Kapitel 12

Critan brachte Moen in das Gästehaus. Fidelma sah dies als geeigneteren Ort für seine Befragung an als den Stall, in dem er gefangengehalten wurde. Außer Fidelma und Eadulf war nur Gadra anwesend. Duban besprach sich mit Cron wegen der Viehräuber.

Es herrschte Schweigen, als der junge Krieger mit seiner üblichen beleidigenden Arroganz den unglücklichen Moen herbeischleppte. Befriedigt stellte Fidelma fest, daß Critan sich wenigstens weiter bemüht hatte, Moen sauberzuhalten und ihm einen Rest von Menschenwürde zu bewahren. Ihr tat das arme Wesen leid, als es nun in den Raum geschoben wurde. Moens Gesicht zeigte tiefe Furcht, denn er wußte und verstand nicht, was um ihn herum vor sich ging.

Critan drückte ihn auf einen Stuhl, und er saß da mit hängendem Kopf. Critan grinste Fidelma an.

»Na?« fragte er. »Was nun? Was für Kunststücke wollt ihr ihm beibringen?«

Gadra trat vor und zischte Critan wütend an. Einen Moment glaubte Fidelma, er werde den arroganten Burschen schlagen.

Dann ereignete sich etwas Merkwürdiges.

Moen schnüffelte, hob den Kopf und zog prüfend die Luft ein. Zum erstenmal sah Fidelma einen Ausdruck von Hoffnung in seinem Gesicht, und er gab ein leises Wimmern von sich.

Gadra ging zu ihm, setzte sich auf einen Stuhl neben ihm und ergriff seine Hand.

Fidelma konnte kaum glauben, wie sehr sich das Gesicht des Behinderten veränderte. Es leuchtete im Wiedererkennen und vor Freude. Sie sah, daß Gadra Moens linke Hand ergriffen hatte. Zuerst erschien es wie ein Ritual, denn Moen hielt die Hand gerade ausgestreckt mit der Handfläche nach oben. Überrascht beobachtete sie, wie Gadra mit den Fingerspitzen etwas auf die Handfläche des jungen Mannes zeichnete.

Dann faßte Moen die Hand Gadras und machte ähnliche Zeichen darauf. Fidelma wurde klar, daß es das war, was Moen im Stall mit ihrer Hand versucht hatte. Sie hatte keinen Zweifel, daß nun ein richtiges Zwiegespräch stattfand. Die Bewegungen der Finger folgten einander schnell und immer schneller.

Plötzlich begann Moen angstvoll zu stöhnen und wiegte sich vor und zurück wie in körperlichem Schmerz. Gadra legte ihm den Arm um die Schultern. Traurig blickte er Fidelma an.

»Ich habe Moen gerade erklärt, daß Teafa tot ist. Er betrachtete sie als seine Mutter.«

»Wie nahm er die Nachricht vom Tod Ebers auf?« fragte Eadulf.

»Ohne Überraschung«, antwortete Gadra. »Ich glaube, das wußte er. Ich habe ihm gesagt, was geschehen ist und wessen er verdächtigt wird.«

»Ihm gesagt?« Critan begleitete seine Worte mit einem höhnischen Gelächter. »Komm, Alter. Der Witz ist ja gut, aber ...«

»Ruhe!« fuhr ihn Fidelma mit eisiger Stimme an. »Du verläßt uns jetzt. Du kannst draußen warten, bis wir dir Bescheid geben.«

»Ich habe den Gefangenen zu bewachen.« Der Krieger lief rot an vor Ärger. »Es ist meine Pflicht .«

»Es ist deine Pflicht, zu tun, was man dir sagt«, erwiderte Fidelma gereizt. »Geh und sag Duban, deinem Kommandeur, daß ich dich nicht mehr in der Nähe dieses Gefangenen sehen will. Und zwar sofort!«

»Du kannst doch nicht ...«, setzte Critan empört an.

