30

Der breite Erker im Westen von Gneiss’ Arbeitszimmer ging hinaus auf den Garten, dessen Beete in strenger Symmetrie angelegt waren. Das Arbeitszimmer war militärisch karg eingerichtet, die wenigen Wandbehänge zeigten berühmte Schlachten und Feldzüge. Alte und neue Waffen glänzten in den Schaukästen und Vitrinen. Die Einrichtung aus massivem Holz und Stein konnte höchstens auf alte Veteranen einladend wirken, die an die Härten der Schlachtfelder gewöhnt waren.

Doch der langgezogene Garten, der nicht breiter war als die Länge des Arbeitszimmers, war mit seiner Fülle von Blumen, Kräutern und Buschwerk eine der heimlichen Freuden des Daewars. Doch diesmal war es nicht seine Schönheit, die Gneiss wie so oft ans Fenster führte.

Von seinem Platz aus konnte er die Rufe der spielenden Zwergenkinder hören, unter denen auch seine eigenen Enkel waren. Der Lärm und der Anblick des wilden Spiels der Kleinen entlockten dem alten Kämpfer einen Seufzer und ein zufriedenes Lächeln, das selbst seinen Freund Hornfell erstaunt hätte. Ach ja, Hornfell! Wo bist du die letzten Stunden gewesen? Du hättest längst zurück sein müssen, mein Freund. Kündigt dein Schweigen vielleicht die Revolution an, auf die wir uns vorbereitet haben?

Realgar war genausolange nicht gesehen worden. Rüstung klirrte gegen Stein, und Gneiss wandte sich vom Garten ab, um dem Ruf zum Kampf zu antworten. Zwei Menschen und der Halb-Elf Tanis warteten mit erkennbarer Ungeduld am Kartentisch. Tanis und der Ritter Sturm waren über die Karte von Thorbardin gebeugt. Konzentriert fuhr der dunkeläugige Ritter die Straßen nach und verband sie sorgfältig mit Zufahrtswegen und Transportschächten, um sich mit der inneren Struktur der Stadt vertraut zu machen.

Der eine ein Planer, dachte Gneiss, der andere ein Jäger. Ihr Freund, der Kämpfer mit Helm und Rüstung, den Tanis als Caramon vorgestellt hatte, saß neben ihnen. Mit seinen langen Beinen und den enormen Armen war er der größte Mensch, den Gneiss je gesehen hatte. Die drei wirkten hier merkwürdig fehl am Platze. Zu groß, dachte Gneiss. Sie sind allesamt einfach viel zu groß!

Der Zwerg räusperte sich hörbar. Gneiss war in erster Linie ein Feldherr, kein Redner. Ohne Umschweife kam er zur Sache.

»Hornfell ist schon zu lange in Nordtor.« Er nickte Tanis zu. »Es ist schon drei Stunden her, daß er losgegangen ist. Mir gefällt das nicht. Meine Läufer und Kundschafter berichten, daß die Städte zu ruhig sind. Bis auf eine. Im Theiwarlager summt es wie eine Horde Hornissen, die zum Ausschwärmen bereit ist.« Er wies mit der Hand zum Tisch. »An die Arbeit.«

Rasch machte er die drei mit den sechs kleinen Städten des Königreichs bekannt, die gemeinsam als Thorbardin bekannt waren, und skizzierte dann den Verteidigungsplan, den er und Tanis bereits entworfen hatten.

»Ich weiß immer noch nicht, ob Ranze sich erheben wird, um mit Realgars Theiwaren zu kämpfen«, erklärte Gneiss. »Meine Daewars werden mit Hylarentruppen zusammen die Nordwege aus ihrer Stadt versperren.« Er zeigte auf das Südostviertel der Karte und nickte Caramon zu. »Wenn dieser Riese und die Hälfte der Flüchtlinge den Durchgang zwischen der Daergarstadt und den Osthöhlen verteidigen und wenn Sturm mit der anderen Hälfte den Südweg hält, müßten Ranzes Krieger doch eigentlich den größten Teil der Revolution gefangen sitzen, oder?«

Caramon lachte leise. »Worauf Ihr Euch verlassen könnt.«

»Ich verlasse mich auch darauf, junger Mann«, sagte der Lehnsherr ruhig.

