21

»Die Nacht ist angebrochen«, sagte ich zu Imnak. »Ich glaube nicht, daß Karjuk noch kommt.«

»Vielleicht nicht«, meinte Imnak.

Mehrmals war bereits Schnee gefallen, wenn auch noch nicht sehr viel. Die Temperaturen waren schon sehr gesunken.

Vor etwa drei Wochen hatten Imnak und ich drei Sleen an Land gebracht. Damit war die Kajakfischerei für dieses Jahr zu Ende gewesen, denn noch am Abend unserer Jagd hatte das Meer zuzufrieren begonnen. Kristalle hatten sich im Wasser gebildet, winzige Eisstücke. Dann war das Wasser innerhalb weniger Stunden schwer und teigig geworden, der Eisanteil darin war gewachsen. Einige Stunden später waren diese sich aufbauenden Eisformationen miteinander in Berührung gekommen, hatten sich aneinander gerieben, waren zum Teil übereinander gerutscht und bildeten unregelmäßige Schrägen und Flächen, und schon war das Meer in friedlicher Stille untergegangen – eine Eiswüste.

»Es gibt andere Dörfer«, sagte ich. »Wir wollen sie besuchen, um zu sehen, ob Karjuk vielleicht dort ist.«

»Es gibt viele Dörfer«, sagte Imnak. »Das weiteste liegt viele Schlafperioden von hier.«

»Ich möchte sie alle besuchen. Wenn wir dann noch immer nichts von Karjuk gehört haben, muß ich auf das Eis hinaus und ihn suchen.«

»Da könntest du genausogut nach einem bestimmten Sleen suchen«, meinte Imnak. »Ein hoffnungsloses Unterfangen.«

»Ich habe lange genug gewartet. Ich muß es versuchen.«

»Ich mache den Schlitten fertig«, sagte Imnak. »Akko besitzt einen Schnee-Sleen, Naartok einen zweiten.«

»Gut«, sagte ich. »Ein laufender Schnee-Sleen kann einen Schlitten schneller ziehen, als ein Mensch es vermag. Es sind gefährliche, aber auch sehr nützliche Tiere.«

»Hör mal!« sagte Imnak.

Ich schloß den Mund und spitzte die Ohren. Aus großer Weite tönte das Jaulen eines Sleen durch die klare, kalte Luft. »Vielleicht kommt Karjuk!« rief ich.

»Nein, das ist nicht Karjuk«, sagte Imnak. »Der Laut kam aus dem Süden.«

»Imnak! Imnak!« rief Poalu von draußen und schob sich durch die Türöffnung der Hütte. »Es kommt jemand!« Sie hatte zusammen mit den anderen Mädchen im Festhaus Felle aufgearbeitet. »Wer ist das?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie.

»Na, dann steig auf eines der Fleischgestelle und schau nach, Mädchen!« befahl er.

»Ja, Imnak!« rief sie.

Imnak und ich zogen Fäustlinge und Parkas an und verließen die von den Lampen gewärmte, halb in den Boden eingegrabene Hütte. Es war klar und windstill, und alle Geräusche klangen überdeutlich. Der Schnee knirschte laut und knisternd unter unseren Stiefeln. Mondlicht lag über dem Dorf und dem Schnee der Tundra und funkelte auf dem Eis des Meeres. Deutlich hörte ich die Worte anderer Dorfbewohner, die miteinander sprachen. Die gesamte Dorfbevölkerung schien die Unterkünfte verlassen zu haben. Etliche waren auf Fleischgestelle gestiegen und versuchten im Mondlicht etwas zu erkennen. Für die arktische Nacht war es noch nicht kalt, wenngleich solche Angaben relativ sind. Es war windstill. Die Temperatur mochte etwa vierzig Grad unter Null sein. Die Kälte wurde einem erst richtig bewußt, wenn die Gesichtshaut erstarrte. »Was siehst du?« fragte Imnak.

»Einen Schlitten und einen Mann!« rief Poalu von oben.

Wieder hörten wir den Schrei des Sleen aus der Ferne, ein Laut, der unter den gegebenen Umständen sehr weit zu hören war. Das Tier mochte noch zehn oder mehr Pasangs entfernt sein. Manchmal hört man solche Schreie auf fünfzehn Pasangs über das Eis.

