10

»Lebt er noch?« fragte ein Mann.

Ich lag angekettet im Sklavengehege.

»Ja«, sagte der rothäutige Jäger.

»Er ist kräftig«, meinte ein anderer Mann.

Der Frau, die mich hatte auspeitschen lassen, hätte ich am liebsten den Hals umgedreht. Mühsam richtete ich mich auf.

»Ruh dich aus!« sagte Ram. »Es ist beinahe Morgen.«

»Ach, dich haben sie auch gefangen«, sagte ich. Ich hatte ihn in der Pagataverne in Lydius zurückgelassen.

Er grinste mich schief an. »Noch am gleichen Abend, sehr spät, überraschten mich die Kerle mit Tina in einer Nische mitten in unserem Vergnügen. Sie ließen mich nicht einmal fertigbumsen. Von Schwertspitzen bedroht, wurde ich gefesselt und unter eine Sklavenhaube gesteckt.«

»Wie war das Mädchen?« fragte ich.

»Schon nach einer Viertel-Ahn schnurrte sie, daß sie die meine wäre.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ein Prachtstück von einer Sklavin. Sie hat Pfeffer im Hintern wie selten eine.«

»Das hatte ich mir gedacht«, sagte ich. »Wo ist sie?«

»Ist sie nicht hier?« fragte er.

»Nein.«

»Wohin hat man sie gebracht?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich.

»Ich möchte sie zurückhaben.«

»Sie ist doch nur eine Sklavin.«

»Ich möchte aber meine Nummer zu Ende bringen, bei der ich gestört wurde. Ich mag keine halben Sachen«, sagte er.

»Meinst du, sie ist die ideale Sklavin für dich?«

»Möglich. Ich weiß es nicht. Noch nicht.«

»Wie heißt du?« fragte ich den rothäutigen Jäger. »Verzeih mir«, fügte ich hinzu.

Rothäutige Jäger sprechen ihren Namen nicht gern aus. Sie fürchten, ihr Name könne sie verlassen. Daß er ihnen über die Lippen ginge, aber nicht zurückkehrte.

»An deiner Kette ist ein Mann, den einige Jäger des Nordens Imnak nennen«, sagte der Mann. Einen Augenblick lang starrte er nachdenklich vor sich hin. Dann schien er zufrieden zu sein. Der Name war bei ihm geblieben.

»Ich bin Tarl«, sagte ich.

»Sei gegrüßt, Tarl«, sagte er.

»Sei gegrüßt, Imnak.«

»Ich habe dich schon einmal gesehen«, meldete sich ein Mann aus der Gruppe.

»Ja, ich kenne dich«, gab ich zurück. »Du bist Sarpedon, Tavernenbesitzer in Lydius.«

»Ich habe dir die kleine Sklavin verkauft«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte ich. »Sie lebt jetzt als Sklavin in meinem Haus. Aber was ist mit dir? Deine Taverne wird von einem gewissen Sarpelius geleitet.«

»Ich weiß«, antwortete er. »Ich wünschte nur, ich könnte ihm die Kehle zudrücken.«

»Wie bist du hierher geraten?«

»Ich fuhr auf dem Laurius flußaufwärts, um mich bei den Panthermädchen nach frischen Sklavinnen umzusehen. Dabei wurde ich auf dem Fluß von fünf Tarnkämpfern überfallen, die mich in Ketten legten. Das war natürlich von vornherein geplant; mein Helfer Sarpelius hatte alles arrangiert.«

»Deine Taverne wird dazu mißbraucht, Arbeiter für die Mauer zu kidnappen«, sagte Ram. Mehrere Männer brummten zornig vor sich hin.

»Gebt mir Sarpelius«, sagte Sarpedon, »dann sorge ich dafür, daß ihr für eure Unannehmlichkeiten auf das Angenehmste entschädigt werdet.«

»Admiral«, sagte ein Mann zu mir.