Dann wandte sich Gneiss an Tanis. »Ihr würdet mir einen Gefallen tun«, sagte er bemüht höflich, »wenn Ihr den Oberbefehl über Eure Gruppe und die Flüchtlinge übernehmen würdet. Noch Fragen bis hierher?«

Tanis nickte trotz seines eindeutig zufriedenen Lächelns. »Nur eine. Es geht hier um Möglichkeiten.« Er fuhr mit dem Finger über den nordwestlichen Abschnitt der Karte, zu den Städten und Gebieten der Klar und Theiware, und kam dann zu den Ruinen von Nordtor. »Was ist mit den Wahrscheinlichkeiten?«

»Nennt sie Sicherheiten. Denn das sind sie.« Gneiss bohrte einen Finger auf die Theiwarstadt. Sein Schatten lag wie ein Dolch über der genau ausgearbeiteten Karte. »Hier und hier wird der Ärger anfangen. Tufa hat seine Klar bereits zwischen den Theiwaren und dem Urkansee. Sie werden nicht stark genug sein, um diese Schlangen aufzuhalten, aber ich unterstütze sie mit meinen Kriegern.« Jetzt blickte er auf. In seinen Augen stand eine deutliche Warnung. »Zwei Schlachtfelder und dazwischen der Rest der Flüchtlinge. Ihr kennt diese Leute am besten«, fügte Gneiss hinzu. »Setzt sie so ein, wie es Eure beiden Befehlshaber für richtig halten, aber haltet sie so gut wie möglich aus den Städten raus.«

»Etwas streng mit Euren Verbündeten, nicht?« knurrte Caramon.

Gneiss schwieg einen Moment lang, während er um eine Geduld rang, die er sonst nie einem Menschen entgegengebracht hätte. Bei der Schmiede! Er wünschte, er hätte genug Männer, um das hier allein durchzuführen!

»Ihr seid Verbündete«, setzte er langsam und mit Nachdruck an. »Aber mein Volk ist sehr eigen und würde wahrscheinlich erst mit Fremden zusammenarbeiten, wenn es zu spät ist. Versteht Ihr?«

Caramons Augen blitzten plötzlich voller Zorn auf. Tanis legte dem großen Krieger eine Hand auf die Schulter. Schon diese warnende Geste brachte Caramon zum Schweigen.

Gneiss hatte sich gefragt, warum der Halb-Elf, der wegen seines vermischten Bluts wohl weder bei den Menschen noch bei den Elfen willkommen war, nicht nur diese beiden Menschen, sondern alle neun Gefährten anführte, die achthundert Sklaven aus Verminaards Minen befreit hatten. Schließlich hatten sie auch diesen ausgezeichneten, jungen Ritter dabei. Er warf einen Blick auf Sturm. Der Ausdruck in seinen Augen war wohl bestenfalls ungeduldig zu nennen.

Der Zwerg schniefte, als Caramon sich mürrisch wieder beruhigte. Der aufbrausende Riese hatte zumindest einen Funken Verstand.

»Weitere Fragen?«

Es gab keine mehr. Sie standen noch einige Minuten an der Karte, dann gingen die drei, und Gneiss blieb allein. Er stellte sich wieder ans Fenster, wo er feststellte, daß das Rufen und Lachen der Kinder aufgehört hatte. Der Garten war leer. Aufmerksam lauschte er auf den Lärm von den Straßen jenseits der Gartenmauer. Es herrschte nichts als unheimliche Stille.

Einen Augenblick später kam der Hauptmann seiner Leibwache mit der Nachricht, daß es ein Attentat auf den Lehnsherrn der Klar gegeben hatte. Tufa war nur leicht verwundet und hatte sich dem Kampf angeschlossen, der am Südrand des Theiwargebiets zwischen dem Urkansee und der Stadt der Klar ausgebrochen war.

