25

Wir setzten unseren Weg nach Norden fort.

Vier Schlafperioden waren vergangen, seit wir unsere erste Schnee Unterkunft verlassen hatten, nach der Nacht, in der uns das Sleenrudel angriff. Vor jeder Schlafpause hatten wir einen neuen Schneebau errichtet.

Unser gezähmter Sleen hatte sich schnell wieder beruhigt; trotzdem hatten wir ihn die ganze erste Schlafperiode hindurch in den Fesseln liegen lassen und ihm das Maul nur zum Füttern aufgebunden. Erst als die wilden Sleen abgezogen waren, war unser Sleen wieder freigekommen. Imnak hatte sich das Messer zurückgeholt. Etwa fünf Sleen trieben sich noch in der Nähe herum. Aus der Ferne beäugten sie uns mürrisch.

Wir verließen unsere Schneehütte und zogen nach Norden; unser Sleen stemmte sich wieder ins Geschirr. Die fünf Sleen begleiteten uns, etwa einen halben Pasang entfernt. Von Zeit zu Zeit sahen wir sie dahinhuschen. Ihre Gegenwart erregte unseren Sleen nicht mehr, da er seinen Anfall hinter sich hatte.

»Wie faul diese Sleen doch sind!« sagte Imnak. »Sie sind eigentlich noch nicht wieder hungrig, behalten uns aber im Auge. Sie sollten Schnee-Bosks jagen oder Meeres-Sleen, die in der Sonne liegen, oder im Binnenland nach Leem suchen, die im Winterschlaf liegen.«

»Vermutlich hast du recht«, sagte ich.

»Sieh sie dir doch an!« sagte er selbstgerecht. »Sie sollten sich schämen! Kein Sleen, der etwas auf sich hält, heftet sich dermaßen an die Fersen von Menschen.«

»Du hast sicher recht«, sagte ich. Die Sleen waren zwar nicht kleinlich, doch gehörten Menschen in der Regel nicht zu ihren Lieblingsspeisen.

»Wir müssen diesen faulen, gierigen Burschen eine Lektion erteilen«, sagte er.

»Ich glaube nicht, daß wir dicht genug an sie herankommen, um ihnen etwas zu tun«, sagte ich. »Wenn sie wieder hungrig sind, kommen sie von ganz allein zu uns.«

»Aber dann sind sie äußerst gefährlich«, sagte Imnak. »Und sie sind zu fünft.«

»Das stimmt«, sagte ich. Es kam mir unwahrscheinlich vor, daß wir ohne Eis-Umfriedung den Angriff von fünf Schnee-Sleen überstehen würden. Beim Angriff beginnen solche Tiere im Rudel instinktiv ihr Opfer zu umkreisen und aus mehreren Richtungen gleichzeitig anzugreifen. Der Schutzbau aus Eis verwirrt sie eher, denn er hat eine Form, der keinen Angriffsimpuls in ihnen auslöst. Wenn wir im Freien überrascht wurden, konnten wir uns bestenfalls Rücken an Rücken zu verteidigen, während sich die Mädchen vor unseren Füßen niederhockten. Aber selbst dann mochten sie fortgezerrt werden. Die größten Chancen hatten wir wohl, wenn uns ein Hang im Packeis den Rücken schützte.

Ehe wir uns an jenem ersten Abend in dem neuen Unterschlupf schlafen legten, nahm Imnak aus seiner Ladung mehrere Streifen geschmeidigen Fischbeins – Produkt des letzten Wals, den wir hatten an Land holen können. Imnak hatte die Streifen aus dem ständigen Lager mitgebracht. Den Grund dafür kannte ich nicht.

»Was machst du da?« fragte ich.

Er arbeitete im Licht der Lampe.

»Paß auf!« sagte er.

Er nahm einen etwa fünfzehn Zoll langen Fischbeinstreifen und spitzte mit dem Messer beide Enden an, bis sie scharf waren wie Klingen. Dann faltete er das Fischbein sorgfältig in S-förmigen Linien zusammen. Die Geschmeidigkeit der Masse ließ dies zu, sie stand aber unter großer Spannung und hätte sich, wenn losgelassen, sofort explosionsartig gestreckt und die ursprüngliche Form wieder angenommen. In der gespannten Form band Imnak das Fischbein mit haltbarer Tabuksehne zusammen. Auf diese Weise entstand eine kräftige Sprungfeder, die in zusammengedrückter Position gehalten wurde. Wenn die Sehne brach, wollte ich lieber nicht in der Nähe des komprimierten Streifens sitzen.

