Kapitel 10

Während des Frühstücks saß Fidelma Eadulf gegenüber. Es gab Ziegenmilch, frischgebackenes Brot, Käse und Äpfel. Sie hatte ihm die Einzelheiten ihres Treffens mit Della nicht anvertraut. Doch hatte sie ihm von dem Jungen am Gasthaus berichtet und ihm mitgeteilt, daß Della einmal einen grünen Seidenum-hang besessen hatte. Sie hatte auch das Auftauchen von Gorman erwähnt, aber alles andere hatte sie verschwiegen. Eadulf hatte auch nicht weiter gefragt. Er war gestern abend erst spät wieder in ihre Räume zurückgekehrt, Fidelma war bereits eingeschlafen. Er hatte lange in der Bibliothek der Burg gesessen, weil ihm eine Kopie der Historia Francorum, eine Geschichte der Franken von Bischof Gregor von Tours, in die Hände gefallen war, in die er sich wißbegierig vertieft hatte. Der Schreiber in der Bibliothek hatte ihm erklärt, daß dieses Buch zu den letzten gehörte, die in dem großen Kopistenzentrum von Alexandria angefertigt worden waren. Mit viel Schwung und Begeisterung breitete der Bischof die Geschichte der Franken vor dem Leser aus. Eadulf stellte bald fest, daß Gregor gar kein Franke war, sondern ein Gallier, ein romanisierter Gallier, der nicht so sehr über den Dingen stand, daß er die Gewohnheiten der Franken mitunter kritisierte und sein eigenes Volk pries. Über der Lektüre war rasch die Zeit verstrichen.

»Was können wir also tun?« fragte Eadulf nun am Frühstückstisch, während er sich Ziegenmilch eingoß.

»Außer abzuwarten, bleibt uns nicht viel«, erwiderte Fidelma. »Wollen wir hoffen, daß wir bald etwas von den Entführern hören.«

»Meinst du, daß sie sich melden?«

»Wenn Alchu wirklich entführt wurde und ihn seine Entführer ernsthaft austauschen wollen - dann ja. Doch vorher können wir nichts unternehmen. Außerdem hat mich der alte Conchobar gefragt, ob ich nicht heute vormittag mit ihm brandubh spiele. Vermutlich weiß er, daß ich ein wenig Ablenkung nötig habe.«

Brandubh - schwarzer Rabe - war ein altes Brettspiel, das Eadulf zu seinem Stolz recht gut beherrschte. Es hieß, daß damals, bevor sich der neue Glaube in den fünf Königreichen durchgesetzt hatte, Lugh, der Gott der Künste und des Handwerks, dieses Spiel erfunden hätte. Könige und Helden galten zu der Zeit erst wirklich etwas, wenn sie dieses Spiel meisterlich beherrschten.

Conchobar war der bejahrte Apotheker und Arzt von Cashel. Er kannte Fidelma von Geburt an.

»Du könntest ihn fragen, ob er nicht herauszufinden vermag, wo Alchu steckt«, sagte Eadulf in bitterem Ton, denn Conchobar war nicht nur Arzt, sondern er verstand sich auch auf die Sterndeutung. Medizin und Astrologie wurden oft von einer Person zugleich ausgeübt. Das Studium der Gestirne, nemgnacht, war in Éireann eine alte Wissenschaft. Es war sehr verbreitet, daß diejenigen, die es sich leisten konnten, sich von dem Zeitpunkt, an dem ihre Kinder geboren wurden, eine Sternenkarte anfertigen ließen, eine nemindithib, die einem Horoskop glich.

»Das ist gar nicht so lustig«, entgegnete Fidelma mürrisch.

Eadulf lehnte sich zurück und betrachtete sie nachdenklich.

»Wer sagt denn, daß ich mich darüber lustig mache?« erwiderte er. »Eure Astrologen behaupten doch, alle möglichen Geheimnisse aufzudecken und sogar Menschen finden zu können, nicht wahr?«

Fidelma erhob sich plötzlich. Ihr Mund war ganz schmal.

