Kapitel 3

Schon war Fidelma durch den Raum geeilt und hatte sich unaufgefordert auf einen freien Stuhl an den Tisch gesetzt. Sie war nicht nur Colgus Schwester, sondern eine ddlaigh, noch dazu vom Rang einer anruth, also durfte sie in Anwesenheit der Provinzköni-ge sowohl Platz nehmen als auch das Wort ergreifen. Eadulf sank betrübt auf seinem Stuhl zurück. War er denn der einzige, der ihre rot umrandeten Augen bemerkte und sah, wie abgehärmt sie war?

»Ich dachte, daß du tief und fest schläfst«, murmelte er.

Fidelma verzog das Gesicht. »Nein, dank deiner ungenießbaren Mixturen schlafe ich nicht«, erwiderte sie, aber ihre Stimme verriet, daß sie ihm nicht böse war. »Ich weiß, daß du es nur gut gemeint hast, Eadulf. Doch ich habe mich genug ausgeruht. Es gibt viel zu tun.«

Brehon Dathal war verärgert. »Das ist wohl wahr, aber dich können wir hier nicht gebrauchen. Du mußt die Arbeit jemandem übertragen, der von dem Fall nicht so emotional betroffen ist wie du.«

»Meinst du etwa, daß ich nicht in der Lage bin, meinen eigenen Sohn wiederzufinden?« fragte sie kühl zurück. »Und daß auch Eadulf sein logisches Denkvermögen eingebüßt hat, nur weil es hier um seinen Sohn geht? Viele Male sind wir mit Fällen betraut worden, von denen die Sicherheit des ganzen Königreiches abhing. Zählt das etwa nicht?«

Brehon Dathal wurde rot.

»Du und der Sachse, ihr seid viel zu erregt und aufgewühlt«, sagte er aufbrausend.

Fidelma schnaubte wütend. »Das beweist doch nur, daß wir den Fall übernehmen sollten.«

»Ich bin oberster Richter dieses Königreiches, und ich ...«

Nun hob Colgu die Hand und gebot ihm zu schweigen. »Wir wollen jetzt nicht streiten, das hält uns nur auf. Diese Angelegenheit betrifft uns alle. Bruder Eadulf wollte gerade etwas Wichtiges sagen, als wir ihn unterbrochen haben. Hören wir wenigstens, worum es geht.«

Eadulf sah zu Fidelma hinüber, aber sie betrachtete immer noch Brehon Dathal mit unverhohlener Wut.

»Ich habe lediglich gemeint, daß sich beim Nachdenken über die Zeugenaussagen eine Reihe von Fragen ergeben werden«, sagte er.

»Und ist dem so?« erkundigte sich Bischof Ségdae. »Tauchen Fragen vor uns auf?«

»Nun«, erwiderte Eadulf, »fangen wir mit dem an, was wir alle zunächst vermutet hatten, als wir von dem Fall erfuhren. Wir dachten sofort, daß jemand, der Alchu entführen wollte, Sarait dabei attackiert hat. Wir gingen sofort davon aus, daß sie ermordet wurde, weil sie die Entführung verhindern wollte.«

»Was für Annahmen gibt es noch?« fragte Brehon Dathal, der immer noch gereizt war.

»Gehen wir Schritt für Schritt nach den Aussagen vor«, fuhr Eadulf fort und beachtete Dathals Einwurf nicht. »Ein Kind wird mit einer Nachricht für Sarait zur Burg geschickt, die angeblich von ihrer Schwester stammt, die sie dringend bittet, zu ihr zu kommen.«

»Und von meiner Frau und mir wißt ihr, daß wir nie eine solche Botschaft gesandt haben«, äußerte Capa rasch.

»Richtig«, meinte Eadulf.

»Wir wissen auch, daß uns allen jenes Kind nicht bekannt ist«, fügte Colgu hinzu. »Die Beschreibung, die der Wächter Caol gegeben hat, paßt zu niemandem in der Burg oder in der Stadt.«

Wieder neigte Eadulf bestätigend den Kopf. »Sobald das Kind die Botschaft losgeworden war, verließ es die Burg. Caols Ansicht nach handelte es sich um einen Jungen, der offenbar nur einen Auftrag ausführte. Kurze Zeit später erschien Sarait mit Alchu am Tor. Sie teilte Caol mit, wo sie hingehen wollte, und erklärte ihm, daß sie das Baby mitnehmen müßte, weil niemand anderes sich darum kümmern könnte. Aber das ist .«

»Das ist die erste Merkwürdigkeit in dieser Geschichte«, unterbrach ihn Fidelma.

Alle Augen blickten sie fragend an.

»Eadulf wollte sagen, daß Sarait eigentlich keinen Grund hatte, Alchu aus der sicheren Burg hinaus in die Dunkelheit mitzunehmen.«

»Wie kommst du darauf?« fragte Brehon Dathal skeptisch.

»Wie viele Frauen hielten sich deiner Meinung nach zu der Zeit in der Burg auf? Und wie viele davon mit Kindern? Zwanzig? Mehr? Und wie viele davon kannte Sarait? Wie viele sind so verläßlich, daß man ihnen das Kind für kurze Zeit hätte anvertrauen können?«

Colgu sagte nichts, aber es war klar, daß ihm diese Frage nie in den Sinn gekommen war.

»Genau«, pflichtete ihr Eadulf bei. »Es gab für Sarait eigentlich keinen Grund, Alchu mitzunehmen. Ehe jemand danach fragt: ich habe mich bereits bei einigen der Frauen erkundigt, die an jenem Abend in der Burg waren. Sarait hat keine von ihnen angesprochen, ob sie wohl Alchu hüten könnte. So ergibt sich als erstes die Frage, warum hat Sarait das Baby mitgenommen?«

Niemand antwortete ihm.

