30

»Siehst du?« fragte das Ungeheuer und deutete auf den sternenübersäten Himmel.

»Ja«, antwortete ich.

»Das war unser Stern«, fuhr der Kur fort, »ein gelber, mittelgroßer, langsam rotierender Stern mit einem Planetensystem, klein genug, um so langlebig zu sein, daß sich Leben entwickelte, und groß genug, um eine geeignete Lebenszone zu bieten.«

»Ganz wie Tor-tu-Gor oder Sol«, sagte ich, »die gemeinsame Sonne von der Erde und Gor.«

»Genau«, sagte er.

»Erzähl mir von deiner Welt.«

»Meine Welt besteht aus Stahl.« Der Tonfall war bitter.

»Ich meine deine alte Welt.«

»Natürlich habe ich sie nie gesehen. Sie kreiste in passender Entfernung von ihrem Stern. Sie war klein genug, um Wasserstoff entweichen zu lassen, und groß genug, um den Sauerstoff zu halten. Sie war dem Stern nicht so nahe, daß sie ein heißer Felsbrocken war, und auch nicht so weit entfernt, um als überfrorener Himmelskörper durch das Weltall zu ziehen.«

»Die Temperaturen ließen es zu, daß Wasser in einer flüssigen Form Bestand hatte?«

»Ja«, sagte das Wesen, »und dann begannen die Abläufe, die atomaren Zwangläufigkeiten der chemischen Evolution, und mit der Zeit bildeten sich die Makromoleküle und Protozellen.«

»Gase wurden ausgetauscht, und die vom Wasserstoff bestimmte Atmosphäre wich einer, aus deren Hauptbestandteil Sauerstoff gebildet wurde.«

»Sie wurde grün«, sagte der Kur.

»Von neuem begann das Leben seinen Aufstieg.«

»Aus den zwei Milliarden Jahren Kriegen und Tötungen und Zerfleischungen und Jagden ging mein Volk hervor. Wir waren der Triumph der Evolution in all ihrer erbarmungslosen Wildheit.«

»Und der Schlüssel zum Untergang eurer Welt«, sagte ich.

»Von diesen Ereignissen sprechen wir nicht«, sagte Halb-Ohr. Er begab sich zur Wand, ließ die Hand vor einem Schalter vorbeifahren und die Projektion an der Decke verschwinden. Dann wandte er sich in meine Richtung. »Unsere Welt war sehr schön«, sagte er. »Wir werden eine neue besitzen.«

»Vielleicht aber nicht«, sagte ich.

»Das Menschenwesen kann ja nicht einmal mit den Zähnen töten.«

Ich zuckte die Achseln.

»Aber wir wollen nicht streiten«, fuhr der Kur fort. »Es freut. mich, dich hier zu haben, denn du gefällst mir.«

»Draußen auf dem Eis glaubten wir dein Gesicht am Himmel zu sehen«, bemerkte ich.

Das Wesen bleckte die Zähne. »Ja«, sagte es.

»Normalerweise sieht man solche Lichter nur im Herbst und Frühling, zur Zeit der Tag-und-Nacht-Gleiche.«

»Klug bemerkt.«

»Dann haben wir also eine künstliche Erscheinung wahrgenommen.«

»Ja, aber dem natürlichen Phänomen verwandt. Sie wird erzeugt, indem wir die Atmosphäre mit bestimmten Mustern geladener Partikel sättigen. Diese Muster lassen sich in bestimmter Weise anordnen, beispielsweise zu alphabetischen Buchstaben; in der Kur-Sprache oder auch in Goreanisch. So dienen die Lichter, nur scheinbar ein Naturphänomen, als Verständigungsmittel: zu Kur-Gruppen und ihren menschlichen Helfern.«

»Klug ausgedacht«, sagte ich.

»Ich ließ mein Gesicht am Himmel abbilden, um dich zu ehren und dich im Norden willkommen zu heißen.«

Ich nickte.

»Noch etwas zu trinken?« fragte der Kur.

