28

»Freund!« brüllte Stanach. »Hornfell! Freund!« Es war nicht Stanachs lautstarke Versicherung, die Hornfell davon überzeugte, daß er kein Feind war. Es war die einfache Tatsache, daß Stanach – noch während er »Freund« brüllte – seine Behauptung bewies, indem er einem Theiwar den Arm aufschlitzte, der seinem Lehnsherrn mit einem tödlichen Kurzschwert in den Rücken fallen wollte, und auf dem Rückweg einem weiteren von Realgars Kriegern den Bauch aufriß.

Hornfell fletschte die Zähne zum grüßenden Lachen der Krieger. Doch, das war ein Freund. So wie der vierschrötige Mensch, der Stanachs Rücken deckte. Seine Schwertklinge war vom Blut gerötet, und das Licht in seinen Augen leuchtete wie Guyll Fyr.

Stanach sah sich wild in der großen Halle um. Er suchte den Ort ab wie ein Wolf, der von Jägern in einer Schlucht gestellt wurde. Wie ein Wolf wollte er einen Ausweg aus der Falle, und dieser Wunsch ließ jeden Muskel zucken. Als er das Schlupfloch gefunden hatte, leuchteten seine Augen auf.

Die Wache hatte Realgars Theiware einen Augenblick von Hornfell weggetrieben. Im Moment war er daher nur noch von den beiden Neuankömmlingen bewacht.

»Wer ist im Torhaus?« brüllte Hauk.

»Niemand.« Hornfell holte tief Luft und blickte auf den Daewar, der für ihn gestorben war. »Da wollten wir hin, als Realgar angriff.«

Der junge Mann zuckte grinsend die Achseln. »Also dann los. Stanach?«

Stanach nickte, während er immer noch die große Halle absuchte, als ob er nach jemandem Ausschau hielte. Hornfell hörte ihn leise fluchen. Stanach stieß seinen Kameraden mit dem Ellbogen in den Rücken und zeigte mit der blutbefleckten, verbundenen Rechten in eine Richtung.

Ein Menschenmädchen mit blutigen Händen und einem Gesicht, das so weiß war wie Solinari, stand mit dem Rücken zu einer der hohen, tragenden Säulen. Sie wehrte drei Zwerge in schwarzsilbernen Uniformen mit einem Dolch ab, und wenn der sein Ziel verfehlte – was oft der Fall war –, trat sie heftig um sich. Das Mädchen war unterlegen und würde sich nicht mehr lange halten können.

»Hauk! Da ist Kelida! Hol sie und rennt zum Torhaus!« Stanach faßte sein Schwert fester und nickte seinem Lehnsherrn kurz zu. »Ich decke deinen Rücken, Hornfell.«

Stanach war die einzige Deckung, die er hatte, doch Hornfell vertraute auf ihn. Er rannte zum Torhaus.


Pfeifer untersuchte, sooft er konnte, die Grenzen seiner Zwischenwelt und entdeckte jedesmal, daß er mehr Spielraum hatte als zuvor. Es war nicht so sehr eine Frage der Fähigkeit weiterzukommen, sondern eine Frage der Fähigkeit, mehr zu wissen.

Er war jetzt an keine Dimension mehr gebunden, weder vor noch zurück, weder rauf noch runter. Er konnte hören, was seine Gefährten hörten, und mehr: Er konnte die Gedanken der Leute in seiner Umgebung lesen.

So bekam er mit, daß Lavim, Tyorl und die Waldläufer in dem Hohlweg nicht allein waren, obwohl sie das glaubten.


Durch die turmhohen Felswände des engen Hohlwegs konnte der Rauch perfekt abziehen, und das begünstigte das Feuer, das an den Hängen des Berges sowohl über als auch unter den Gefährten tobte. Tyorl fluchte verbittert.

Die Luft war jetzt schon von dichtem schwarzen Rauch erfüllt. Er erstickte fast am Brandgeruch. Tränen liefen ihm übers Gesicht, weil der Rauch so in seinen Augen biß.