»Macht die Lampen an, setzt Fleisch auf!« rief Kadluk, der im Dorf eine Art Häuptling war. »Wir müssen für unseren Besucher ein Festmahl bereiten!«

Frauen liefen los. Arlene und Barbara und Audrey sahen sich an. Sie wußten Bescheid – wenn der Besucher eine Vorliebe für weißhäutige Frauen hatte, würde ihm im Dorf das Richtige geboten werden. Poalu, die unter den Mädchen das Kommando führte, gab mit scharfer Stimme einen Befehl, und sie liefen los. »Es ist ein Schlitten und ein Mann!« rief Poalu uns zu.

»Wer würde im Winter aus dem Süden zu uns kommen?« fragte ich.

»Muß ein Händler sein«, gab Imnak zurück. »Aber das ist absonderlich – diese Leute kommen im Winter nicht.«

»Ich ahne, wer das ist!« rief ich. »Vielleicht hat er eine Neuigkeit für mich! Wir wollen ihm entgegengehen!«

»Ja«, sagte Imnak. »Natürlich!«

»Gehen wir unserem Gast entgegen und begrüßen wir ihn!« rief Kadluk fröhlich.

Die Männer eilten in ihre Hütten, um ihre Waffen zu holen. Gelegentlich streifen wilde Sleen durch die Tundra, halb verhungert und deshalb unberechenbar. Sie gehören zu den Gefahren, die dem Winterreisenden in diesen Breiten drohen.

Angeführt von Kadluk stapften Imnak und ich, Akko und Naartok und zahlreiche andere mit Harpunen und Lampen aus dem Dorf. Einen Pasang weiter hob Kadluk Stille heischend die Hand. Wir erstarrten.

»Fort!« rief eine Stimme. »Fort!«

»Beeilung!« brüllte Kadluk.

Wir liefen über einen kleinen Hügel; um unsere Füße stob der Schnee auf.

Auf der geneigten Ebene zwischen sanften Hügeln entdeckten wir etwa einen Pasang entfernt den langen Schlitten mit dem daran festgebundenen Zug-Sleen. In der Nähe machten wir zwei Gestalten aus. Die eine gehörte einem Menschen.

»Ein Eis-Ungeheuer!« rief Akko.

Die andere Gestalt ließ keinen Zweifel offen: groß, zottig, mit langen Armen: ein weißpelziger Kur.

Der Mann versuchte das Wesen mit einer Lanze fortzuschieben. Das Tier zeigte sich aggressiv.

Verwundet wich es zurück. Aber es konnte keinen schweren Schaden genommen haben. Es duckte sich und beobachtete den Mann, während es an seinem Arm saugte. Dann stellte es sich auf die kurzen Hinterbeine und hob die beiden langen Arme in die Luft und schrie vor Wut. Dann kauerte es sich mit gebleckten Reißzähnen nieder, um von neuem anzugreifen.

Ich rannte bereits den Hügel hinab, im Schnee ausrutschend, die Lanze in der Hand. Die Männer hinter mir hoben ebenfalls die Waffen und folgten brüllend.

Das Ungeheuer drehte sich um und blickte unserer waffenschwingenden, brüllenden Horde entgegen.

Ich hatte das beunruhigende Gefühl, daß es seine Entfernung von uns berechnete und die Zeit, die verstreichen würde, bis wir die Strecke hinter uns gebracht hatten.

Irgendwie spürte ich, daß wir hier kein bloßes Tier vor uns hatten, keinen degenerierten unintelligenten Abkömmling von Überlebenden der Kurii-Schiffe, die vor Generationen hier gestrandet waren – Nachfahren, denen die Disziplin und Loyalität der Schiffsgesetze nichts bedeutete, Nachfahren, die in eine herrische Wildheit zurückgefallen waren. Der Kur, der bloß Tier ist, stellt sich in den meisten Situationen als weniger gefährlich dar als der Kur, der mehr ist als ein Tier. Der erste ist nur sehr gefährlich, der zweite ein unvergleichlicher Gegner.

Kaum hatte sich der Kur nach uns umgedreht, da eilte der Mann los und schirrte den Schnee-Sleen vom Schlitten ab. Als der Kur sich wieder umdrehte, sprang der Schnee-Sleen ihn an und versuchte ihm die Kehle durchzubeißen.

Ich war nur noch wenige hundert Meter von dem Kur entfernt.

Ich sah, wie er den halb durchgebissenen Sleen, eine blutige Masse, zur Seite schleuderte. Als der Schnee-Sleen seinen Angriff begann, hatte der Mann erneut zugestoßen, doch sein Lanzenstich war nicht tödlich gewesen. Der Kur hatte am Hals eine klaffende, blutende Wunde.