»Betrachten wir einen anderen Aspekt«, unterbrach Fidelma das Schweigen, denn alle suchten nun nach einer Erklärung. »Angenommen, das Kind, das die angebliche Nachricht von Gobnat überbrachte, war Teil eines Plans, Sarait und das Baby aus der Burg zu locken, um Alchu zu entführen. Wie konnte derjenige, der hinter diesem Plan steckte, annehmen, daß Sarait die Burg zusammen mit dem Baby verlassen würde?«

»Anders ausgedrückt«, fügte Eadulf hinzu, »jeder andere, der eine Nachricht von seiner Schwester erhält und dringend zu ihr gebeten wird, würde doch gewiß das ihm anvertraute Baby in die Obhut eines anderen geben. Doch Sarait nahm Alchu in jener kalten Nacht mit, obwohl sich mehrere Frauen in der Nähe aufhielten, bei denen sie ihn hätte lassen können.«

Wieder herrschte Schweigen.

»All das bestätigt doch nur, daß meine Frau eine solche Botschaft nie geschickt hat.« Capa räusperte sich. »Falls Sarait gewußt hat, daß die Aufforderung nicht von Gobnat kam, so muß sie Caol angelogen haben, was ihren Gang in die Stadt betrifft, oder?«

»Das ist eine logische Schlußfolgerung«, stimmte ihm Eadulf zu.

»Da ist noch etwas anderes sehr rätselhaft«, sprach Fidelma ruhig weiter. Sie blickte erst zu Eadulf, dann zu ihrem Bruder. »Da ich die bisherige Anhörung der Zeugen nicht mitverfolgt habe, weiß ich nicht, ob es euch aufgefallen ist. Statt zum Haus ihrer Schwester zu gehen, wie sie dem Wächter mitgeteilt hatte, lief Sarait mit dem Baby um die Stadt herum zu dem dahinterliegenden Wald, wo sie dann ermordet wurde. Warum mag sie das getan haben?«

»Das ist uns auch schon aufgefallen, Fidelma«, bemerkte Brehon Dathal herablassend.

»Dank Bruder Eadulf, der uns darauf hingewiesen hat«, murmelte Bischof Ségdae.

»Und habt ihr eine Erklärung dafür?« fragte Fidelma.

»Manches läßt sich erst klären, wenn wir den Täter haben«, erwiderte Brehon Dathal schroff, denn ihn hatte der spöttische Einwurf des Bischofs gereizt. »Ich glaube nicht, daß wir damit die Schuldigen überführen können.«

»Das Fragenstellen ist zumindest ein Anfang, den Täter zu finden«, erwiderte Fidelma mit spitzer Zunge. »Oder verfügt der weise Brehon über eine andere Vorgehensweise?«

»Wir müssen noch andere Dinge berücksichtigen«, erklärte Eadulf rasch, ehe der vor Wut rot angelaufene Richter antworten konnte.

Nun blickten ihn wieder alle an.

»Die da wären?« fragte Cerball interessiert, der das Protokollieren der Ratsversammlung vergaß und von seiner Schreibtafel aufschaute.

»Hinter jeder Handlung verbirgt sich eine Absicht«, antwortete Eadulf. »Haben wir jede einzelne Handlung auf ihre Absicht hin überprüft?«

Die Anwesenden starrten ihn verständnislos an, außer Fidelma, die ihm einen ermutigenden Blick zuwarf.

»Stellen wir mal eine Frage in den Raum«, fuhr er fort. »War es beabsichtigt, Sarait in den Wald zu lok-ken, um sie zu ermorden? Oder war es beabsichtigt, Sarait mit dem Baby hinauszulocken, um das Kind zu entführen? Und war der Mord an Sarait deshalb nur eine unvermeidliche Folge der Kindesentführung?«

»Oder war der Mörder, der eigentlich nur Sarait ermorden wollte, auf einmal mit dem Kind konfrontiert und nahm es mit, weil ihm nichts anderes übrigblieb?« führte Brehon Dathal weiter aus.

Bischof Ségdae setzte eine sarkastische Miene auf. »Ich glaube nicht, daß ein Mörder, der gerade eine Amme niedergestochen hat, auf einmal einem hilflosen Baby gegenüber fürsorgliche Gefühle entwickelt und es mitnimmt, um es vor den nächtlichen Gefahren zu schützen.«

Fidelma zog die Augenbrauen hoch. »Mir fällt auf, daß wir alle davon ausgehen, daß der Mörder ein Mann ist. Ist das Geschlecht des Täters schon bekannt, oder meint ihr, daß eine Frau einer solchen Tat nicht fähig ist?«

Der Bischof starrte sie an. »Wir nahmen an ...«

»Ich verstehe.« Fidelma unterbrach ihn. Dann wandte sie sich an die anderen. »Es kann gefährlich sein, Vermutungen anzustellen. Wir müssen allen Möglichkeiten gegenüber offen sein. Eadulfs Frage müssen wir sorgfältig überdenken.«

Brehon Dathal schüttelte den Kopf.

»Es gibt einen Unterschied zwischen dem Entführen eines Kindes aus den momentanen Umständen heraus und einer geplanten Entführung. Ich war einmal mit einem Fall befaßt, in dem eine geistig verwirrte Frau, die ihr eigenes Kind verloren hatte, ein Baby entführte, um ihres zu ersetzen. Doch das Szenarium, das hier entworfen wird ...«

»Fuatach.« Fidelma verwendete den alten Rechtsbegriff für eine gewaltsame Entführung.

»Um Lösegeld zu erpressen?« fragte Brehon Dathal skeptisch. Er schien zu vergessen, zu wem er sprach. »Bisher ist keine Lösegeldforderung erhoben worden. Würde es sich um eine erpresserische Entführung handeln, wäre uns das schon längst bekannt. Ich glaube, solch abwegige Vorschläge können wir abtun ...«

Colgu erhob sich verdrießlich. Sein Tanist Finguine legte ihm eine Hand auf den Arm, als wolle er ihn besänftigen und auf seinen Stuhl zurückholen.

»Es stimmt«, sagte Finguine schnell, »daß bisher keine Forderungen erhoben wurden, die uns glauben machen könnten, daß Alchu deshalb verschwunden ist. Wir sollten dennoch diese Möglichkeit nicht ausschließen.«

»Wir haben die angrenzende Umgebung abgesucht«, sagte Capa nun. »Nirgendwo fand sich eine Spur von dem von Caol beschriebenen Kind, und von Alchu auch nicht. Wenn seine Entführer hier kein gutes Versteck gefunden haben, sind sie mit Alchu wohl nicht mehr in dieser Gegend.«

Wieder schwiegen alle. Eadulf holte tief Luft.