Tyorl fragte sich, ob Pfeifer immer noch seine Gedanken las, und lachte spöttisch. Finn würde sagen, er sollte sich lieber fragen, ob er noch ganz richtig im Kopf sein konnte, wenn er sich auf die Führung eines Gespenstes verließ.

Irgendwo da vorn liefen Kernbal und Finn voran, die man nicht mehr sehen, sondern nur an ihrem tiefen, röchelnden Husten erkennen konnte. Lavim folgte ihm bis auf ein leises Keuchen lautlos.

Tyorl gefiel der Klang dieses jämmerlichen Keuchens nicht. Als er sich umdrehte, um zu sehen, wie der Kender vorwärts kam, bemerkte er, daß Lavim es ohne Hilfe nicht bis zum Ende des Hohlwegs schaffen würde.

Er ergriff Lavims Arm, um ihn zu stützen. Dann hockte er sich neben Lavim. »Wir können jetzt nicht rasten, Lavim. Laß mich dir helfen.«

Lavim schüttelte den Kopf. »Nein«, japste er. »Es geht mir gut, Tyorl, wirklich, das stimmt.«

Es ging ihm überhaupt nicht gut. Der schwarze Ruß auf seinem Gesicht verbarg nicht die graue Blässe, und die vom Rauch verursachten Tränen konnten seine trüben Augen nicht verstecken. Die schmutzige, schwere Luft schien gerade so weit in seine Lungen zu dringen, daß er sie wieder aushusten konnte.

»Bitte, Lavim.« Er faßte den Kender sanft, aber fest an den Schultern. »Bitte. Ich habe keine Zeit für Diskussionen. Steig schon auf. Ich nehm dich huckepack, bis die Luft wieder besser ist.«

Lavim schüttelte den Kopf, und seine trockenen, aufgesprungenen Lippen preßten sich stolz und fest zusammen. »Ich schaffe es schon, Tyorl. Ich – «

Tyorl platzte der Kragen.

»Keine Widerrede!«

In diesem Moment hatte er nicht Lavim vor sich, der ihn sprachlos mit großen, grünen Augen ansah. Er hatte die Gesichter all jener vor sich, die er verloren hatte, die die kalten Hände von Krieg und Tod ihm entrissen hatten.

Hauk und Kelida.

Die Freunde, neben denen er im Frühling gekämpft hatte, die jetzt tot waren und deren bloße Knochen nur noch in seiner Erinnerung als Körper lebten.

Der junge Lehr, der den schwarzen Drachen angegriffen hatte und dafür gestorben war. Stanach, störrisch wie ein Esel!

Und Pfeifer, der Zauberer.

Ich bin von Geistern umgeben!

»Schluß damit!« schimpfte er, wobei ihm die Stimme in der trockenen Kehle brach. Er sah, wie Lavim zusammenzuckte, und verstand kaum den Grund, so tief hielt ihn die Welle aus Angst und Trauer gefangen, die über ihn hinwegspülte. »Hör mir zu, Lavim! Schluß damit!«

Tyorl sah seine weißen Knöchel, die die Schultern des Kenders umklammerten, und begriff vage, daß es ihm weh tun mußte. Er versuchte, seinen Griff zu lockern, doch es gelang ihm nicht. Er wußte nicht, wie er etwas anderes tun sollte, als was er gerade tat: den Kender so festhalten, daß nicht einmal der Tod ihn ihm entreißen konnte.

Lavim quiekte, um dann instinktiv stillzuhalten. Er langte hoch und nahm die Hände des Elfen in die eigenen. Langsam nickend, als würde er endlich verstehen, brachte Lavim ein Lächeln zustande.