»Lehnsherr«, sagte der Hauptmann finster, wobei sich seine Faust um den Griff seiner Streitaxt schloß, »die Klar sagen, daß die Theiware ihre Truppen geteilt haben und mindestens fünfzig von ihnen nach Nordtor zurückgewichen sind. Er und seine Krieger können die übrigen beschäftigen, aber er befürchtet, daß die Einheiten, die nach Nordtor unterwegs sind, dort etwas vorhaben.«

Gneiss schnallte sein Schwert um und überprüfte die tödliche Schärfe der Klinge. Jetzt wußte er, wo Hornfell war, und er wußte, warum Realgar seit Stunden nicht gesehen worden war. In Nordtor war eine Falle zugeschnappt.

»Zehn Einheiten zu mir«, befahl er. »Viermal Bogenschützen, der Rest Schwertkämpfer. Du stehst ab jetzt unter Tufas Kommando. Nimm den Rest von unseren Kriegern und unterstütze den Führer der Klar so, wie er es für richtig hält.«

Gneiss konnte kaum hoffen, daß er rechtzeitig zu dem alten Tor kommen würde, um Hornfells Tod zu verhindern. Doch hundert starke Daewars, vierzig Bogenschützen und sechzig Schwertkämpfer, würden durch die Theiware stoßen wie die Sonne durch den Nebel. Zumindest würde er den Mord an seinem Freund rächen.


Eine Mordsumarmung von Stanach, ein dicker Kuß von Kelida, das mußte als Wiedersehensfeier genügen. Lavim zupfte seinen schwarzen Mantel zurecht, während Stanach ihn fixierte.

»Du sagst, Tyorl ist hier?«

»Ja, klar.« Lavim nickte heftig. »Er ist unterwegs und müßte gleich dasein.« Er schaute sich um, als Hauk zur Toröffnung rannte. »Meinst du, ihr könntet ihn etwas freundlicher begrüßen? Es sind zwei Waldläufer bei ihm, und vielleicht seht ihr Tyorl nicht als ersten. Erinnerst du dich an diesen Waldläufer Finn, von dem Tyorl immer erzählt hat, Stanach? Der ist auch da und dann noch Kern.«

»Schon gut«, versicherte Lavim Hauk, wie man einen übereifrigen Wachhund beruhigt, damit er die eintreffenden Besucher nicht in Stücke reißt. »Das sind Freunde.«

Hauk grinste nur. »Richtig, Alterchen, das weiß ich.«

»Er ist ganz schön schnell mit seinem Schwert«, nörgelte Lavim, als Hauk gegangen war. »Eine Sekunde lang dachte ich, es würde bei mir in der Mitte etwas zugig werden.« Dann sagte er zu Hornfell: »Mein Herr – wußtet Ihr schon, daß Euch jemand töten will?«

Hornfell hatte während der Begrüßung der Freunde geschwiegen, doch jetzt bedachte er den Kender mit einem durchdringenden Blick. »Das weiß ich, Lavim. Erklär mir, woher du es weißt.«

Lavim hatte das Gefühl, daß der Zwerg seinen grimmigen Blick wahrscheinlich gar nicht so meinte. Trotzdem hielt er es für eine gute Idee, so klar wie möglich zu antworten: »Ja, also, Stanach hat mir was davon erzählt. Diese Geschichte von Sturmklinge, und wie es für Euch gemacht wurde, aber daß der andere Lehnsherr es auch haben will, und daß Ihr darum kämpft, wer der Was-weiß-ich wird.«

»Der Prinzregent.«

»Genau, das war’s. So ein bißchen wie ein König und ein bißchen wie der Mann, der hinter der Theke steht, wenn der Wirt beim Abendessen sitzt, nicht wahr?«

Hornfell nickte verwirrt.