»Dich kenne ich ebenfalls«, sagte ich. »Du bist Tasdron, ein Kapitän im Lohne Samos’.«

»Das Schiff, das wir in den Norden steuern sollten, wurde in Brand geschossen und versenkt«, sagte er.

»Ich weiß.«

»Ich habe als Kapitän versagt.«

»Es ist schwierig, sich gegen einen Tarnangriff zu wehren, gegen das herabströmende brennende Öl, das die Segel trifft«, sagte ich.

»Sie haben immer wieder angegriffen.«

»Dein Schiff war kein Kampfschiff«, sagte ich.

»Wer hätte schon vermutet, daß es nördlich von Torvaldsland Tarnkämpfer gibt?« fragte Ram.

»Im Frühling und Sommer kommt es vor«, sagte Sarpedon.

»Du hast wenigstens deine Männer gerettet«, stellte ich fest. «Das war gut gehandelt.«

»Was für ein Schiff war das?« fragte Imnak.

»Ich habe ein Schiff in den Norden geschickt«, entgegnete ich, »mit Nahrung für die Bewohner des Polarbeckens. Ich hatte erfahren, daß die Herde von Tancred den Schnee des Axtgletschers noch nicht betreten hat.«

Imnak lächelte. »Wie viele Felle hättest du für diesen Proviant gefordert?«

»Es wäre mir nicht darum gegangen, Gewinn zu machen«, sagte ich.

Imnaks Gesicht umwölkte sich.

Die Bewohner des Nordens sind stolz, Ich hatte ihn nicht beleidigen wollen.

»Es sollte ein Geschenk sein«, sagte ich. Der Austausch von Geschenken mußte ihm bekannt sein.

»Ah!« sagte er. Unter Freunden wurden Geschenke gegeben; sie spielen in der Kultur der Polregion eine große Rolle. Zuweilen kommt es dazu, daß ein Jäger kein Fleisch für seine Familie hat und ein anderer Jäger ihn in sein Haus einlädt, oder ihn mit Fleisch besucht, um eine gemeinsame Mahlzeit einzunehmen. Diese freundliche Geste wird natürlich bei Gelegenheit erwidert.

Selbst die Abwicklung von Geschäften sieht im Norden zuweilen wie ein Geben und Nehmen von Geschenken aus, als wäre das direkte Kaufen und Verkaufen dazu geeignet, die empfindlichen und stolzen Jäger zu kränken. Ein Mann, der es wagt, dem dahin-huschenden Meeres-Sleen durch arktische Gewässer zu folgen, in einem schmalen Fahrzeug aus Tabukleder sitzend, nur mit schlichten Waffen und seinem Können ausgerüstet – ein solcher Mann läßt sich nicht gern als Händler ansprechen.

»Ich weiß, du bist klug und ich bin dumm«, sagte Imnak, »denn ich bin nur ein ungebildeter Bursche aus dem Polarbecken. Ich muß aber sagen, wenn wir im Sommer zur großen Jagd zusammenkommen, wenn die Herde eingetroffen ist: dann zählen wir mehrere hundert.«

»Oh«, sagte ich. Ich hatte mir nicht klargemacht, daß es so viele Jäger gab. Da hätte eine Schiffsladung den Hunger kaum stillen können, selbst wenn sie die Luftblockade der Kurii-Tarnkämpfer durchbrochen hätte.

»Außerdem befinden sich meine Leute im Binnenland«, fuhr Imnak fort, »und warten auf die Herde. Natürlich weiß ich, daß dir das bekannt war und daß du dir auch überlegt hast, wie du die Geschenke zu ihnen bringen solltest, so viele Tagesmärsche von der Küste entfernt.«

»Es ging nur um das eine Schiff«, sagte ich. »Und ich hatte mir nicht überlegt, wie schwierig es sein würde, den Proviant dorthin zu schaffen, wo er am dringendsten gebraucht wurde.«

»Habe ich mich verhört?« fragte Imnak. »Ich traue meinen Ohren nicht. Hat da wirklich ein weißer Mann zugegeben, einen Fehler gemacht zu haben?«

»Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte ich. »Wer im Süden als kluger Mann gilt, mag im Norden ein Dummkopf sein.«

Dieses Eingeständnis raubte Imnak einen Augenblick lang die Sprache.

