Kapitel 18

Zunächst hatte sie vorgehabt, Duban zu suchen, um festzustellen, ob er herausgefunden hatte, wohin Di-gnait sich geflüchtet haben könnte. Sie war äußerst beunruhigt. Wenn ihr Clidna auch gesagt hatte, es gäbe andere in Araglin, denen sie eher einen Mord zutrauen würde als dem stämmigen Krieger, so konnte das Fidelmas Verdacht nicht ausräumen. Wenn er Eber haßte, warum war Duban dann nach Araglin zurückgekehrt und in seine Dienste getreten? Und wenn er Cron liebte, dann war der Tod Ebers von Vorteil für beide. Sie traute ihnen nicht mehr wegen der Lügen, die sie ihr aufgetischt hatten. Unbewußt lenkte sie ihr Pferd über die Berge zum Bergwerk hin.

Es war ein mühsamer Ritt, denn mehrmals hielt es Fidelma für besser, sich vor einem einsamen Reisenden zu verbergen oder einen weiten Bogen um Gebäude herum zu machen, als beobachtet zu werden. Sie hatte das deutliche Gefühl, daß sich die Ereignisse verdichteten wie die Fäden eines Spinnennetzes, immer enger miteinander verflochten waren zur Mitte hin, wo die schattenhafte Gestalt eines großen Drahtziehers saß, der die verschiedenen Stränge manipulierte.

Fidelma erreichte das Waldstück, in dem sie und Eadulf den Höhleneingang entdeckt und Menma daraus hervortreten gesehen hatten. Sie überlegte, wie nahe sie wohl herankäme, ohne bemerkt zu werden, und wie viele Arbeiter da sein mochten. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie dort einen der Schlüssel zu all den Geheimnissen finden werde.

Mit geschärften Sinnen ritt sie durch den Wald und nahm die düsteren Eichen wahr, deren Blütenstände sich färbten, die weißen, roten und sogar rosafarbenen Blüten des kräftigen Weißdorns und die gerade abgeblühten Eiben. Die Buchen standen in leuchtend frischem Grün. Alles schien so friedlich, so idyllisch. Es war schwer zu glauben, daß Mord und Totschlag in diesem schönen Land umgingen.

Plötzlich scheute ihr Pferd, denn ganz in der Nähe war das eigenartige hohe Bellen eines jagenden Fuchses zu hören.

Es war klug, nicht zu vergessen, daß auch in so idyllischer Umgebung Raubtiere ihre Opfer suchten.

Sie näherte sich der Stelle, an der sie und Eadulf ihre Pferde angebunden hatten, und entschloß sich, das wieder zu tun und zu Fuß weiterzugehen. Das war gut so, denn als sie den Waldrand erreichte, hörte sie Hufschlag und duckte sich ins Unterholz. Auf dem nahen Weg kam aus der Richtung der Höhle ein Pferd angaloppiert. Fidelma sah eine schlanke Gestalt tief auf den Hals des Pferdes gebückt, und ein bunter Mantel wehte im Wind. Dann waren Pferd und Reiter vorbei. Fidelma verhielt einen Augenblick. Plötzlich meinte sie, von der Lichtung her einen Schrei zu hören, und ging vorsichtig darauf zu. Bald blickte sie über die Lichtung auf den Berghang, in dem sich der Höhleneingang befand. Zwei Pferde waren davor angebunden. Sie hielt sich im Schutz der Büsche verborgen.

Von dem Wagen war diesmal nichts zu sehen, und von dem Feuer war nur noch eine geschwärzte Stelle übrig, doch die Werkzeuge lagen noch an ihrem Platz. Sie horchte, aber außer dem Gesang der Waldvögel und dem Rauschen des Windes in den Wipfeln war nichts zu vernehmen. Fidelma betrachtete die Pferde. Sie waren gesattelt und bestimmt keine Ackergäule, sondern von der Art, wie sie Krieger ritten. Eins von ihnen kam ihr bekannt vor, und sie zürnte ihrem Gedächtnis, weil sie sich nicht erinnern konnte, wo sie es gesehen und wer es geritten hatte.

Sie wollte aufstehen und sich der Höhle nähern, als sich plötzlich die Ereignisse überschlugen. Eben waren ihre Gedanken noch bei den Pferden, da ließ ein Schrei sie erstarren. Eine Gestalt tauchte aus dem Höhleneingang auf. Sie lief auf die Pferde zu.

Es war der rothaarige Menma. Der Pferdewärter hatte es fast bis zu den Pferden geschafft, als eine zweite Gestalt im Höhleneingang erschien. Sie trat gemächlich heraus, einen gespannten Bogen mit aufgelegtem Pfeil in der Hand.

»Menma!«

Die Stimme war nicht laut, aber so durchdringend, daß sie über die ganze Lichtung schallte.

Der Pferdewärter fuhr herum. Selbst aus der Entfernung sah Fidelma das Entsetzen in seinem Gesicht.

»Um der Liebe Gottes willen!« stammelte er. »Ich kann dich bezahlen! Ich kann .«

Dann riß er das Schwert an sich, das am Sattel seines Pferdes hing, und stürmte, die Waffe schwingend, auf seinen Verfolger zu.

Die zweite Gestalt hob lässig den Bogen. Menma war jetzt in vollem Lauf und verzweifelt bemüht, den Abstand zu überwinden. Es gab einen dumpfen Laut. Menma wurde rückwärts zu Boden geschleudert, das Schwert flog ihm aus der Hand. Ein Pfeilschaft ragte aus seiner Brust. Er zuckte noch kurz, dann lag er still.

Die zweite Gestalt schritt langsam zu ihm hin und betrachtete gelassen seinen reglosen Körper. Sie stieß ihn mit der Zehenspitze an, wie um sicherzugehen, daß er tot war. Dann beugte sie sich über ihn und zog den Pfeil aus seiner Brust. Fidelma konnte erkennen, wie dabei ein kleiner Blutstrom herausschoß. Ruhig steckte die zweite Gestalt den Pfeil wieder in den Köcher, löste die Bogensehne, ging zu ihrem Pferd, band es los und schwang sich in den Sattel. Sie beugte sich zu Menmas Pferd, band es ebenfalls los und ritt von der Lichtung, das zweite Pferd mitführend.

Erst als der Reiter auf dem Waldweg verschwunden war, atmete Fidelma tief durch. Sie war wie erstarrt vor Entsetzen.

Die zweite Gestalt war Duban.