»Tu das weg!« sagte ich zu Imnak.

Imnak fertigte mehrere solcher Beinfedern. Dann bettete er sie in etliche Fleischstücke.

Er warf eines dieser Fleischstücke ins Freie.

»Jetzt wollen wir schlafen«, sagte er.

»Du tust da etwas Schreckliches, Imnak«, sagte ich.

»Möchtest du weiterleben?«

»Ja.«

»Dann rede nicht«, sagte er. »Entweder wir oder die Sleen.«

Ich lag in der Nacht lange wach. Dann hörte ich plötzlich den durchdringenden schrillen Schrei eines Tieres. Die Sehne hatte sich im Magen aufgelöst.

»Was ist?« rief Arlene.

»Nichts«, sagte ich zu ihr. Dann schlief ich. Wir zogen nach Norden.

Sleen folgten uns nicht mehr. Der erste der fünf Sleen war vor zwei Schlafperioden umgekommen. Er war von den anderen vier gefressen worden. Zwei sattgefressene Tiere hatten daraufhin unsere Spur verlassen, um sich anderweitig umzutun. Zwei Tiere hatten die Verfolgung fortgesetzt. Nach dem Ende der gestrigen Schlafperiode hatte Imnak ein zweites mit Fischbein präpariertes Fleischstück hinter den Schlitten geworfen. Das aggressivere der beiden verfolgenden Tiere verschlang den Brocken. Es starb eine Ahn später, noch immer auf unserer Spur. Das letzte Tier, das zurückhaltender zu sein schien, hockte sich daneben nieder. Es wartete, bis das andere Tier sich nicht mehr rührte, ehe es zu fressen begann. Als wir nach der letzten Schlafperiode erwacht waren und den Sleen eingespannt harten, warf Imnak ein weiteres präpariertes Fleischstück aus. Als wir einige Ahn später den verblüfften Schmerzensschrei eines Tieres vernahmen, wandte sich Imnak um.

»Beeilt euch!« sagte er. »Es ist Fleisch!«

Das Tier lag mit geöffneten Augen starr auf dem Eis. Es mußte schreckliche Qualen erleiden. Es widersetzte sich unseren Speeren nicht. »Wir bauen jetzt unseren Unterschlupf«, sagte Imnak.

Wie schon öfter hatte er eine geeignete Schneewehe gefunden und begann Blöcke herauszuschneiden. Es dauerte nicht lange, bis er das iglu-ähnliche Bauwerk vollendet hatte; er kam zu mir ins Freie, während die Mädchen drinnen das Abendessen vorbereiteten.

»Wir sind die Sleen los«, sagte ich zu ihm.

»Es ist nicht anzunehmen, daß Sleen, neue Sleen, so weit aufs Eis herauskommen«, sagte er.

»Dann haben wir ja wenig zu befürchten.«

»Allerdings befinden wir uns im Reich der Eis-Ungeheuer.«

»Ich habe seit mehreren Schlafperioden keins mehr gesehen«, stellte ich fest.

»Gehen wir hinein«, sagte er. »Die Nacht wird kalt.«

Ich lächelte vor mich hin. Die Temperatur war bereits mindestens sechzig Grad unter Null.

Ich blickte zum Himmel empor, auf zahlreiche Lichtstreifen und –vorhänge, die bestimmt hundert Meilen hoch waren. Es handelte sich um atmosphärische Erscheinungen, ausgelöst durch elektrisch geladene Partikel von der Sonne, die auf die Ausläufer der Atmosphäre treffen. In dieser Jahreszeit trat so etwas allerdings selten auf, eher in den Perioden der Herbst- und Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche. Bei anderem Licht können diese Vorhänge und Streifen violett oder rot oder orangerot aussehen. Ein wunderschöner Anblick, dieser elektrische Sturm, der viele Millionen Meilen weit durch das All gezogen war und nun über eine Atmosphäre herabrieselte. Auf der Erde wird dieses Phänomen Nordlicht oder Aurora Borealis genannt. Natürlich ereignet es sich auch im Süden, jenseits des südlichen Polarkreises.