»Ja. Die Anlage hier ist sehr beeindruckend. Würdest du mich ein wenig herumführen.«

»Das kann ich tun, ohne diesen Raum zu verlassen«, lautete die Antwort. Halb-Ohr bediente verschiedene Instrumente und erhellte die Öffnungen, die ich bisher für Bullaugen oder andere Fensteröffnungen gehalten hatte und bei denen es sich in Wirklichkeit um zurückgesetzte Bildschirme handelte, verbunden mit verschiedenen beweglichen Kameras, die von diesem Gemach aus gesteuert werden konnten. Mit Hilfe dieser Kameras erhielt ich einen Eindruck von der Weite und Verzweigtheit der Anlage. Einige Bildschirme befanden sich über meinem Kopf; wenn ich mich an gewisse Querstreben klammerte und hochzog, konnte ich auch dort etwas erkennen. Das Ungeheuer bewegte sich leichtfüßig neben mir auf den Turngestellen.

»Sehr eindrucksvoll«, sagte ich schließlich.

»Fast alles läuft automatisch ab«, antwortete das Ungeheuer. »Wir haben hier lediglich zweihundert Menschen und ungefähr zwanzig meiner Artgenossen.«

»Unglaublich!« sagte ich. Die Anlage erstreckte sich über viele Stockwerke, die eine Ausdehnung von vielen Pasangs hatten.

»Es machte uns keine Probleme, eine Eisinsel gyroskopisch zu stabilisieren und für unsere Zwecke umzuformen«, berichtete der Kur. »Wir haben unsere Anlage in das Eis gebaut. Die Eismassen, die bei der Aushöhlung anfallen, werden zerkleinert und einfach ins Meer geworfen.«

»Ihr wolltet die Tabuk an ihrer Wanderung nach Norden hindern. Damit wolltet ihr die rothäutigen Jäger aus der Gegend hier vertreiben, in den Süden.«

»Besonders vor dem Winter«, sagte das Wesen, »ehe sie beginnen, über das Eis zu streifen.«

»Ihr habt hier eine erstaunliche Basis angelegt«, sagte ich.

»Elektrische Anlagen, Sprengstoffe, Waffen, Proviant, Fahrzeuge«, zählte Halb-Ohr auf. »Und zahlreiche andere Dinge.«

»Es muß Jahre gedauert haben, das Depot anzulegen.«

»Richtig. Aber ich führe erst seit kurzem das Kommando hier.«

»Dann steht uns also die Invasion der Kurii unmittelbar bevor – von dieser Zone ausgehend.«

»Wir wollen die große Flotte nicht in Gefahr bringen«, sagte das Geschöpf. »Mit Hilfe dieser Ausgangsbasis brauchen wir für den großen Schlag nicht mehr als die im Winterschlaf befindlichen Märsche einzubringen.« Ein »Marsch« ist ein militärischer Ausdruck der Kur. Er bezeichnet zwölf Gruppen und ihre Offiziere und umfaßt insgesamt zweitausendeinhundert bis zweitausendzweihundert Ungeheuer.

»In zwölf Kur-Stunden können alle Städte auf Gor vernichtet sein«, sagte Halb-Ohr.

»Und die Priesterkönige?«

»Ich glaube nicht, daß sie einem massierten Angriff begegnen könnten.«

»Bist du dir dessen sicher?«

»Ganz sicher«, sagte er und bleckte die Zähne. »Aber das gilt nicht für alle«, fügte er hinzu.

»Und deshalb soll die große Flotte nicht in Gefahr gebracht werden.««

»Natürlich«, sagte er, »könnte ich auf den Start der Flotte drängen. Aber ich bin nur ein einfacher Soldat. Andere stehen im Rang höher als ich.«

»Truppentransporter, die ihre Ladung absetzen, müßten voll und ganz ausreichen«, sagte ich, »wenn diese Versorgungsbasis zur Verfügung steht.«

»Ja«, sagte er, »unter der Voraussetzung, daß die Priesterkönige so schwach sind, wie ich vermute.«

»Warum hältst du sie für schwach?«

»Wegen des Nestkrieges. Du hast bestimmt davon gehört.«

»Ich habe Gerüchte gehört.«

»Ich glaube, die Gerüchte stimmen. Der Augenblick ist gekommen, da wir zuschlagen müssen.« Er sah mich an. »Oh, ich könnte deinen Verstand auseinanderzerren und dich vernichten, doch letztlich wüßte ich auch nicht mehr als das, was du für wahr und richtig hältst – und das muß nicht unbedingt wahr und richtig sein.« Er ließ sich auf den Boden fallen, und ich setzte mich ebenfalls. »Die Priesterkönige sind sehr schlau«, fuhr er fort.

»Ich habe davon gehört.«

»Ich glaube, es wäre unmöglich, deinen Willen zu brechen. Man müßte dich schon töten.«

Ich zuckte die Achseln.