»Ich behaupte, daß das Baby von jemandem mitgenommen wurde, der sich ein Kind wünschte«, verkündete Brehon Dathal. »Irgendein Kind, nicht zwangsläufig Fidelmas Kind. Wer immer Alchu nun in seiner Gewalt hat, er ist nicht mehr in dieser Gegend. Eine andere Schlußfolgerung gibt es für mich nicht.«

Eadulf sah, wie Fidelma die Lippen aufeinanderpreßte. Doch dann entspannten sich ihre Gesichtszüge, und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Es lag ein Hauch Sarkasmus darin, aber es war immerhin ein Lächeln. Sie wandte sich an Capa: »Brehon Dathal hat etwas Richtiges gesagt«, ließ sie sich hören. Eadulf erwartete daraufhin eine zynische Bemerkung von ihr, denn er wußte, daß sie von dem aufgeblasenen obersten Richter von Muman keine sehr hohe Meinung hatte. Doch er wurde enttäuscht. »Erinnere dich an die Zeit vor drei oder vier Tagen - oder noch kurz davor - und sag uns, welche Fremden durch Cashel gezogen sind.«

Capa schien darauf nichts einzufallen. Da meldete sich Finguine, der Tanist, wieder zu Wort.

»Ich habe sofort daran gedacht, Fidelma, also habe ich das sorgfältig überprüft, doch leider, liebe Cousi-ne, zeigten meine Nachforschungen keine besonderen Ergebnisse. Drei Schiffe fuhren den Fluß Suir hinauf, es waren Händler von den Häfen am Meer. Sie luden ihre Ware ab, warteten auf eine neue Ladung für den Rückweg und segelten dann wieder zurück. Meine Leute haben diese Schiffe sehr gründlich durchsucht, aber es waren keine Kinder an Bord. Außerdem gab es da noch eine kleine Gruppe von Pilgern, ein trauriger Haufen von Mönchen mit körperlichen Gebrechen, die nach Imleach unterwegs waren .«

Ségdae, der Bischof von Imleach, nickte bestätigend. »Sie hatten erfahren, daß ich mich in Cashel aufhielt, also baten sie mich um meinen Segen, ehe sie zum Kloster des heiligen Ailbe weiterzogen. Dort wollten sie Linderung für ihre Gebrechen erbitten. Einige waren von Geburt an mißgestaltet, andere hatten im Krieg furchtbare Verletzungen erlitten und waren nun behindert. Unter ihnen befanden sich weder Kinder noch Säuglinge.«

Finguine nickte. »Ich ging zu dem Gasthof in der Stadt, in dem die Pilger die Nacht verbrachten, und fragte sie, ob sie etwas Ungewöhnliches bemerkt hätten. Bedauernswerte Geschöpfe. Ich hoffe, ihre Gebete werden erhört und ihre Wünsche gehen in Erfüllung.«

»Ich schätze, auch dabei ist nicht viel herausgekommen?« fragte Fidelma.

»Ihr Führer, Bruder Buite von Magh Ghlas, sagte, daß sie von dem Lärm der Wachleute geweckt wurden. Das muß geschehen sein, nachdem man Saraits Leiche entdeckt hatte. Das war auch schon alles.«

»Und diese Pilgergruppe ist dann nach Imleach aufgebrochen?« wollte Fidelma wissen.

»Noch am gleichen Morgen. Sie müßten längst dort sein«, erklärte Bischof Ségdae.

»Es waren weder Frauen noch Kinder oder Babys unter ihnen«, wiederholte Finguine. »Mehr Fremde kamen nicht durch Cashel.«

»Abgesehen von dem Mann aus dem Norden und dem Ausländer ...«, meldete sich Capa plötzlich zu Wort. »Das war aber schon am Tag vor Saraits Ermordung.«

»Ein Ausländer? Und ein Mann aus dem Norden?« fragte Fidelma sofort.

»Der Ausländer bezeichnete sich selbst als Mönch und Heiler. Er sagte, er käme aus einem fernen Land aus dem Osten.«

»Aus Persien«, bestätigte Colgu. »Er sagte, er käme aus Persien.«

Eadulf und die anderen sahen ihn verblüfft an.

Cerball blickte von seinem Protokoll auf und lächelte wissend.

»Das ist ein altes Land an der Grenze zu Skythien. Herodot erzählt in seinem vierten Buch, wie die Skyther Darius, den König von Persien, vertrieben, der ihr Land überfallen wollte. Und Justinian bezeugt diese Geschichte ebenfalls .«

König Colgu unterbrach den Barden mit einer Handbewegung.

»Ich hatte ihn schon ganz vergessen, so sehr haben mich die traurigen Ereignisse abgelenkt. An dem Abend vor Saraits Ermordung war er hier unser Gast. Ein Mann in mittleren Jahren, ein Reisender, der, wie er mir erklärte, in den westlichen Ländern sein Wissen erweitern wollte. Er sprach Griechisch und Latein und war in Begleitung eines jungen Bruders aus der Abtei von Ard Marcha, der ihm auf seinen Reisen als eine Art Führer und Dolmetscher diente. Beide waren zu Pferde unterwegs. Ein Kind war ganz sicher nicht bei ihnen.«

»In welche Richtung sind sie geritten, als sie aufbrachen?« fragte Eadulf neugierig.