Eadulf stand auf und nahm ihn mit betonter Sanftmut am Arm. Nur der plötzliche Schmerzenslaut und das verzerrte Gesicht Critans verrieten, wieviel Kraft Eadulf anwendete.

»Doch, wir können«, sagte Eadulf freundlich. »Du wirst hier nicht mehr gebraucht.«

Er schob ihn fast auf die gleiche Weise aus der Tür, in der Critan den Gefangenen hereingebracht hatte. Als Eadulf die Tür von innen schloß, grinste Gadra ihn an.

»Wahrhaft pragmatisch. Du gefällst mir wirklich, mein angelsächsischer Bruder!«

Fidelma hatte nicht weiter darauf geachtet, sondern Moen nachdenklich betrachtet. Sie wandte sich an Gadra.

»Während er sich beruhigt, würde ich gern erfahren, nach welcher Methode du dich mit ihm verständigst. Ich muß wissen, ob diese Verständigung echt ist.«

Gadra knurrte verärgert: »Glaubst du, ich habe mir das alles ausgedacht, mein Kind?«

Fidelma schüttelte energisch den Kopf.

»Nein, das meine ich nicht. Aber ich muß von Rechts wegen die Sicherheit haben, daß dies eine vollgültige Aussage des Jungen ist, denn wenn ich sie einem Gerichtshof vorlegen will, muß ich sie selbst in vollem Umfang verstehen.«

Gadra sah sie einen Augenblick an und zuckte dann gleichmütig die Achseln.

»Als Anwältin hast du sicher schon von dem alten Ogham-Alphabet gehört.«

Fidelmas Augen weiteten sich.

»Du benutzt das Ogham-Alphabet zur Verständigung?«

Ogham war die früheste Schriftform des Volkes der fünf Königreiche und bestand aus einer Grundlinie, auf die kurze Linien zuliefen oder sie kreuzten. Zwanzig Buchstaben konnte man so darstellen. Die Vorfahren glaubten, der Gott Ogma, der Schutzpatron des Lesens und Lernens, sei ins südwestliche Muman, dem Ort aller Ursprünge, gekommen und habe die Weisen im Gebrauch des Alphabets unterwiesen, damit sie über Land und Meer reisen und den Leuten das Schreiben beibringen konnten. Die Buchstaben wurden oft in Hasel- oder Espenstäbe eingeritzt, und viele Grabsteine trugen Inschriften in Ogham. Mit der Einführung des neuen lateinischen Alphabets und der neuen Gelehrsamkeit war das Ogham außer Gebrauch gekommen. Fidelma hatte als Teil ihrer Erziehung noch die alte Schrift gelernt, denn viele Texte waren in dieser alten Form aufgezeichnet.

Ihr wurde plötzlich klar, auf welche Weise man ein so einfaches Alphabet als Verständigungsmittel mit der Hand benutzen konnte.

Gadra beobachtete den Wechsel ihrer Miene, als sie das erkannte.

»Willst du es selbst versuchen?« fragte er.

Fidelma nickte eifrig.

Gadra wandte sich an Moen und wechselte rasch einige Zeichen mit ihm.

»Nimm seine Hand. Halte die Fläche nach oben und benutze die Linie vom zweiten Finger bis zur Handwurzel als Grundlinie. Stell dich ihm vor, indem du deinen Namen in Ogham-Buchstaben schreibst.«

Vorsichtig nahm Fidelma die Hand des jungen Mannes.

Drei Striche rechts von der Grundlinie für »F«; fünf Punkte mit der Fingerspitze auf der Grundlinie für »i«; zwei Striche rechts von der Grundlinie für »d«; vier Punkte auf der Linie für »e«; zwei Striche rechts für »l«; ein diagonaler Strich über die Linie für »m« und ein Punkt für »a«. Sie führte die Bewegungen langsam und vorsichtig aus. Dann wartete sie auf die Antwort.