Jetzt griff er nach der Lanze, entriß sie dem Mann und brach sie in der Mitte durch. Nun ergriff der Mann die Flucht; er lief geradewegs auf uns zu.

Der Kur warf die Bruchstücke zur Seite. Der Sleen lag hinter ihm im Schnee. Der Schlitten stand einsam und verlassen in der Eis-Öde. Niemand konnte den Kur daran hindern, sich über die darauf befindlichen Fleisch- und Zuckervorräte herzumachen oder was sich sonst noch in der Ladung befinden mochte.

Das Ungeheuer kümmerte sich aber weder um den Sleen noch um den Schlitten. Es blickte dem Mann nach.

Da wußte ich ganz sicher, daß es sich nicht um ein gewöhnliches Tier handelte. Ein bloßer Kur, hungrig, aggressiv, hätte sich auf den toten Sleen oder das Fleisch auf dem Schlitten gestürzt und sich vor den anstürmenden Jägern mit seiner Beute zurückgezogen.

Dieses Wesen aber ließ sich auf alle viere nieder und begann den Mann zu verfolgen. Da wußte ich, daß wir einen Schiffs-Kur vor uns hatten. Das Wesen hatte es nicht auf Fleisch abgesehen, sondern auf den Mann.

Er hastete an mir vorbei, und ich stellte mich auf, den Arm zurückgelegt, die Lanze wurfbereit.

»Hallo, Ungeheuer!« rief ich. »Ich bin bereit!« Der Kur blieb etwa zwanzig Meter vor mir stehen und bleckte die spitzen Zähne.

»Komm her und hol dir eine Kostprobe meiner Lanze!« rief ich.

Ein primitiver Kur hätte jetzt wohl angegriffen. Dieses Wesen aber rührte sich nicht. Hinter mir hörte ich die rothäutigen Jäger näherkommen; sie waren noch etwa hundert Meter entfernt. Ich machte, einen Schritt auf den Kur zu und hob dabei drohend meine Lanze. Gleich mußte der Kur von einem ganzen Schwarm brüllender Männer eingekreist sein, die ihre Lanzen in seinen Körper stießen.

Mit einem letzten Wutschrei trat der Kur den Rückzug an; dabei nahm er den Blick nicht von uns. Auf allen vieren entfernte er sich schräg rückwärts nach links. Wir liefen auf ihn zu, doch er machte plötzlich kehrt, schnappte sich im Vorbeihasten mit einer Hinterpfote den toten Sleen und verschwand damit geduckt in die schneebedeckte Tundra.

Ich hatte deutlich gesehen, daß er in jedem Ohr einen goldenen Ring trug.

Wir schauten ihm nach. Der Kur huschte über die Tundra davon.

»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Ram, »Ihr alle!«

»Bist du verletzt?« fragte ich.

»Nein«, sagte er.

Wir gaben uns die Hand.

»Ich dachte mir gleich, daß ich dich im Dorf von Kadluk und Imnak finden würde«, sagte er.

»Hast du Bazi-Tee mitgebracht?« fragte Akko.

»Und Zucker?« wollte Naartok wissen.

»Ja«, sagte Ram. »Ich habe Tee und Zucker. Und Spiegel und Perlen und Messer und viele andere Waren.«

Diese Nachricht wurde natürlich mit Freuden begrüßt. Wegen der Mauer waren seit vielen Monaten keine Händler mehr in den Norden gekommen.

»Wir veranstalten für unseren Freund ein Festmahl!« rief Kadluk.

»Oh!« ächzte Akko. »Es ist nur bedauerlich, daß wir so wenig Fleisch im Lager haben und daß unser Fest daher recht kümmerlich ausfallen muß!«

»Außerdem wußten die Frauen nicht, daß Besuch kommt«, sagte ein Mann neben ihm, »deshalb haben sie noch kein Wasser aufgesetzt.«

Es dauert einige Zeit, bis man Wasser über einer Öllampe zum Kochen gebracht hat, obwohl die Flamme durch richtige Stellung und Verlängerung des Dochts vergrößert werden kann.

»Das ist doch kein Problem«, sagte Ram.

In Wirklichkeit hatten wir sehr viel Fleisch im Lager, und die Frauen waren längst damit beschäftigt, ein großartiges Festmahl vorzubereiten.