Es dauerte einige Zeit, bis Fidelma ihr Versteck verließ und langsam zur Leiche Menmas ging. Sie sah, daß jede irdische Hilfe zu spät kam, also bekreuzigte sie sich und sprach ein leises Gebet für den Frieden seiner Seele. Sie hatte den übelriechenden Stallwärter nicht besonders gemocht, doch sie fragte sich, ob er einen solchen Tod verdient hatte. Welchen Grund hatte Duban, den Rothaarigen so kaltblütig niederzuschießen?

Ihr Blick fiel auf einen Gegenstand im Hosenbund des Stallwärters, der ihr an ihm merkwürdig vorkam. Sie beugte sich nieder und zog ihn heraus. Es war ein Stück beschriebenes Pergament, aus dem noch etwas anderes herausfiel, ein kleines, einfach gearbeitetes goldenes römisches Kruzifix. Sie hob es auf. Das Gold glänzte rötlich von dem Anteil des Kupfers darin. Sie besah sich das Pergament. Etwas Lateinisches stand darauf, das sich leicht übersetzen ließ: »Wenn du Antwort auf die Morde in Araglin haben willst, dann sieh unter dem Bauernhof des Landräubers Archü nach.«

Sie runzelte die Stirn. Das Latein war einfach, aber klar formuliert und grammatisch korrekt. Sie blickte auf Menmas Leiche hinunter. Er hatte das Pergament in seinen Hosenbund gesteckt, und Duban hatte es offensichtlich nicht bemerkt. Es hatte keinen Zweck, sich an dieser Stelle zu fragen, was es zu bedeuten habe. Sie faltete es sorgfältig zusammen und tat es samt dem Kruzifix in ihren Beutel.

»Terra es, terram ibis«, murmelte sie, den Blick auf die Leiche gerichtet. Das war nur zu wahr. In einer Welt voller Ungewißheiten war es die einzige verläßliche Aussicht. Wir sind alle von Staub gemacht und werden eines Tages wieder zu Staub.

Sie wandte sich zum Höhleneingang. Sie war sich sicher, daß nach Dubans Fortgang dort niemand mehr sei. Die Höhle lag dunkel und still da. Sie sah die Werkzeuge am Eingang und daneben eine Öllampe mit Feuerstein und Zunder. Im Nu hatte sie sie angezündet und ging ins Dunkle hinein. Anscheinend war in der Höhle noch vor kurzem gearbeitet worden.

Sie brauchte nicht weit zu gehen, um ihre Vermutung bestätigt zu finden. Sie erblickte eine glitzernde Gesteinsader etwa in Schulterhöhe. Sie betastete sie, im Lampenlicht blitzte es rötlichgolden auf.

Ein Goldbergwerk.

War dies der wahre Grund für alle Geheimnisse?

Sie untersuchte die Goldader sorgfältig. Sie kannte sich ein wenig damit aus, denn an mehreren Stellen in den fünf Königreichen wurde Gold gewonnen, sogar in Kildare, dem großen Kloster, das die heilige Brigitta gegründet und in dem Fidelma den größten Teil ihres Lebens als Nonne verbracht hatte. Es hieß, daß Tigernmas, der sechsundzwanzigste Großkönig, der tausend Jahre vor Christi Geburt über Eireann herrschte, der erste war, der in diesem Lande Gold schmolz. Ob das nun stimmte oder nicht, jedenfalls hatte das Gold die Rinder als Maßstab für den Wert von Waren, Diensten und Verpflichtungen fast verdrängt. Wegen seiner Beständigkeit besaß Gold viele Vorteile gegenüber dem traditionellen Tauschhandel. Es war inzwischen eine gängige Währung ebenso wie Silber, Bronze und Kupfer. Wer diese Ader ausbeutete, der würde reich werden.

Die Dinge fügten sich allmählich zu einem Bild zusammen, aber noch fehlten einige Details, damit es vollständig war. Morna, der Bruder Bressals, war Bergarbeiter gewesen, und er hatte das Gold entdeckt. Jetzt war Morna tot. Muadnat hatte sich verzweifelt bemüht, dieses Land zu behalten, weil es hier Gold gab. Aber auch er war tot. Menma? Menma hatte anscheinend für Muadnat gearbeitet. Doch er hatte nicht genug Verstand, um dieses Bergwerk selbst auszubeuten. Nun war Menma ebenfalls tot. Und was war mit Duban, der Menma getötet hatte?

Sie verließ eilig die Höhle und trat hinaus in das erlösende Tageslicht.

Menmas Leiche lag noch immer auf dem Rücken auf der Lichtung. Die Sonne stand nach wie vor am Himmel, und der Gesang der Vögel war nicht verstummt. Alles schien so unwirklich.

Fidelma überquerte die Lichtung und eilte in den Schutz des Waldes und zu ihrem Pferd. Ihr nächstes Ziel war Archüs Hof. Zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit führte sie ihr Pferd über den Berg, der sie von dem L-förmigen Tal des Schwarzen Moors trennte, in dem Archü wohnte.

Am späten Nachmittag begann sie den Abstieg zu seinem Hof.

Scoth eilte ihr entgegen und begrüßte sie mit einem warmen Lächeln.

»Es ist schön, dich so bald wiederzusehen, Schwester. Wo ist Bruder Eadulf?«

Fidelma erklärte es ihr. Sie bemühte sich, ihre Gefühle nicht zu verraten, doch das Mädchen durchschaute sie sofort und faßte ihre Hand.

»Können wir irgend etwas tun?«

Fidelma versuchte ihre schlimme Vorahnung zu verdrängen.

»Nichts. Erst muß das Fieber zurückgehen ... Falls es zurückgeht. Wo ist Archü?«

»Er ist oben auf der Wiese mit Dubans Kriegern. Sie reparieren einen Zaun, denn es sollen sich hier hungrige Wölfe herumtreiben.«

»Es ist nicht gut, daß du hier allein bleibst. Einer der Krieger sollte immer zu deinem Schutz bei dir sein«, sagte Fidelma besorgt.

»Sie sind in Rufweite«, versicherte ihr Scoth. »Ich glaube nicht, daß ich Angst haben muß. Archü kann von der Wiese aus gut sehen, ob Fremde ins Tal kommen.«

»Ich kam über den Berg, und das hat er anscheinend nicht bemerkt.«

»Er sah dich vor einer halben Stunde über den Berg kommen und sagte mir, ich solle dich empfangen«, erklärte Scoth fröhlich. »Ich werde schon gut beschützt. Aber du bist zu einem bestimmten Zweck hier, Schwester, das sehe ich dir an den Augen an.«

»Gehen wir einen Moment ins Haus«, schlug Fidelma vor.

»Hat es etwas mit Archü zu tun?« erkundigte sich Scoth.