»Na gut, Tyorl. Na gut. Ich denke, ich könnte eine Pause gebrauchen. Huckepack ist gut. Aber wir sollten uns sputen, sonst verlieren wir Finn.«

Die Arme um Tyorls Hals und die Beine um seinen Leib geschlungen, versuchte Lavim, sein Gewicht so gleichmäßig wie möglich zu verteilen. Wahrscheinlich, dachte er, bin ich gar nicht so schwer.

Er findet, du wiegst ungefähr soviel wie ein halbverhungertes Kind, Lavim. »Doch, ja, ›halbverhungert‹ stimmt.«

Tyorl schaute sich um. »Was?«

»Pfeifer sagt, wir sind schon fast da.«

Hab ich nicht gesagt. Aber du hast recht, wir sind fast da. Sag ihm, daß ich weder meinen Verstand noch den Weg verloren habe. Nur noch eine Meile durch den Hohlweg, dann sind wir in Nordtor.

»Nur noch eine Meile, Tyorl. Ich kann – «

Und biete ihm bloß nicht an zu laufen. Dir zu helfen, ist das einzige, was ihm noch bleibt. Glaubt er. Laß ihn helfen.

»Ich kann die Pause wirklich gebrauchen, danke.« Lavim seufzte. »Pfeifer sagt, ich soll dir sagen, daß er weder seinen Verstand noch die Orientierung verloren hat.«

Er spürte die Überraschung des Elfen, der unwillkürlich die Luft anhielt. Als Tyorl sprach, triefte seine Stimme vor Sarkasmus.

»Ich hätte nichts dagegen, wenn er es mal lassen würde, meine Gedanken zu lesen.«

»Manchmal«, sagte Lavim, »verstehe ich, was du meinst.«

Pfeifer blieb nicht lange still. Lavim hatte sich gerade erst an den unbequemen Rhythmus von Tyorls Trab gewöhnt (wie bei einem Bergpony, das auf einem Bein lahmte, fand er), als Pfeifer ihn aus seinen Gedanken schreckte.

Drache!

»Drache!« quietschte Lavim.

»Drache«, wiederholte Tyorl, »wo?«

Auf dem Berg!

»Auf dem Berg!« Der alte Kender glitt von Tyorls Rücken, fummelte nach seinem Dolch und schrie nach den Waldläufern. »Finn! Kern! Drache auf dem Berg!«

Tyorl erhaschte Lavims Arm und seine Aufmerksamkeit. »Wo auf dem Berg? Wo, Lavim?«

Lavim erschauerte und preßte die Augen fest zu, weil ihn gleichzeitig Tyorl etwas fragte und Pfeifer darauf antwortete. Er tat sein Bestes, alles auseinanderzusortieren, aber sein Kopf füllte sich mit den verwirrenden Echos von Pfeifers Stimme, seinen eigenen Gedanken und dem Drängen von Tyorl und den Waldläufern.

Während er mit allen gleichzeitig redete und sich vorkam, als würde er Selbstgespräche führen, versuchte Lavim zu antworten. »Wo, Tyorl? Auf den Gipfeln… oben… hinter dem Grat… Was? Was sagst du? Schon gut! Schon gut!«

Wie aus großer Entfernung hörte der Kender Finn etwas murmeln und Tyorl antworten. Lavim umklammerte den Arm des Elfen, weil sein Herz jetzt so klopfte und er nach Luft japste. »Er will den Hylar-Lehnsherrn töten! Den Kerl, von dem Stanach die ganze Zeit geredet hat!«

»Wen, Lavim? Was redest du da, und wo ist der Drache?« Lavim schüttelte heftig den Kopf, um klar denken zu können. »Der Drache ist auf dem Berg, hinter den Gipfeln über Thorbardin. Da ist ein Zauberer, ein Zwerg, und der will Stanachs Lehnsherrn umbringen. Er denkt jetzt gerade darüber nach, Tyorl. Er will es bald tun – und – und es wird einen Kampf oder so etwas geben – Stanach ist da! Und Kelida!«

Wie vor den Kopf gestoßen, konnte Tyorl nur noch geradeaus starren. Es war Finn, der sprach.