»Ich gehe jetzt zu Conchobar und spiele mit ihm eine Partie brandubh

Sie stürzte geradezu aus dem Raum und schlug die Tür hinter sich zu.

Eadulf schniefte verwirrt und rekelte sich. Alles, was er sagte, schien Fidelma aus der Fassung zu bringen. Dabei war seine Bemerkung durchaus ernst gemeint gewesen. Er wußte, daß Fidelma die alten Traditionen und Bräuche ihres Volkes nicht völlig abtat. Conchobar selbst hatte ihm anvertraut, daß sie ein ausgesprochenes Talent für das Erstellen von Horoskopen besaß und daß diese Fähigkeiten mehrmals zur Lösung von rätselhaften Fällen beigetragen hatten. Eadulf hatte sie nicht ärgern wollen, als er sagte, man könne vielleicht mit Hilfe einer astrologischen Sternenkarte herausfinden, wohin Alchu entführt worden war.

Langsam beendete er das Frühstück und stand schweren Herzens auf. Was sollte er heute tun? Unter den gegebenen Umständen wollte er die kostbare Zeit nicht mit Lesen verschwenden, sondern lieber überlegen, wie man am besten weiter vorging. Er trat zum Fenster und blickte über die grauen Mauern der Burganlage hinweg. Es war ein strahlender Spätherbsttag. Am blauen Himmel konnte er keine einzige Wolke entdecken, und kalt war es auch nicht sonderlich. Nor-malerweise war es eisig, und Reif überzog den Boden, wenn zu dieser Jahreszeit der Himmel so klar war.

Von seinem Fenster konnte er nach Süden blicken, wo sich die Wälder hinter der Stadt bis zum fernen Fluß Suir erstreckten.

Da kam ihm auf einmal ein Gedanke. Sicher würde er am Ende auch nicht viel klüger sein, aber dieser Sache nachzugehen wäre allemal besser, als herumzusitzen und nichts zu tun.

Er eilte hinaus und ging zu den Ställen.

Ein Stalljunge sattelte ihm rasch sein Pferd. Als es bereit war, ritt er über den Hof zu den Toren.

Caol hatte Dienst und begrüßte Eadulf.

»Ich mache einen kleinen Ausritt. Ich muß mich etwas bewegen«, erklärte Eadulf, ehe man ihn fragen konnte.

»Das ist ein prächtiger Morgen dafür, Bruder«, antwortete der Wächter. »Auch wenn ich nie gedacht hätte, daß du jemals zum Vergnügen ausreiten würdest«, fügte er mit einem kleinen Grinsen hinzu.

»Ich möchte dort hinter diese Berge« - Eadulf zeigte nach Süden - »und dort ein wenig herumlaufen.«

»Richtung Süden liegt ein See, der Loch Ceann«, sagte der Krieger. »Da läßt es sich gut wandern.«

»Richtung Süden? Ist das dort, wo der Holzfäller Conchoille arbeitet?« fragte Eadulf mit unschuldiger Miene.

»Ja, ganz in der Nähe. Die Stelle, wo er Bäume fällt, befindet sich bei Rath na Drinne. Willst du mit ihm sprechen, Bruder?«

»Das wäre eine gute Idee, jetzt, wo du es erwähnst. Vielleicht suche ich ihn bei dieser Gelegenheit auf.«

Eadulf bedankte sich bei Caol und ritt langsam den gewundenen Pfad hinab, der vom Burghügel bis zu den ersten Häusern der Stadt führte. Kurz vor dem Stadtrand bog er ab auf den Weg, der östlich um die Stadt herumging. Dann verschwand er im Wald.

Sein Ziel war nicht Loch Ceann, sondern Rath na Drinne, wo der Holzfäller Conchoille seinem Tagwerk nachging. Es dauerte nicht lange, und vor ihm lag der kleine Berg von Rath na Drinne. Dicht davor stand das alte Wirtshaus von Ferloga, dessen Schild langsam im Wind hin und her schwang. Eadulf hielt sein Pferd an und stieg ab.

