Flammenfinger preschten dem Hauptbrand voraus wie eine glühende Vorhut mit Wimpeln, die heller strahlten als die Sonne. Gierig nach Beute raste das Feuer durch Sumpf und Wiesen und fraß dünnes Gras und dürre, trockene Farne.

Realgar stand vor dem Arbeitstisch in der Kammer des Schwarzen Mondes und betrachtete das Feuer auf der glatten, klaren Glasfläche. Ein einfacher Sichtzauber hatte die Vision auf das Glas gerufen, und er sah das Feuer voranschreiten wie einen Mann auf einem Berggipfel.

Befriedigt flüsterte er ein Wort, als er mit der Hand über den Tisch strich. Die Szene veränderte sich und wurde detaillierter.

Eine Sumpfratte ruderte in einem flachen, schilfumstandenen Teich zum Grund und starb kurz vor ihrem Bau, weil ihr Blut in dem plötzlich siedenden Wasser gekocht wurde.

Eine Ente mit smaragdgrünem Kopf rang vergeblich nach Luft, um sich mit letzter Anstrengung zu erheben und den Flammen zu entkommen.

Ein langbeiniger Kranich und ein schneller Silberfuchs flohen vor dem heranrückenden gemeinsamen Feind. Gnadenlos fing und tötete sie das Guyll Fyr wie alle anderen Lebewesen auf seinem Weg. Die einst kühle Luft über der Ebene zitterte in der Hitze des vorbeiziehenden Feuers. Der Wind, der stets wie ein verirrter, geistesgestörter Reisender über die Ebene der Toten blies, trieb die Flammen kreuz und quer herum.

Dem Zauberer kam das Feuer wie ein wütendes Tier vor, das sich mit explosiven Flammenstößen aufbäumte. Das Guyll Fyr jagte auf die Ausläufer der Berge zu, zischte über die Sümpfe und brüllte dem größeren Festmahl eines dichten, saftigen Kiefernwalds mit entsetzt fliehenden Tieren entgegen.

Realgar wandte sich von den Schauplätzen der Verwüstung ab. Die Flammen woben einen Teppich aus grellem, gewaltsamem Tod, aber es war noch ein weiterer Faden einzuweben, um das Bild komplett zu machen. Diesen Faden hielt Realgar jetzt in den Händen.

Obwohl seit vielen Jahren keine regelmäßige Wache mehr in den Ruinen von Nordtor stand, war jetzt eine aufgestellt worden. Das seit den zerstörerischen Kämpfen der Zwergentorkriege nutzlose Tor war inoffiziell dem Bereich der Theiwaren zugeschlagen worden. Realgar ließ sich lachend auf einen Stuhl hinter dem Glastisch fallen. Die Wache bestand aus Gneiss treuen Daewars.

Alle treu, dachte er, oder fast alle. Jeder ist bestechlich, selbst ein Daewarwachmann.

Und genau solch ein Posten suchte gerade nach Hornfell, um ihm auszurichten, daß Gneiss ihn an der Mauer von Nordtor zu sprechen wünschte. Der Verräter würde die Nachricht bringen, daß der Lehnsherr der Daewars gesehen hatte, wie das Guyll Fyr in die Ebene der Toten herunterfegte. Die Nachricht würde in dringlichem Ton überbracht werden, damit die betrügerische Wache Gneiss’ angebliche Sorge um die Ernährungslage von Thorbardin vermittelte.

Auch wenn Hornfell inoffizielles Theiwargebiet nur widerstrebend betreten würde, wußte der Hylar, daß man nur von Nordtor aus das Fortschreiten des Feuers beobachten konnte. Doch der Glaube, zu Gneiss zu gehen, würde ihm genügen.

Allerdings würde ihn dort nicht Gneiss erwarten, sondern Realgar. Und Sturmklinge.

Realgar fuhr mit der Handfläche über das Schwert in der Scheide an seiner Seite.

»Genau«, flüsterte er, »du hast lange nach dem Königsschwert gesucht, Hornfell, und in Nordtor wirst du es finden. Zu guter Letzt wirst du es sehen, und es wird dich töten!«

Die Göttin Takhisis, die Königin der Finsternis, hatte ihm die Hand gereicht. Er brauchte sie nur zu ergreifen. Der Funke der Revolution, der das zundertrockene Thorbardin anzünden würde, würde die Herrschaft eines Derro begründen.

Realgar schloß die Augen und rief den schwarzen Drachen mit seinen Gedanken.

Hast du den Waldläufer gefunden?

Das hatte Nachtschwarz nicht. Ein Hauch von Ungeduld durchzog die Gedankensprache des Theiwars. Macht nichts. Es wird bald vorbei sein. Danach können wir ihn suchen.

Ein Gedanke, ein Befehl, und Realgar schickte den schwarzen Drachen zu den Berggipfeln aus. Nachtschwarz würde bereitstehen, um seinen Angriff auf Hornfell und dann auf die Daewarwachen in Nordtor und Südtor zu decken.

Gneiss blieb in der Mitte des Gartens vor dem Rat der Lehnsherren stehen. Der schwere Duft der weißen Hundsrose und der roten Zierpflaume lag in der Luft. Er war nicht darauf aus, eins von beiden zu bewundern, und fühlte sich unwohl angesichts der lieblichen Heiterkeit, die der Garten ausstrahlte. Hinter den grünen Buchsbaumhecken lag eine seltsame, brütende Stimmung über Thorbardin. Wie typische Stadtmenschen witterte die Bevölkerung das Unheil. Obwohl es sich nur wenige klarmachten, reagierten alle mit Ungeduld und besorgten Blicken darauf.