Mit einem lebhaften Lächeln nahm der junge Mann ihre linke Hand, die sie ihm darbot, und hielt die Handfläche nach oben. Dann schrieb sein Finger darauf einen diagonalen Strich für »M«; zwei Punkte auf der Linie für »o«; eine kleine Pause, dann vier Punkte für »e« und dann vier Striche rechts für »n«. Moen.

Es war so einfach. Und dieses Wesen hatte man behandelt, als wäre es ein Tier, dachte Fidelma empört.

Langsam schrieb Fidelma weiter auf Moens Handfläche.

»Ich bin eine Anwältin bei Gericht und hergekommen, um die Morde an Eber und Teafa zu untersuchen. Verstehst du mich?«

»Ja. Ich habe sie nicht getötet.«

»Sag mir, was geschehen ist, soweit du das weißt.«

Sofort begann der junge Mann ihre Handfläche schnell mit seinen Fingern zu bearbeiten, so schnell, daß sie ihn unterbrechen mußte.

»Du bist zu schnell. Ich bin diese Art der Verständigung nicht gewöhnt. Sprich mit Gadra, er kann es mir übersetzen.«

»Sehr gut.«

Fidelma lehnte sich zurück und erklärte Gadra, was sie wissen wollte. Sogleich übernahm er die Aufgabe. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Fidelma sah auf und erblickte Duban, der verwundert die Szene betrachtete.

»Critan hat sich bei mir beschwert ...«, begann er verlegen, doch Fidelma unterbrach ihn.

»Ich kann mir vorstellen, was Critan gesagt hat«, erklärte sie.

Duban verzog das Gesicht.

»Ich weiß, daß er seine Fehler hat. Ich werde dafür sorgen, daß er Moen nicht mehr bewacht, wenn du das möchtest.« Er schaute zu Gadra und Moen hinüber. »Es stimmt also. Kann er sich wirklich verständlich machen?«

»Wie du siehst, Duban, können wir uns mit ihm verständigen und er sich mit uns. Würdest du bitte draußen warten? Wir müssen Moen bei dieser Befragung ebensolche Vertraulichkeit zubilligen, wie jedem von uns nach dem Gesetz zusteht.«

Der Kommandeur der Wache machte zwar ein enttäuschtes Gesicht, nickte aber und verließ den Raum.

Fidelma und Eadulf beobachteten nun staunend und beeindruckt, wie schnell Moens Finger über Ga-dras Handfläche tanzten. Ab und zu unterbrach der Alte den Fluß der Zeichen. Wahrscheinlich stellte er klärende Zwischenfragen. Dann begann er zwischen Fidelma und Moen zu dolmetschen.

»Sag uns, Moen, hast du Teafa oder Eber getötet?«

»Nein.« Eine Pause. »Ich hatte Teafa sehr gern. Sie zog mich auf wie eine Mutter.«

»Erzählst du uns, was sich in der Nacht ereignete, in der du gefangengesetzt wurdest?«

»Ich will es versuchen.«

»Laß dir Zeit und berichte uns alles so ausführlich wie möglich.«

»Ich versuche es. Manchmal schlafe ich schlecht. Dann stehe ich auf und gehe umher.«

»Du gehst nachts herum?«

»Ob Nacht oder Tag, das ist mir gleich.«

Fidelma bemerkte zu ihrer Überraschung, daß Moen tatsächlich über den Scherz lächelte, den er gemacht hatte.

»Gingst du in der Nacht auch aus?«

»Ja.«

»Weißt du, wie spät es war?«

»Leider nicht. Zeit bedeutet mir nichts, außer wenn ich merke, daß es heiß oder kalt ist oder wenn ich bestimmte Arten von Blumen riechen kann. Ich weiß nur, daß es kalt war, als ich hinausging, und daß es feucht roch, aber nicht nach Blumen. Ich stand auf und ging zur Tür unserer Hütte. Ich kann mich sehr leise bewegen.«

Fidelma begriff, daß dies gegen Moen ausgelegt werden konnte.