»Es tut uns wirklich leid«, sagte Kadluk und ließ den Kopf hängen.

Die rothäutigen Jäger sahen sich vielsagend an.

Ram kannte sich als Händler mit den Scherzen der Jäger natürlich aus. So konnte ihm nicht entgangen sein, daß ihm beinahe jeder Mann aus dem Dorf gut zwei Pasangs vor der Siedlung entgegengekommen war. Daraus mußte er schließen, daß er erwartet wurde. Außerdem sagte ihm die Zahl der Männer, daß genug zu essen vorhanden sein mußte, denn sonst wären viele Männer mit ihren Familien auf dem Eis unterwegs gewesen.

»Das Tier hatte es auf dich abgesehen«, sagte ich.

»Es war hungrig«, meinte er.

»Sein Interesse galt nicht dem Schnee-Sleen oder den Vorräten, die du auf dem Schlitten hast«, sagte ich. »Es war ganz gezielt hinter dir her.«

»Das kann ich mir kaum vorstellen«, meinte Ram. »Du redest ja, als wäre das Ungeheuer intelligent.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte ich. »Hast du nicht die Ringe in seinen Ohren bemerkt?«

»Natürlich.«

»Das sind bestimmt Schmuckstücke.«

»Das Ungeheuer ist irgendeinem Herrn entflohen«, mutmaßte Ram. »Zweifellos hat der ihm solche Verzierungen in die Ohren gesetzt.«

»Ich meine, es hat sich die Ringe ganz allein zugelegt.«

»Das erscheint mir unwahrscheinlich«, sagte Ram. »Du hast doch selbst gesehen, wie tierhaft es sich verhielt.«

»Meinst du, daß etwas nicht intelligent sein kann, nur weil es nicht wie ein Mensch aussieht?«

Ram erbleichte. »Aber wenn sich Intelligenz mit solcher Wildheit paart…«

»Diese Wesen heißen Kurii«, sagte ich.

Im Festhaus brannten alle Lampen.

Nackt kniete Arlene vor Ram und hielt ihm eine Platte mit dampfendem Fleisch hin.

Er legte einen Finger unter ihr Kinn und schaute ihr ins Gesicht.

»Wer ist diese hübsche kleine Sklavin?« fragte er. »Sie kommt mir bekannt vor.«

Entsetzt blickte sie ihn an.

»O ja«, sagte er. »Sie führte früher das Kommando an der Mauer. Du hast sie zur Sklavin gemacht.«

»Ja«, sagte ich.

»Ist sie gut?« fragte er.

»Du wirst es bald wissen«, sagte ich.

Er lachte.

»Ich bin sicher, daß das Ungeheuer auf dich Jagd machte«, fuhr ich fort.

»Mag sein.«

»Wie gefällt dir unser armseliges kleines Fest?« fragte Kadluk im Vorbeigehen.

»Es ist das beste Mahl, das ich je gegessen habet«

»Aber ist dir der Kur eine weite Strecke gefolgt?« fragte ich.

»Keine Ahnung«, sagte Ram.

»Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, daß der Kur dich abgefangen hat, daß er auf dich gewartet hat.«

»Woher wußte er, wo er warten mußte?«

»Ich fürchte, mein Hiersein ist bekannt«, sagte ich. »Als ich nicht in den Süden zurückkehrte, mußte man annehmen, daß ich nach Norden gereist war. Nur ein rothäutiger Jäger war an der Mauer – Imnak. Daraus ließ sich schließen, daß ich sein Dorf aufsuchen würde. Vielleicht hat man mich hier auch bespitzelt. Ich weiß es nicht.«

Ram musterte mich ernst. »Von alledem verstehe ich wenig«, sagte er.

»Ich gehe davon aus, daß es bekannt war, ich würde im Dorf des Kadluk sein oder dorthin reisen. In Lydius hatte man uns zusammen gesehen. Als du dann in den Norden aufbrachst, konnte man vermuten, daß du mich suchen wolltest.«

»Ich machte daraus keinen Hehl«, sagte Ram.

»Folglich kannte der Feind, wenn man ihn einmal so nennen will, meinen Aufenthaltsort und deine Absicht, mit mir in Verbindung zu treten, und dann war es kein Problem mehr, dir vor dem Dorf einen Hinterhalt zu legen.«

»Ja«, sagte er.

