29

Der Wind trieb den Rauch von dem großen Brand im Tal vor sich her und blies ihn durch den Hohlweg, wo er in Tyorls Lungen drang. Verzweiflung erfüllte sein Herz. Obwohl es nur das Heulen des kalten Bergwinds war, stellte er sich vor, daß er den schrillen Kampfschrei eines Drachen hörte.

Ich rieche keinen Drachengeruch, sagte er sich. In diesem Rauch kann ich sowieso nichts anderes als Asche und Ruß riechen!

Trotzdem konnte er die Angst nicht verdrängen, das Gefühl, daß etwas Riesiges und Todbringendes mit Krallen und Reißzähnen ihn geduldig belauerte, bis er in Reichweite kam.

Im Vergleich zu dem Entsetzen des Waldläufers angesichts der Höhe, in der er sich jetzt bewegte, erschien ihm die Angst vor dem Drachen jedoch wie der unbegründete Alptraum eines Kindes.

Tyorl schaute kurz über die Schulter zurück. Er und Lavim bildeten die Vorhut. Lavims Kraft war mit dem Grad seiner Aufregung gewachsen. Und wie bei allen Kendern wuchs seine Aufregung im gleichen Maße wie die Gefahr. Tyorl war der einzige, der Lavims Drang bremsen konnte, seinen Gefährten zu weit vorauszueilen, über den Sims zu spähen oder einfach mal ein bißchen an der Wand hochzuklettern, um in das brennende Tal hinunterzusehen.

Mit zitternden, vor Angst und Erschöpfung schwachen Beinen drückte der Elf sich rücklings gegen die vereisten Steine, die einst die Mauer von Thorbardins Nordtor gebildet haben mußten. Er wartete auf Finn und Kern, die unerträglich langsam und vorsichtig über einen Geröllhaufen kletterten.

Vor ihm vergnügte sich Lavim damit, von einem Vorsprung, der nicht breiter war als eine Fußlänge, Steine in die windgepeitschte Tiefe zu treten.

Tyorl schloß die Augen, um die plötzliche Übelkeit in den Griff zu bekommen, stellte allerdings fest, daß nichts zu sehen noch schlimmer war als der Ausblick in die Tiefe. Er schluckte und zwang sich, die Augen wieder aufzumachen.

Obwohl die Macht der Götter, die während der Umwälzung entfesselt worden war, riesige Teile der Mauer von Nordtor abgerissen hatte, war der Zerfall wählerisch gewesen. An manchen Stellen – wie da, wo Tyorl jetzt um sein Gleichgewicht bangte – klaffte der rohe Fels des Berges wie eine offene Wunde. An anderen war noch die saubere Arbeit der Steinmetze zu sehen. Besonders verräterisch war der Pfad in den Nischen und Spalten, die von jahrhundertealtem Geröll verdeckt waren.

Gelegentlich verengte sich der Pfad auf weniger als einen Meter. Kein Platz für Steine, dachte Tyorl, kaum Platz genug für einen landenden Adler!

Lavim tauchte neben ihm auf. Seine grünen Augen waren weit aufgerissen, und sein rußverschmiertes Gesicht strahlte vor Entzücken.

»Tyorl, ist das nicht phantastisch? Von hier aus kann man die ganze Welt sehen! Einfach alles! Ich habe das Moor gesehen, und ich glaube auch Schädeldach. Es brennt nicht mehr – das Moor, meine ich. Schädeldach kann sowieso nicht brennen, weil es ja aus Stein ist.

Ich wette, man könnte bis nach Langenberg sehen, wenn nicht so viele Berge im Weg wären. Ich wette, man könnte bis zum Meer und nach Enstar und noch weiter sehen. Natürlich nur, wenn dahinter noch etwas ist. Aber das weiß ich nicht, ob da was ist.

Mein Vater hat mir mal erzählt, daß es hinter dem Meer weitere Länder gibt, aber er kannte niemanden, der wirklich dagewesen ist. Ich vermute mal, daß es da noch andere Länder gibt. Vielleicht sind die Leute da hingegangen, und es hat ihnen so gut gefallen, daß sie einfach keine Lust mehr hatten, zurückzukommen.«

Der Wind pfiff über den Sims. Lavim hob seine Stimme, um gehört zu werden.