»Nach Westen. Ich glaube, sie sagten, daß sie zur Abtei von Colman wollten«, erwiderte Colgu. »Wie dem auch sei, sie sind vor Saraits Ermordung fort. Am Tag zuvor, wie Capa schon sagte.«

Fidelma wandte sich wieder an Capa. »Nur zum besseren Überblick, Capa, was hast du gemacht, während Finguine die Pilgergruppe und die Händler befragt hat? Wäre das als Befehlshaber der Leibgarde nicht eigentlich deine Aufgabe gewesen?«

Capa sah sie einen Moment vorwurfsvoll an. »Ich habe nach deinem Kind gesucht, Lady. Ich und drei Abteilungen meiner Leute sind von Cashel in alle Landesteile ausgeritten und haben einen Tag lang die Gegend abgesucht. Wir fanden keinen Hinweis auf dein Kind, weder tot noch lebendig.«

»Das sollte keine Kritik sein, Capa. Ich wollte mir nur ein umfassendes Bild von den Vorgängen machen.«

»Es kann nur ein fremder Reisender gewesen sein, der die Gelegenheit beim Schopfe gepackt hat, sich eines Kindes - irgendeines Kindes - zu bemächtigen«, ließ sich Brehon Dathal vernehmen. »Zu der Überzeugung bin ich gekommen. Und als Sarait das Baby verteidigen wollte, tötete er sie und floh mit dem Kind.«

Nicht nur Eadulf fiel die Schwäche dieser Argumentation auf. In seinem Augenwinkel sah er, daß Fidelma zu einem Protest ansetzen wollte. Rasch ergriff er das Wort.

»Mit Verlaub, Brehon Dathal, das widerspricht aber den Zeugenaussagen, die wir schon hinlänglich erörtert haben.«

Brehon Dathal kniff die Augen zusammen. »Was willst du damit sagen, Sachse?« fragte er mit leicht aggressivem Unterton.

»Wenn sich Sarait zufällig nachts mit dem Baby außerhalb der Burg aufgehalten hätte, müßte man deinen Gedankengang berücksichtigen. Es ist doch aber eher so, daß sie ganz bewußt aus der Burg herausgelockt wurde. Falls das nicht so war, dann - und diese Frage haben wir uns schon gestellt - ist sie fortgegangen und wußte, wen sie treffen würde. In beiden Fällen ist die Identität des Kindes - des eigenartigen, stummen Kindes, das zur Burg kam - von entscheidender Bedeutung. Die Tatsache, daß dieses Kind, das niemand kennt, mit einer Botschaft an Sarait hier auftauchte, bringt alles durcheinander. Diese Spur müssen wir weiterverfolgen.«

»Aber davon kann jetzt doch keine Rede sein«, widersprach Brehon Dathal.

»Wenn es keine logischen Fäden zu verknüpfen gibt«, äußerte Fidelma mit fester Stimme, »so muß man alle anderen Details im Auge behalten, ganz gleich, wie unlogisch sie auch erscheinen mögen.«

Colgu blickte sie stirnrunzelnd an. »Woran denkst du, Schwester?«

»Ich werde nach Imleach reiten und mit diesen Mönchen auf Pilgerreise reden. Es könnte sein, daß sie unterwegs etwas gehört oder gesehen haben.« Sie blickte Finguine an und lächelte entschuldigend. »Ich bin mir sicher, daß dir nichts entgangen ist und daß du sie gewissenhaft befragt hast, aber ich glaube, ich fühle mich besser, wenn ich es selbst noch einmal mache.«

Finguine lächelte höflich und zuckte kaum wahrnehmbar mit der Schulter. »Das ist dein Vorrecht, Cousine.«

»Ich glaube, das ist ein fruchtloses Unterfangen«, warf Brehon Dathal ein.

»Es ist aber das einzige, was wir tun können«, erwiderte Fidelma ruhig.

Colgu erhob sich. Alle anderen taten es ihm voller Respekt gleich.

»Die Ratssitzung ist beendet. Finguine, du kannst die Zeugen wieder nach Hause schicken, und stelle eine Abteilung unserer besten Krieger zusammen. Sucht noch einmal die Gegend ab. Führe den Trupp persönlich an.«

Capa wollte schon entrüstet Protest einlegen, denn das Kommando über die Krieger lag in seinen Händen, und er hatte ja schon mit seinen Männern die Gegend erfolglos abgesucht. König Colgu kam ihm jedoch zuvor.

»Für dich habe ich eine besondere Aufgabe, Capa. Sag deiner Frau, daß du ein paar Tage fort sein wirst, und dann wähle zwei Krieger deines Vertrauens aus. Ihr werdet meine Schwester begleiten.« Danach wandte er sich an Fidelma.

»Bleib noch einen Augenblick hier. Du auch, Eadulf. Wir werden uns noch einmal allein darüber verständigen.«

Der König wartete schweigend, bis die anderen den Raum verlassen hatten. Besorgt blickte er dann zu seiner Schwester und zu Eadulf.

»Kommt ans Feuer und setzt euch«, sagte er. »Etwas Glühwein?«

Sie nahmen Platz, aber beiden war nicht nach Glühwein zumute. Fidelma hatte immer noch den Geschmack von Eadulfs widerwärtigem Schlaftrunk auf der Zunge. Und der Alkohol würde ihr nur schaden.

»Bist du fest entschlossen, diesen Pilgern nachzureisen?« fragte Colgu, schenkte sich ein Glas Wein ein und rekelte sich vor dem lodernden Feuer.

»Das habe ich doch gesagt«, erwiderte Fidelma knapp.

»Und du bist einverstanden damit?« fragte Colgu nun Eadulf. »Wirst du sie begleiten?«

»Natürlich«, sagte Eadulf und wollte schon hinzufügen, daß eine solche Frage beleidigend war, doch er schwieg. Colgu wußte sehr wohl, was Eadulf für Fidelma empfand, und er mußte wissen, wie schwer ihn der Verlust seines Kindes getroffen hatte. »Ganz gleich wie vage die Aussichten sind, wir müssen jede Gelegenheit beim Schopfe packen, um die Täter aufzuspüren und Alchu wieder nach Hause zu holen.«

Der König schwieg und blickte zu Boden.

»So reitet nach Imleach, wenn ihr es tun müßt«, seufzte er. Rasch blickte er zu Fidelma. »Du siehst nicht gut aus.«

»Im Augenblick helfen mit weder Schlaf noch ein wenig Entspannung. Sei unbesorgt, Bruder. Ich habe mich meiner Trauer und Verzweiflung eine Weile ganz hingegeben, nun habe ich mich jedoch wieder gefaßt, und das wird so bleiben, bis ich den Fall gelöst habe.« Sie sah schnell zu Eadulf hinüber. Dann wandte sie sich erneut an ihren Bruder: »Was du auch gehört haben magst, ich bin sehr wohl in der Lage, diesen Fall zu untersuchen. Ich bin bei klarem Verstand. Meine Gefühle habe ich so lange unter Kontrolle, bis wieder bessere Zeiten anbrechen.«

Colgu zögerte, dann zuckte er mit den Schultern.

