13

Wenn man sich auf der Tundra an einen Tabuk anschleichen will, scheitert das oft an mangelnder Deckung. Ich folgte Imnaks Beispiel und kroch auf dem Bauch hinter ihm her, den Hornbogen in der Hand, einen Pfeil lose auf der Sehne. Ich fror scheußlich, denn ich war durchnäßt. Es ist kalt auf der Tundra, die im Sommer streckenweise einem Sumpf ähnelt.

Etwa hundert Meter von uns entfernt grasten elf Tabuk friedlich auf dem Moos.

Leider hat der Hornbogen, der aus Stücken beschnittenen Tabukhorns geformt ist, mit Sehnen zusammengebunden, eine Reichweite von höchstens dreißig Metern. Vor dem Schießen mußte man sich daher dem Tier vorsichtig nähern. Im Norden ist das Holz knapp, und Langbögen gibt es hier nicht. Das Holz würde bei der Kälte auch frieren und brechen, wenn man versuchte, es bis zum üblichen Anschlag zu bringen. Ich hatte zwar einen Langbogen mit in den Norden gebracht, wollte mich aber mit dem Hornbogen vertraut machen, da die andere Waffe in diesen Breitengraden ziemlich unbrauchbar war. Es fällt schwer eine Welt zu beschreiben, die großer Kälte ausgesetzt ist. Ein Nagel kann unter dem Hammer in winzige Stücke zerfallen. Urin kann frieren, ehe es den Boden berührt. Das Jaulen eines Sleen hört man zehn bis zwölf Meilen weit. Ein normal geführtes Gespräch auf einen halben Pasang, ein Berg, der in der klaren Luft sehr nahe wirkt, mag in Wirklichkeit vierzig Pasangs entfernt sein. Die kalte Luft, die auf das Fell eines Sleen trifft, bringt einen Dampf hervor, der das Tier beinahe verschwinden läßt, und ein fliehender Tabuk kann eine Spur aus solchen Dunstwolken hinterlassen. Manchmal friert einem der Atem im Bart fest und verwandelt ihn in eine Eismaske.

Ich fluchte lautlos, als der Tabuk sich grasend einige Schritt entfernte.

Ich hatte Imnak die Jagd vorgeschlagen, denn ich wollte allein mit ihm sprechen, ohne daß die Mädchen mithörten. Bei einer Jagd, so dachte ich, war dazu am besten Gelegenheit, jetzt wünschte ich, wir hätten die Sklavinnen einfach zum Moossammeln geschickt.

Meine Gedanken kreisten um einen Becher heißen Bazi-Tee.

Wir versuchten uns an einen großen Tabukstier heranzupirschen. Wieder entfernte er sich von uns.

Ich widerstand dem Wunsch, aufzuspringen und mit gespanntem Bogen schreiend auf das Tier zuzulaufen.

Ich folgte Imnak. Er schien zu einem Teil der Tundra geworden zu sein. Wenn sich der Tabuk umdrehte und mit aufgestellten Ohren in unsere Richtung blickte, hielten wir inne.

Schon mehr als zwei Ahn lang krochen wir auf dem Bauch herum.

Imnak bedeutete mit einer Geste, daß ich neben ihn rutschen sollte.

»Ist dir kalt?« flüsterte er.

»O nein.«

»Seltsam«, sagte er. »Ich friere sehr.«

»Das freut mich zu hören. Ich nämlich auch.«

»Du scheinst keine gute Laune zu haben«, sagte er. »War Arlene keine ansprechende Gefährtin in deinem Schlafsack?«

»Sie war nett«, sagte ich. »Wie war Fingerhut?«

»Sie quatscht viel.«

»Manche Mädchen sind eben lauter als andere«, sagte ich.

»Stimmt. Vielleicht ist deine Laune nicht so gut, weil dir kalt ist«, fuhr er fort.