»Kender, was redest du da? Stanach und das Mädchen sind tot.«

Lavim drehte sich zu Tyorl und zerrte am Arm des Elfen. »Tyorl, Pfeifer weiß, wovon er redet. Es geschieht jetzt – das, wovor Stanach die ganze Zeit Angst hatte!«

Tyorl zweifelte nicht an der Glaubwürdigkeit von Pfeifers Bericht. Er sah sich um, sah in den raucherfüllten Hohlweg und auf die Schatten, die sich hoch oben auf dem Berg sammelten. Schatten von Drachen und Krieg. Er fühlte Finns Unglauben und seine Verwirrung.

»Lavim«, sagte er langsam und vorsichtig, »jetzt beruhige dich. Frag Pfeifer, ob es wirklich jetzt passiert.«

Nein, aber bald.

Lavim schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt – aber bald. Tyorl, wir müssen nach – «

»Wo sind Stanach und Kelida?«

»In Thorbardin. Sie sind da, Tyorl, mit…« Lavim senkte den Kopf, während er Pfeifers tonlosen Worten lauschte. Seine Augen wurden weit vor Staunen. »Mit Hauk. Es geht ihm gut! Pfeifer sagt, wir sind jetzt ganz nah bei Nordtor. Nur noch eine Viertelmeile den Hohlweg entlang. Vielleicht kommen wir noch rechtzeitig, Tyorl.«

Finn schnaubte. »Genau, vielleicht. Vielleicht laufen wir auch falsch. Tyorl, der Rauch ist jetzt so dick, daß wir kaum die Hand vor Augen sehen können. Die Gefahr, daß wir am Tor vorbeilaufen, ist zu groß.«

Lavim antwortete rasch. »Oh, nein, wir laufen nicht vorbei. Direkt vor dem Tor wird aus dem Hohlweg ein Sims, und der ist ziemlich eng. Vielleicht fünf Fuß breit. Den können wir nicht übersehen.«

Finn starrte den Kender an. »Sollten wir auch besser nicht, was? Da geht es dreihundert Meter ins Tal runter. Was sagt dein Geist denn dazu?«

Es konnte nichts Unschuldigeres geben als Lavims Gesichtsausdruck bei der Antwort. »Er sagt, du solltest am besten nicht danebentreten. Er sagt, du willst bestimmt nicht vor dem Tor gefangen werden, falls der Drache uns bemerkt, also sollten wir uns lieber beeilen.«

Die Wut tobte in Realgar so wie das Guyll Fyr im Tal unter Nordtor. Sein Anschlag auf Hornfell war gescheitert! Sein Zorn benebelte seinen Verstand. Er hörte nur noch seine eigenen mörderischen Gedanken, und das Stöhnen der Sterbenden seiner eigenen Garde und der Daewar, die Hornfell verteidigt hatten, drang nur als fernes Flüstern bewußt in seinen Kopf. Dann knurrte kalt und dunkel die geistige Stimme von Nachtschwarz, der auf den Höhen über Thorbardin lauerte in seinem Geist. Stotternd schaltete der Theiwar auf Gedankensprache um. Bist du bereit?

Ja, bereit. Ich bin hungrig, und ich wittere Blut. Da lächelte Realgar. Geduld, mein Freund. Bald wirst du reichlich Futter bekommen. Dann kannst du unter den Hylaren auswählen.

Nachtschwarz gehorchte. Dünne Fäden seiner Begierde trieften durch Realgars Seele und verknoteten sich mit seiner eigenen.

Realgars Daumen glitt über den Handschutz von Sturmklinge. Er fühlte das feurige Herz der Klinge wie ein wildes Lied in seinem Herzen. In der Halle war es jetzt still bis auf das Stöhnen der Sterbenden und Verwundeten. Frisches Blut befleckte die Pflastersteine auf dem Hof und war auf die Wände und die Säulen gespritzt. Er zählte zwanzig Tote aus seiner eigenen Garde, dreißig von Hornfells Verteidigern.