»Nun gut. Aber du brauchst einen wirklich kühlen Kopf für all das.«

Fragend zog Fidelma die Augenbrauen hoch.

»Es gibt also etwas, was dir Sorgen macht? Ich meine jetzt nicht deine Sorgen um Alchu. Da ist noch etwas anderes.«

»Ich glaube, Brehon Dathal kann manchmal ein richtiger Dickschädel sein«, sagte Colgu unerwartet.

Fidelma konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Das ist dir erst jetzt aufgefallen?«

Colgu mußte lächeln. »Nein, aber er wird mit zunehmendem Alter immer exzentrischer. Um die Wahrheit zu sagen, Schwester, bin ich der Meinung, daß hinter der Tragödie eine großangelegte Verschwörung gegen dich persönlich oder unser ganzes Königshaus steckt. Warum das so ist und wer die Fäden zieht, kann ich zur Zeit noch nicht sagen. Ich glaube, ihr teilt meine Ansicht - daß Alchu weder zufällig entführt wurde von jemandem, der sich selbst ein Kind wünscht, wie Dathal meint, noch daß es hier um eine Lösegeldforderung geht.«

Nachdenklich blickte Fidelma ihren Bruder an. »Ich dachte, daß ich allein mit dieser Ansicht dastehe.«

Eadulf preßte verärgert die Lippen aufeinander. »Ihr werdet euch erinnern, daß ich genau das Brehon Dathal erklärt habe ...«

»Die Sache ist die«, warf Colgu ein, »ihr habt euch beide Feinde gemacht, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Königreiches. Es gibt gewiß viele, die sich an euch rächen wollen.«

»Dessen sind wir uns alle wohl bewußt«, stellte Eadulf ruhig fest. »Ich würde sagen, daß jeder, der mit der Durchsetzung des Rechtes in diesem Land zu tun hat, immer mit der Mißgunst anderer rechnen muß. Man kann nicht ein so hohes Ansehen, wie Fidelma es hat, genießen, ohne sich Feinde zu machen - oftmals in gehobenen Positionen.«

»Das ist richtig«, stimmte ihm der König zu. »Aber die Gefahr kann auch aus einer ganz anderen Richtung kommen, nicht nur von Feinden, die man sich bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz gemacht hat. Ich meine Feinde, die einen persönlichen Groll gegen einen hegen. Diese dürft ihr nicht vergessen.«

»Meinst du jene Leute, die meine Verbindung mit einem Ausländer nicht gutheißen?« fragte Fidelma.

Colgu blickte Eadulf mitfühlend an und zuckte mit den Schultern.

»Versteh das bitte nicht falsch, Eadulf, aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Fidelma stammt aus dem Königshaus der Eoghanacht, sie ist die Tochter eines Königs und die Schwester eines Königs. Weißt du eigentlich, welche Bedeutung das für uns hat, Eadulf? Nicht nur für unsere Familie, sondern für unsere gesamte Kultur?«

Eadulf schob ein wenig den Kiefer vor. Seine Stimme war kalt, als er sagte: »In meinem Heimatland, Colgu, da gilt die Abstammung der sächsischen Könige als heilig. Jeder König der Angeln und der Sachsen führt seine Abstammung auf einen der sieben Söhne Wotans zurück. Viele Angeln und Sachsen glauben immer noch an die Göttlichkeit Wotans, dem Oberhaupt der Rabensippe, dem Allvater unseres Volkes. Schon in grauen Vorzeiten hat mein Volk Wotan angebetet. Der christliche Glaube hingegen ist erst vor ungefähr einer Generation angenommen worden, in manchen Gegenden vor noch kürzerer Zeit.«

Colgu lächelte über den streitlustigen Stolz in Ea-dulfs Stimme.

»Dann wird es dir gefallen, wenn ich dir erkläre, daß die Eoghanacht ihren Stammbaum bis in die alle-rersten Anfänge der Zeit zurückführen können. Unsere Barden, die Hüter des Wortes, bejubeln mich als den Repräsentanten der sechsundneunzigsten Generation, die aus der Lende Adams hervorging, der achtzigsten Generation seit Gaedheal Glas, Sohn von Niul, der die Kinder der Gälen aus dem Turm zu Babel geführt hat. Ich bin Repräsentant der neunundfünfzigsten Generation seit Eibhear Fionn, dem Sohn von Milidh, der die Kinder der Gälen in dieses Land gebracht hat.«

»Worauf willst du hinaus, Bruder?« fragte Fidelma ruhig.

»Es geht darum, daß es viele gibt, und in unserer eigenen Familie vermutlich sehr viele, die, wie du sagst, etwas dagegen haben, daß du die ben charrthach eines Sachsen bist - der dazu noch von geringerem Rang ist als du.« Als Fidelma und Eadulf zugleich zu reden ansetzten, hob er die Hand. »Ich weise nur darauf hin, meine Meinung ist das nicht. Ihr solltet dem ins Auge sehen. Viele waren sicher empört über die Geburt eines Halbsachsen in unserer Familie.«

»Das brauchst du uns nicht zu sagen«, erwiderte Eadulf rasch. »Das vergesse ich bestimmt nicht und darf es auch gar nicht.«

Fidelma blickte ihn an, sie war überrascht über seinen Tonfall. Eadulf hatte ganz ruhig gesprochen, es hatte auch nicht verbittert geklungen, aber sie spürte den Zorn, der sich in ihm aufgestaut hatte. Sie wollte schon etwas sagen, doch dann ließ sie es. Ihr Gesicht glich einer Maske.

»Bruder, ich nehme an, daß du das nur ganz im allgemeinen gesagt hast? Oder hast du etwa einen besonderen Verdacht?«

Colgu betrachtete sie einen Moment lang ausdruckslos, dann schüttelte er den Kopf.