»Dachte ich’s mir doch. Pfeifer hat mir den Teil erzählt, wie dieser andere Lehnsherr Euch gerade umbringen wollte. Er – «

»Pfeifer?« Kelida schüttelte den Kopf. »Pfeifer, Lavim? Aber der ist – «

»Ja, stimmt, das ist er auch. Er ist tot. Aber er hat es mir gesagt. Weißt du, das alles hat drüben in Qualinesti angefangen, als Stanach das Steingrab für Pfeifer gebaut hat und – «

Sie hörten Geschrei, teilweise von Hauk und Tyorl, teilweise von der Südseite des Torhauses her. Das brachte Stanach auf die Beine.

»Was ist los, Stanach?«

»Sie wollen den Lehnsherrn töten, Lavim. Was hast du für Waffen?«

»Meinen Dolch. Den Hupak habe ich im Moor verloren, aber – «

»Da drüben in der Wachstube findest du jede Menge Waffen. Rüste dich gut aus und komm dann hierher zurück.«

Als Lavim zum Wachhaus schlurfte, erwischte Stanach ihn gerade noch am Kragen. »Warte. Was haben Tyorl und die Waldläufer?«

»Die Waldläufer haben Schwert und Bogen. Tyorl hat seinen Bogen im Sumpf verloren.«

»Zeig ihnen die Waffenkammer und rüste sie schnellstens für den Kampf aus.«

Stanachs Gedanken überschlugen sich. Der Zuwachs von vier Mann bei Hornfells Verteidigern würde wenig ausmachen, wenn Realgar mehrere Einheiten von Kämpfern gegen sie führen konnte. Stanach lächelte grimmig. Aber jetzt hatten sie Bogenschützen. Das würde etwas ausmachen.

Mit seiner verstümmelten rechten Hand berührte er Kelidas Arm.

»Lyt Chwaer, schick Tyorl hier hoch und…« Stanach hielt inne, weil er plötzlich merkte, daß er gar keine Befehlsgewalt hatte.

Hornfell nickte Kelida zu. »Kelye dha, wenn du getan hast, worum Stanach bittet, dann heiße Finn in meinem Namen in Thorbardin willkommen. Sag ihm, daß ich gute Bogenschützen brauche und daß ich ihm dankbar wäre, wenn er seine Männer dem Befehl meines jungen Hauptmanns hier unterstellen würde.«

Stanach sah ihr nach, als sie mit Hornfells Botschaft den Gang hinuntereilte.

»Stanach«, sagte Hornfell, womit er das kurze Schweigen brach, »wenn ich sterben soll, dann nicht wie eine Ratte in ihrem Loch.«

»Hier ist jedes Schwert willkommen, Lehnsherr Hornfell, und nicht zuletzt deins.«

Stanach drehte sich um und erklärte den sechs, die im Torhaus warteten, flüsternd seinen Plan.

Draußen in der großen Halle verstummte das Gemurmel der Theiware und das Klappern ihrer Schwerter, Rüstungen und Brustpanzer.

Kalt und schrill befahl Realgar seine Männer zum Angriff.

Stanach hatte noch Raum für ein letztes Gebet, dann hob er sein Schwert hoch und nahm Kampfstellung ein.

Bitte, Reorx, bitte beschütze uns jetzt…Die beiden Bogenschützen, die außer Reichweite der Schwerter auf dem Pfeiler des alten Tormechanismus postiert waren, sandten ihre Pfeile herab. Kelida konnte keinen Unterschied feststellen zwischen der Angst, vom Schwert ihrer Angreifer aufgespießt zu werden, und der Angst, den Pfeil eines Freundes im Rücken zu spüren.

Erschreckender als die Pfeile der Bogenschützen waren die Bolzen von Tyorls Armbrust. Sie zischten laut durch die Luft, und darauf folgte stets der hohe Todesschrei eines Feindes.

»Überlaß das Zielen den Schützen«, hatte Hauk gerufen. »Das ist ihre Sache, Kelida. Achte du nur darauf, daß du am Leben bleibst.« Er hatte noch etwas anderes sagen wollen, aber dazu war keine Zeit mehr gewesen. Der Kampf hatte sie voneinander getrennt.