»Du bist klüger als ich«, setzte ich nach.

»Nein«, sagte er. »Du bist klüger als ich.«

»Vielleicht bin ich klüger im Süden«, sagte ich. »Auf jeden Fall hast du im Norden die größere Erfahrung.«

»Mag sein.«

»Und du bist ein großer Jäger.«

Er grinste. »Ja, ich habe dann und wann gejagt.«

»Aufstehen! Aufstehen!« rief ein Wächter und schlug mit dem Speer gegen die Holzstangen des Geheges. »Zeit für euren Frühstücksbrei! Dann geht es an die Arbeit.«

Zwei Wächter betraten das Gehege und weckten grob die Männer.

»Nehmt diesem Mann die Ketten ab!« sagte Ram und deutete auf mich. »Er ist gestern mit der Schlange ausgepeitscht worden.«

Es geschah nicht selten, daß die Striemen der Schlange tödliche Folgen hatten, waren sie doch mit Draht und Eisenstücken besetzt.

»Es ist befohlen worden, daß er heute arbeitet«, sagte der Wächter.

Ram sah mich erstaunt an. Ich war bereits aufgestanden. Meine hübsche Bewacherin hatte mir dieses Schicksal angedroht; ich sollte ein für allemal erkennen, wessen Gefangener ich war.

»Ich habe Hunger«, sagte ich.

Der Wächter trat einen Schritt von mir zurück. Dann ging er weiter und überprüfte die. Fußfesseln der anderen.

Wir wurden aus dem Gehege gedrängt. Auf dem Weg zum Küchenschuppen kamen wir an dem großen Holzpodest vorbei, auf dem der Rahmen für die Auspeitschungen stand. Vor dem Küchenschuppen mußten wir niederknien und erhielten Holzschalen. Dicker Brei wurde uns serviert, durchsetzt mit Brocken gekochten Tabukfleisches. Durch unsere Reihen gingen Distel und Fingerhut, das blonde Mädchen, das zur ersten Sklavin avanciert war und den Brei an die Männer austeilte.

Fingerhut schrie auf, als sie von einem der Männer an der Kette gepackt wurde. Sie schlug mit der Schöpfkelle auf ihn ein, konnte aber nicht verhindern, daß sie unter ihm zu Boden geworfen wurde. Doch sofort waren Wächter zur Stelle und brachten den Mann, der schon drauf und dran war, sie zu besteigen, mit Speerschäften zur Räson. »Sie ist für die Wächter!« sagten sie.

Entsetzt torkelte Fingerhut, deren Sklaventunika eingerissen war, einige Schritte zurück.

»Füll noch einmal nach!« sagte der Erste Wächter. »Sie müssen heute schwer arbeiten.«

Fingerhut und Distel begannen noch einmal rechts von mir am Ende der Reihe. Dabei versuchten sie den Männern nicht mehr zu nahe zu kommen. Sie kannten die Angst einer Sklavin unter Männern, die lange keine Frau mehr gehabt hatten.

Zu meiner Kette gehörten ungefähr vierzig Mann, An den gut siebzig Pasangs der Mauer waren mehrere solcher Ketten untergebracht, jeweils mit eigenen Gehegen und Unterkünften. So waren an der Mauer zwischen dreihundert und vierhundert Männer im Einsatz. Es war sicher kein Zufall, daß ich einer der mittleren Ketten zugeteilt worden war; zweifellos steckte meine hübsche Befehlshaberin dahinter. Sie war sehr stolz auf meine Gefangennahme, die sie ihrer eigenen Klugheit zuschrieb. Sie wollte mich in die sicherste Verwahrung stecken, die an der Mauer möglich war, in der Mitte, unweit ihres Hauptquartiers. Außerdem genoß sie es bestimmt, mich in Ketten zu beobachten.