»Ich hege keinen speziellen Verdacht und kann auch niemand Bestimmtes beschuldigen. Ich glaube, daß sich jeder in unserer Burg der Etikette entsprechend geziemend verhält, aber die wahren Gefühle werden oftmals verborgen. Es gibt bestimmt Leute, die glauben, daß die Tochter der Eoghanacht die Mutter eines Sohnes von Éireann und nicht von Sachsen sein sollte.«

»Alchu hat . wird . zwischen zwei Kulturen und Ländern wählen können«, erwiderte Fidelma. »Er allein entscheidet über seine Zukunft. Das werden wir nicht für ihn tun. Und dieses Schicksal hat Alchu nicht allein. Oswy, der König von Northumbria, hat ein Kind mit Fina, Tochter des alten Hochkönigs Colman Rimid, gezeugt. Er heißt Aldfrith, und ich erfuhr, daß er ein vielversprechender junger Gelehrter in Beannchar ist. Er ist sowohl in der Kultur seiner Mutter als auch in der seines Vaters zu Hause.«

Der König lächelte, wenn auch ein wenig traurig. »Du meinst es gut. Aber ich betone noch einmal, daß dies nicht meine Ansicht ist, sondern daß ich nur auf Dinge hinweise, deren ihr euch bewußt sein solltet. Und da gibt es noch etwas.«

»Noch etwas?« wiederholte Eadulf etwas zynisch. »Ich dachte, wir hätten genug, worüber wir uns den Kopf zerbrechen müssen.«

»Es wird euch nicht entgangen sein, daß abgesehen von eurer Abstammung auch euer Leben als Nonne und Mönch eine Rolle spielt. Ihr habt euch entschlossen, eure Fähigkeiten in erster Linie in den Dienst des neuen Glaubens zu stellen. Es ist gar nicht so lange her, daß alle unsere Gelehrten, ob nun Richter, Anwälte, Barden oder Ärzte, den Druiden unterstanden. Wir akzeptieren es, daß der neue Glaube die Druiden in den fünf Königreichen fast ganz verdrängt hat. Jene, die dem neuen Glauben anhängen, können das tun, ohne benachteiligt zu werden. Wir akzeptieren es, daß Priester, Mönche und Nonnen des neuen Glaubens, wie zuvor die Druiden, heiraten und Kinder haben können. Es existieren Klöster, in denen sowohl Mönche als auch Nonnen leben. Du, Fidelma, bist in dem conhospitae von Kildare ausgebildet worden, einem gemischten Haus, das von der Äbtissin Brigid und von Bischof Conlaed gegründet wurde.«

Fidelma runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen, Colgu? Bist du etwa von dieser neuen Bewegung bekehrt worden, die meint, daß jene, die Christus dienen, weder das andere Geschlecht heiraten noch mit ihm verkehren dürfen? Nicht einmal der Bischof von Rom hat zugestimmt, daß diese Haltung ein Glaubensdogma sein sollte. Es wäre völlig gegen die Natur, Beziehungen zwischen Frauen und Männern zu verbieten. Es sind nur kleine, hier und da verstreute Gruppierungen von Asketen, die so denken. Unter Priestern, Mönchen und Nonnen hat es schon immer Leute gegeben, die glauben, daß sie Gott besonders viel Treue und Loyalität beweisen, wenn sie alle menschlichen Sehnsüchte verdrängen.«

»Laß dir versichern, daß ich nicht von ihnen bekehrt wurde, Fidelma. Aber in den fünf Königreichen gibt es eine ganze Reihe von Menschen, die ihrer Ansicht sind«, verteidigte sich Colgu. »Viele nehmen heute an, daß sie ihrem Glauben am besten dienen können, wenn sie den Zölibat einhalten ...«

»Meine guten Wünsche werden sie begleiten, auch wenn ich das für unnatürlich halte. Aber es ist eine Sache, nach seinen eigenen Ansichten zu leben, und eine andere, sie anderen als Dogma und einzig mögliche Form aufzuzwingen, Gott zu dienen«, erwiderte Fidelma.

»Ich möchte nur sagen«, fuhr Colgu geduldig fort, »daß es jetzt in den fünf Königreichen viele Angehörige des Klerus gibt, die den Eid des Zölibats ablegen. Und diese Bewegung gewinnt an Einfluß. Die Tatsache, daß du, Prinzessin der Eoghanacht, einen sächsischen Mönch geheiratet hast, ein Kind zur Welt gebracht hast und anderen Nonnen damit ein Beispiel bist, könnte von diesen Gruppierungen als Provokation aufgefaßt werden. Auch aus dieser Ecke können Gefahren drohen.«

»Unsinn! Es ist ...«, fing Fidelma an, doch Eadulf unterbrach sie.

»Ich verstehe das, Colgu«, sagte er mit ruhiger, aber entschlossener Stimme. »Ehe wir nach Rath Raithlen aufbrachen, hatte ich genau darüber eine Auseinandersetzung mit Bischof Petran. Und ...«, plötzlich hielt er inne. Seine Augen wurden größer. »Wo steckt Bischof Petran eigentlich? Ich habe ihn seit unserer Rückkehr nicht mehr gesehen.«

Fidelma sah Eadulf überrascht an.

»Aber Eadulf. Er ist ein alter Mann mit starren Ansichten. Du willst doch nicht etwa behaupten, daß er .? Ich kenne ihn seit meiner Kindheit.«

Colgu lehnte sich vor, er mußte seine Erregung zurückhalten.

»Eadulf, daß ist doch genau das, was ich meine. Erzähl mir mehr über deinen Streit mit Bischof Petran.«

»Es war an dem Tag, als du uns batest, deinen Cousin Becc von Rath Raithlen zu treffen. Daran mußt du dich doch erinnern, Fidelma. Es war nicht weiter bedeutsam, aber es hat mich geärgert. Hundertmal schon habe ich das gehört. Er besteht darauf, daß wir dem Beschluß der Synode von Whitby im Jahre 664 folgen und die volle Autorität von Rom anerkennen sollen, was die Liturgie, die Tonsur und die Datumsfestlegung von Ostern betrifft. Damit stimme ich voll und ganz überein. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht. Ich habe diese Punkte in Whitby sogar unterstützt. Doch Petran geht noch weiter und meint, wir sollten die Prinzipien übernehmen, die das zweite Konzil von Tours festgelegt hat - daß diejenigen Kleriker, die man im Bett mit ihren Frauen vorfindet, für ein Jahr aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden sollten. Er hofft, daß das nächste große Konzil der westlichen Bischöfe festlegen wird, daß alle Kleriker den Eid des Zölibats ablegen sollen.«

Nun schwiegen sie.