»Du gleichst einem Kur. Deshalb mag ich dich.« Er legte mir eine schwere Pfote auf die Schulter. »Es wäre nicht richtig, wenn du in der Wahrheitsmaschine sterben solltest.«

»Es gibt hier viele wertvolle Vorräte«, sagte ich. »Wenn die nun in die Hände der Priesterkönige fielen?«

»Es sind Vorkehrungen getroffen, daß das nicht geschehen kann«, sagte der Kur.

»Das hatte ich schon vermutet.« Ich war davon überzeugt, daß die Kameras nicht alle Bereiche der Station abgesucht hatten, ebenso wie die Deckenschienen sicher nicht in alle Räume reichten.

»Wie sind die Priesterkönige?« fragte das Ungeheuer. »Sind sie wie wir?«

»Nein«, antwortete ich.

»Sie müssen furchteinflößend sein.«

Ich dachte an die intelligenten, zierlichen goldenen Geschöpfe. »Vielleicht«, sagte ich.

»Hast du jemals einen gesehen?«

»Ja.«

»Möchtest du nicht darüber sprechen?«

»Nein, lieber nicht.«

Er legte mir die mächtigen Pfoten auf die Schulter. »Gut«, sagte er. »Du bist loyal. Ich will dich nicht bedrängen!«

»Vielen Dank.«

»Aber eines Tages werden wir es trotzdem wissen. Wenden wir uns jetzt weniger schwierigen Themen zu.«

»Wie wurde ich gefangengenommen?« fragte ich.

Das Ungeheuer schenkte uns zwei Paga nach. »Das war ganz einfach. Ein Gas wurde von draußen in deine Eisunterkunft eingeblasen, daraufhin verlort ihr alle das Bewußtsein.«

»Imnak stand Wache.«

»Der rothäutige Jäger, der Karjuk ähnelt?«

»Ja.«

»Karjuk sprach mit ihm, und er schloß sich unserer Sache an; er ist ein vernünftiger Mann, der sich wirtschaftlichen und anderen Erwägungen nicht verschließt.«

»Ich habe nie daran gezweifelt, daß Imnak ein entscheidungsfreudiger Mann ist.«

»Sei nicht verbittert«, sagte er.

»Was würdest du denken, wenn ein Kur seine Artgenossen verriete?« fragte ich.

Er sah mich verblüfft an. »Das könnte nie geschehen.«

»Gewiß hat es doch auch unter Kurii schon Verrat gegeben.«

»Doch nie gegenüber dem Menschen, gegenüber einer anderen Rasse«, sagte der Kur. »Das wäre undenkbar.«

»Dann sind die Kurii in dieser Beziehung edler veranlagt als der Mensch.«

»Ich gehe davon aus, daß der Kur in jeder Beziehung dem Menschen überlegen ist.« Das Geschöpf musterte mich. »Du bist die Ausnahme«, fügte er hinzu. »Ich glaube, du hast etwas von einem Kur in dir.«

»Im Duellraum gab es einen großen Spiegel«, stellte ich fest.

»Zur Beobachtung«, sagte der Kur.

»Das dachte ich mir.«

»Du hast großartig gekämpft«, sagte das Ungeheuer. »Du stellst dich mit deiner winzigen Waffe sehr geschickt an.«

»Vielen Dank.«

»Auch ich kann mit Waffen umgehen, mit den verschiedenen Waffen, die für mein Volk typisch sind, aber auch mit modernen Waffen.«

»Dann gibt es also bei euch trotz der fortgeschrittenen Technologie eine Duelltradition?«

»Natürlich – wie auch eine Tradition von Reißzahn und Klaue, die sich ebenfalls fortsetzt.«

»Natürlich.«

»Moderne Waffen mag ich nicht so – sie rauben einem den Kitzel, die Unmittelbarkeit des Kampfes. Ich habe gesehen, wie du gekämpft hast. Willst du mir einreden, daß es dir keinen Spaß gemacht hat?«

»Ich versuche dir nichts einzureden«, sagte ich.

»Es wird eine Zeit geben, da der Krieg beendet ist«, sagte das Wesen und sah mich an. »Wenn wir ihn überleben, besteht später kein Bedarf mehr an Kämpfern wie uns.«

»Zumindest haben wir einander gekannt.«

»Das stimmt«, sagte der Kur. »Möchtest du meine Trophäen sehen?«

»Ja.«

Загрузка...