»Darauf könnte man beinahe wetten. Aber warum bist du bei guter Stimmung, wenn dir kalt ist?«

»Es ist schon schlimm genug, wenn man friert – ohne auch noch schlechte Laune zu haben.«

»Ich verstehe.« Aus irgendeinem lächerlichen Grund heiterte mich seine Bemerkung auf.

»Ich wollte mit dir auf die Jagd gehen, weil ich etwas Wichtiges zu besprechen habe.«

»Komisch«, antwortete ich. »Ich wollte etwas mit dir bereden.«

»Mein Anliegen ist sehr ernst«, sagte er.

»Das meine auch.«

»Die Männer aus dem Süden muß man vorsichtig ansprechen«, sagte Imnak. »Sie sind so empfindlich und seltsam. Sonst hätte ich schon längst davon angefangen.«

»Oh«, sagte ich. Aus ähnlichen Gründen hatte ich es bisher vermieden, Imnak Näheres über meinen Auftrag im Norden mitzuteilen.

»Bei meiner Sache geht es um Poalu, die Tochter Kadluks.«

»Dein Anliegen ist ernster als das meine«, sagte ich. »Mir ging es lediglich darum, die Welt zu retten.« Noch gut erinnerte ich mich an Poalu, das kupferhaarige Temperamentbündel, das ich beim Fußballspielen gestört hatte.

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Imnak.

»Egal. Was ist mit Poalu?«

»Ich liebe sie.«

»Das ist bedauerlich.«

»Liebst du sie auch?«

»Nein, ich finde nur, es ist bedauerlich für dich.«

»Oh«, sagte er und fügte hinzu: »Das ist nicht unwahrscheinlich, aber es fällt schwer, solche Dinge zu steuern.«

»Da hast du recht.«

»Außerdem liebt Poalu mich auch.«

»Bist du dessen sicher?«

»Aber ja«, sagte er. »Als ich das Festkleid in das Haus ihres Vaters brachte, warf sie den Nachttopf nach mir.«

»Das ist in der Tat ein gutes Zeichen«, sagte ich.

»Ein andermal prügelte sie mit einem Stock auf mich ein und nannte mich einen Tunichtgut.«

»Es liegt auf der Hand, daß sie an dir sehr interessiert ist.«

»Nur seltsam, daß ein so hübsches Mädchen so wenige Freier hat«, sagte Imnak nachdenklich.

»Ja, sehr seltsam.«

»Akko, der mein Freund ist meint, es käme einem Sprung in eine Grube voller halb verhungerter Schnee-Leem gleich, sich mit einer solchen Frau einzulassen. Meinst du das auch?«

»Ja«, sagte ich. Genaugenommen war Akkos bildhafter Vergleich noch sehr sanft – wie es nun mal zu einem rothäutigen Jäger paßte.

»Ich bin nur leider sehr schüchtern«, fuhr Imnak fort.

»Das kann ich mir kaum vorstellen«, sagte ich. »Du scheinst mir ein sehr mutiger Bursche zu sein.«

»Nicht bei Frauen.«

»Bei Fingerhut und Distel scheinst du da keine Probleme zu haben. Sie haben große Angst, dir nicht zu gefallen.«

»Die beiden sind ja auch keine richtigen Frauen, sie gehören nicht zum Volk. Sie sind nichts – weißhäutige Sklavenwesen. Die zählen nicht.«

»Da hast du recht.«

»Poalu ist da ganz anders.«

»In der Tat!«

»Ich will Poalu haben!« sagte er plötzlich und stand auf.

Der Tabuk entfernte sich im Trott.

»Die Tabuk sind fort«, sagte ich.

»Ich bin schüchtern. Du mußt mir helfen.«

»Ja, ja, ich helfe dir. Aber die Tabuk sind verschwunden.«

»Ich wußte doch, daß ich auf dich rechnen konnte.«

»Die Tabuk sind fort.«

»Ja, ich weiß«, meinte er.

»Was soll ich tun?«

»Ich bin zu schüchtern dazu.«

»Wozu bist du zu schüchtern?«

»Ich bin zu schüchtern, sie aus ihrem Elternhaus zu entführen.«

»Ich soll sie für dich entführen?« fragte ich.