Ich rief Arlene zu mir, und sie kam ins Freie, gefolgt von Audrey. Eine Zeitlang beobachteten wir wortlos die Lichter. Dann gab ich den beiden durch Zeichen zu verstehen, daß sie ins Iglu zurückkehren sollten.

Einige Ahn später lag Arlene in meinen Armen. »Es war wunderschön«, sagte sie. »Die Nacht ist so still draußen. Wie schön der Norden sein kann!«

»Ja«, sagte ich. Es war sehr still, sehr friedlich.

»Was ist das?« fragte sie plötzlich.

»Imnak!« rief ich.

»Ich höre es«, sagte er.

Wir lauschten mit angehaltenem Atem. Eine Zeitlang war nichts zu hören. Dann knirschten Schnee und Eis außerhalb der Eismauern. Jemand war dort draußen.

»Ein Sleen?« fragte ich.

»Hör doch!« sagte er.

»Nein«, sagte ich. »Das Wesen geht auf zwei Füßen.«

Nach einer Weile war das Geräusch verhallt. Ich hörte, wie Imnak den Dolch in die Scheide steckte. Auch ich legte meine Waffe fort.

»Ich gehe hinaus«, sagte ich.

Vorsichtig zog ich meine Felle an. Die äußere Parka zog ich aus dem langen Eingangstunnel. Dieser Eingang war so gestaltet, daß kein äußerer Windhauch direkt ins Innere gelangen konnte. Im Allgemeinen ist es ratsam, das Fell der schweren Parka am Eingang liegenzulassen, wo es kälter ist. Ehe man sich bückt und durch den Eingang kriecht, bürstet man sich natürlich den Schnee von der Kleidung; trotzdem bleiben Überreste, die im Inneren schmelzen und das Kleidungsstück durchfeuchten würden. Wenn die Lampe dann ausgeht, könnte die Parka frieren und steif werden. Es ist besser, wenn ein Pelz nicht dem ständigen Zyklus des Feuchtwerdens und Gefrierens ausgesetzt ist, außerdem ist die Parka ziemlich groß für das Trockengestell, das im allgemeinen für kleinere Gegenstände wie Stiefel und Handschuhe verwendet wird. Und schließlich läßt sich eine Parka auch leichter anziehen, wenn sie nicht steifgefroren am Boden liegt.

Geduckt schob ich mich dem Ausgang entgegen. Das Dach des Ausgangstunnels war innen etwa einen Meter hoch. Normalerweise wird innen noch ein Lederzelt in den Iglu gehängt, an Pflöcken, die von außen auf dem gerundeten Dach verankert sind. Dies schirmt noch besser gegen die Kälte ab. In dieser Schlafperiode jedoch hatten wir das Zelt nicht aufgestellt; allerdings hing vor dem Ausgang eine Felljacke.

Vorsichtig kroch ich durch den breiter werdenden Tunnel. Hinter mir hörte ich Imnak.

Draußen schob ich vorsichtig die Schneeblöcke zur Seite, die lose den Eingang versperrten. Man versiegelt den Iglu nicht, was sehr gefährlich sein kann: man braucht eine gute Lüftung, besonders, wenn die Lampen brennen.

Als ich mich aus der Öffnung schob, hatte ich das Messer in der Hand. Vorsichtig sah ich mich um. Gleich darauf richtete sich Imnak lauernd neben mir auf.

Es schien alles ruhig zu sein.

Poalu und Arlene und Audrey krochen ebenfalls ins Freie.

Noch immer zuckte das Nordlicht am Himmel.

Während die Mädchen am Eingang blieben, erkundeten Imnak und ich mit gezogenen Messern die unmittelbare Umgebung.

»Nichts«, sagte ich zu Imnak. »Dabei war bestimmt etwas hier, wir haben es doch deutlich gehört.«

»Hast du Spuren gefunden?« fragte Arlene.

»Nein.«

»Das Eis ist hart«, stellte Imnak fest.

»Aber es war etwas hier«, sagte ich.

»Ja«, meinte Imnak.

»Das oder der Unbekannte ist fort«, sagte ich und sah mich um. Wir steckten unsere Messer ein.