Niemand befand sich in dem Holzhaus, als er ins dunkle Innere trat. Es war noch zu früh am Tag. Er ließ die Tür hinter sich zufallen, und nur ein paar Sekunden vergingen, bis ein kleiner rundlicher Mann mit hochgekrempelten Ärmeln und Schürze aus einem Nachbarraum kam und ihn von oben bis unten musterte. Schließlich begrüßte er ihn.

»Guten Tag, Bruder, was kann ich für dich tun?«

»Ich möchte einen Becher Met«, erwiderte Eadulf lächelnd, »und ein paar Fragen beantwortet haben.«

»Du bist Sachse, dem Akzent nach zu urteilen. Also bist du wohl Bruder Eadulf, Ehemann unserer Herrin, Lady Fidelma von Cashel?« erkundigte sich der Mann.

Eadulf nickte. »Und dein Name ist vermutlich Fer-loga?« »So ist es. Dein Unglück betrübt mich sehr, Bruder Eadulf. Lady Fidelma ist in diesem Landstrich hoch angesehen. Es wird gemunkelt, daß unsere alten Feinde, die Ui Fidgente, hinter der Tat stecken sollen.«

»Wo hast du das gehört?« fragte Eadulf und ging zu einem Stuhl am Feuer in der Ecke der Gaststube.

Ferloga hatte einen Becher Met eingeschenkt und brachte ihn Eadulf. Dann nahm er auch vor dem Feuer Platz.

»Hier spricht sich alles schnell herum, Bruder. Viele meiner Gäste leben oder arbeiten in Cashel.«

»So wie Conchoille?«

»So wie Conchoille«, bestätigte ihm der Wirt. »Es passiert in Cashel kaum etwas, ohne daß wir davon erfahren.«

Nachdenklich nippte Eadulf an seinem Met. Er war mit Honig gesüßt. »Kurz bevor er Saraits Leiche fand, war Conchoille hier«, sagte er.

Ferloga schaute nachdenklich in die Flammen.

»Ich erinnere mich noch gut an jenen Abend. Ich erfuhr ja erst am nächsten Morgen, was passiert war. Da kam Conchoille noch einmal her und erzählte mir alles. Ich habe versucht, alles, was an jenem Abend hier geschah, genau im Gedächtnis zu behalten.«

»Conchoille kam her und hat dir alle Einzelheiten berichtet?« fragte Eadulf beiläufig.

»Natürlich.«

»Was hat er denn gesagt?« Eadulf wollte unbedingt mehr aus ihm herauskriegen. »Soviel ich weiß, wird eine Geschichte beim Wiederholen immer ein wenig verzerrt. Als Fidelma und ich hier herkamen und Conchoille uns die Geschichte erzählte, hatte er sie bestimmt schon hundertmal zuvor von sich gegeben. Du warst sicher einer der ersten, die den genauen Hergang der Dinge gehört haben. In deiner Version kann noch etwas Wichtiges stecken, das wir bisher übersehen haben.«

Ferloga lachte. »Ich bezweifle, daß Conchoille etwas ausgelassen hat. Er ist nicht nur Holzfäller, er ist auch ein guter senchaid, einer der besten hier in der Gegend.«

Eadulf wußte, daß ein senchaid ein Geschichtenerzähler war, der die alte Tradition der mündlichen Weitergabe von Legenden ausübte. Sie wurden Wort für Wort von einer Generation zur nächsten überliefert. Er hatte in Runden gesessen, wo ein senchaid solche Legenden erzählte; die Zuhörer kannten sie oft besser als der Vortragende selbst, und wehe ihm, er blieb stecken oder benutzte ein falsches Wort. Er wurde sofort von ihnen verbessert.