»Wie gut kannst du dich allein im Dorf bewegen?« fragte sie.

»Wenn nicht jemand etwas im Weg liegen läßt, etwas, was nicht in die Lücken zwischen den Gebäuden gehört, dann habe ich im allgemeinen keine Schwierigkeiten. Ein paarmal bin ich über eine Kiste oder ähnliches gefallen, was im Weg lag. Dann schlagen die Hunde an, und die Leute werden ärgerlich. Gewöhnlich geht es sehr gut.«

»Wohin gingst du?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich kann es dir zeigen, wenn du willst, ich gehe einfach noch einmal denselben Weg.«

»Später. Was tatest du unterwegs?«

»Wenig, ich saß nur am Wasser, wo es oft so schön riecht und die Düfte Körper und Seele und Verstand streicheln. Aber damals roch es nicht.«

»Du saßest am Wasser?«

»Ja.«

»An fließendem Wasser?«

»Ja. Teafa nennt es einen Fluß.«

»Hast du das öfter gemacht?«

»Sehr oft. Da kann man das Leben genießen, besonders, wenn es warm ist und die Luft duftet. Ich sitze einfach da und denke nach.«

Fidelma schluckte, als sie begriff, wie sensibel der junge Mann war, den alle für ein bloßes Tier hielten.

»Was tatest du dann?« »Ich ging zurück zur Hütte.«

»Zu Teafas Hütte?«

»Ja. An der Tür nahmen mich Leute am Arm. Sie drückten mir ein Stück Holz in die Hand. Sie führten meine andere Hand am Holz entlang, wahrscheinlich, damit ich begreifen sollte, daß auf dem Holz etwas geschrieben stand.«

»Etwas geschrieben?«

»Es waren Buchstaben eingeritzt von der Art, mit denen wir uns jetzt verständigen.«

»Weißt du, wer die Leute waren?«

»Nein. Ihr Geruch war mir fremd.«

»Was stand auf dem Stück Holz geschrieben?«

»Dort stand: >Eber will dich sofort sprechen.< Ich sollte zu Eber kommen.«

»Was tatest du?«

»Ich ging hin.«

»Hast du nicht daran gedacht, Teafa zu wecken und es ihr zu sagen?«

»Sie wäre dagegen gewesen, daß ich zu Eber ging.«

»Warum das?«

»Sie hielt ihn für einen schlechten Menschen.«

»Und was hieltest du von ihm?«

»Eber war immer nett zu mir. Er gab mir manchmal zu essen und versuchte sich mit mir zu verständigen. Er legte mir die Hand auf den Kopf und aufs Gesicht, aber er wußte nicht, wie er mir etwas mitteilen sollte. Ich habe Teafa einmal gebeten, ihm unsere Verständigungsweise beizubringen, aber sie wollte es nicht.«

»Hat sie dir erklärt, warum sie es nicht wollte?« »Nein, nie. Sie sagte nur, er sei ein sehr schlechter Mensch.«

»Als du nun diese Botschaft erhieltest, hast du also gedacht, er habe euer Verständigungsmittel entdeckt?«

»Ja. Wenn Eber mir Buchstaben auf einem Stab schickte, hatte er es wohl herausgefunden.«

Diese Logik war nicht zu widerlegen.

»Was machtest du mit dem Stab?«

Es trat eine Pause ein.

»Ich ließ ihn fallen, glaube ich. Nein, er wurde mir aus der Hand gerissen. Ich hab mich nicht darum gekümmert. Ich wollte schnell zu Eber.«

»Du fandest den Weg zu Ebers Wohnung?«

»Das war nicht schwer. Ich kann mich gut orientieren.« Er hielt inne.

»Erzähl weiter«, drängte ihn Fidelma.