Wir wurden an der hohen Plattform vorbeigeführt. Sie stand dort oben, flankiert von zwei Wächtern.

»Heute ist sie aber früh dran«, sagte einer der Männer.

In der Nähe der Plattform waren etliche Balken und schwere Steine aufgestapelt; offenbar war unsere Gruppe am vergangenen Nachmittag hier tätig gewesen. Daneben lagen in Felle gewickelte Werkzeuge.

»Hebt die Balken an!« befahl ein Wächter. »Nehmt die Steine auf!«

Gemeinsam mit Ram und Imnak und Kapitän Tasdron nahm ich einen der Balken auf die Schulter.

Die hübsche Kommandantin unserer Pein blickte auf uns herab. Ihr Gesicht war vor Freude gerötet.

»Sie trägt Männerfelle«, bemerkte Imnak.

Und damit hatte er recht, zumindest aus seiner Sicht. Die Frauen der rothaarigen Jäger gehen anders gekleidet als die Männer. Sie tragen weiche Sleenhautstiefel, die bis zur Hüfte reichen, dafür sind ihre Fellhosen nur kurz. Oben schließt sich ein Gewand aus perlenbesetzter Larthaut an. Bei kaltem Wetter tragen sie, wie die Männer, eine oder mehrere Kapuzenparkas aus Tabukfell. Tabuk ist der wärmste Pelz der Arktis. Die Haare eines Nord-Tabuk sind übrigens hohl. Die darin festsitzende Luft gibt dem Fell ausgezeichnete Isoliereigenschaften. Überhaupt spielt Luft bei der Bekleidung der rothäutigen Jäger eine große Rolle. Erstens sind die Kleidungsstücke, die aus Tierhäuten bestehen, windundurchlässig. Der erwärmende Faktor ist die Luft zwi-schen Haut und Kleidung, die wegen des Gewichts der Parka und der Kapuze nicht nach oben entweichen kann und daher wärmt. Nach unten hin geht auch keine Wärme verloren, da warme Luft nach oben steigt. Interessanterweise besteht die Hauptgefahr dieser Kleidung darin, sich zu überhitzen. Es darf auf keinen Fall einen Niederschlag von Feuchtigkeit geben, kei-nen Schweiß, der die Kleidung durchnäßt, die daraufhin brüchig gefrieren kann. Der Jäger des Nordens begegnet dieser Gefahr, indem er den Kragen seines Kleidungsstücks öffnet und damit die Ventilation in Gang bringt. Die Kleidung des arktischen Jägers ist seinen Bedürfnissen im rauhen Klima seiner Heimat bestens angepaßt. Sie ist warm, leichtgewichtig und gibt größte Bewegungsfreiheit. So sind zum Beispiel die Armlöcher der Parka so geschnitten, daß man Arme und Hände nach innen hereinziehen und am Körper wärmen kann.

»Leiste gute Arbeit, Tarl Cabot!« rief die hübsche Aufseherin von der Plattform.

»Abmarsch!« sagte der Wächter.

Im Gleichschritt setzten wir uns in Bewegung, zuerst den linken Fuß, dann den mit Ketten belasteten rechten.

Der Baumstamm war ungeheuer schwer. »Das ist ja steinhart«, sagte Ram und hämmerte die Eisenstange, die er mit einem Stück Fell umfaßte, schräg in den Boden, Ein gefrorenes Stück splitterte los und fiel klappernd herab.

Auch ich stemmte eine Stange in das Loch. Ein Stück gefrorenes Erdreich wirbelte zur Seite.