Kelida kämpfte nicht besser als in der großen Halle, aber mit der gleichen, wenn nicht mit größerer Verzweiflung. Man brauchte kein großer Stratege zu sein, um zu wissen, daß sie mit dem Rücken zur Wand standen. Hinter ihnen gab es nur noch das brennende Tal, dreihundert Meter unter der Stadt.

Ein schwarzsilbern uniformierter Soldat sprang sie von rechts an, ein zweiter von links. Kelida trieb dem einen ihren Dolch in die Kehle und traf den zweiten mit einem Tritt am Knie. Überall war Blut. Es dampfte an ihrem Messer und rann ihr zwischen den Fingern durch.

Jemand, wahrscheinlich Lavim, rief eine Warnung. Sie warf sich gehorsam hin, erkannte jedoch erst, als sie auf dem blutverschmierten Boden lag, daß die Warnung nicht für sie bestimmt gewesen war. Eine Länge vor ihr zur Linken ließ sich ein Theiwar mit angelegter Armbrust auf ein Knie herunter und zielte. Sein Ziel war Hornfell.

»Nein!« schrie sie, während sie sich mit gezücktem Dolch von hinten auf den Zwerg warf. Sie stieß dem Schützen die Klinge zwischen die Schulterblätter und wußte, daß sie ihn getötet hatte, als der Stahl von seinem Schrei vibrierte.

Bevor Kelida reagieren konnte, brüllte Lavim wieder eine Warnung. Ein Dolch zischte um Haaresbreite über ihren Kopf. Kelida hörte ein gräßliches Stöhnen und drehte sich um.

Sie wußte sofort, daß das ein Fehler gewesen war. Ein schwerer Körper fiel von hinten auf sie. Hände preßten ihr die Arme an die Seiten, und jemand stieß ihr sein Knie ins Kreuz, so daß sie ein heftiger Schmerz durchzuckte. Ihr wurde schwarz vor Augen.

Geschwächt und voller Panik hörte Kelida, wie jemand ihren Namen schrie.

Sie konnte sich einfach nicht befreien, konnte nicht einmal Atem holen, um zu antworten. Dann hörte sie das kratzende Geräusch von Stahl, der auf Knochen stößt.

War sie getroffen?

Sie wußte es nicht. Da war kein Schmerz… bis die Klinge zurückgezogen wurde. Da wußte sie für einen Augenblick, daß sie einen Stich abbekommen hatte, bevor sie gar nichts mehr wahrnahm.


Die Schreie im Torhaus waren nur Echos auf die Schreie, die in Hauks Seele tosten. Wie ein hungriges Raubtier fiel er über die Theiware her, als wären sie nur leichte Beute. Er tötete schweigend wie eine stumme, todbringende Kreatur, die Rache nehmen wollte. Wer unter seinem Schwert starb und unglücklich genug war, ihm in die Augen zu sehen – was die meisten taten –, nahm ein Bild von Feuer und Eis mit in die Ewigkeit.

»Kelida!« schrie jemand.

Hauk riß sein Schwert aus dem Bauch eines Theiwars.

Kelida!

Sie war gestürzt und lag in einer sich ausbreitenden Blutlache. Den linken Arm hatte sie mit offener Hand ausgestreckt, als würde sie um Hilfe oder Mitleid flehen. Sie bewegte sich nicht. Ein Theiwar lag quer über ihrem Rücken und starrte mit leeren Augen an die dunkle Decke. Sein Körper war mit Pfeilen gespickt, und aus dem Hals ragte ein Armbrustbolzen.

Aber er konnte nicht zu ihr gelangen. Realgars Männer drangen auf das Torhaus ein, und die Wogen des Kampfes trugen Hauk weit von dem blutgetränkten Boden weg, wo Kelida still und stumm wie eine Tote lag.»Kelida!« Tyorl stieß einen Warnruf aus, aber zu spät! Zu spät! Sein Bolzen war gut gezielt und traf den Theiwar in den Hals. Aber zu spät! Verzweifelt sah er sich am Torhaus um, suchte jemanden, der frei war und in ihrer Nähe stand. Lavim kam in Frage, aber nur für die Sekunde, die Tyorl brauchte, um für einen Ruf Atem zu holen. Einer von Realgars Zwergen sprang ihn von hinten an und riß den alten Kender in einem Knäuel aus Armen und Beinen zu Boden.