Fidelma führte sie am Arm in das Bauernhaus.

»Es ist wahrscheinlich nichts weiter als ...« Sie langte in ihr marsupium und holte das Stück Pergament heraus. »Kannst du Latein lesen, Scoth?«

Das Mädchen schüttelte traurig den Kopf.

»Ich war nur Küchenmagd. Archü sagt, er will mir Lesen und Schreiben beibringen, wenn wir den Hof in Ordnung haben. Er hat es von seiner Mutter gelernt.«

»Nun, es ist eine Botschaft auf Lateinisch. Jemand rät mir, wenn ich Antworten auf die Morde in Araglin finden wolle, hier danach zu suchen.«

»Das ist böse. Wer will denn da ... ach«, das Mädchen unterbrach sich, »ich glaube, das kommt von Agdae.«

»Agdae?« Fidelma schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß Agdae in der Lage ist, so etwas zu schreiben. Warum sollte er außerdem Lateinisch schreiben?«

»Ich denke, das gehört auch zu dem Plan, uns von diesem Land zu vertreiben.«

»Was gehört dazu?«

Archü stand in der Tür und sah Scoth und Fidelma stirnrunzelnd an. Er zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »Ich sah dich kommen. Ich repariere gerade den Zaun oben an der Wiese. Gibt es noch mehr Ärger?«

»Jemand hat Fidelma geschrieben, wir wären verantwortlich für die Morde in Araglin.«

Fidelma verbesserte sie sofort.

»Das habe ich so nicht gesagt, Scoth. Ich fand ein Stück Pergament, Archü. Kannst du Latein lesen?«

»Meine Mutter hat mich gelehrt, es zu entziffern«, gestand er. »Aber ich beherrsche es nicht gut.«

»Was hältst du davon?« Sie reichte ihm das Pergament.

»Wenn du Antwort auf die Morde in Araglin haben willst, dann sieh unter dem Bauernhof des Landräubers Archü nach«, las er stockend.

Verwirrt sah er Fidelma an.

»Was bedeutet das?«

»Deshalb bin ich hier, um das herauszubekommen. Ich fand das Blatt bei der Leiche von ... bei einem Toten.«

»Einem Toten?« wiederholte er verständnislos.

»Ja. Menma.«

»Aber Menma war doch erst heute morgen hier mit einer Nachricht«, sagte Archü erstaunt.

»Was hatte er euch mitzuteilen?«

»Es ging darum, daß Dignait vermißt wurde. Ich sollte Dubans Männer auffordern, nach ihr Ausschau zu halten.«

»Ist das schon wieder ein Versuch, uns anzuschwärzen und uns aus dem Schwarzen Moor zu vertreiben?« fragte Scoth und hielt sich an Archüs Arm fest.

»Wir müssen davon ausgehen, daß jemand eine Spur gelegt hat, der ich folgen soll. Schauen wir mal, was wir finden.«

»Du kannst gern den Hof absuchen.« Archü breitete dramatisch die Arme aus. »Wir haben nichts zu verbergen.«

Fidelma nahm ihm das Pergament aus der Hand und rollte es zusammen.

»Da steht ausdrücklich >suche unter dem Bauernhofs Archü«, erklärte sie. »Was befindet sich unter dem Hof?«

Der junge Mann überlegte eine Weile.

»Unter dem Hof ist nichts.«

»Hast du irgendwo eine Stelle gesehen, an der kürzlich gegraben wurde? Vielleicht .«

Archü überraschte sie damit, daß er plötzlich mit den Fingern schnippte.

»Ich glaube, ich weiß, was gemeint ist.«

»Was denn?« fragte Scoth.

»Mir ist gerade eingefallen, daß meine Mutter mir etwas von einer unterirdischen Kammer erzählt hat. Dieser Hof wurde an einem Ort errichtet, an dem man in alten Zeiten eine unterirdische Vorratskammer angelegt hatte zur Vorsorge gegen Mißernten und Unwetter.«

»Hast du sie mal gesehen?«

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Meine Mutter meinte, die Kammer sei verschlossen worden, als ich noch ein kleiner Junge war. Das Kind einer Dienstmagd war hineingefallen und hatte sich tödlich verletzt. Pater Gorman machte damals gerade einen Besuch hier. Er holte das Kind heraus und riet, die Kammer zu verschließen. Soviel ich weiß, ist sie seitdem nie wieder geöffnet worden. Ich hatte es fast vergessen, bis du mich darauf gebracht hast.«

»Der Schreiber dieses Briefes hat es anscheinend nicht vergessen. Wir müssen den Eingang suchen«, sagte Fidelma.

»Das ist unmöglich. Ich wüßte nicht, wo wir anfangen sollten.«

»So unmöglich ist es nicht. Der Briefschreiber erwartet von uns, daß wir ihn finden, also muß er in der letzten Zeit benutzt worden sein.«

Der Boden des Bauernhauses war mit Steinplatten ausgelegt, und ein Abklopfen blieb ergebnislos. Es gab weder hohl klingende Stellen noch lose Platten.

»Vielleicht ist die Kammer irgendwo draußen?« vermutete Scoth.

Sie gingen um das Haus herum, doch keine Stelle lud zu näherer Untersuchung ein.

»Was ist mit der Scheune da?« fragte Fidelma und wies auf ein nahes Gebäude. Es stand neben dem, das nun nur noch eine geschwärzte Ruine war.

»Sie ist noch nicht gesäubert und umgebaut«, erklärte ihr Archü. »Man hat Schweine darin gehalten.«

»Dann ist es vielleicht der richtige Ort«, meinte Fidelma und ging den anderen voraus.

Drin stank es so, daß ihr fast der Atem wegblieb.

Trotz des Tageslichts war es in der Scheune dunkel und feucht.

»Ich habe die Schweine herausgebracht und wollte saubermachen«, erklärte Archü, als Fidelma zögernd im Dunkel stehenblieb.

»Wir brauchen eine Lampe.«

»Ich hole eine«, erbot sich Scoth.

Bald war sie zurück.

Fidelma hob die Lampe hoch, betrat wieder die stinkende Scheune und sah sich um. Auch hier war der Boden mit Steinplatten ausgelegt. Sie schienen alle fest zu sein, doch dann bemerkte Fidelma in einer Ek-ke unter einer Strohlage eine Erhöhung aus Holzbohlen. Sie schob das feuchte Stroh mit dem Fuß beiseite und entdeckte eine Klapptür.