Gneiss wandte sich zum Gehen und schlug den kürzesten Weg zur Straße ein. Als er an dem kleinen Teich am Ostrand des Gartens vorbeikam, merkte er, daß der Garten nicht so leer war, wie er gedacht hatte. Tanis, der Halb-Elf und Fremde, saß am Ufer und warf Steinchen ins Wasser.

Als er die Schritte des nahenden Zwergs hörte, drehte sich Tanis abrupt um, entspannte sich aber sichtlich, nachdem er den Daewar erkannt hatte.

»Falls Ihr Hornfell sucht«, sagte Tanis, »hier ist er nicht.«

»Das sehe ich.« Gneiss betrachtete ihn genau. »Sucht Ihr irgend etwas hier?«

Der Halb-Elf schüttelte den Kopf. »Ich genieße nur den Garten.« Als Gneiss’ durchdringender Blick mißtrauisch wurde, lächelte Tanis. »Immer langsam, Gneiss. Hornfell war gerade hier. Wir haben uns unterhalten, aber eine Wache – der Uniform nach eine von Euren – rief ihn weg.«

»Hat er gesagt, wo er hin wollte?«

»Mir nicht.«

Ein unangenehmes Schweigen stand kurz zwischen ihnen. Tanis kratzte sich am Bart. Seine schmalen, grünen Augen waren verhangen. »Gneiss, Ihr mögt mich nicht, oder?«

Überrumpelt stammelte Gneiss: »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«

»O doch, das habt Ihr.« Tanis hockte sich wieder hin und warf einen weiteren Stein in den Teich. »Ihr mögt keine Fremden, und Ihr wollt sie schon gar nicht in Thorbardin haben. Sagt mal, warum habt Ihr schließlich doch zugestimmt, die Flüchtlinge aufzunehmen?«

»Weil alle Argumente von Hornfell überzeugend waren«, sagte Gneiss kurz angebunden. Er kniff die Augen zusammen. »Was wollt Ihr, Halb-Elf?«

»Sicherheit für die Flüchtlinge.« Tanis kam gewandt auf die Füße und ließ die Kiesel aus seiner Hand fallen. »Die habt Ihr.«

»So? Nicht, solange sie in Gefahr sind, zwischen Hammer und Amboß gefangen zu werden. Oder zwischen den beiden Seiten einer Revolution.« Tanis schaute über die duftenden Buchsbaumhecken auf die Straße. »Da draußen ist man nervös, Gneiss. Behauptet nicht, daß Ihr das nicht spürt.«

Gneiss sagte nichts. Er fand nicht, daß Thorbardins innere Angelegenheiten ein passendes Thema für eine Diskussion mit einem Fremden waren.

»Es ist sehr unangenehm zwischen den Fronten, Gneiss. Bevor Ihr kamt, haben Hornfell und ich darüber geredet. Die Flüchtlinge werden kämpfen, wenn es sein muß. Es wäre besser, wenn sie mit Euch kämpfen und nicht trotz Euch. Wenn hier eine Revolution ausbricht, werdet Ihr unsere Hilfe brauchen.«

Gneiss schüttelte den Kopf. »Nicht die Hilfe von unerfahrenen Bauern, nein danke.«

Der Halb-Elf fuhr mit dem Finger sanft über den halberblühten Zweig einer Zierpflaume. Die federartige Blüte hinterließ feinen, goldenen Blütenstaub an seiner Fingerspitze. »Was ist mit der Hilfe der Leute, die diese Flüchtlinge aus der Sklaverei befreit haben – sie Verminaard unter der Nase weggeschnappt haben, Gneiss! – und sie den ganzen Weg von Pax Tarkas hierherführten?«

Achthundert, dachte Gneiss. Die Hälfte davon würde vielleicht kämpfen oder zumindest die Osthöhlen verteidigen können, wenn es sein mußte.

Aber er glaubte nicht, daß es soweit kommen würde. Realgar würde seine Revolution nur anzetteln, wenn er sicher war, daß er sie gewinnen konnte. Doch wenn Realgar zuschlug, dann weil Ranze sich mit den Theiwaren zusammengetan hatte. Der erste Schlag mußte hart und niederschmetternd sein. Die beiden Derro-Lehnsherren würden keine Zeit mit einem ersten Schlag gegen die fernen Ackerhöhlen im Osten von Thorbardin verschwenden. Es gab keinen Grund, den Halb-Elf oder seine Flüchtlinge einzuspannen.

Oder doch?

Gneiss betrachtete Tanis erneut. Diesmal lag weder Argwohn noch Mißtrauen in seinem abschätzenden Blick. Langsam begann er zu lächeln. Man konnte nicht sicher sein, wann und wo die Derros zuschlagen würden. Aber man konnte dafür Sorge tragen, daß ein solcher Schlag abgeschwächt wurde.

Die Ostfelder öffneten sich im Norden und im Süden zu Ranzes Daergarstadt hin. Wenn die Daergars wie Ratten in ihren Löchern in ihrer Stadt festsaßen, würde es ihnen schwerfallen, Realgars Revolutionsversuch zu unterstützen.

Er sah Tanis an und zog eine Augenbraue hoch. »Ich weiß wenig über Bauern, Halb-Elf. Ich könnte mir vorstellen, daß sie sich gut darauf verstehen, Ungeziefer zu fangen, um ihre Ernte zu schützen.«

Tanis zuckte mit den Schultern. »Das würde ich auch meinen.«

Gneiss strich sich über seinen silbrigen Bart. »Dann hätte ich womöglich doch noch eine Aufgabe für Eure Bauern.« Er bückte sich nach einem von Tanis’ Steinen und warf ihn in den Teich. Die Ringe kräuselten sich vom Aufschlag des Steins langsam ans Ufer.

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