Tyorls Kopf konzentrierte sich jetzt gleichzeitig auf zwei Dinge: Er suchte jemanden, der Kelida helfen konnte, und er mußte weiter angreifen und verteidigen. Mit einem Bolzen mit Stahlspitze traf Tyorl den Zwerg ins Herz, der aufsprang, um Lavim einen Dolch in den Rücken zu stoßen, und schrie nach Stanach, der gerade sein Schwert aus dem Leib eines anderen zog.

Das Heulen der Sterbenden und die Schreie der Kämpfenden waren ohrenbetäubend. Tyorl war sich nicht sicher, ob Stanach ihn gehört hatte, aber er konnte nicht mehr darauf achten. Vier Theiware, deren kalte, schwarze Augen in hemmungslosem Blutrausch funkelten, rannten auf ihn zu.

Auf Grund der Nähe seiner Angreifer konnte die Armbrust nichts mehr ausrichten. So vertauschte Tyorl sie gegen Dolch und Schwert. In jeder Hand eine Waffe, brüllte er Kelidas Namen wie einen Schlachtruf und sprang zwischen die Zwerge.

Stanachs Rücken klebte so eng an Hornfells, daß nicht einmal eine Schwertklinge dazwischen Platz gefunden hätte. Sein Lehnsherr focht mit tödlicher Perfektion und kalter Wut, und solange Stanach lebte, würde ihn kein Theiwar von hinten treffen.

So kurz diese Zeit auch sein mag, dachte Stanach finster.

Realgar hatte fünfzig Krieger herbeirufen lassen. Der Feind war zahlenmäßig so überlegen, daß Stanach lieber nicht daran dachte. Doch der Zugang zum Torhaus war eng, und die drei Bogenschützen darin forderten einen blutigen Zoll. Stanach glaubte, daß sie das Torhaus eine Weile halten würden, wenn alle sieben geschickt kämpften. Doch einer war ein ungeübtes Mädchen, einer ein alter Kender, und die drei Waldläufer waren bereits erschöpft gewesen, bevor sie auch nur ihre Waffen angefaßt hatten.

Und ich habe nur eine Hand, und meine Kräfte lassen nach.

»Rückzug«, keuchte Hornfell, »Stellung aufheben, Stanach! Ich kann mich selbst decken. Du wirst im Torhaus gebraucht!«

»Ich werde hier gebraucht«, grollte Stanach.

Er schlitzte seinem Gegner den Arm auf. Der Knochen glänzte weiß. Der Theiwar schnappte nach Luft, der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken.

Stanach konnte ihn von seinen Augen ablesen.

Als das Blut dampfend in die kalte Luft hochspritzte, duckte sich Stanach ausweichend und unterdrückte gewaltsam seinen Drang, sich zu übergeben. Als Stanach seine Stellung wieder eingenommen hatte, mußte er sich gleich dem nächsten Gegner stellen. Realgar.

Sturmklinge mit dem Saphirgriff war zum tödlichen Schlag erhoben. Realgars Augen blitzten vor Haß wie das Herz eines tobenden Feuers. Aus diesen Augen sprach der Tod.

Er schwang sein eigenes Schwert zur Abwehr hoch und wußte erst, daß die Parade gelungen war, als er das Klirren von Stahl auf Stahl hörte und die betäubende Vibration von Sturmklinges Schlag gegen sein Schwert fühlte. Stanach stellte sich mit ganzem Gewicht hinter sein Schwert und hielt mit aller ihm verbliebenen Kraft.

Seine Kraft reichte nicht aus. So unaufhaltsam, wie die Monde ostwärts über den Himmel wanderten, kam Sturmklinge näher und näher.

Stanach roch das Blut anderer Zwerge und sah es langsam an Sturmklinges glattem Stahl herunterlaufen.