»Was die Kurii nicht berücksichtigt haben, ist der Umstand, daß dein Sleen auf so weite Entfernung zu hören sein und die Jäger dir dann entgegeneilen würden.«

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit, keine sehr angenehme«, sagte Ram.

»Und die wäre?«

»Die Kurii haben mich verfolgt«, sagte er. »Vielleicht habe ich sie hierhergeführt.«

»Möglich wäre es. Aber wenn es wirklich so ist, können wir damit leben.«

»Wie darf ich das verstehen?« fragte Ram.

»Ich glaube, es besteht bei zumindest einigen Kurii der Wunsch, mich zu einem Gespräch einzuladen. Auf eine Weise bin ich einer Einladung gefolgt, als ich in den Norden aufbrach. Wenn der Feind weiß, wo ich bin, mag er versuchen, mit mir Verbindung aufzunehmen.«

»Oder dich zu töten«, meinte er.

»Ja.«

»Warum sollte der Kur aber mich umbringen wollen?«

»Vielleicht bringst du Informationen, die ich nicht erhalten sollte.«

»In Lydius«, sagte er, »haben sich Sarpedon und mehrere andere, die frisch von der Mauer zurückgekehrt waren, zusammengetan und Sarpelius und seine Helfershelfer überfallen.« Sarpelius war der beleibte Bursche, der von Sarpedon die Taverne übernommen und sich mit mehreren Komplizen daran gemacht hatte, Männer in den Dienst an der Mauer zu pressen«.

»Sarpedon ist wieder Wirt in seinem Lokal?« fragte ich.

»Natürlich«, sagte Ram. »Übrigens haben Sarpelius und seine Männer, ehe wir sie als nackte Sklaven im Hafen verkauften, gehörig den Mund aufgemacht.«

»Das war sicher klug von ihnen«, meinte ich.

»Die Information war ihnen nicht so wichtig, daß sie sie angesichts der Gefahr von Folter und Tod bei sich behalten wollten«, fuhr Ram fort. »So zeigte Sarpelius keine Neigung, mit den Füßen voran in einen Käfig voller hungriger Sleen geschoben zu werden.«

»Das ist ja auch wirklich nicht angenehm.«

»Leider hat es den Anschein, als hätten die Männer nur wenig gewußt. Sie waren unwichtige Rädchen im großen Plan.«

»Was habt ihr erfahren?«

»Der Mann, der sich Drusus nannte – ihn lernten wir an der Mauer kennen – bezahlte sie für ihre Dienste und gab die Anweisungen. Tarnkämpfer beförderten die betäubten Opfer zur Mauer.«

»Was ist mit den Mädchen?« Ich dachte an Tina und Constance. »Sie waren nicht an der Mauer.«

»Wir erfuhren von Sarpelius, der seine Informationen von Drusus hatte, daß es weiter im Norden ein Hauptquartier gab, eine Station, die nur im späten Frühling, im Sommer oder Frühherbst zu erreichen ist.«

»Vielleicht befindet sich dieses Hauptquartier draußen auf dem Meer.« Das im Winter gefrorene Meer war für Schiffe unpassierbar.

»Möglich«, sagte er.

»Außerdem fliegen die Tarns in der Arktis nur während dieser Jahreszeiten«, sagte ich. »Wenn diese unbekannte Station auf dem Land wäre, hätten die rothäutigen Jäger auf ihren Jagden darauf stoßen müssen. Vermutlich handelt es sich um eine große Anlage.«

»Das weiß ich nicht«, sagte Ram.

»Hast du noch mehr erfahren?«

»Wir bekamen mit daß Drusus seine Instruktionen aus diesem geheimnisvollen Hauptquartier bezog. Dorthin wurden auch von Zeit zu Zeit besonders attraktive Sklavinnen gebracht.«

»So auch Tina und Constance«, sagte ich.

»Ja«, sagte er. »Weißt du, ich nahm an, du wüßtest dies und wärst in den Norden gezogen, um Constance zu finden.«

»Du bist also hauptsächlich wegen Tina nach Norden gekommen?«

»Ja.«

»Aber sie ist doch nur eine Sklavin!«

Er errötete. »Aber sie ist meine Sklavin«, sagte er aufgebracht. »Sie wurde mir genommen, und das gefällt mir nicht. Niemand nimmt Ram aus Teletus ungestraft eine Sklavin weg!« sagte er und schlug sich vor die Brust. »Ich hole sie mir zurück, um sie dann, wenn ich will, zu verschenken oder zu verkaufen.«

»Natürlich«, sagte ich.