»Es wäre sicher gut, Bischof Petran weiter im Auge zu behalten«, sagte Colgu schließlich mit leiser Stimme. »Es ist allgemein bekannt, daß er ein Frauenhasser und ein führender Verfechter der Idee ist, daß der Klerus zölibatär leben sollte. Als er erfuhr, daß im Hinterland des Königreiches, wie in Gallien und Britannien, immer noch Frauen als Priesterinnen ordiniert wurden, verlangte er von mir, einen Kreuzzug anzuführen, um die Gottlosen zu vernichten. Ich sagte ihm, daß die Frage, wer ins kirchliche Amt berufen wird und wer nicht, die Bischöfe zu klären hätten und nicht ich in meinem weltlichen Amt.«

Eadulf zog überrascht eine Augenbraue hoch. »Ich dachte, daß schon vor drei Jahrhunderten auf dem Konzil von Laodicea festgelegt wurde, daß Frauen nicht die Messe lesen dürfen.«

»Was festgelegt wird, ist eine Sache, die Umsetzung eine andere«, erklärte Fidelma. »Brigid ist nicht nur selbst von Mel, dem Sohn von Darerca, die die Schwester von Patrick war, zur Priesterin geweiht worden, sondern ihr wurde auch bischöfliche Macht verliehen. Hilda, die du in Whitby getroffen hast, ist sogar Bischöfin geworden. Und es gibt in Gallien immer noch viele Frauen, die die Messe abhalten dürfen.«

»Man sollte Bischof Petrans Zorn nicht unterschätzen. Er mag zwar alt sein, aber er hat Einfluß und Anhänger«, sagte Colgu.

»Jemanden, der so streitsüchtig ist wie Petran, kann man kaum unterschätzen«, erwiderte Eadulf düster.

»Ich gebe offen zu, der Petrinischen Theorie anzuhängen - ich wohnte im Namen der pro-römischen Schule der Synode von Whitby bei. Dennoch unterstütze ich nicht diese Gruppierung von Asketen, die Anhänger jener Leute sind, die sich zuerst auf dem Konzil von Elvira zusammengefunden hatten und die Meinung vertraten, daß sich der ganze Klerus dem Zölibat unterzuordnen hätte.«

Colgu runzelte die Stirn. »Die Petrinische Theorie?« fragte er.

»Diese Theorie haben zum erstenmal die Bischöfe von Rom, Innozenz und Celestinus, vor zwei Jahrhunderten formuliert: Rom hat das Recht, über alle anderen Kirchen des Christentums zu herrschen. Deshalb nennt man den Bischof von Rom das Oberhaupt aller Gläubigen und Nachfolger Petri - den Papst«, erklärte Fidelma.

»Ich unterstütze diese Theorie aus den Gründen, die in Whitby verkündet worden sind«, fügte Eadulf hinzu. »Uns wird gelehrt, daß Petrus der Fels ist, auf den Christus die Verantwortung für Seine Kirche auf Erden übertragen hat. Und in Rom hat Petrus jene Kirche gegründet, wie wir gelernt haben. Rom hat also das Recht .«

Fidelma stieß einen lauten Seufzer aus.

»Jetzt ist der falsche Zeitpunkt für theologische Debatten. Mein Bruder hat festgestellt, daß Leute wie Bischof Petran auf Grund ihrer religiösen Ansichten Anlaß haben könnten, uns und unser Kind zu hassen. Ist das richtig?«

Colgu nickte. »Ich muß hinzufügen, daß ich da nicht nur Petran allein im Blick habe, sondern auch andere, die wie er denken und möglicherweise diesen Haß zu weit treiben. Unter solchen Leuten gibt es immer Fanatiker.«

Eadulf blickte sie verdrießlich an. »Petran ist schon fanatisch genug. Bei unserem Streit wurde er fast handgreiflich.«

»Wie bitte?« Fidelma war ganz erstaunt und beugte sich vor. »Das hast du mir nie erzählt.«

»Als er sich im Zusammenhang mit seinen Ansichten über den Zölibat über die Frömmigkeit der Bischöfe von Rom ereiferte. Da mußte ich ihm entgegenhalten, falls der heilige Hormidas, Bischof von Rom, nicht mit seiner Frau geschlafen und einen Sohn gezeugt hätte, Rom nicht den heiligen Silverius auf Petrus’ Thron erlebt hätte. Er konnte sich in seiner Entrüstung kaum beherrschen und versuchte abzustreiten, daß überhaupt jemals ein Bischof Roms eine Frau geheiratet hatte, von eigenen Kindern ganz zu schweigen. Nun«, erläuterte Eadulf weiter, der sich für das Thema erwärmt hatte, »selbst Innozenz, der erste seines Namens, der Bischof von Rom wurde und der die Petrinische Theorie aufgestellt hat, war Sohn des Anastasius, der ebenfalls ab 399 Bischof von Rom war, und .«

»Hält sich Bischof Petran zur Zeit in Cashel auf?« unterbrach Fidelma Eadulfs Redefluß.

Colgu schüttelte den Kopf. »Bischof Ségdae hat ihn zu den westlichen Inseln gesandt. Vor einer Woche ist er aufgebrochen.« »Damit scheidet Petran aus«, sagte Fidelma zufrieden.

»Aber Petran hat Anhänger, und da er so starre Ansichten hegt und eine Gruppe von Fanatikern anführt, sollte man unbedingt ein Auge auf ihn haben. Ich werde Finguine anweisen, routinemäßig die Unterkünfte der Geistlichen in der Burg zu durchsuchen.«

»Ich glaube kaum, daß wir da etwas Nützliches finden werden. Falls nämlich dieses Verbrechen geplant und vorbereitet wurde, hätten der gewissenhafte Pe-tran und seine Leute keinen einzigen Beweis hinterlassen«, stellte Fidelma skeptisch fest.

»Das stimmt, aber auch der klügste Kopf kann manchmal das Offensichtlichste übersehen«, gab Colgu zu bedenken.