Irgendwo im Hinterkopf dachte Stanach, daß sich jetzt ein Kreis schloß. Er würde durch die Klinge sterben, für die er sein Leben und das Leben vieler Freunde riskiert hatte.

Realgar zischte, und Stanach, der fühlte, wie die Muskeln seines Schwertarms zu zittern begannen, hörte aus diesem Zischen Gelächter heraus.

Jemand brüllte wild und kitzelte ihn in den Kniekehlen. Sturmklinges Stahl durchschnitt die Luft, wo Stanachs Hals gewesen war.

Er knallte auf die geborstenen Fliesen und rutschte auf dem blutverschmierten Boden aus. Um Atem ringend, tastete Stanach blind nach seinem Schwert.

»Hoch!« schimpfte Lavim. »Hoch, Stanach, alter Junge! Komm schon! Steh auf! Da kommen noch mehr! Sieh nur!«

Stanach sprang, immer noch nach Luft schnappend, auf die Beine. In Panik blickte er sich um. Ja, mehr! Er lachte laut. Die meisten Zwerge, die er sah, trugen das Rot und Silber der Daewars!

»Freunde, Lavim! Das sind die Krieger von Gneiss!«

Stanach holte tief Luft und erkannte da, daß das tiefe Lied der Bogensehnen und surrenden Pfeile aufgehört hatte. Das Klirren von Stahl auf Stahl erklang jetzt nur noch in der großen Halle. Im Torhaus hinter ihnen breitete sich Stille aus. Benommen starrte er den alten Kender an, der ihm wieder einmal das Leben gerettet hatte. »Wo – wo ist der Lehnsherr?«

Die Arme des Kenders waren fast bis zu den Schultern von Blut gerötet, und sein alter, schwarzer Mantel hing in Fetzen von ihm herab. Auf seiner runzligen Wange bildete sich ein dicker Bluterguß, und quer über seine Stirn lief eine tiefe Schramme. Aber er stand noch, und seine grünen Augen strahlten.

»Ich weiß nicht genau«, sagte Lavim. »Er könnte im Torhaus sein. Er rannte zu Tyorl zurück. Stanach, dieser Zwerg mit dem irren Blick, der dir den Kopf abhacken wollte, folgte ihm! Pfeifer sagt, daß er es ist, der Hornfell töten will.«

»Pfeifer sagt…« Stanach schüttelte den Kopf. Pfeifer sagt… Aber er hatte jetzt keine Zeit, über tote Zauberer nachzudenken. Er mußte Hornfell finden. »Wer kämpft noch?« fragte Stanach. »Finn hat eine Schwertwunde am Bein. Hauk geht es gut. Kelida ist verletzt, aber ich habe gerade Kern gesehen, und der sagt, daß sie durchkommen wird.« Lavim verstummte.

»Lavim«, sagte er mit außergewöhnlicher Ruhe, »wer ist noch verletzt?«

»Ich… ich weiß nicht, ob Tyorl durchkommt – «

»Was ist mit ihm?« fauchte Stanach. »Der Zwerg mit dem irren Blick – er hat Hornfell gejagt, und Tyorl ist dazwischengeraten und – Sturmklinge…«

Stanach sah sich langsam in der Halle um, als ob er die Worte des alten Kenders nicht gehört hätte. Neunundzwanzig Theiware lagen tot oder sterbend am Boden. Realgar war nicht darunter, und Stanach wußte nicht, wo Hornfell war. Lavim wußte nicht, ob Tyorl es schaffen würde. Stanach redete grob, weil er einen Kloß aus Angst und aufsteigendem Kummer hatte. »Ich muß den Lehnsherrn finden. Ich… ich muß einfach, Lavim. Ist Hauk bei Kelida?«

»Ja.«

»Hol ihn. Er hat noch eine Rechnung offen. Sag ihm, daß ich weiß, wo er sie begleichen kann.«

Lavim sah ihm nach und merkte erst zu spät, daß er in der Aufregung der Schlacht und der Freude über das Wiedersehen vergessen hatte, Stanach von dem Drachen zu erzählen.

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