»Unten in den Hügeln, wo wir aus der Ebene kamen, habe ich überlegt, daß ich das Herumwandern eigentlich aufgeben könnte. Jetzt glaube ich das nicht mehr, Tyorl. Ich glaube – wenn wir diesen Hornfell gerettet haben und deinen Freund Hauk und Kelida und Stanach wiedergefunden haben –, ich glaube, dann werde ich mich mal in der Gegend hinter Enstar umsehen.«

Es folgten Mutmaßungen eines glücklichen Kenders, wie diese möglichen Länder hinter Enstar wohl aussehen mochten, wie die Menschen dort sein würden, wie lange man brauchen würde, um hinzukommen, ob es dort noch andere Kender geben würde…

Tyorl seufzte und ließ Lavim fortfahren, wobei er nur halb seinen Träumen und Gedankenspielereien zuhörte. Es war sinnlos, ihn zum Schweigen zu bringen. Wenn ein Drache da oben lauerte, wie Pfeifer gewarnt hatte, dann wußte der sehr wohl, daß sie sich dem Tor näherten.

Es wäre ohnehin leichter gewesen, eine Lawine zu bremsen als den Wortschwall des Kenders. Der war seit dem Torfmoor nicht sehr redselig gewesen. Überrascht stellte Tyorl jetzt fest, daß er Lavims Schwatzen vermißt hatte.

Finn gefror der Schweiß auf dem Gesicht, und aus seinen vom Wind gereizten Augen liefen Tränen, als er neben Tyorl auftauchte. Hinter dem Anführer stieg Kernbal vorsichtig durch die letzten Felsbrocken, die den Sims versperrten. Tyorl wartete, bis die beiden wieder sicher standen. Dann fragte er Lavim:

»Wie weit ist es noch bis zum Tor?« Der Kender zuckte mit den Schultern. »Nur noch um die nächste Ecke. Ich habe gerade einen Blick darauf geworfen, als du mich vorhin zurückgepfiffen hast. Wir sind wirklich fast da, Tyorl.«

»Und was ist mit diesem angeblichen Drachen?«

Lavims Augen wurden unbestimmt. Dann grinste er wieder und nickte wie zur Antwort auf eine Information von Pfeifer. Er zeigte direkt die Klippe hoch.

»Gleich da oben. Er ist in einer großen Höhle im Berg, und Pfeifer sagt, daß er nicht sehr glücklich ist. Es ist ein schwarzer Drache, und die mögen kein Licht, sagt er. Im Moment dringt zuviel Licht in die Höhle.«

»Ein Schwarzer. Besteht die Chance, daß er wegen des Sonnenlichts nicht fliegen wird?«

»Oh, nein«, sagte Lavim mit der entnervenden Fröhlichkeit eines Kenders, auf den von allen Seiten das Unheil eindringt. »Pfeifer meint, daß er das Licht haßt, aber er wird trotzdem fliegen. Wahrscheinlich macht ihn das Licht nur noch wütender. Er sagt, daß ihr deshalb die Drachenangst spürt; er ist jetzt so richtig unglücklich und schmeißt bloß so aus schlechter Laune mit kleinen Angstsprüchen um sich. Wenn er richtig böse wäre und diese Angstsprüche ernsthaft benutzen würde, könntet ihr euch nicht mehr rühren.« Er legte wieder den Kopf schief und nickte dann. »Und Pfeifer sagt, daß er auch ganz genau weiß, daß wir hier sind.«

Finn sah aus, als würde er den Kender nur zu gern umbringen, weil dieser eine solche Nachricht so freimütig weitergab. Kernbal zog so leise wie möglich sein Schwert und preßte sich rücklings an die Felswand.

Tyorl seufzte nur. »Na schön, Lavim, erzähl uns den Rest.«

»Den Rest von was?«

»Warum hat der Drache nicht angegriffen? Weiß Pfeifer das?«

»Äh, das habe ich nicht gefragt…«

»Dann frag!«

»Aha. Ich – oh, ich verstehe. Pfeifer sagt, das kommt daher, daß der Drache wartet. Er weiß, daß wir hier sind und daß er uns jederzeit haben kann, wenn er will – « Finn zischte etwas, woraufhin Lavim mit den Schultern zuckte und es fertigbrachte, gleichzeitig unschuldig und verletzt dreinzuschauen. »Tja, tut mir leid, aber das ist es, was er über die Gedanken des Drachen sagt. Er wartet.« Der Kender funkelte Finn an. »Und frag mich nicht, warum, weil ich es nicht weiß, weil Pfeifer es nicht weiß. Er weiß nur, daß er wartet. Was weiß ich, vielleicht wartet er, daß irgend etwas passiert oder…«