»Natürlich«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen. Niemand hat etwas dagegen.«

»Was ist mit Poalu?«

Er runzelte die Stirn.

»Nun ja, wegen Poalu bin ich mir nicht so sicher«, räumte er ein. »Sie ist manchmal ziemlich launisch.«

»Vielleicht solltest du sie selbst entführen«, schlug ich vor.

»Dazu bin ich zu schüchtern.«

»Möglich wäre es – am besten im Schutze der Nacht.«

»Aber dann siehst du ja nicht, was du tust«, sagte Imnak. »Außerdem wird es in den nächsten Wochen nicht dunkel.«

»Ich weiß«, meinte ich. »Wir könnten aber warten.«

»Nein, nein, nein, nein, nein«, sagte Imnak.

»Sie soll bei hellem Tage entführt werden?«

»Natürlich. Das ist doch die beste Zeit zum Mädchenentführen.«

»Das wußte ich nicht«, sagte ich. »Immerhin bin ich im Norden noch neu. Gibt es dabei nicht öfter Probleme? Ich meine, die Brüder der Braut könnten dich mit ihren Speeren von hinten überfallen.«

»Poalu hat keine Brüder.«

»Da haben wir ja Glück. Und was ist mit ihrem Vater? Ich hoffe, der ist wenigstens schwach und unfähig.«

»Kadluk ist ein großer Jäger«, sagte Imnak. »Er kann einen Meeres-Sleen aus einem schwankenden Kajak mit einem Harpunenwurf ins Auge treffen.«

»Wenn nun Kadluk etwas dagegen hätte, daß ich seine Tochter entführe?«

»Warum sollte er etwas dagegen haben?«

»Ach, ich weiß nicht. War nur so ein Gedanke.«

»Keine Sorge«, sagte Imnak beruhigend. »Es ist alles arrangiert.«

»Arrangiert?«

»Ja.«

»Dann weiß Kadluk also, daß ich seine Tochter entführen soll?«

»Selbstverständlich«, sagte Imnak. »Man würde doch wohl kaum wagen, Kadluk ohne seine Erlaubnis die Tochter wegzunehmen!«

»Nein, soweit ich Kadluk bisher kenne, wäre das sicher nicht angebracht.«

»Es wäre nicht höflich.«

»Stimmt«, sagte ich. Außerdem wollte ich keine Harpune in den Kopf bekommen. Der Gedanke, daß der stählern blickende Kadluk seine Harpune auf mich richten könnte, war beängstigend. Irgendwie bekam ich den Meeres-Sleen nicht aus dem Kopf.

»Weiß Poalu, daß sie entführt werden soll?« fragte ich.

»Aber ja«, sagte Imnak, »wie könnte sie sonst zur rechten Zeit fertig sein?«

»Ich habe mir das nicht klar überlegt«, sagte ich.

»Schon gut«, meinte Imnak großzügig.

»Nun, dann wollen wir zum Zelt zurückkehren. Die Tabuk sind fort, und ich bin durchnäßt und friere. Ich freue mich schon auf einen Becher heißen Bazi-Tee.«

»Ach mein Freund«, sagte Imnak traurig, »leider haben wir keinen Bazi-Tee.«

»Aber noch vor kurzem hattest du doch sehr viel.«

»Stimmt, aber jetzt gibt es ihn nicht mehr.«

»Du hast dir Poalu mit dem Tee gekauft?«

Imnak sah mich entsetzt an. »Ich habe Kadluk ein Geschenk gemacht«, sagte er.

»Oh«, sagte ich.

»Außerdem haben wir keinen Zucker mehr, und nur noch wenige Felle.«

»Was ist aus den Goldstücken geworden, die du im Süden eingenommen hast?«

»Die habe ich ebenfalls Kadluk gegeben«, sagte Imnak, »wie auch den größten Teil des Holzes.«

»Wenigstens haben wir die Tabukstreifen von unserem letzten Jagdausflug.«

»Kadluk mag Tabuk.«

»Oh.«

Wir trotteten ins Lager zurück, durchnäßt und bedrückt.