»Ich ging zur Tür. Ich klopfte an, wie Teafa es mich gelehrt hatte. Dann hob ich den Riegel an und ging hinein. Niemand kam zu mir. Ich wartete eine Weile und dachte, wenn Eber da wäre, würde er sich melden. Dann merkte ich, daß es noch ein Zimmer geben mußte, und ging weiter. Ich tastete mich an der Wand entlang und fand schließlich die zweite Tür. Ich klopfte an, aber es wurde nicht geöffnet. Ich fand den Riegel, hob ihn und trat ein.«

»Was geschah dann?«

»Nichts. Ich wartete wieder, daß Eber sich meldete. Dann fragte ich mich, ob es noch ein Zimmer gäbe. Ich schob mich an der Wand entlang, eine Hand vorgestreckt. Sie traf bald auf etwas Heißes, Unangenehmes, ich glaube, ihr nennt es eine Lampe. Etwas, das brennt, damit ihr im Dunkeln sehen könnt.«

Fidelma nickte, doch sofort wurde ihr klar, daß Moen das ja nicht sehen konnte. Sie sagte also: »Ja. Auf dem Tisch brannte eine Lampe. Was dann?«

»Als ich um den Tisch herumging, stießen meine Füße gegen etwas, das auf dem Boden lag. Ich dachte, es wäre eine Matratze. Ich beschloß, darüber hinwegzukriechen und an der Wand entlang zur anderen Seite des Zimmers zu gehen, denn ich wollte die Tür zum nächsten Zimmer finden. Ich hockte mich hin und versuchte, über das hinwegzuklettern, was ich für eine Matratze hielt ...«

Die Finger wurden still, dann fuhren sie fort: »Ich merkte, daß vor mir eine Leiche lag. Ich berührte sie mit der Hand. Sie war feucht und klebrig. Das Feuchte schmeckte salzig und ekelte mich. Ich tastete nach dem Gesicht, traf aber auf etwas Kaltes, das auch feucht war. Es war sehr scharf. Es war ein Messer.«

Der junge Mann erschauerte.

»Ich kniete dort und wußte nicht, was ich tun sollte. Ich erkannte Eber am Geruch. Ich roch, daß Eber vor mir lag und das Leben aus ihm gewichen war. Ich glaube, ich stöhnte etwas. Ich wollte mir den Weg nach draußen suchen und Teafa wecken, als mich Hände grob packten. Ich hatte Angst um mein Leben. Ich schlug um mich. Fäuste trafen mich, taten mir weh, und ich wurde gefesselt. Ich wurde irgendwohin geschleppt. Es roch ekelhaft. Niemand kam zu mir. Niemand versuchte sich mit mir zu verständigen. Ich brachte eine Ewigkeit im Fegefeuer zu und wußte nicht, was ich tun sollte. Mir wurde klar, daß Eber erstochen worden war, und zwar mit dem Messer, das ich gefunden und in der Hand gehalten hatte. Ich vermutete, daß die Leute, die mich gefangen hatten, entweder seine Mörder waren oder, noch schlimmer, daß sie annahmen, ich hätte Eber getötet.

Ich versuchte etwas zu finden, auf das ich eine Nachricht für Teafa schreiben könnte. Ich konnte nicht verstehen, daß sie mich im Stich ließ. Ab und zu warf man mir ein paar Brocken zu essen hin. Es gab auch einen Eimer mit Wasser. Manchmal konnte ich essen und trinken, aber oft fand ich die Brocken nicht, die sie mir hinwarfen. Niemand half mir. Niemand.«

Er machte eine Pause, ehe seine Finger weiterschrieben.

»Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Schließlich bemerkte ich einen Geruch, den ich auch jetzt wahrnehme ... Die Frau mit Namen Fidelma. Danach kamen Hände, die grob waren, aber mich säuberten, fütterten und mir zu trinken gaben. Ich blieb angekettet, erhielt jedoch eine bequeme Strohmatratze, und der Ort roch besser. Aber wieder verging Zeit. Erst jetzt kann ich reden, und erst jetzt ist mir ganz klar, was sich ereignet hat.«

Fidelma seufzte tief, als Gadra die Übersetzung der Fingerzeichen des jungen Mannes beendet hatte.