»Das muß der Eingang sein«, stellte sie mit Befriedigung fest. »Halt die Lampe, Scoth. Hilf mir, Archü, damit wir die Ecke frei machen und die Klapptür öffnen können.«

Es dauerte eine Weile, bis sie die große Holztür entriegelt und gegen die Wand gelehnt hatten. Wie erwartet, führte darunter eine Reihe grob behauener Steinstufen in die Tiefe. Die künstliche Höhle hatte Trockenmauern und eine Decke aus mächtigen Holzbalken.

Fidelma nahm Scoth die Lampe ab und stieg wortlos hinunter. Die Stufen endeten in einem Gang, der so niedrig war, daß man sich darin nur gebückt fortbewegen konnte. Wie Archü gesagt hatte, dienten solche unterirdischen Kammern, uaimh talamh genannt, zur Aufbewahrung von Lebensmitteln für Notzeiten. Den Gang nannte man »Kriechgang«, und von ihm zweigten kleine Kammern ab. Die Höhle stank scheußlich, sie war offensichtlich lange nicht benutzt worden.

Fidelma brauchte nicht weit zu gehen, bis sie fand, was sie suchte. Sie hatte etwas Ähnliches erwartet, war aber doch nicht ganz gefaßt auf die Leiche, auf die das Licht ihrer Lampe fiel.

Es war Dignait. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten. Das sah man auf den ersten Blick. Die Wunde klaffte rot, obwohl das Blut schon geronnen war. Sie war seit mehreren Stunden tot. Fidelma zwang sich dazu, die Wunde genau zu untersuchen. Sie stammte von einem einzigen Schnitt mit einem scharfen Gegenstand, durch den der Kopf fast vom Rumpf getrennt worden war. Sie hatte diese Art von Wunden nun schon zweimal gesehen und wurde erneut an ein geschlachtetes Tier erinnert.

Archü half ihr, die Leiche aus der Höhle zu schaffen. Das war schwierig, aber schließlich gelang es. Scoth holte noch eine Laterne, und in ihrem Licht suchte Fidelma die Leiche sorgfältig nach Spuren ab, die das grausige Geheimnis lüften könnten. Sie fand nichts.

Fidelma war klar, daß Menma die Leiche Dignaits hierhergebracht haben mußte. Ihr fiel ein, daß er früh am Morgen aus dem rath geritten war und einen Esel mit einem schweren Tragekorb mitgeführt hatte. Sie biß sich auf die Lippen. In dem Korb mußte der Leichnam Dignaits gelegen haben.

»War Menma mal eine Weile unbeobachtet, als er heute morgen hier war?« wollte sie wissen.

»Nachdem er seinen Auftrag an Dubans Leute ausgerichtet hatte, die bei mir oben auf der Wiese waren, kehrte er allein zum Haus zurück. Aber Scoth war hier.«

»Ich war im Haus«, bestätigte Scoth. »Menma kam ins Haus, um sich zu verabschieden.«

»Sahst du ihn von der Wiese herunterkommen?«

Scoth schüttelte den Kopf.

»Ich wusch gerade Wäsche und bemerkte ihn erst, als er mich anrief.«

»Dann hatte er also reichlich Zeit, von der Wiese herunterzukommen, sich zu versichern, daß er unbeobachtet war, Dignaits Leiche aus dem Tragekorb zu nehmen und sie in die unterirdische Kammer zu schaffen, bevor er sich bei Scoth meldete.«

Scoth starrte Fidelma entsetzt an.

»Die Leiche war in dem Tragekorb? Aber woher wußte Menma, wo er sie lassen sollte? Kannte er etwa die unterirdische Kammer?«

»Menma war mit Muadnat verwandt«, erklärte Archü.

»Und Muadnat war dieser Hof so vertraut wie sein eigener.«

Der Hufschlag eines auf dem Weg herantrabenden Pferdes unterbrach sie.

Archü fuhr nervös herum, beruhigte sich aber sofort.

»Es ist nur Duban«, meinte er und fügte überflüssi-gerweise hinzu: »Deshalb haben uns seine Männer nicht gewarnt.«

Fidelma fühlte sich sofort beklommen beim Anblick des Kriegers. Sie wußte schließlich nicht, aus welchem Grunde er Menma getötet hatte.

Duban schwang sich vom Pferd und begrüßte sie alle mit einem freundlichen Lächeln. Dann erblickte er die Leiche zu ihren Füßen.

»Was ist passiert?« fragte er. »Das ist ja Dignait!«

»Wir fanden sie in einer unterirdischen Vorratskammer«, erklärte Archü.

Der Krieger hockte sich hin und untersuchte die Leiche. Dann stand er auf.

»Na, das löst ein Rätsel«, brummte er. »Heute morgen hat man mir gesagt, Dignait sei verschwunden, nachdem sie anscheinend dem Angelsachsen Giftpilze vorgesetzt hatte. Was hat das zu bedeuten, Schwester?«

Fidelma zwang sich dazu, unbefangen zu erscheinen.

»Darüber weiß ich auch nicht mehr als du.«

»Wie hast du die Leiche entdeckt?«

»Ich fand dieses Blatt Pergament«, erklärte Fidelma rasch, bevor jemand Menma erwähnen konnte. Sie hielt es Duban hin und beobachtete sein Gesicht genau. Es zeigte keine Reaktion, also kannte er das Blatt noch nicht.

»Das verstehe ich nicht«, meinte er. »Hier steht, du sollst an dieser Stelle suchen. Aber wieso klärt die Entdeckung der Leiche Dignaits die Morde in Araglin auf?«

»Vielleicht«, erwiderte Fidelma und nahm das Blatt wieder an sich, »soll ich glauben, daß Dignait für die Morde verantwortlich ist.«

»Na, das kann nicht sein«, erklärte Duban. »Es ist offenkundig, daß dieselbe Hand, die Muadnat tötete, auch Dignait umbrachte. Die Schnittwunden sind so ähnlich, daß sie nicht von verschiedenen Händen stammen können.«

»Du beobachtest scharf, Duban«, stimmte ihm Fidelma ruhig zu.

»Krieg und Tod sind mein Beruf, Schwester. Ich bin es gewohnt, Wunden zu betrachten. Doch wer das Blatt auch geschrieben hat, er gab uns einen unbeabsichtigten Hinweis.«

»Einen Hinweis?«

»Es ist in Latein geschrieben. Nur wenige Leute in Araglin können Latein.«

»Ja, das stimmt«, überlegte Fidelma. »Und wie ich schon zu Scoth sagte, Agdae gehört nicht dazu. Das schließt ihn also aus. Kannst du Latein, Duban?«

Der Krieger zögerte keinen Moment.

»Natürlich. Die meisten gebildeten Leute verstehen etwas davon. Selbst Gadra kann Latein, obwohl er Heide ist.«

Fidelma wandte sich an Archü.