Wir versuchten ein schräges Loch zu graben, denn die Stämme, die wir anbringen sollten, waren als diagonale Verstärkung hinter der eigentlichen Mauer gedacht. Wir waren etwa eine halbe Pasang von der Plattform entfernt an einer Stelle der Mauer, die ziemlich geschwächt war. Davon hatte ich schon tags zuvor erfahren, ehe ich von der blonden Aufseherin aus ihrem Hauptquartier geleitet worden war. Den ganzen Tag war hier mit Balken und Steinen gearbeitet worden, doch es gab noch viel zu tun. Die kritische Stelle befand sich, wenn man auf die Tabukherde hinunterschaute, links von der Plattform. Der mittlere Teil der Mauer erstreckte sich natürlich quer zur Mitte des natürlichen Wanderweges der Tabuk. Manchmal drängten die frustrierten Tiere gegen die Mauer, manchmal auch nicht ganz freiwillig wenn der Druck der nachrückenden Tiere zu stark wurde. Von Zeit zu Zeit, wenn sie etwas Platz harten, rannten jüngere Stiere aufgebracht mit ihrem Horn gegen das störende Bauwerk an. Die Tiere begriffen das Hindernis nicht, es regte sie auf. Warum gab es nicht nach?

Zwei- oder dreimal hatte die Mauer tatsächlich nachgegeben, das erfuhr ich jetzt, war aber jedesmal noch rechtzeitig wieder instandgesetzt worden.

»Ein Stein kommt hierher«, sagte ein Wächter.

Die Männer, die den schweren Brocken herbeischleppten, lehnten ihn gegen die Mauer. Dort würde er die Barriere abstützen, wenn auch nicht so gut wie die Balkenstreben, die wir aufzustellen versuchten.

Auf der anderen Seite der Mauer bewegten sich viele tausend Tabuks. Neue Tiere trafen täglich ein, aus den Gegenden östlich von Torvaldsland.

»Wegen des Permafrosts«, sagte ich zu Ram, »können die Stämme der Mauer nicht allzu fest sein.«

»Sie stehen aber tief genug«, sagte er. »Ohne entsprechenden Arbeitseinsatz sind sie nicht herauszuziehen.«

»Arbeiter haben wir doch wohl genug«, sagte ich.

»Vielleicht solltest du diese Sache mit den Wächtern besprechen«, meinte er.

»Die wären damit sicher nicht einverstanden.«

»Was hast du vor?«

Wir waren zusammengekettet, doch von den anderen gelöst, damit wir besser arbeiten konnten. Ringsum waren mehrere andere Sklavenpaare auf gleiche Weise am Werk. So konnte die große Kette immer wieder in kleine Arbeitsgruppen aufgeteilt werden.

»Imnak«, fragte ich, »möchtest du gern nach Hause reisen?«

»Ich habe seit vier Monden keinen Trommeltanz mehr gesehen«, antwortete er.

»Tasdron«, fragte ich, »hättest du gern ein neues Schiff?«

»Ich würde es für die Abwehr von Tarnkämpfern ausrüsten«, sagte er. »Dann sollen sie nur versuchen, es zu erobern.«

»Seid nicht töricht«, sagte ein anderer Mann. »Flucht ist sinnlos. Wir sind angekettet. Es gibt viele Wächter, auch wenn sie nicht alle hier sind.«

»Ihr habt keine Verbündeten«, sagte ein anderer Mann.

»Das ist ein Irrtum«, sagte ich, »wir haben viele tausend Verbündete.«

»Ja!« rief Ram. »ja!«

Die Schlüssel zu unseren Fußfesseln wurden von dem Ersten Wächter verwahrt, der über unsere Kette gebot.

»Nicht so viel reden«, sagte ein Wächter. »Ihr seid hier, um eine Mauer zu verstärken, nicht um zu klatschen wie Sklavinnen.«

»Ich fürchte, die Mauer hier bricht gleich ein!« sagte ich und deutete auf eine Stelle zwischen zwei dicken Holzpfählen.

»Wo?« fragte er und begab sich zur Mauer, die er mit den Händen betastete.

Es war sicher nicht klug von ihm, seinen Gefangenen den Rücken zuzudrehen.

Von hinten schleuderte ich ihn gegen die Mauer. Mit beträchtlicher Wucht prallte der Kopf dagegen. Dann winkte ich die ringsum stehenden Männer näher zu mir, bis der Wächter nicht mehr zu sehen war. Sein Schwert hielt ich in der Hand.