»Mißversteh’ mich nicht«, sagte er gereizt. »Es geht mir nicht um das Mädchen; die ist nicht wichtig, sie ist nur eine Sklavin. Mir liegt am Prinzip!«

»Natürlich«, sagte ich. »Doch scheinst du mir hier viel zu riskieren für ein Mädchen, das vermutlich nur einen silbernen Tarsk bringen würde.«

»Ich glaube, Tina ist die perfekte Sklavin für mich«, sagte er grinsend. »Ich brauche sie zu meinen Füßen.« Er sah mich ernst an. »Außerdem hoffte ich im Norden zu dir zu stoßen. Wir hätten dann Tina und Constance gemeinsam suchen können.«

»Wer ist Constance, Herr?« fragte Arlene.

»Eine Sklavin, die wie du einmal frei war«, sagte ich. »Sie könnte dir viel beibringen.«

»Ja, Herr«, sagte Arlene und senkte den Kopf.

Schritt für Schritt ging ich mit ihr den Weg in die wahre Sklaverei.

»Du, Sklavin!« sagte ich energisch zu ihr. »Bring uns Fleisch!«

»Ja, Herr«, sagte sie erschrocken und hielt uns die große Platte hin. Ram und ich bedienten uns.

»Was weißt du über ein Hauptquartier im Norden, Mädchen?« fragte ich sie.

»Nichts«, flüsterte sie. »Herr.«

Ich musterte sie kritisch und nahm mir ein zweites Stück Fleisch.

»Ich weiß nichts«, sagte sie. »Drusus brachte das Geld. Er war mein Kontaktmann. Ich weiß nichts!«

Wieder griff ich zu und steckte mir ein Stück Fleisch in den Mund.

»Ich beaufsichtigte die Arbeiten an der Mauer. Damals dachte ich, ich wäre Drusus übergeordnet. Ich weiß nicht, woher er kam oder woher er die Geldmittel hatte. Vermutlich gab es auf dieser Welt noch andere Unternehmungen oder Stationen, aber ich kannte ihre Standorte nicht.« Tränen erschienen in ihren Augen. »Glaube mir, Herr, ich flehe dich an«, sagte sie. »Wenn es irgendwo ein Hauptquartier gibt, weiß ich nichts darüber.«

»Vielleicht glaube ich dir«, sagte ich. Sie erschauderte. Ich hielt es für denkbar, daß sie die Wahrheit gesagt hatte.

»Audrey!« rief ich das dunkelhaarige Mädchen.

»Ja, Herr«, sagte sie und kniete vor uns nieder.

»Nimm Arlene die Platte mit dem Fleisch ab und serviere es im Raum!«

»Ja, Herr«, sagte sie, richtete sich elegant auf und entfernte sich.

»Die hat hübsche Beine«, sagte Ram, »ein ausgezeichneter Fang.«

»Sie gehört Imnak«, sagte ich. »Er hat sie auf dem Jahrmarkt gekauft.«

»Die andere auch«, schaltete sich Imnak ein und deutete auf Barbara, die in einem anderen Winkel arbeitete.

»Auch ein vorzüglicher Kauf«, sagte Ram, ohne sich Mühe zu geben, die Stimme zu senken. Barbara warf einen Blick über die Schulter. Sie wußte, daß von ihr gesprochen wurde, und richtete sich auf. Sie war stolz darauf, daß sie schön war, daß Männer sich für sie interessierten.

»Beide haben mich fünf Felle gekostet, vier von Leems und eines von einem Schnee-Lart.«

»Du bist eben ein geschickter Schacherer«, sagte Ram.

Imnak zuckte bescheiden die Achseln. »Die Mädchen verstehen sich auch gut darauf, den Schlitten zu ziehen«, sagte er.

»Und sie haben andere Qualitäten«, sagte ich.

»Sie stehen dir natürlich beide zur Verfügung«, sagte Imnak und deutete auf Fingerhut und Distel.

»Vielen Dank«, antwortete Ram. »Aber keine der beiden hat an der Mauer über mich befehligt.«

Sein Blick ruhte auf Arlene, die ein wenig vor ihm zurückwich.

»Sei ihm zu Gefallen!« sagte ich zu ihr.

»Ja, Herr«, sagte sie. Ram sprang auf und zerrte sie in eine verhängte Nische, um sie zu besteigen.