»Ich möchte, daß ihr beide, du und Scoth, morgen mittag in den rath kommt«, ordnete sie an. Als er protestieren wollte, fuhr sie fort: »Duban wird seine Krieger anweisen, euch zu begleiten.« Dann sagte sie zu Duban: »Und du wirst deinen Kriegern auch befehlen, Agdae mitzubringen .«

»Wir haben Agdae nicht finden können«, wandte Duban ein.

»Er ist in Clidnas Bordell. Sorgt dafür, daß er ausgenüchtert ist, wenn er im rath erscheint. Ach, und Clidna könnt ihr auch gleich mitbringen.«

Duban blickte sie erschrocken an.

»Weißt du, was du da verlangst?« fragte er.

»Das weiß ich sehr wohl. Ich denke, morgen werden wir in der Lage sein, das ganze Geheimnis aufzuklären.«

Dubans Augen weiteten sich sichtlich.

»Tatsächlich?«

Fidelma lächelte freudlos.

»Gibst du nun deinen Männern die Anweisungen für das Geleit der Leute, die ich erwähnt habe?«

Der Krieger zögerte, neigte dann aber zustimmend den Kopf, schritt in die Dämmerung hinein und rief seine Männer zusammen.

Fidelma ging rasch zu ihrem Pferd.

»Warte, Schwester!« rief ihr Scoth nach. »Du willst doch jetzt nicht fort. Es wird schon dunkel. Den rath erreichst du erst, wenn es vollkommen finster ist.«

»Macht euch keine Sorgen um mich. Den Weg kenne ich inzwischen. Ich habe noch viel zu erledigen. Ich sehe dich und Archü morgen mittag im rath

Sie schwang sich in den Sattel, setzte ihr Pferd in Trab und ritt in die sinkende Dämmerung hinaus.

Schon nach einer halben Meile hörte sie galoppierenden Hufschlag hinter sich. Sie sah sich nach einem Versteck um, aber hier war der Weg weit und offen.

Es gab nicht einmal eine Hecke, hinter der sie Schutz finden konnte.

»Hoigh! Schwester!«

Es war Dubans Stimme. Widerwillig hielt sie an und wandte sich im Sattel um.

Duban schloß zu ihr auf.

»Es ist nicht klug, in die Dunkelheit zu reiten«, ermahnte er sie. »Davon, daß Dignaits Leiche gefunden ist, wird das Tal nicht sicherer.«

Fidelma lächelte gepreßt, doch das war in der Dunkelheit nicht zu erkennen.

»Das habe ich auch nicht angenommen«, erwiderte sie.

»Du hättest warten sollen. Ich reite ja auch zum rath zurück. Bleiben wir zusammen.«

Fidelma hätte es vorgezogen, allein den Weg zurückzulegen und nicht in Dubans Gesellschaft, nach dem, was sie am Bergwerk gesehen hatte, fand aber keine Ausrede. Entweder mußte sie Dubans Begleitung annehmen, oder sie mußte ihm ihren Verdacht offenbaren und ihr Wissen darum, daß er Menma getötet hatte.

»Nun gut«, sagte sie. »Aber ich kann mit den meisten zweibeinigen Raubtieren fertig werden.«

»Das habe ich schon gehört«, lachte Duban. »Aber ich dachte eher an Vierbeiner. Archü erzählte mir, daß in den letzten Tagen Wölfe das Schwarze Moor unsicher machen.«

»Wölfe sind meine geringste Sorge.«

Gemächlich ritten sie weiter.

»Ach, du denkst an Agdae ...«

»Eher an Critan«, antwortete sie. »Du weißt, ich habe mit dem jungen Mann gekämpft, und er könnte sich rächen wollen.«

Wirkte Dubans Ton unsicher, als er schließlich weitersprach?

»Natürlich, das hatte ich vergessen. Aber Critan brauchst du nicht zu fürchten. Ich habe gehört, er ist fort aus Araglin und will nach Cashel. Hast du es ernst gemeint, als du sagtest, du denkst, daß morgen alles geklärt wird?«

»Ich meine es gewöhnlich ernst mit dem, was ich sage«, entgegnete Fidelma spitz.

»Da wird Cron aber erleichtert sein.«

»Und du wirst sicherlich .«

Ihre Rede wurde vom klagenden Muhen eines Rindes ganz in der Nähe unterbrochen. Es war ein eigenartiger, aufgeregter Angstlaut.

Duban parierte sein Pferd und starrte im Zwielicht auf den Berghang. Fidelma hielt neben ihm.

Schattenhaft sah sie langhaarige Rinder, die sich unruhig bewegten und merkwürdige Warnrufe ausstießen.

»Was ist das?« fragte sie flüsternd.

»Ich weiß es auch nicht«, gestand Duban. »Irgend etwas ängstigt sie, vielleicht ein Tier. Ich schaue lieber mal nach.«

Er glitt vom Pferd und reichte Fidelma die Zügel. Sie sah, wie er vorsichtig in die Dunkelheit hineinging zu der Herde hin.

Es war kalt, und sie zog sich den Mantel fest um die Schultern. Dubans Pferd schnaubte und riß am Zügel.

»Brrr!« rief sie ärgerlich. »Halt still!«

Im nächsten Moment bäumte sich ihr eigenes Pferd ohne Warnung hoch auf, Fidelma verlor den Halt, rutschte über die Kruppe ab und landete mit der Schulter zuerst auf dem Boden. Zum Glück war die Grasnarbe weich und federte den Fall ab. Einen Moment lag sie leicht benommen da, nicht verletzt, aber vom Schreck gelähmt. Dann erhob sie sich auf die Knie und rieb sich den rechten Arm, der den Aufprall am meisten gespürt hatte. Sie schämte sich, weil sie sich hatte abwerfen lassen wie ein Neuling, der noch nie auf einem Pferd gesessen hat.

»He!« rief sie, als beide Pferde im Dunkeln wegtrabten. Sie machte ein paar zögernde Schritte ihnen nach und erschauerte plötzlich. Sie hatte ein leises Rascheln im nahen Unterholz gehört. War das eben nicht ein tiefes Knurren?

Sie blieb stocksteif stehen.

Ein langer, niedriger schwarzer Schatten glitt aus dem Gebüsch und verhielt. Seine Augen funkelten im Dämmerlicht, und dann öffnete sich der Rachen und ließ die weißen Reißzähne sehen.

Der Wolf starrte sie an und knurrte drohend.