»Was ist da los?« rief der Erste Wächter.

»Du bringst uns alle an den Galgen«, sagte ein Mann.

Der Wächter drängte sich links und rechts um sich schlagend durch unsere Gruppe. Dann entdeckte er seinen gestürzten Kollegen. Erbleichend drehte er sich um, die Hand auf den Schwertgriff gelegt. Doch die Klinge in meiner Hand hatte sich bereits auf seine Brust gerichtet.

Mit schnellen Bewegungen nahm ihm Ram seine Schlüssel ab. Er befreite mich und sich und reichte die Schlüssel an Tasdron weiter.

»Ihr habt keine Chance«, sagte der Erste Wächter. »Im Rücken habt ihr die Mauer und vor euch zahlreiche Wächter, die sehr schnell alarmiert werden können.«

»Ruf die anderen beiden Bewacher zu dir!« forderte ich.

»Nein, das tue ich nicht«, antwortete er.

»Die Entscheidung liegt bei dir«, fuhr ich ihn an und grub im die Schwertspitze in die Brust.

»Warte!« rief er und rief: »Jason! Ho-Sim! Kommt an die Mauer!«

Ahnungslos eilten die beiden herbei, und gleich darauf besagen wir vier Schwerter und zwei Speere. Die Männer trugen keine Schilde, denn sie waren nur zur Bewachung von Gefangnen eingeteilt worden.

»Hauptmann!« rief ein fünfter Wächter aus einiger Entfernung. »Alles in Ordnung?«

»Ja!« rief er zurück.

Doch anscheinend hatte der Mann einen Speer zwischen der Arbeitern gesehen. Hastig machte er kehrt und rannte so schnell er konnte auf die Plattform und die Hauptgebäude zu.

»Einen Speer!« forderte ich.

Doch als ich die Waffe in der Hand hielt, war der Mann bereit außer Reichweite.

»Er schlägt Alarm«, sagte der Erste Wächter. »Euer Versuch ist gescheitert. Gebt mir die Waffen zurück, legt euch die Ketten wieder an, dann will ich mich dafür einsetzen, daß ihr mit der Leben davonkommt!«

»Also, Freunde«, sagte ich, »jetzt wollen wir frohgemut an du Arbeit gehen. Ich glaube nicht, daß wir noch viel Zeit haben.«

Energisch machten wir uns daran, die Mauer zu öffnen.

»Ihr seid ja wahnsinnig!« rief der Erste Wächter. »Ihr werdet alle zertrampelt.«

Sobald wir einen der Pfähle aus der Erde und zur Seite gehoben hatten, drängte Imnak durch die Öffnung und verschwand zwischen den Tabuk.

»Na, der kommt wenigstens durch«, sagte einer der Männer.

»Ach was, der Tod ist ihm sicher«, sagte ein anderer.

Imnaks Flucht enttäuschte mich. Ich hatte angenommen, daß er aus härterem Holz geschnitzt wäre.

»Schnell, Jungs!« drängte ich. »Beeilt euch!«

Ein zweiter Pfahl wurde aus dem Boden gezogen, angehoben von Brechstangen und vielen Händen.

Die Alarmglocken bimmelten laut; ihr Klang vibrierte durch die klare kalte Luft von Torvaldsland.

»Beeilung, Jungs!« rief ich.

»Ihr auch!« wandte ich mich an die drei Wächter, die wieder zu Bewußtsein gekommen waren. »Wenn ihr gut arbeitet, kommt ihr vielleicht mit dem Leben davon.«

Widerstrebend beteiligten sie sich ebenfalls an der Aktion um zerrten Balken aus dem steinharten Boden.

Plötzlich drängte sich ein riesiger Tabuk durch die Öffnung und schob etliche Männer zur Seite.

»Schnell!« rief ich. »Weitermachen!«

»Wir werden umkommen!« rief der Erste Wächter. »Ihr kennt diese Ungeheuer nicht!«

»Wächter kommen!« rief ein Mann.