Wie es das Glück so wollte, begegnete uns Poalu.

»Ah«, sagte sie. »Ihr wart auf der Jagd.«

»Ja«, sagte Imnak.

»Wie ich sehe, brecht ihr unter der Last eurer Beute beinahe zusammen«, meinte sie.

»Nein«, sagte Imnak.

»Ich verstehe«, sagte Poalu. »Ihr habt draußen viele Tiere getötet und das Fleisch als euer Eigentum gekennzeichnet. Später schickt ihr die Mädchen los, damit sie für uns alle Fleisch abschneiden.«

Imnak ließ den Kopf hängen.

»Du willst doch nicht behaupten, daß du ohne Fleisch ins Lager zurückgekehrt bist?« fragte sie ungläubig.

»Ja.«

»Das glaube ich einfach nicht! Ein großer Jäger wie Imnak bringt kein Fleisch?«

Imnak trat von einem Fuß auf den anderen und sah sie nicht an.

»Ob sich mein Vater wohl irrt?« fragte sie.

Imnak hob verwirrt den Kopf.

»Er behauptet, Imnak wäre ein großer Jäger! Ich halte das für die Wahrheit. Nur ist Imnak nicht besonders schlau und läßt das Fleisch draußen liegen, wo die Jards sich daran gütlich tun können. «

Wieder senkte Imnak den Kopf. »Was für ein Glück, daß du ein Pechvogel ohne Frau bist! Stell dir vor, wie verlegen sie jetzt sein müßte! Sie wendet sich an ihre Gäste: ›O nein, Imnak hat schon wieder vergessen, das Fleisch mitzubringen.‹ ›Nicht schon wieder!‹ rufen sie. ›O ja‹, sagt sie. ›Er ist ein großer Jäger. Er vergißt bloß immer seine Beute mit nach Hause zu bringen. Er ist nicht gerade klug. Er überläßt das Fleisch den Jards.‹«

»Glaubst du wirklich, daß sie damit rechnet, entführt zu werden?« fragte ich Imnak leise.

»Aber ja«, antwortete Imnak. »Siehst du nicht, daß sie mich liebt?«

»O doch, das sieht man sofort.«

Poalu wandte sich an mich. Mit schneller Bewegung zog sie ein Messer. »Ich glaube nicht, daß du mich entführen wirst«, sagte sie. »Ich werde dich in Streifen schneiden!«

Ich wich einen Schritt zurück, um nicht von dem Messer getroffen zu werden. Imnak sprang ebenfalls zur Seite.

Daraufhin machte Poalu kehrt und entfernte sich.

»Sie ist manchmal ein bißchen launisch«, sagte Imnak entschuldigend.

»O ja«, sagte ich.

»Aber sie liebt mich.«

»Bist du sicher?«

»Ja. Sie kann ihre Gefühle nicht verbergen.« Er stieß mich mit dem Ellbogen an. »Ist dir nicht aufgefallen, daß sie mit dem Messer nicht zugestoßen hat?« fragte er geheimnisvoll.

»Ja«, sagte ich, »sie hat danebengestochen.«

»Wenn Poalu mich nicht liebte, hätte sie getroffen.«

»Ich hoffe nur, daß du recht hast.«

»Naartok hat sie nicht verfehlt.«

»Oh.«

»Er lag sechs Wochen in seinem Zelt.«

»Wer ist Naartok?«

»Mein Rivale«, antwortete Imnak. »Er liebt sie noch immer. Vielleicht versucht er, dich zu töten.«

»Ich hoffe, er ist nicht sonderlich geschickt darin, Sleen mit der Harpune zu treffen.«

»Nein«, sagte Imnak, »so gut wie Kadluk wirft er nicht.«

»Das ist gut«, sagte ich.

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