Fidelma wußte, wenn sie auch nur die geringste Bewegung machte, würde das mächtige Tier sie anspringen, ihr die scharfen Zähne in die Kehle schlagen, reißen und zerren. Sie zwang sich, nicht die Augen zu schließen, den Atem anzuhalten. Fidelma hatte schon Wölfe gesehen, war auch schon von ihnen bedroht worden, doch war sie zu Pferde immer schneller gewesen als sie oder hatte anderen Schutz besessen. Wölfe waren die häufigsten Raubtiere in den fünf Königreichen, aber meist blieben sie in den Bergen oder Wäldern und griffen nur an, wenn sie gestört wurden oder einen unglücklichen waffenlosen Wanderer antrafen. Es gab leichtere Beute als Menschen, zum Beispiel Haustiere oder Hirschrudel.

Aber hier stand sie ohne Pferd und ohne Waffen nur wenige Schritt entfernt von einem großen Wolf, der offenbar auf Beute aus war. Ihr Verstand, der trotz der Angst, die sie gepackt hatte, noch arbeitete, sagte ihr, daß es eine Wölfin war, die Nahrung für ihre Jungen suchte.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während Wolf und Mensch sich anstarrten. Fidelma spürte, wie sie zu zittern begann. Sie wußte, jede plötzliche Bewegung wäre tödlich.

Auf einmal flog etwas an ihr vorbei. Es traf offenbar den Wolf, denn der jaulte fürchterlich auf. Eine rauhe Hand packte Fidelma und riß sie beiseite. Sie nahm gerade noch wahr, daß der Wolf sich umdrehte und ins Unterholz verschwand.

Sie fuhr herum und stand Duban gegenüber.

»Bist du unversehrt?« fragte der Krieger besorgt.

Fidelma lachte nervös.

»Anscheinend ja«, antwortete sie. Sie atmete mehrmals tief durch, um ihre Fassung wiederzugewinnen.

Vorsichtig rieb sie sich den Arm, an dem er sie gepackt hatte. »Du hast rauhe Hände, Krieger.«

Duban lachte.

»Lederhandschuhe, Schwester. Die ersparen mir Schwielen. Jetzt schauen wir erst mal nach den Pferden. Der Wolf holt vielleicht das Rudel heran und sucht uns.«

»Es tut mir leid«, sagte Fidelma reumütig.

»Was denn?« fragte der Krieger.

»Daß ich in meiner Dummheit die Pferde habe laufen lassen.«

Duban zuckte gleichmütig die Achseln.

»Selbst der beste Reiter kann nicht auf alles gefaßt sein, Schwester. Der Wolf hat die Rinder so unruhig gemacht. Er muß durch das Unterholz hinter dir herangeschlichen sein und hat die Pferde erschreckt. Ich hörte deinen Schrei und eilte zurück. Gott sei Dank lagen ein paar Steine auf dem Boden. Ich habe einen nach dem Wolf geworfen. Nur gut, daß du dich nicht bewegt hast, dann hätte er dich angefallen.« Er hielt inne. »Du hast dich beim Sturz doch nicht verletzt?«

»Nur meine Würde hat gelitten«, sagte Fidelma lächelnd. Und mein Stolz auf meine Logik, fügte sie im stillen hinzu. Wäre Duban der gewesen, für den sie ihn hielt, dann läge sie jetzt mit vom Wolf aufgerissener Kehle da.

»Dann danke Gott, daß es nur das ist und nichts weiter«, antwortete Duban.

Sie machten sich auf die Suche nach ihren Pferden.

»Meinst du wirklich, daß der Wolf zurückkommt?« fragte Fidelma.

»Nach der Größe zu urteilen war es eine Wölfin«, bestätigte Duban ihre eigene Beobachtung. »Sie kehrt bestimmt zurück, denn sie sucht Futter für ihre hungrigen Jungen.«

»Kommen die Wölfe oft so dicht an die Bauernhöfe heran?«

»Eher im Winter als im Frühling oder Sommer. Gelegentlich dringen sie sogar in den rath ein und holen sich Hühner oder auch ein Ferkel.«

Er blieb stehen und hob die Hand.

»Sieh mal, unsere Pferde stehen da bei den Bäumen. Sie sind nicht weit gerannt.«

Fidelma sprach ein stummes Dankgebet. Ein langer Fußmarsch durch die Nacht war jetzt nicht nach ihrem Geschmack.

Die beiden Pferde schienen ehrlich erfreut, ihre Reiter wiederzusehen, und ließen sich ohne Mühe einfangen.

Nachdem sie ein Stück geritten waren, sagte Fidelma: »Du hast mir das Leben gerettet, Duban.«

Der Krieger zuckte die Achseln. Ihre Worte schienen ihm peinlich zu sein.

»Ich habe vor Maenach, dem damaligen König von Cashel, meinen Kriegereid geleistet und geschworen, Menschen in Not zu helfen.«

Fidelma blickte ihn interessiert an. Das bedeutete, daß Duban ein Krieger des alten Ordens vom Goldenen Halsreif war. Die Überlieferung besagte, daß tausend Jahre vor Christi Geburt ein Großkönig aus Cashel über die fünf Königreiche von Eireann geherrscht hatte, Muinheamhoin Mac Fiardea, der achte König nach Eber, dem Sohn von Mile. Dieser Großkönig von Cashel hatte den Orden vom Goldenen Halsreif unter seinen Kriegern gegründet.

»Ich wußte nicht, daß du ein Krieger des Ordens von Cashel bist«, sagte Fidelma.

»Ich trage meine goldene Amtskette nicht oft«, gestand er. »Ich bin ja erst vor ein paar Jahren nach Ara-glin zurückgekehrt, als ich mich nicht mehr jung und kräftig genug fühlte, den Königen von Cashel zu dienen. Und Eber brauchte einen erfahrenen Mann als Kommandeur seiner Leibwache.« Er seufzte. »Diese Aufgabe war nicht so schwierig. Aber vielleicht hätte ich lieber in Cashel bleiben sollen.«

Sein Ton ließ Fidelma aufhorchen.

»Ich habe gehört, du mochtest Eber nicht?«

»Den freundlichen und großzügigen Eber?«

Jetzt war die Ironie in seinen Worten unüberhörbar.

»Wieso, war er das etwa nicht?« konterte Fidelma.