»Ein senchaid ist nicht unfehlbar, Ferloga. Erzähl mir, was Conchoille dir berichtete.«

Ferloga lehnte sich zurück und schloß kurz die Augen, als würde er sich so besser erinnern können.

»Wenn Conchoille hier in der Nähe arbeitet, kommt er gewöhnlich zum Abendessen her. Er ist Witwer und hat niemand, der für ihn kocht. An jenem Abend, als es langsam dunkel wurde, trat er ein, aß und trank etwas, und blieb dann noch auf einen Schwatz, ehe er aufbrach.«

»War das sehr spät?«

»Ja, denn wir hatten uns einiges zu erzählen.«

Eadulf sah den Wirt an.

»Zum Beispiel was?«

»Nur den üblichen Dorfklatsch, ein paar Neuigkeiten. Das gehört zum Dasein als Gastwirt dazu. Ich gab mein Erlebnis mit den Umherziehenden zum besten, die kurz zuvor mit ihrem Baby hier durchgekommen waren. Ich erzählte, wie ich sie schon rauswerfen wollte, aber meine Frau einschritt und ihnen etwas zu essen gab gegen eine Salbe für die Entzündung an ihrem Bein. Schließlich nahm Conchoille seine Laterne und machte sich auf den Weg nach Cashel.«

»Und was geschah dann?«

Ferloga lächelte. »Er sagte, er sei schon fast in Cashel gewesen, als er über ein blutdurchtränktes Schultertuch gestolpert sei. Da hätte er auch Saraits Leiche entdeckt.«

»Und dann?«

»Er ließ die Leiche liegen und lief zu Saraits Schwester Gobnat, die nicht weit entfernt wohnt. Ihr Mann ist Capa, wie du wohl weißt, von der königlichen Leibgarde. Capa eilte mit Conchoille zur Leiche zurück. Auf dem Weg trafen sie einen Krieger, der zur Burg wollte. Den beauftragten sie, sofort Alarm zu schlagen, denn Sarait stand bekanntlich in den Diensten unserer Herrin, Lady Fidelma. Doch als Caol und seine Wachleute eintrafen, wurde klar, daß Sarait die Burg mit Lady Fidelmas ... mit eurem Sohn verlassen hatte. Also wurde eine Suche angeordnet, doch die blieb ergebnislos.«

»Und das war alles?«

Ferloga zuckte mit den Achseln. »Man suchte zunächst bei Fackelschein; am folgenden Vormittag machte man weiter. Man hat die Siedlung und den Wald durchkämmt.«

Eadulf war ganz in Gedanken versunken.

Ferlogas Bericht hatte ihm nichts wesentlich Neues eröffnet. Darauf hatte er auch gar nicht gehofft. Doch etwas beunruhigte ihn. Etwas konnte er nicht so richtig einordnen.

»Und weiter hat Conchoille nichts gesagt?«

Nun runzelte Ferloga die Stirn.

»Verdächtigst du Conchoille irgendeiner üblen Sache?« fragte er. »Er ist ein vertrauenswürdiger Mann, der in vielen Schlachten gegen die Ui Fidgente gekämpft hat.«

Eadulf blickte ihn nachdenklich an.

»Auch in Cnoc Äine?« fragte er unerwartet.

»Viele von uns waren in Cnoc Äine dabei«, bestätigte ihm Ferloga.

»Auch Saraits Ehemann Callada.«

Ferloga zog die Augenbrauen zusammen. »Unbestritten. Er ist dort getötet worden.«

»Und du und Conchoille, ihr habt dort ebenfalls gekämpft? Verzeih mir, aber bist du nicht zu alt für die Schlacht? Das Gefecht bei Cnoc Äine fand vor kaum zwei Jahren statt.«

Ferloga schob energisch das Kinn vor. »Ein Mann ist so jung, wie er sich fühlt.«

»Seid ihr zum Dienst verpflichtet worden?«

»Es ist besser, wenn einen die Liebe zu seinem Herrscher dazu zwingt als die gesetzliche Pflicht.«

»Hast du gesehen, wie Callada starb?«

Ferloga lachte zynisch.

»Ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus willst, Sachse. Es geht das Gerücht, daß Callada von einem unserer eigenen Männer und nicht vom Feind getötet wurde.«

»Hast du dazu etwas zu sagen?«

Ferloga zog die Schultern hoch. »Das scheint mir weit hergeholt. Aber Conchoille und ich befanden uns nicht in den vorderen Reihen des Angriffs bei Cnoc Äine, sondern waren unter den Soldaten, die Colgu in Reserve hielt für den Fall, daß die Ui Fidgente durch unsere Linien durchbrechen würden. Als wir schließlich zum Einsatz kamen, brauchten wir nur noch Gefangene zu machen und den zersprengten Haufen feindlicher Krieger zu verfolgen.«

»Meinst du denn, daß die Gerüchte um Calladas Tod stimmen?«

Ferloga machte eine zaghafte Geste. »Nach einer Schlacht sind immer eigenartige Geschichten im Umlauf, vor allem wenn sie so scheußlich war und dabei so viel Blut vergossen wurde wie bei dieser. Ob diese nun stimmt oder nicht, kann ich nicht sagen.«

Eadulf wollte das Thema wechseln.

»Hast du dich an der Suche nach Alchu beteiligt?«

»Als ich gegen Mittag des folgenden Tages von seinem Verschwinden erfuhr, konnte ich nur noch wenig tun. Die königliche Truppe hatte da schon eine ganze Weile die Gegend durchkämmt.«

»Ich verstehe.«

Eadulf war enttäuscht, auch wenn er damit gerechnet hatte, bei seinem Besuch hier wenig Neues zu erfahren. Er hatte die schwache Hoffnung gehabt, Fer-loga könnte sich vielleicht an ein bedeutsames Vorkommnis erinnern. Seufzend lehnte er sich zurück.

»Nun, da ich schon einmal hier bin und die Mittagszeit naht, würde ich gern etwas Leichtes essen. Etwas Käse und Brot. Hattest du nicht erwähnt, daß deine Frau kocht? Ach ja, du hast gesagt, daß sie eine Entzündung am Bein hat. Ich schätze, die Salbe hat geholfen? Du mußt wissen, daß ich in Tuam Brecain Medizin studiert habe.«

Ferloga lächelte.

»Meine Frau besucht gerade ihre Schwester, Bruder Eadulf. Vielen Dank, die Salbe hat geholfen. Vielleicht war es ein glücklicher Zufall, daß ich wegen ihr die Umherziehenden nicht rausgeworfen habe.«

»Ich dachte, das Gesetz der Gastfreundschaft müßte dich daran hindern, und nicht deine Frau.«

Ferloga lief rot an, da Eadulf ihn an seine Pflichten als Gastwirt erinnert hatte.

»Das hier ist kein öffentliches Gasthaus, kein bru-den, wo jedem Einlaß gewährt werden muß. Es ist mein eigenes Gasthaus. Ich mag keine Umherziehenden. Die sind meist nicht vertrauenswürdig. Bettler. Landstreicher. Du kennst diese Sorte von Leuten.«

»Ich dachte, diese Bettler verkauften Salben.« Eadulf betonte das Wort >Bettler<.

»Salben, Tinkturen, Kräuter. Ja sie verkauften der-gleichen, trotzdem sind und bleiben sie Umherziehende. Und dann noch ihr lautes, brüllendes Kind!«

»Du solltest ihnen wirklich dankbar sein.«

Ferloga wollte sich offensichtlich nicht davon überzeugen lassen.

Da kam Eadulf plötzlich ein Gedanke.