Lavim schluckte herunter, was er hatte sagen wollen. Seine Stimme war nur noch ein bebendes Flüstern, als er sagte: »Ich glaube, wir kommen zu spät.«

Der Kender wurde so blaß, daß Tyorl aus Angst, daß seine Beine nachgeben würden, nach seinem Arm griff. »Lavim, was? Was ist?«

»Wir kommen zu spät – ach, Tyorl, wir werden zu spät kommen!«

»Lavim, was redest du da?«

Lavim entwand sich Tyorls Griff und schoß hinkend und stolpernd den steinübersäten Weg entlang. »Lavim! Nein! Warte!« Instinktiv hechtete Tyorl ihm nach. Und sprang daneben.

Er verlor das Gleichgewicht, sein Knöchel knickte um, und er stürzte hart auf ein Knie. Er fühlte den Schmerz wie Feuer durch sein Bein schießen.

Was er dazu wahrnahm, war nur der lange, schreckliche Fall in das feurige, dreihundert Meter tiefere Tal, die kalte, leere Gewißheit zu sterben. Doch er hatte nicht genug Luft in den Lungen, um zu schreien.

Krächzend erwischte Kernbal seinen Arm. Mit aller Kraft zerrte der Waldläufer Tyorl mit dem Rücken an den kalten Fels der Wand, bevor Finn sich regen konnte.

»Verdammter Kender!« fauchte Finn. »Verdammt soll er sein!«

Steine und Teile des bröckelnden Simses rutschten über den Rand der Klippe und polterten ins Tal hinunter. Kalter Wind blies Tyorl ins Gesicht. Wegen der Panik in seinem Inneren spürte Tyorl ihn kaum. Sein Herz klopfte wild, und in der Kehle fühlte er heiße, brennende Galle aufsteigen. Er wollte sich übergeben, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu.

Seine Hand zitterte so sehr, daß er zwei Anläufe brauchte, um den Arm zu ergreifen, den Kernbal ihm reichte. Tyorl japste nach dem bißchen Luft, das er zum Sprechen brauchte.

»Vergiß den Kender«, flüsterte er, wobei er seltsamerweise lachen wollte, als er das dünne Krächzen hörte, das anstelle seiner Stimme kam. »Das Tor ist hinter dieser Ecke. Helft mir hoch, wenn ihr könnt.«

Finn schüttelte den Kopf. »Nein, setz dich erst hin und atme tief durch. Wenn du jetzt aufstehst, werden dich deine Beine nicht tragen.«

Mit dem Rücken dicht am Felsen drückte Tyorl sich hoch und glitt langsam an der Wand lang. »Wir haben keine Zeit, Finn. Im Berg geht etwas vor sich.«

»Behauptet der tote Zauberer!«

»Ja«, keuchte Tyorl, »behauptet Pfeifer. Ob du es glaubst oder nicht, Finn. Du kannst nicht bestreiten, daß Pfeifer – oder Lavim, wenn du so willst – bis jetzt in allem recht gehabt hat.« Finn leugnete das nicht, gab es aber auch nicht offen zu. Er seufzte nur übertrieben. Finn fiel es leichter, in das brennende Tal hinunter zu blicken, als in das erschütternde Entsetzen in den Augen des Elfen. Er winkte Kernbal. »Du gehst voran.«

Kernbal schob sich vorsichtig an ihnen vorbei. Als er in Sicherheit war, folgte ihm Tyorl mit leichenblassem Gesicht. Hinter ihm kam Finn, und Tyorl fühlte die Augen seines Anführers in seinem Rücken.

Er paßt auf, dachte der Elf, daß ich nicht wieder ausrutsche, aber ich schwöre, daß ich das Gewicht dieses Blicks kaum besser ertragen kann!