»Jemand sollte dir die Wahrheit über Eber sagen, Schwester.«

»Vielleicht solltest du es tun.«

»Ich bin nicht in der Lage, meine Beschuldigungen zu beweisen. Und wenn ich das nicht kann, verliere ich das bißchen Sicherheit, das ich mir in Araglin für mein Alter geschaffen habe.«

»Ich möchte dir die Aussicht auf ein friedliches Leben nicht zerstören, Duban. Aber wenn du Sicherheit suchst, dann kann ich mich dafür verbürgen, daß mein Bruder als König von Cashel und derzeitiges Oberhaupt des Ordens, dem du den Eid geschworen hast, nicht zulassen wird, daß dir ein Schaden entsteht, weil du deinem Eid gemäß die Wahrheit sagst. Ich habe dich bereits darauf hingewiesen, daß ich weiß, wie hier die Wahrheit verdreht wird. Warum hast du Menma getötet?«

Die Frage flog ihm so schnell entgegen wie ein Pfeil von der Bogensehne. Sie hörte, wie er tief Luft holte.

»Das . weißt du?«

Er schwieg einen Moment. Dann gab er Antwort.

»Ich bin Menma zu dieser Höhle gefolgt. Ich war auf der Suche nach Dignait, als ich bei Muadnats Hof auf Menma und ein paar andere Männer mit einem schweren Wagen stieß. Sie sahen mich nicht. Ich erkannte die Männer wieder, sie gehörten zu denen, die uns auf dem Waldweg begegnet waren, zu den Viehdieben. Menma gab ihnen Anweisungen, dann ritt er allein in die Berge auf dem Weg, von dem Agdae uns gesagt hatte, er führe nirgendwo hin. Natürlich blieb ich ihm auf den Fersen.«

»Wo wollten die anderen Männer hin?«

»Sie wandten sich nach Süden. Menma ritt zu der Höhle. Es war schon jemand dort.«

»Wer war das?«

»Das konnte ich nicht sehen. Menma und dieser andere waren bereits in der Höhle, als ich ankam. Ich hörte von draußen, daß der andere Menma den Auftrag gab, jemanden zu töten, um ihn zum Schweigen zu bringen.«

»Du konntest nicht sehen, wer dieser andere war, der den Auftrag erteilte?«

»Nein. Aber mich packte eine fürchterliche Wut. Ich dachte nicht daran, daß ich nur meinen Bogen bei mir hatte, stürmte in die Höhle und griff die beiden an. Menma wehrte sich heftig, während der andere, den ich nur als dunklen Schatten in der Finsternis der Höhle wahrnahm, an mir vorbei flüchtete. Ich hörte ihn davongaloppieren, während ich noch mit Menma kämpfte. Der riß sich los, rannte aus der Höhle und auf sein Pferd zu. Ich durfte ihn nicht entkommen lassen. Was dann geschah, hast du gesehen.«

»Ja. Ich kann auch bestätigen, daß jemand von der Lichtung floh.«

»Wer?«

»Das konnte ich nicht sehen. Aber du hast seine Stimme gehört.«

»Ich habe sie leider nicht erkannt.«

»War sie männlich oder weiblich?«

»Sie flüsterte, war aber tief. Ich glaube, es war die Stimme eines Mannes.«

»Sag mir, warum du Eber haßtest. Sag die Wahrheit, auf deine Ehre.«

In der Dunkelheit bemerkte sie, wie Duban die Hand zum Hals hob, als erwarte er dort die goldene Halskette des Kriegerordens zu finden.

»Du tust recht daran, mich an meine Ehre zu erinnern, Fidelma«, sagte er. »Vielleicht habe ich in den letzten Jahren in Araglin vergessen, was Ehre wirklich bedeutet.«

»Weil du dich zu lange mit jungen Raufbolden abgegeben hast, die sich einbilden, Krieger zu sein? Schlägern wie Critan?«

In der Ferne tauchten vor ihnen Lichter auf.

»Dort liegt der rath. Wir sind bald da«, murmelte Duban.

»Dann wäre es das beste, du erzählst mir, was du auf dem Herzen hast, Duban, bevor wir ihn erreichen.«

»Eber war nicht das, was er zu sein vorgab. Er war ein Fürst ohne Ehre.«

»Warum?«

»Er war moralisch verdorben.«

»Moralische Verdorbenheit kann viele Formen annehmen. Kannst du dich genauer ausdrücken?«

»Hast du danach gefragt, warum seine Frau sein Bett verließ? Es hieß, er sei wie ein Hirsch in der Brunft und jede Hindin, die ihm in den Weg komme, sei ihm ausgeliefert.«

»Ich verstehe ...«, murmelte Fidelma.

»Nein, ich glaube nicht, daß du das richtig verstehst. Ich meine ... wirklich jede Hindin seines Rudels. Sogar in der eigenen Familie«, murmelte Duban.

»Du meinst, daß er Frauen aus seiner eigenen Familie sexuell mißbrauchte?« fragte Fidelma ruhig. Sie hatte es ja bereits erfahren, wollte hören, was Duban sagte.

»Ich kann es nicht beweisen. Auch die andere Sache kann ich nicht beweisen, spüre es aber im Innern ... daß Eber ein Mörder war.«

Diese Behauptung überraschte Fidelma.

»Du kannst im Vertrauen mit mir sprechen, Duban. Du mußt mir sagen, warum du Eber des Mordes verdächtigst.«

»Nun gut. Ich liebte Ebers jüngere Schwester.«

»Teafa?«

»Nein, nicht Teafa. Sie war ein Jahr älter als Eber. Tomnat war seine jüngere Schwester. Sie hatte Angst vor ihrem Bruder. Als ich sie bat, meine Frau zu werden und mit mir nach Cashel zu kommen, sagte sie, das könne sie nicht wegen der Schande, die auf ihr laste.«

»Hat sie dir erklärt, was sie damit meinte?«

»Nein, und damals habe ich es auch nicht verstanden. Aber ein oder zwei Tage später verschwand Tomnat aus dem rath und aus dem Tal von Araglin, und man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Ich bin überzeugt, daß Eber sie getötet hat, damit sie nicht offenbarte, wie abgrundtief verdorben er war.«

»Wie kannst du das behaupten? Du mußt doch etwas wissen, was diesen Verdacht begründet.«

»Ich weiß, daß es an dem Abend, bevor Tomnat verschwand, einen furchtbaren Streit zwischen ihr und Eber gab.«

»Warst du Zeuge davon?«

»Ich hörte, wie sie sich anschrien. Ich stand Wache und konnte Ebers Privaträume nicht betreten. Nach einer Weile wurde es still, und am nächsten Morgen war Tomnat fort. Ich liebte Tomnat. Sie war so schön, wie es Cron heute ist.«