»Moen, dir hat man ein großes Unrecht zugefügt«, sagte sie schließlich. Gadra übersetzte prompt. »Selbst wenn du schuldig gewesen wärst, hätte man dich nicht wie ein Tier behandeln dürfen. Dafür müssen wir dich um Verzeihung bitten.«

»Du brauchst nicht darum zu bitten, Fidelma. Du hast mich aus dieser Lage befreit.«

»Noch nicht ganz. Ich fürchte, befreit bist du erst, wenn wir deine Unschuld bewiesen und den Schuldigen überführt haben.«

»Ich verstehe. Wie kann ich dir dabei helfen?«

»Für den Augenblick hast du mir sehr geholfen, ich werde später noch einmal mit dir sprechen. Du kannst in die Hütte zurückkehren, in der du mit Teafa gewohnt hast und die dir vertraut ist. Wenn Gadra dazu bereit ist, wird er für dich sorgen, bis unsere Suche nach dem Schuldigen beendet ist. Zu deinem eigenen Schutz empfehle ich dir, die Hütte nicht allein zu verlassen.«

»Ich verstehe. Danke, Schwester Fidelma.«

»Noch eins.« Ihr war ein Gedanke gekommen.

»Nämlich?« fragte Moen durch Gadra, als sie schwieg.

»Du sagtest, du konntest mich riechen?«

»Ja. Ich mußte die Sinne entwickeln, die Gott mir gelassen hat: Tastsinn, Geschmack und Geruch. Ich spüre auch Schwingungen. Ich merke es, wenn sich ein Pferd nähert oder ein kleineres Tier. Ich erkenne, in welche Richtung ein Fluß läuft. Das alles verrät mir, was um mich herum geschieht.«

Er hielt inne und schien genau in die Richtung von Bruder Eadulf zu lächeln.

»Ich weiß, daß du einen Begleiter hast, Fidelma, und daß es ein Mann ist.«

Eadulf bewegte sich verlegen.

»Es ist Bruder Eadulf«, erklärte Gadra und sagte zu ihm: »Wenn du nicht Ogham kannst, drücke Moen die Hand zum Gruß.«

Vorsichtig langte Eadulf hinüber und nahm die Hand des jungen Mannes. Er fühlte den Druck als Antwort.

»Sei gesegnet, Bruder Eadulf«, übersetzte Gadra rasch die Fingerbewegungen Moens.

»Kommen wir auf deinen Geruchssinn zurück«, unterbrach ihn Fidelma. »Erinnere dich daran, Moen, wie jemand deine Hand ergriff und dir den Stab mit der Ogham-Schrift gab, die lautete, du solltest zu Eber kommen. Du sagtest, du hättest seinen Geruch nicht erkannt. Hatte er denn einen Geruch?«

Moen dachte nach.

»O ja. Ich habe nicht mehr daran gedacht. Es war ein süßer Geruch nach Blumen.«

»Ein Geruch nach Blumen? Aber es war kalt, sagtest du. Das heißt, für uns war es Nacht, und nach der Zeit, zu der du in Ebers Wohnung angetroffen wurdest, stimmt das auch. Nur wenige Blumen geben in den ganz frühen Morgenstunden ihren Duft ab.«

»Es war ein Parfüm. Nach dem Geruch dachte ich zuerst, es wäre eine Dame, die mir den Stab gab. Aber die Hände, die meine Hände berührten, waren rauh und schwielig. Es muß ein Mann gewesen sein. Der Tastsinn lügt nicht; es war ein Mann, der mir den Stab mit der Schrift darauf gab.«

»Was für eine Art von Parfüm war es?«

»Ich kann Gerüche erkennen, aber ich kann ihnen nicht die Bezeichnungen geben, unter denen ihr sie kennt. Ich bin jedoch sicher, daß die Hände einem Mann gehörten. Sie waren rauh und hart.«

Fidelma atmete tief aus und lehnte sich nachdenklich zurück.