»Ein Mann, eine Frau und ein Kind, hast du gesagt?«

»Ja, ein Paar mit ihrem Baby. Er sagte, er sei Kräutersammler und auf dem Weg zur Abtei von Col-man.«

»Wann genau sind sie hiergewesen?«

»An dem Tag von Saraits Ermordung. Die Dämmerung war gerade angebrochen, als sie von hier loszogen. Conchoille kam wesentlich später. Deshalb habe ich ihm ja von ihnen erzählt.« Auf einmal riß Ferloga die Augen auf. »Du glaubst doch nicht, daß sie Sarait umgebracht haben?«

Eadulf ging nicht auf seine Frage ein.

»Du sagst, daß es Umherziehende waren. Könnten es auch Ui Fidgente gewesen sein?«

Ferloga schüttelte sogleich den Kopf.

»Ganz sicher nicht. Ihr Akzent war der der Bewohner von Laigin. Es gibt viele Gründe, warum Leute in den fünf Königreichen ihre Seßhaftigkeit verlieren, Bruder Eadulf. Gewöhnlich geschieht es, weil sie gegen das Gesetz verstoßen haben und ihren Sühnepreis nicht zu tilgen vermögen. Sie können keine neuen Wurzeln schlagen und sind dazu verdammt, umherzuziehen.«

Eadulf leerte seinen Becher Met und stand auf. Er hatte einen Entschluß gefaßt.

»Vielen Dank für deine Hilfe, Ferloga. Das hat mich ein Stück weitergebracht.«

Der Wirt zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Was ist mit deinem Essen?«

»Ich muß nach Cashel zurück«, entschuldigte sich Eadulf. »Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.«

Eadulf war kaum hundert Meter geritten, als er sein Pferd in einen leichten Galopp fallen ließ. Jeder, der Eadulf zu Pferde und seine Abneigung für schnelles Reiten kannte, hätte dies für ungewöhnlich gehalten. Doch er war so erregt, daß er nicht anders konnte. Die Worte des Wirts hatten ihn auf einen unheimlichen Gedanken gebracht. Wenn er recht hatte, so lag die Lösung des Falls vielleicht nicht so fern, wie er angenommen hatte.

Fidelma saß mit gerunzelter Stirn über das Spielbrett gebeugt.

Conchobar gewann diese Runde brandubh. Es war ein schwieriges Spiel, denn das Brett bestand aus sieben mal sieben Kästchen. Das Feld in der Mitte des Brettes verkörperte den königlichen Palast von Tara, auf diesem Feld befand sich ein Stein, der den Hochkönig darstellte. Auf den vier Kästchen um ihn herum standen die Steine, die die vier Provinzkönige darstellten, die den Hochkönig beschützen sollten. Auf den Feldern am Rand des Brettes waren die Steine postiert, die die Kräfte des Chaos verkörperten. Mit je-dem Würfeln konnten sie vorwärtsbewegt werden. Ziel des Spiels war es, die Sicherheit des Hochkönigs zu garantieren. Er durfte sich durch die feindlichen Steine zum Rand des Brettes bewegen oder auf die vier Felder der Provinzkönige.

Gewöhnlich spielte Fidelma mit Begeisterung, doch heute war sie unkonzentriert. Sie hatte schon zwei Verteidigungssteine eingebüßt.

Conchobar, der alte Mönch, dessen Apotheke sich im Schatten der königlichen Kapelle innerhalb der Burganlage befand, betrachtete sie besorgt.

Fidelma sah ihn an und zuckte mit den Achseln.

»Es tut mir leid, mein alter Freund«, sagte sie, denn sie kannte ihn schon ihr ganzes Leben. »Ich bin reichlich nervös.«

Conchobar blickte sie durchdringend an.

»Das ist verständlich. Um das zu erkennen, muß ich nicht meine Künste bemühen. Ich hatte aber gehofft, dich mit einem Spiel ablenken zu können. Wir werden ein andermal damit weitermachen.«

Fidelma stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie hatte gerade an Eadulfs Vorschlag gedacht, die Astrologie zu Rate zu ziehen. Er hatte da etwas ausgesprochen, was sie schon lange im Hinterkopf gehabt hatte. In ihrer Verzweiflung wollte sie alles Erdenkliche unternehmen.