»Ich denke, wir sollten aufbrechen, ehe noch mehr Zeit verstreicht«, sagte Fidelma und erhob sich.

»Du willst immer noch mit den Pilgern in Imleach reden?« erkundigte sich Colgu.

»Vorerst bleibt uns nur das.«

»So wird euch Capa begleiten. Ich sagte ihm ja schon, er solle sich bereithalten.«

Fidelma und Eadulf blickten sich an.

»Meinst du wirklich, daß wir uns in Gefahr begeben, Bruder?« fragte sie ruhig.

»Aus ebenjenen Gründen, über die wir uns gerade unterhalten haben, Schwester«, erwiderte Colgu ernst.

Einen Augenblick dachte Eadulf, Fidelma würde sich mit ihrem Bruder streiten. Er wußte, wie sehr es ihr mißfiel, von bewaffneten Kriegern begleitet zu werden, auch wenn es zu ihrem Schutz geschah. Doch Fidelma zuckte nur mit den Schultern.

»Dann sorge dafür, daß Capa in einer Stunde am Tor ist, denn Eadulf und ich werden noch vor dem letzten Glockenschlag zur Mittagszeit losziehen.«

Sie verließen die königlichen Gemächer und liefen an Capa vorbei, der auf weitere Instruktionen vom König wartete. Als sie den schmalen Gang zu ihren Räumen entlanggingen, stellte sich ihnen ein junger Krieger in den Weg.

»Verzeih mir, Lady«, erklärte er etwas unbeholfen.

Er war ein sehr junger Mann mit vollem, rabenschwarzem Haar, heller Haut und Augen, so dunkel wie sein Haar. Er war muskulös, und eine Narbe auf seinem Arm verriet, daß er schon auf dem Schlachtfeld gestanden hatte. Trotz seiner Jugend trug er bereits den goldenen Halsring der Leibgarde des Königs. Seine Kleider waren sehr gepflegt. Er wirkte ausgesprochen freundlich, und Fidelma hatte das Gefühl, ihn schon einmal in der Burg gesehen zu haben. Seine Augen blickten ängstlich umher. Fidelma versuchte, ihre Ungeduld, daß man sie aufhielt, zu zügeln.

»Nun, Krieger? Du möchtest mich sprechen?«

Der junge Mann schluckte. »Lady, ich heiße Gor-man.«

»Nun, Gorman?« Ihre Stimme war kühl und nicht gerade ermutigend.

»Lady, ich habe gehört, daß Capa, unser Befehlshaber, zwei Krieger sucht, die ihn nach Imleach begleiten sollen. Es geht wohl um die Suche nach Saraits Mörder und den Entführer eures Kindes. Capa hat schon Caol ausgewählt.«

»Und?« fragte Fidelma, empört darüber, daß sich diese Neuigkeit so schnell herumgesprochen hatte.

»Ich würde euch auch sehr gern begleiten, Lady.«

Fidelma wurde immer gereizter. »Ich habe nichts damit zu tun, wen Capa bestimmt. Da mußt du dich an ihn wenden.«

Der junge Krieger schüttelte den Kopf. »Capa kann mich offensichtlich nicht leiden, Lady, obwohl ich ihm nichts getan habe. Aber ich muß euch unbedingt begleiten.«

Fidelma starrte ihn verwundert an.

»Du mußt? Warum?«

Der junge Mann machte eine verlegene Geste.

»Ich ... Ich kannte Sarait. Ich fühle ... fühle ...«

Der junge Mann errötete.

»Ich vermute, du warst in sie verliebt?« fragte Fidelma nun freundlich.

Der junge Krieger blickte schamhaft zu Boden.

»Ja, das bin ich ... War ich.«

»Warum bist du bei Capa so schlecht angeschrieben, daß du meine Hilfe brauchst?«

»Ich schätze, es ist wegen meiner Jugend. Wohl deshalb beachtet er mich nicht.«

Er zögerte. Er verbarg wohl noch etwas.

»Das ist nicht der wahre Grund, oder?« bedrängte Fidelma ihn.

Gorman errötete wieder. »Ich bin niedrigen Standes. Meine Mutter war eine Prostituierte.«

»Aber du trägst den goldenen Halsring«, sagte Eadulf. »Ich dachte, daß ...« Er zögerte, denn er war verlegen. »Ich dachte, daß nur Adlige der Leibgarde beitreten können.«

»Donndubhain, der vor Finguine Colgus Tanist war, hat mich in die königliche Elitetruppe aufgenommen, denn ich habe mich bei der Abwehr eines Angriffs der Ui Fidgente in der Schlacht von Cnoc Äine ausgezeichnet. Capa ist aber der Ansicht, daß nur Söhne aus adligem Haus in der Nasc Niadh - der Leibgarde - dienen dürfen. Ich möchte mich gern beweisen.«

Eadulf rümpfte abschätzig die Nase. »Ein junger rachsüchtiger Mann, der sich seinem Befehlshaber gegenüber beweisen will, der ihn wiederum nicht leiden kann ...« Er schüttelte den Kopf. »Das klingt nicht gut!«

Gorman sah Fidelma flehend an.

»Bitte, Lady .«

»Gorman!«

Es war Capas strenge Stimme, die hinter ihnen im Gang erklang. Der Befehlshaber der Wache war aus Colgus Gemächern getreten und hob nun ehrerbietig die Hand, als er Fidelma und Eadulf erkannte.

»Ich bitte um Verzeihung, Lady. Ich muß mit Gor-man sprechen.« Er blickte den Krieger an, der vor seinem Befehlshaber Haltung annahm. »Du wirst mich und Caol in einer Stunde begleiten. Wir werden Lady Fidelma und Bruder Eadulf zur Verfügung stehen.«

Gorman öffnete überrascht den Mund. Capa neigte den Kopf, um sich zu verabschieden, und lief weiter.

Fidelma lächelte den verwirrten jungen Krieger an.

»Siehst du, mein Eingreifen ist gar nicht nötig. Kennst du die Redewendung si finis bonus est, totum bonum erit?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ende gut, alles gut.« Eadulf lächelte. »Wir sehen uns in einer Stunde am Haupttor.«

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