Die Sonne ließ nach, denn ihr Licht wurde durch den Filter des Rauchs aus dem fernen Tal getrübt. Lavim drückte sich mit dem Rücken an die Wand und hielt den Dolch in der Hand, während er sich im Schatten des Berges dem Eingang vom Nordtor näherte. Wenn er mit Pfeifer redete, tat er das lautlos. Das muß eine sehr große Tür gewesen sein! Pfeifer sagte nichts.

»Ich sagte«, flüsterte er hörbar, »das muß eine sehr – « Ich hab’s gehört, Lavim. Pst! Jetzt ist keine Zeit für lange Reden. Sie haben nur noch ein paar Minuten – sieh lieber zu, daß du da reinkommst, solange du kannst. »Wer hat – « Bist du still!

Wer hat nur ein paar Minuten? Hornfell und Stanach und Kelida und – Stanach! Und Kelida? Was ist mit Hauk? Ist der auch da? Ich habe so viel von ihm gehört, daß ich mich freuen würde, ihn endlich kennenzulernen. Pfeifer –

Langsame, schwere Schritte näherten sich von drinnen. Lavim spähte sehr vorsichtig um die Ecke des Eingangs. Dann quetschte er sich mit angehaltenem Atem wieder in die Dunkelheit.

Ein Zwerg mit breiten Schultern und einem dichten, langen kastanienbraunen Bart mit silbernen Strähnen kam langsam durch den engen Gang. Seine Kleider waren blutig und zerrissen.

Das ist Hornfell, Lehnsherr der Hylaren. Der da? Wirklich? So sieht ein Lehnsherr aus? Er sollte sich mal richtig ausschlafen und –

Der Zwerg blieb an einer halb geöffneten Tür stehen und lehnte sich an die Steinmauer. Dann richtete er sich rasch wieder auf, als hätte er sich selbst für sein Ausruhen gescholten. Er überprüfte sein Schwert und lief wieder den Gang hinunter, aus dem er gekommen war. Kurz darauf stieß er mit dem Fuß die Tür auf.

»Es ist soweit, Stanach. Sie sind da, und es sind viele.«

»Stanach«, flüsterte Lavim.

Es war Stanach, der auf den Gang trat. Ihm folgte ein breitschultriger, untersetzter junger Mann, der aussah, als wenn er nicht nur Schlaf, sondern auch ein paar ausgiebige Mahlzeiten vertragen könnte.

Lavim warf alle Vorsicht wie überflüssiges Gepäck ab, als er freudestrahlend zum Torhaus hüpfte. »He! Stanach!«

Der junge Mann fuhr mit dem Schwert in der Hand herum und schlug nach dem Kender.

»Nein!« rief Stanach. »Hauk, nicht!« Lavim protestierte mit einem erschütterten Quieken und duckte sich gerade noch rechtzeitig, um nicht von Hauks Schwert zweigeteilt zu werden. Seine Augen nicht von der glitzernden Klinge lassend, kam Lavim sehr langsam wieder hoch und stellte sich mit dem Rücken zur Wand.

»He, Stanach«, flüsterte er, »meinst du, du kannst ihm beibringen, daß ich ein Freund von dir bin?« Er blickte Hauk an und nickte möglichst nachdrücklich. »Das bin ich wirklich, weißt du. Einmal, da haben ihn in Langenberg fünfundzwanzig Drakonier gejagt, und sie hätten ihn auch erwischt, wenn ich ihm nicht das Leben gerettet hätte. Dann, als die… die Wie-auch-immer-sie-heißen ihn in der Höhle am Fluß gefangenhielten, da haben ich und Tyorl und Kelida ihn gerettet. Und, na ja, Stanach weiß vielleicht nichts davon – aber es stimmt, frag ruhig Tyorl, wenn er kommt! –, da habe ich Pfeifers Zauberflöte benutzt, und wir wären jetzt gar nicht hier, wenn ich uns nicht direkt zu den Bergen teleportiert hätte. Oder – hm, vielleicht nicht ganz direkt in die Berge. Weißt du, von dem Spruch wird einem ein bißchen schlecht, und ich wollte nicht in irgendeinem Haus oder mitten in der Stadt auftauchen und, äh, gleich eine Schweinerei anrichten. Darum sind wir sozusagen im Sumpf gelandet, und – o Götter! – da draußen brennt es vielleicht!« Lavim hatte keine Gelegenheit mehr, weitere Heldentaten aufzulisten, weil er in Stanachs Umarmung fast zerquetscht wurde.

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