Er hatte nicht alle getötet. Realgar fluchte bitter. Er hätte die beiden Menschen töten müssen und sich davon überzeugen sollen, daß Hammerfels’ Lehrling wirklich und wahrhaftig tot war! Hammerfels’ Lehrling! Der hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ohne seine Hilfe wären die beiden Menschen immer noch stockblind und sicher verwahrt in den Tiefen Höhlen, bis Realgar mit ihnen abrechnen konnte.

Wenn dieser verdammte Grünschnabel von Lehrling sich nicht eingemischt hätte, säße Hornfell nun nicht verschanzt im Torhaus.

Realgar schloß die Augen und atmete tief durch, während er nachdachte. Er ordnete seine Gedanken, und mit der Ordnung kam die Lösung.

Obwohl zwanzig seiner Männer tot waren, hatte er immer noch sechs Unverletzte, die so aussahen, als warteten sie nur darauf, den Tod ihrer Kameraden zu rächen. Sie reichten zwar nicht aus, um das Torhaus zu stürmen, aber sie würden Hornfell und seine drei Beschützer davon abhalten, einen Ausbruchsversuch zu unternehmen.

Bald, dachte er, wird er sein Schlupfloch satt haben. Es gibt keinen Fluchtweg. Die zwei Wachmannschaften sind tot, seine Leibwache ebenfalls. Also kann er keine Hilfe holen. Realgar lachte laut. Schon bald würden alle, die Hornfell womöglich helfen würden, eilig vor dem Feuer der Revolution fliehen.

In dem sicheren Wissen, daß der dreihundert Meter tiefe Abgrund zum Tal unter Nordtor Hornfell gefangenhalten würde – und wenn nicht er, dann Nachtschwarz! –, rief Realgar eine Wache zu sich.

»Beordere fünf Einheiten nach Nordtor. Mach ihnen Beine.«

Der Soldat rannte davon, zurück in den Nordgerichtshof und die geheimen Gänge unter dem zerstörten Tempel. Es standen Theiware bereit, um die Stadt der Klar anzugreifen. Unter denen würde er die Derros finden, die sein Herr brauchte.

Realgar streichelte Sturmklinges flache, blutige Klinge.


Hornfell lauschte auf die Todesschreie der Sterbenden. Hier im Torhaus konnte er nicht unterscheiden, ob sie von Freund oder Feind stammten. Jetzt nach dem Kampf zitterten seine Muskeln vor Erschöpfung, und seine Lungen schmerzten vom hereinziehenden Rauch des Guyll Fyr. Hornfell lehnte sich an den breiten Pfeiler des riesigen, alten Tormechanismus. Eigentlich war es egal, wer da schrie. Es waren Todesschreie. Ob verräterische Theiware oder Gneiss’ treue Krieger – es waren Zwerge.

Er erschauerte. Ob sie es wahrhaben wollten oder nicht, sie waren verwandt. Und Bruder hatte gegen Bruder gekämpft – wie in den Zwergentorkriegen.

Damals, dachte er verbittert, kämpften sie darum, nicht zu verhungern. Heute kämpfen wir um die Herrschaft.

Das Schwert, das Realgar schwang, war das Königsschwert. Hornfell hatte Sturmklinge heute zum ersten Mal gesehen. Sturmklinges Stahl mit dem feurigen Herzen war durch Gneiss’ Krieger gefahren wie die Sense durch den Weizen. Das Königsschwert war wieder in Thorbardin.

Hinter sich hörte er das ruhelose Auf- und Ablaufen des Kämpfers mit den hungrigen Augen, den sie Hauk nannten. Im Kampf schlug er mit der Schnelligkeit eines Raubvogels zu. Und in seinen Augen loderte das wilde Feuer eines Falken.