Ich wandte mich der Mitte des Festhauses zu, wo Pantomimen aufgeführt wurden. Die Jäger und Frauen klatschten in die Hände und schrien vor Freude über die Geschicklichkeit der Darsteller. Naartok mimte einen Wal.

»Tarl, der mit mir jagt«, sagte Imnak ernst, »ich habe Angst.«

»Wovor hast du Angst?«

»Das Tier, das wir gesehen haben, muß ein Eis-Ungeheuer gewesen sein.«

»Ja?«

»Ich fürchte, Karjuk ist tot.«

»Warum sagst du das?«

»Karjuk ist der Wächter«, sagte er. »Er steht zwischen dem Volk und den Eis-Ungeheuern.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

Die weißpelzigen Kurii werden von den rothäutigen Jägern »Eis-Ungeheuer« genannt. Diese Tiere jagen im Sommer gewöhnlich von Eisschollen aus, meistens auf hoher See. Im Gegensatz zu den meisten Kurii lieben sie das Wasser. Wenn das Meer im Winter zufriert, verirren sie sich gelegentlich auch ins Binnenland. Es gibt verschiedene Kur-Rassen. Über den geheimnisvollen Karjuk war selbst bei den rothäutigen Jägern nicht viel bekannt, außer daß er ihrer Rasse angehörte. Er war ein seltsamer Mann, der allein lebte. Er hatte keine Frau. Er hatte keine Freunde. Er lebte für sich auf dem Eis. Er strich durch die Dunkelheit, lautlos, und jagte mit seiner Lanze. Er stand zwischen dem Volk und den Eis-Ungeheuern. Der Kur,: den ich außerhalb des Dorfes gesehen hatte, das Wesen, das mit dem getöteten Schnee-Sleen entkommen war, hatte ein weißes Fell gehabt. Ich war dennoch davon überzeugt, daß es sich um einen Schiffs-Kur und nicht um ein primitives Eis-Ungeheuer gehandelt hatte. Andererseits glaubte ich auch, daß das Wesen aus dem Nordmeer oder vom arktischen Eis kam. Deshalb mußte es wohl das Territorium durchquert haben, in dem Karjuk wachte. Daß es so nahe bis an das Dorf herangekommen war, konnte zweierlei bedeuten: Entweder hatte es Karjuk umgangen oder ihn gefunden und getötet – als erster von allen Kurii, die diesen Meisterjäger hatten finden wollen.

»Vielleicht hat sich das Tier an Karjuk vorbeigeschlichen.«

»Ich glaube nicht, daß irgendein Geschöpf an Karjuk vorbeikäme«, sagte Imnak. »Ich glaube vielmehr, Karjuk ist tot.«

In der freien Mitte stellte ein Mann einen schwimmenden Meeres-Sleen dar. Er machte das sehr geschickt.

»Das tut mir leid«, sagte ich.

Imnak und ich saßen lange Zeit wortlos nebeneinander.

Akko und Kadluk traten vor die Gruppe. Akko stellte einen schwimmenden Eisberg dar, während Kadluk, herbeiwehend und wieder zurückweichend, den Westwind spielte. Akko, der Eisberg, reagierte schwerfällig, behäbig auf den Wind und drehte sich langsam im Wasser. Es wurde laut gelacht über diese Vorführung.

Plötzlich fuhr ein kalter Lufthauch durch das Festhaus. Alle Blicke richteten sich auf die Tür. Doch niemand sagte etwas. Ein Mann stand dort, ein rothäutiger Jäger, hager und mit dunklem Gesicht, stumm. Auf seinem Rücken hingen ein Hornbogen und ein Köcher mit Pfeilen, in der Hand ruhte ein Speer und ein schwerer Sack an einer Schnur. Er drehte sich um, schloß die Tür und zog das Fell davor. Auf seiner Parka lag Schnee; offensichtlich hatte es während des Festes zu schneien begonnen.

Imnaks Hand lag schwer auf meinem Arm.

Der Mann legte seine Waffen nahe der rückwärtigen Wand des Festhauses ab und schritt mit dem Sack in der Hand auf die freie Fläche in der Mitte. Wortlos schüttelte er dann den Sack aus und ließ den Kopf eines großen weißhaarigen Kurs, eines Eis-Ungeheuers, in den Schmutz fallen. In den Ohren funkelten goldene Ringe.

Ich schaute Imnak an.

»Karjuk«, sagte er.

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