»Ich würde gern deine Künste bemühen, um mein Kind wiederzufinden, Conchobar«, sagte sie leise.

Der alte Mann schüttelte bedauernd den Kopf.

»Du weißt, daß das nicht möglich ist.«

»Aber du bist am erfahrensten, was das Deuten der Sterne betrifft.«

»So weit würde ich nicht gehen. Auch wenn ich unter Mo Chuaroc mac Neth Sémon studiert habe, dem größten Astrologen, den es jemals in Cashel gab, so sind doch meine Fähigkeiten nicht unfehlbar.«

»Ich habe gehört, daß ein guter réalt-eolach, einer, der sein Wissen aus den Sternen bezieht, ein Horoskop erstellen kann, um ein bestimmtes Objekt zu finden. Warum sollte das für mein Baby nicht auch gelten?«

»Ach, Fidelma, einst habe ich versucht, dich die Kunst der Sterndeutung zu lehren. Hättest du deine Studien weiterbetrieben, so hätte ich dich zu einer hervorragenden Deuterin der Vorzeichen gemacht. Du solltest dich daran erinnern, daß es für das Befragen der Sterne immer nur einen richtigen Zeitpunkt gibt.«

»Und wenn ich sie jetzt befrage?«

»Das würde nicht funktionieren. Um die Sterne zu befragen, muß man den genauen Zeitpunkt des Entstehens der Frage treffen. Das ist wie beim Erstellen eines Geburtshoroskops für einen Menschen. Das Horoskop muß für einen bestimmten Augenblick an einem bestimmten Ort erstellt werden, sonst ist es nutzlos. Damit meine ich nicht nur den genauen Tag, einen bestimmten Tag in einem bestimmten Jahr, sondern die genaue Tageszeit, denn die Sterne bewegen sich sehr rasch am Himmel. Was für einen Menschen richtig ist, kann für einen anderen, der am gleichen Ort nur zehn Minuten später zur Welt kam, schon falsch sein.«

»Das verstehe ich. Aber was willst du mir damit sagen?«

»Du hast dir diese Frage seit vielen Tagen schon gestellt. Wie soll ich den exakten Zeitpunkt feststellen, an dem deine Frage ursprünglich entstanden ist?«

Fidelma zog resigniert die Schultern hoch.

»Es ist so deprimierend, nur zu warten und die Dinge nicht lenken zu können.«

Conchobar nickte voller Mitgefühl.

»Du bist schon immer so furchtbar ungeduldig gewesen, Fidelma.« Er lächelte sanft. »Seit du das Licht der Welt erblickt hast, bist du ungeduldig gewesen. Ich war bei deiner Geburt dabei. Du bist zu früh gekommen, hast geschrien und gebrüllt, um Zuwendung zu erhalten. Du warst voller Ungeduld, auf die Welt zu kommen, zu lernen, was du lernen wolltest, du warst ungeduldig mit allen Menschen, die dir dumm und einfältig erschienen und die nicht so schnell waren wie du.«

»Heißt es nicht, daß Geduld die Tugend der Esel ist?« sagte Fidelma zynisch.

Conchobar kniff die Augen zusammen.

»Ich erinnere mich an einen großen Brehon, der einmal sagte, wer keine Geduld besitzt, der besitzt auch keine Weisheit. Dieser Brehon war ...«

Fidelma lächelte.

»Ich weiß. Das war mein eigener Mentor, Brehon Morann. Er mußte nie warten, hat sich nie nutzlos fühlen müssen, während das eigene Kind Gott weiß was für Gefahren ausgeliefert war.«

»Fidelma, es gibt auch das Sprichwort, wenn du Geduld hast, wird dich die Biene mit Honig versorgen. Heute ist nicht der Tag für voreilige Aktionen. Heute beherrscht nämlich An Bech den Himmel.«

Fidelma wußte, daß das irische Himmelszeichen der Biene von den Römern Skorpion genannt wurde.