»Und es wurde weit und breit nach dem verschwundenen Mädchen gesucht?«

»Monatelang erkundigte sich jeder nach Tomnat. Schließlich kam Teafa zu mir und erklärte mir, es wäre das beste für mich, wenn ich ihre Schwester vergäße. Teafa war die einzige, die von meinen Gefühlen für Tomnat wußte. Sie gestand mir, daß Eber Tomnat schon gezwungen hatte, mit ihm zu schlafen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie wurde nie gefunden, und schließlich ging ich nach Cashel und trat in die Leibgarde König Maenachs ein.«

»Behauptete Teafa, daß Eber ihre Schwester Tom-nat getötet habe?«

»Nein, das nicht.«

»Wann ereignete sich das alles?«

»Vor mehr als zwanzig Jahren. Nein, ich kann es genauer sagen. Es geschah ein paar Monate, bevor Teafa Moen zu sich nahm.«

»Hast du Eber nicht angeklagt oder deinen Verdacht geäußert, daß Eber Tomnat ermordet habe?«

»Ich? Was sollte ich allein machen ohne Beweise?«

»Und was war mit Teafa, die dir von dem sexuellen Mißbrauch berichtet hatte?«

»Teafa war der Meinung, sie dürfe ihren Bruder nicht verraten und nicht Schande über ihre Schwester bringen. Ich konnte nicht Anklage erheben, solange ich keine Beweise hatte. Ich verließ Araglin, wie ich schon sagte, in der Hoffnung, ein neues Leben zu be-ginnen. Doch es stimmt, was die alten Barden sagen: Wenn man in einem kleinen Winkel der Welt sein Leben zerstört hat, dann hat man es in jedem Winkel zerstört. Ich begriff das erst, als ich im Dienst von Cashel alt geworden war. Ich konnte Araglin nicht vergessen. Ich träumte davon, eines Tages Tomnat wiederzufinden. Nach mehr als zwanzig Jahren kam ich schließlich hierher zurück.«

»Du kamst zurück, Duban, doch mit welchem Ziel?«

»Das ist leicht zu sagen: Ich kam zurück, um Rache zu nehmen.«

Fidelma versuchte, im Dunkeln in seiner Miene zu lesen, gab es aber auf.

»Rache ist eine häßliche Sache, Duban. Suchtest du Rache oder Gerechtigkeit?«

»Es stimmt, daß ich auch nach Beweisen für das suche, von dem mir mein Herz sagt, daß es die Wahrheit ist. Aber ich will ehrlich sein: ich wollte Rache. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Feuertod für Feuertod. Genau so, wie es Pater Gorman in seiner Kapelle predigt.«

Fidelma neigte den Kopf zur Seite.

»Ist dir klar, was du mir erzählt hast, Duban? Du hast gesagt, daß du allen Grund hattest, Eber zu töten. Und da du in jener Nacht auf Wache standest, hattest du auch die Gelegenheit dazu.«

Duban nickte ernst.

»Das ist wahr, Schwester. Ich hätte niemanden lieber getötet. Der Grund, weshalb ich zurückkehrte und in den Dienst des Fürsten von Araglin trat, war der, daß ich endlich herausfinden wollte, was Tomnat zugestoßen war, und ihn dafür bestrafen, wenn ich das konnte. Falls mich das verdächtig macht, Fidelma, dann bin ich eben verdächtig. Ich stehe dazu. Mach mit mir, was du willst. Wenn ich es auch lieber sähe, daß du die Wahrheit herausfindest.«

»Du streitest also ab, daß du Eber getötet hast?«

»So gern ich auch zugebe, daß ich Rache gesucht und keine Träne vergossen habe, als ich von Ebers Tod erfuhr, so muß ich doch sagen, daß es nicht meine Hand war, die diesen verworfenen Mann ermordete. Auch hatte ich keinen Grund, Teafa zu töten, die eine sehr ehrenhafte Dame war.«

»Konnte Eber sich nicht gebessert haben? Besonders nach dem Verschwinden Tomnats?«

Duban spie beinahe aus.

»Gebessert? Einmal ein Wolf heißt immer ein Wolf. Sie können ihre Natur nicht ändern.«

»Du hast deine Natur geändert«, erklärte ihm Fidelma.

»Das verstehe ich nicht«, meinte Duban verblüfft.

»Du hast deine Liebe zu der seit langem verschollenen Tomnat auf Ebers Tochter Cron übertragen.«

»Das leugne ich nicht.« Es klang irgendwie entschuldigend. »Man kann nicht ewig eine Erinnerung lieben. Es ist richtig, als ich herkam, suchte ich Rache für eine verlorene Liebe, doch ich fand eine neue.«

»Willst du mir damit sagen, daß mehr als zwanzig Jahre deinen Haß auf Eber gemildert haben?«

»Nein, das will ich damit nicht sagen. Ich sage nur, daß ich in Ebers Tochter eine neue Liebe gefunden habe. Ich kann dir versichern, daß ich Eber nicht getötet habe. Wenn ich es nicht tat und dieser arme taubstumme und blinde Idiot auch nicht, dann war es jemand anderes. Und das könnte durchaus jemand gewesen sein, der Ebers wahren Charakter ebenfalls kannte. Finde die Person, die im Dunkel der Höhle mit Menma sprach, und ich glaube, dann hast du den Mörder.«

Fidelma schwieg eine Weile und meinte schließlich: »Da kannst du recht haben, Duban. Eber hat für seine schlimmen Taten gebüßt, und Gott möge ihm vergeben.«

»Gott mag ihm vergeben, aber ich nicht«, erklärte Duban unversöhnlich.

»Hast du eigentlich wirklich gedacht, Moen sei schuldig, als der Mord entdeckt wurde?«

»Ich hatte keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Gott handelt auf rätselhafte Weise, Schwester. Ich glaubte wirklich, Gott habe das unglückliche Geschöpf als das Werkzeug Seiner höheren Vergeltung benutzt.«

»Es ist wohl klar geworden, daß Menma ebenfalls irgendwie in die Sache verwickelt war. Teilst du meine Vermutung, daß er das Werkzeug eines Mächtigeren war?«

Duban nickte sofort zustimmend.

»Menma war ehrgeizig, aber ein einfacher Mensch. Er führte Befehle aus, er gab keine Befehle. Also war es die Person in der Höhle, die Menma die Befehle gab. Diese Person war es auch, die die Nachricht auf dem Pergament schrieb, und sie zieht die Drähte bei all dem Übel, das sich in diesem Tal ausbreitet.«

»Da ist was Wahres dran«, meinte Fidelma. »Sag auf jeden Fall niemandem im rath etwas davon, was du mit Menma gemacht hast oder was wir eben besprochen haben.«

Sie waren nun dem rath schon ganz nahe gekommen. Die Wachhunde schlugen an, als sie Fidelma und ihren Gefährten witterten.

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