Das Mädchen mit dem dünnen, blassen Gesicht eines Hungerleiders hieß Kelida. Hornfell fragte sich, wer ihr diesen Namen gegeben hatte, und ob diejenigen gewußt hatten, daß sie auf Zwergisch Wanderer hieße, wenn man das d in ihrem Namen weicher aussprach. Kelye dha: die Wandernde.

Eine mit dicken, blutigen Verbänden umwickelte Hand berührte Hornfell an der Schulter. Er sah sich um und begegnete den schwarzen, blaugesprenkelten Augen eines Sohnes von Clarm Hammerfels.

Hornfell seufzte. »Ich verdanke dir mein Leben.«

»Fangen wir lieber nicht an aufzurechnen, Lehnsherr Hornfell, bevor wir einen Weg hier raus gefunden haben.«

»Recht vernünftiger Rat, junger Stanach.«

Stanach lächelte mühsam. Obwohl es ein bitteres Lächeln war, ließ es die zackige, rote Narbe in seinem Gesicht weicher erscheinen.

»Genau. Wie unser ruheloser Freund Hauk sagt, sitzen wir wunderbar in der Falle und brauchen nur darauf zu warten, bis uns unsere Jäger fertigmachen«, sagte Stanach. »Und was meinst du, Lehnsherr?«

»Ich denke, daß er recht hat. Entweder müssen wir durch die große Halle oder durch das Tor. Wir können nicht fliegen, und wir sind nur vier. Realgar läßt wahrscheinlich gerade Verstärkung holen. Ich sage: Wenn die Jäger uns haben wollen, dann sollen sie kommen und uns holen. Wenn sie das tun, sollen sie vorher ihren Frieden mit Reorx machen. – Diese Jäger sollen sich ihre Beute teuer verdienen. Wir sind zwar zahlenmäßig unterlegen, aber wir haben reichlich Waffen. Das hier ist nicht nur ein Torhaus, sondern auch eine Waffenkammer.«

Stanach nickte ernst.

»Warte.« Hornfell holte kurz Luft, als würde er die Frage nur ungern stellen. »Kyan Rotaxt und Pfeifer?«

»Ihre Steingräber stehen in der Außenwelt, Lehnsherr«, sagte Stanach schlicht. Er brauchte nicht mehr zu sagen. Bergzwerge wissen, daß man einen Tod nicht trostloser ausdrücken kann.

»Geh und bewaffne das Mädchen mit etwas Geeigneterem als dem Dolch«, sagte Hornfell leise. Dann wurde seine Stimme fester. »Keine Rüstung und kein Helm von uns wird Hauk passen, aber es könnte für sie etwas Passendes geben. Schau auch nach, was du für uns finden kannst. Realgar hat vielleicht nur wenige Gegner, aber wir werden vorbereitet sein.«

Kelye dha. Eine Wandernde. Bekleidet mit einem abgetragenen elfischen Jagdanzug und einem geliehenen Zwergenkettenhemd, das an den Schultern zu breit und am Rumpf zu kurz war, trat Kelida von einem Fuß auf den anderen, um sich mit dem ungewohnten Gewicht der Rüstung vertraut zu machen. Der Westgang des Torhauses führte in die Quartiere der Wachen. Einfache, wenig komfortable Kojen waren in die Rückwand getrieben, während an den Seitenwänden Speere, Armbrüste und Schwerter aufgereiht waren. An beiden Seiten der Tür standen Truhen voller Bolzen für die Armbrüste.

Einige Sonnenstrahlen fielen durch das Tor in das Steinhaus, obwohl die Luft voller Rauch und Asche war.

Guyll Fyr, dachte Stanach. Er hatte den Brand vom Tor aus gesehen: ein unendliches Flammenmeer. Nur der schmale Steig an der Wand trennte ihn von dem dreihundert Meter tiefen Fall in das brennende Tal, so daß es Stanach erschien, als stünde er am Rande der Welt.

Stanach schüttelte den Kopf, als Hauk Kelida einen glänzenden Eisenhelm auf den Kopf setzte. Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Nasenschutz, der ihr die Sicht nahm. Sie zog eine Grimasse und grinste einfältig.