»Warum?« fragte sie.

»Weil nicht nur die Sonne im Skorpion steht, sondern auch Mars, der Herrscher des Skorpion, so wie Venus und Jupiter. Beide gleichzeitig. Das könnte meiner Ansicht nach nachteilig sein, Fidelma. Bei deinem starken Temperament könntest du Entscheidungen treffen, die sich zum Guten aber auch zum Schlechten fügen könnten. Außerdem, und darauf mußt du besonders achtgeben, ist der Skorpion das Tierkreishaus des Todes.«

Fidelma erblaßte. Dann lächelte sie.

»Du sollst doch eigentlich Freude in mein Leben bringen, Conchobar.«

»Ich soll dir dabei helfen, die Wege zu gehen, die du gehen mußt, Fidelma. Anstatt hier mit einem alten Mann wie mir brandubh zu spielen, solltest du bei deinem Mann sein.«

Fidelma zog verstimmt die Nase kraus. Wieder blickte Bruder Conchobar sie nachdenklich an.

»Läuft zwischen dir und unserem sächsischen Freund etwas schief?«

»Ja, einiges, Conchobar.«

»Ich bin nicht dein anam chara, aber ...«

»Ich habe keine Seelenfreundin. Seit Liadin.«

»Wenn du einen Seelenfreund brauchst, so will ich gern deinen innersten Gedanken lauschen und meine Meinung dazu sagen.«

Fidelma sah auf das Spielbrett nieder. »Dieses Spiel ist ein Kinderspiel verglichen mit dem, was in meinem Kopf vorgeht, und ich kann keinen Schutz auf den Feldern finden, die das Spielbrett meines Lebens darstellen.«

Conchobar starrte sie einen Moment lang an.

»Es ist nicht einfach für Bruder Eadulf, nicht nur in einem fremden Land zu leben, sondern auch mit einer Prinzessin der Eoghanacht verheiratet zu sein.«

»Das war seine Entscheidung«, rechtfertigte sie sich.

Conchobar lächelte. »Und du hattest nichts damit zu tun?«

Auf seinen leicht sarkastischen Tonfall hin errötete sie.

»Ich habe versucht, ihn davon abzuhalten, habe versucht .«

Conchobars Lächeln wurde immer breiter.

»Ich verstehe. Du bist gegen deinen Willen überwältigt worden, und es gab nichts, was du hättest tun können?«

»Die Frist für unsere Probeehe ist bald abgelaufen. In den nächsten Wochen ist sie vorbei.«

»Und du hast vor, ihn dann zurückzuweisen? Das ist unter den gegebenen Umständen ziemlich unpassend, nicht wahr?«

Fidelma preßte die Lippen aufeinander und schwieg. Conchobar dachte so unglaublich logisch, genau wie sie.

»Abgesehen von Eadulfs Schwierigkeiten, sich diesem Leben anzupassen, welche Gefühle hast du? Erzähl mir nicht, daß du dich als Partnerin von ihm abgestoßen fühlst. Dafür kenne ich dich zu gut. In deinem Leben hast du nie etwas gemacht, was du nicht wolltest. Du bist diese Beziehung eingegangen, weil du es so wolltest, und nicht, weil Eadulf es wollte.«

Fidelma öffnete den Mund, schwieg dann aber lieber. Sie fragte sich, was sie wohl am besten darauf antworten konnte.

In diesem Moment flog die Tür auf, und ein Mönch trat ein. Er lief geradewegs auf Bruder Conchobar zu und bemerkte Fidelma nicht.

»Komm schnell, Bruder Apotheker«, rief er atemlos. »Du wirst sofort gebraucht.«

Fidelma erhob sich rasch.

»Was ist geschehen?« fragte sie mit Herzklopfen.

Der Mönch drehte sich um, jetzt erst entdeckte er sie.

»Schwester Fidelma! Es ist Bischof Petran. Ich glaube, er stirbt ... Wenn er nicht schon tot ist.«

Загрузка...