»Vielleicht war es doch nichts«, sagte Arlene. »Vielleicht habt ihr nur das Eis oder den Wind gehört.«

»Nein«, sagte ich. »Wir hatten Besuch.«

»Aii!« schrie Imnak plötzlich auf und deutete zum Himmel. Arlene fiel in seinen Schrei ein.

Die Lichter am Himmel, jene vage schimmernden, sich verschiebenden Lichterscheinungen, hundert Meilen hoch, stellten vorübergehend das riesige, abstoßende Gesicht eines Kur dar.

Schweigend starrte Imnak auf die Erscheinung, und ich machte es ihm nach. Arlene stand neben mir und klammerte sich an meinem Arm fest.

Kein Zweifel – am Himmel strahlte eindeutig das Gesicht eines Kur. Der Umriß war struppig. Die Augen schienen zu lodern, als brenne Feuer darin. Die Nüstern waren gebläht, das Maul wies zahlreiche Reißzähne auf. Dann wurden die Lippen zurückgezogen, beim Kur das Zeichen, daß er sich auf etwas freut oder über etwas amüsiert. Im nächsten Augenblick lagen die Ohren dicht am Kopf. Schließlich verschwand das Licht, wobei die Augen bis zuletzt blieben. Doch ehe sich die Ohren anlegten, sah ich, daß eines von ihnen, das linke, halb abgerissen war. Schließlich waren sämtliche Lichterscheinungen verschwunden, vor uns lagen nur die Sterne und die Polarnacht.

»Was war das?« fragte Arlene.

»Ein Wesen von der Art, der du gedient hast«, antwortete ich.

»Nein, nein!« rief sie."

»Das muß ein Signal zur Umkehr für uns sein«, sagte Poalu.

»Nein«, sagte Imnak.

»Hältst du es für ein Zeichen?« fragte sie.

»Ja, aber nicht zur Umkehr«, sagte er.

»Was bedeutet es dann?«

»Er will uns wohl mitteilen«, sagte Imnak, »daß es zu spät ist umzukehren.«

»Ich glaube, du hast recht, Imnak«, sagte ich.

Ich blickte zum Himmel auf. Es war tatsächlich zu spät zur Umkehr. Ich lächelte vor mich hin. Nach langer Reise hatte ich endlich das Land Zarendargars erreicht, den Rand des Lagers meines Feindes, das Lager Halb-Ohrs.

»Imnak«, sagte ich, »ich glaube, ich habe bald das Wesen gefunden, das ich suche.«

»Vielleicht hat es bereits dich gefunden«, gab er zurück.

»Vielleicht. Man weiß es eben nicht.«

»Flieh davor!« sagte Arlene.

»Ich gehöre der Kriegerkaste an«, sagte ich. »Ich fliehe nicht.«

»Aber solche Geschöpfe gebieten sogar über die Naturkräfte«, sagte sie.

»Mag sein, vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht.«

Später lag Arlene in meinen Armen. Was für eine liebliche und kluge Sklavin sie doch inzwischen schon war! Ihre hilflose Sklavenunterwürfigkeit war in dieser Nacht besonders exquisit.

»Habe ich dir gefallen, Herr?« fragte sie leise.

»Ja«, sagte ich.

»Das freut mich.«

Ganz in der Nähe hörten wir Poalu stöhnen. Dann löste sich Imnak von ihr.

»Wohin willst du?« fragte ich.

»Vielleicht sind wir in Gefahr«, sagte Imnak. »Ich glaube, wir sollten einen Wächter aufstellen.«

»Das ist eine gute Idee.«

»Ich übernehme die erste Wache«, sagte Imnak. Ich hörte, wie er Poalu abküßte, was sie mit leisen, spitzen Schreien quittierte, dann legte er seine Felle an und verließ die Unterkunft.

Es dauerte nicht lange, da war Poalu eingeschlafen. Arlene schlummerte ebenfalls.

Ich hörte Audrey wimmern. »Warum nimmt mich keiner?« sagte sie von der anderen Seite des Schneekreises.

»Leg dich schlafen!« befahl ich.

»Ja, Herr«, antwortete sie. Ich hörte sie schluchzen. Niemand hatte sie in den Armen gehalten, niemand hatte ihre Begierden gestillt.

Ich war müde. Es freute mich, daß Imnak die erste Wache übernommen hatte. So konnte ich ohne Angst einschlafen.

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