»Lyt Chwaer, schau unter dem Nasenschutz durch, wie du unter deine Hand durchguckst, wenn du deine Augen vor der Sonne schützen willst. Versuch, den Nasenschutz nicht zu sehen.« Sie nickte, was schwierig war, weil sie nicht an das Gewicht des Helms gewöhnt war. »Ich komme mir dumm vor, Stanach. Wie ein Kind, das Verkleiden spielt.«

Mit einer Zärtlichkeit, die Stanach vorher nicht an ihm gesehen hatte, schnallte Hauk den Helm fest und streichelte Kelida über das Gesicht. Dann hob er ihr Kinn an, um ihr einen kurzen Kuß zu geben.

Stanach sah ihre Schultern beben, blickte zur Seite und sagte: »Dumm oder nicht, Kelida, jetzt ist einer dieser Tage, an denen das Kostüm vom Ereignis bestimmt wird. Ich wäre glücklicher, wenn du ein Schwert nehmen würdest.«

Kelida strich mit hellen Augen über ihren Dolchgriff. »Nein. Mit einem Schwert kann ich nicht umgehen. Mit einem Dolch schon. Zumindest einigermaßen.«

Es klang wie eine von Lavims Ausreden. Stanach mußte lächeln.

»Genau«, sagte Hauk, »und wenn der sie im Stich läßt, gibt es immer noch genug Zwerge, die es bedauern werden, in Reichweite ihrer Füße gekommen zu sein.« Er schob sie sanft zur Tür. »Kelida, nimm ein paar Schwerter vom Gerüst und bring sie Hornfell. Nimm die besten, denn er ist der Lehnsherr der Hylaren. Stanach und ich wollen sehen, was wir mit dem Rest anstellen können.«

Als sie fort war, ließ sich Hauk auf einer der harten Pritschen nieder. Alle Zärtlichkeit, die er ausgestrahlt hatte, solange er mit Kelida redete, war verschwunden.

»Stanach, wir werden hier sterben.«

»Ich kann dem nicht widersprechen.«

Hauk lächelte finster. »Ich auch nicht. Ich habe gehört, daß du lyt Chwaer zu ihr sagst. Was heißt das?«

»Das heißt ›kleine Schwester‹ auf Zwergisch.«

»Gut, wenn du es so meinst.«

Da sah sich Stanach um. Genau, dachte er, sie hat mich gelehrt, was das heißt. »Ein Zwerg rechnet Fremde nicht einfach so zur Familie.«

Die Spur eines Lächelns zuckte über Hauks Gesicht. »Da bin ich froh. Es ist ein schmutziges Spiel, in dem wir stecken, Freund Stanach. Sie geht da zu deinem Lehnsherrn raus mit dem Mut eines Kriegers, aber ohne dessen Fähigkeiten. Denen, gegen die sie kämpft, wird das gleichgültig sein. Sie wird als erste fallen, und das weißt du. Gibt es einen Ausweg für sie? Einen Platz, wo sie sich verstecken kann?«

Stanach schüttelte den Kopf. »Sie könnte sich nur hier drin verbarrikadieren.«

Hauks Miene verriet ihm, daß er das für eine gute Idee hielt, und der Zwerg fügte hinzu: »Damit wird sie niemals einverstanden sein. Ich will dir mal was sagen, Hauk: Sie hat einen Drachenangriff auf ihren Hof und die Besetzung von Langenberg überlebt, und sie ist auf einem Drachen über die Ebene der Toten geflogen. Du wirst sie nicht leicht überzeugen können, daß sie sich jetzt hier verstecken soll. Und ich finde nicht, daß du es überhaupt tun solltest. Sie hat einiges an Respekt verdient.«

Draußen im Gang hörten sie Hornfells leisen Ruf. »Es ist soweit, Stanach. Sie sind da, und es sind viele.«

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