Vierzig oder fünfzig Wächter liefen auf uns zu; sie hatten die Waffen gehoben.

»Ergebt euch!« sagte der Erste Wächter.

»Arbeite!« forderte ich ihn warnend auf.

Er merkte, daß ich bereit war, an ihm ein Exempel zu statuieren. Da griff auch er zu, so kräftig er konnte.

»Ich ergebe mich! Ich ergebe mich!« rief ein Mann und lief auf die Wächter zu. Wir sahen, wie er brutal niedergemacht wurde.

Ich griff nach dem Speer, den man mir vor einiger Zeit in die Hand gedrückt hatte. Ich schleuderte ihn in die Gruppe der Wächter, die noch etwa fünfzig Meter entfernt war. Ein Mann sank zu Boden. Der Speer ragte ihm aus der Brust.

Abrupt blieben die Wächter stehen. Sie hatten keine Schilde. Ich hob den zweiten Speer.

»Arbeitet!« rief ich den Männern hinter mir zu.

»Hau-ruck!« rief Ram.

Zwei weitere Tabuk drängten sich durch die Lücke in der Mauer. Das war nicht genug. Die Tiere wußten nicht, daß die Mauer offenstand. Vier weitere Tabuk trotteten an der Öffnung vorbei, als witterten sie einen Weg in die Freiheit. So ging es nicht.

Ich bedrohte die Wächter mit dem Speer. Sie schwärmten aus, was ein kluger Schachzug war, und rückten vorsichtig näher.

Ein weiterer Balken wurde zur Seite gerollt, und zwei Tabuk drängten auf unsere Seite der Mauer.

»Tötet ihn!« hörte ich den Anführer der Wächter befehlen.

Es kamen nicht genügend Tabuk durch! Die Wächter rückten immer näher.

Hinter der Mauer gellte eine Stimme auf. »Aja! Aja! Beeilt eich, meine Brüder! Aja!«

Die Männer, die an der Zerstörung der Mauer arbeiteten, beginnen zu jubeln.

Plötzlich galoppierten vierzig oder fünfzig Tabuk an mir vorbei, so schnell, daß ich sie nur als braunen Schimmer wahrnahm. Sie wurden von einem prächtigen Tier angeführt, einem riesigen Stier, mindestens vierzehn Hand Schulterhöhe mit einem gedrechselt aussehenden Elfenbeinhorn von gut einem Meter Länge. Es war der Leitstier der Herde von Tancred.

»Aja!« tönte es hinter den Tieren.

Plötzlich schien ein Damm gebrochen zu sein. Ich warf mich rücklings gegen die Balken. Die Wächter gaben ihre Position auf und flohen.

Wie eine wogende Hut, wie eine dröhnende und braune Lawine, nur verschwommen sichtbar, schnaubend, Köpfe und Körper hochschnellend, so hasteten die Tabuk an mir vorbei. Auf einem kleinen seitlichen Hügel sah ich den Anführer stehen, stampfend und schnaubend, den Kopf hochwerfend. Er beobachtete die an ihm vorbeiströmenden Tabuk und galoppierte dann an die Spitze der Herde. Weitere Tabuk, ein gut sechzig Fuß breiter Strom, donnerten an mir vorbei. Ich hörte Holz brechen, ich sah weitere Teile der Mauer einstürzen, ganze Balkengruppen, die auf dem Rücken der galoppierenden Tabuk ein Stück mitgenommen wurden, mitgerissen, mitschwimmend in diesem bräunlichen, unaufhaltsamen Fluß aus Leder und Horn, der sich nach Norden richtete. Weitere Stämme brachen, und ich wich zu meiner Linken aus. Nach wenigen Minuten war der Tabukstrom mehr als zweihundert Meter breit. Der Boden erzitterte unter den Hufen. In dem Staub vermochte ich kaum noch etwas zu erkennen, geschweige denn frei zu atmen.

Ich spürte nur, daß Imnak grinsend neben mir auftauchte. Wir hatten es geschafft.

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