»Nun gut, Gadra«, sagte sie schließlich zu dem Alten. »Ich gebe dir Moen in Gewahrsam. Du mußt dich um ihn kümmern und ihn vorläufig in Teafas Hütte behalten.«

Gadra sah sie besorgt an.

»Glaubst du jetzt, daß der Junge an den Verbrechen unschuldig ist, die man ihm vorwirft?«

Fidelma wehrte ab.

»Glauben und beweisen ist zweierlei, Gadra. Sieh zu, daß er sich wohl fühlt. Ich halte dich auf dem laufenden.«

Gadra half Moen auf die Füße und führte ihn zur Tür.

Duban stand noch draußen. Nachdem Fidelma ihm ihre Wünsche mitgeteilt hatte, trat er beiseite und ließ Gadra und seinen Schützling vorbei.

»Einigen Leuten in diesem rath wird deine Entscheidung nicht gefallen, Fidelma«, murmelte der Krieger.

Fidelmas Augen blitzten zornig.

»Ich rechne sehr damit, daß die Schuldigen damit unzufrieden sind«, erwiderte sie.

»Ich werde Cron von deiner Entscheidung hinsichtlich Moens informieren«, sagte Duban. »Aber ich wollte dir noch etwas mitteilen, was dich interessieren könnte.«

»Nun?« fragte sie, als er schwieg.

»Ein Reiter hat eben die Nachricht in den rath gebracht, daß einer der einzeln liegenden Bauernhöfe heute morgen überfallen worden ist. Ich hole gleich meine Männer zusammen, damit wir helfen können, soweit das möglich ist. Ich dachte, es würde dich interessieren, wessen Hof angegriffen wurde.«

»Warum?« fragte Fidelma. »Komm zur Sache, Mann. Weshalb sollte mich das interessieren?«

»Es war der Hof des jungen Archü.«

Eadulf spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff.

»Ein Überfall auf Archüs Bauernhof? Wurde jemand verletzt?«

»Ein Schäfer aus der Gegend brachte die Nachricht und berichtete, er habe gesehen, daß Rinder weggetrieben und Scheunen angezündet wurden, und er meint, ein Mensch wurde getötet.«

»Wer?« fragte Fidelma.

»Das konnte uns der Schäfer nicht sagen.«

»Wo ist dieser Schäfer?«

»Er hat den rath schon verlassen, weil er sich wieder um seine Herde kümmern muß.«

Eadulf wandte sich mit besorgter Miene an Fidelma.

»Archü sagte doch, daß er und Scoth den Hof allein bewirtschaften.«

»Ich weiß«, antwortete Fidelma ernst. »Duban, wann willst du mit deinen Männern zu Archüs Hof reiten?«

»Sofort.«

»Dann kommen Eadulf und ich mit. Ich nehme Anteil an dem Schicksal dieser jungen Leute. Hat man festgestellt, wo Muadnat sich aufhält? Ich würde es ihm sehr wohl zutrauen, daß er Archü überfällt und den Verdacht auf deine Viehräuber lenkt.«

»Ich weiß, du kannst Muadnat nicht leiden, aber ich glaube nicht, daß er eine solche Dummheit begeht. Du schätzt ihn falsch ein. Außerdem haben wir die Banditen mit eigenen Augen gesehen.«

Eadulf meinte nachdenklich: »Es stimmt, Fidelma. Du kannst nicht leugnen, daß es die Banditen gibt.«

»Reiter haben wir allerdings gesehen«, sagte Fidelma.

»Aber wie ihr euch erinnern werdet, zogen sie nach Süden, und Rinder hatten sie auch nicht bei sich, sondern Esel mit schweren Tragkörben. Wo waren denn die Rinder, wenn das Viehdiebe waren? Los, kommt, wir reiten zu Archüs Hof.«

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